Neujahr von Arcturus ================================================================================ Die Dämmerung des Tigers ------------------------ Selbst außerhalb der Stadt war das Knallen der Feuerwerkskörper, die seit Stunden überall explodierten, unbeschreiblich laut. Von seinem Standort außerhalb der Stadtmauern Rakushous aus konnte Kouen die Feiernden in den Straßen nicht sehen, doch er sah das Lichtermeer der Lampions. Rot leuchtende Flecken zeichneten die Silhouette der Stadt nach, die Häuser, die Mauern, den Palast, unterstrichen von bunten Raketen, die zwischen den Dächern verglühten. Seine Finger strichen behutsam über die aneinander gebundenen Bambusröhrchen in seiner Hand. Er sollte dort unten bei den anderen sein. Man erwartete es nicht nur von ihm, ein Teil von ihm wollte dabei sein. Wollte Knallfrösche anzünden und unter Meis Stuhl werfen. Wollte mit Hakuyuu und Hakuren trinken. Wollte mit dem Mädchen tuscheln, das ihm hinterher gelaufen war. Wollte das neue Jahr begrüßen. Nur, er brachte es nicht über sich. Das Verlangen, stumm im Schnee zu stehen und sich Sorgen zu machen war größer. Missmutig blickte Kouen den Weg zurück, den er gekommen war. Seine Schritte hatten eine Spur aus dunklen Flecken, aus denen kärgliche Grashalme ragten, hinterlassen. Sie verloren sich bereits ein paar Meter außerhalb des Lichtkreises, den sein Lampion warf, in der Dunkelheit. Es war beklemmend. Beklemmend, wie der Dungeon, der finster hinter den Baumreihen in seinem Rücken lauerte. In der Nacht sah er das Bollwerk aus Kalkstein und massiven Ecktürmen nicht, doch das bloße Wissen über seine Existenz genügte, um ihm die Nackenhaare zu Berge stehen zu lassen. Er sollte zurück gehen. Schnee knirschte, ohne, dass er sich bewegte. Seine Reflexe reagierten, bevor er es realisierte. Seine Hand öffnete sich und griff nach seiner Waffe, die Knallfrösche fielen unbeachtet zu Boden. Er zog das Schwert, wirbelte herum und duckte sich. Alles eine einzige, fließende Bewegung. Tausendmal eingeübt, tausendmal verinnerlicht. Genauso, wie die nächsten Schritte – analysieren, decken, attackieren. Doch als er den Angreifer sah, erstarrte er. „Wow!“, rief der Fremde, „wow. Vorsichtig, Kumpel. Ich bin unbewaffnet!“ Ein Mann. Junge. Vielleicht so alt wie er. Zögernd, ganz langsam, hob der Fremde die linke Hand über seinen Kopf. Leer. Ungefährlich. Doch Kouen hatte dafür keinen Blick. Er war zu sehr damit beschäftigt, zu verstehen, dass sein Gegenüber nicht nur unbewaffnet, sondern nackt war. Nackt. Von den Schultern bis hinab zu den Fußsohlen. Keine Oberbekleidung. Keine Unterbekleidung. Nicht einmal Schuhe. Nur nackte Haut und ein paar immergrüne Zweige, die er sich betont lässig vor sein Gemächt hielt. „Was–?!“ „Kurze Fassung? Ich mag das selbstklebende Feigenblatt erfunden haben, aber ich fürchte, Kiefern sind eine ganz andere Liga.“ Kouen hörte das Grinsen des anderes viel mehr, als das er es sah. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen zwang er sich dazu, ihm statt auf die Zweige ins Gesicht zu sehen, doch der Anblick der dunklen Nadeln und allem, was er dahinter nur hatte erahnen können, hatte sich längst eingebrannt. Zu allem Überfluss grinste der Typ tatsächlich. Es war eines dieser Grinsen, die Hakuren manchmal auf den Lippen hatte, wenn Hakuyuu oder, seltener, Kouen selbst ihn auf eines der Fettnäpfchen hinwiesen, in dem er gerade bis zum Hals steckte. Ein Grinsen, für das Hakuyuu viel zu nobel und Koumei viel zu faul war. Kouen hätte schwören können, dass der Fremde rot angelaufen war, doch das Licht seines Lampions war zu schlecht, um es mit endgültiger Sicherheit zu sagen. „Das sehe ich“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Langfassung?“ Wenn Kouens Tonfall sein Gegenüber verunsicherte, ließ dieser es sich nicht anmerken. „Ich bin ein reisender Händler. Man hat mir auf dem Weg nach Rakushou aufgelauert und mich ausgeraubt.“ Die Augenbrauen zusammengekniffen sah Kouen nun doch noch einmal an seinem Gegenüber hinab. Dunkle, lange Haare, deren Farbe er im Lampionlicht nicht erkennen konnte. Breite Schultern und Muskeln, die er von einem Händler so nicht erwartet hätte. Und immer noch komplett unbekleidet. Nur das Band, das seinen Zopf zusammenhielt, hatte man ihm gelassen. „Sehr gründlich, wie es scheint.“ „Sehr gründlich, ja.“ Schweigen. Kouen schüttelte den Kopf, nicht nur, um das Bild von Kiefernzweigen von seinem inneren Auge zu vertreiben. Er ahnte, dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmte, dass ihm mindestens eine wichtige Information fehlte, um sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen, doch er konnte sie nicht festnageln. Noch nicht. „Deine Ware?“ „Zusammen mit meinen Kameraden in Rakushou, wie ich hoffe. Wir wurden auf der Reise getrennt. Es sind vor allem persönliche Gegenstände, die mir gestohlen wurden.“ „Was für Gegenstände?“ „Schmuck.“ Schmuck. Natürlich. Mit Schmuck musste er bei einem Händler rechnen. Selbst die einheimischen Händler, die unter der Politik des Kaisers Hakutoku kaum Möglichkeiten hatten, ähnliche Reichtümer anzuhäufen, wie Kaufmänner im Ausland, trugen Schmuck, wenn sie es sich leisten konnten. Mehr als eine Schriftrolle hatte die Pracht gelobt, mit der sich Händler in fernen Ländern zierten. Ringe aus Gold und Bronze, Turbane mit Zierschmuck und Federn, Ohrringe. Im Dunkeln konnte Kouen weder Ohrlöcher noch die Abdrücke von Ringen erkennen, doch dafür bemerkte er plötzlich etwas anderes. Die Haltung, mit der der Fremde die Kiefernzweige hielt. „Speer oder Schwert?“ Sie wechselten einen knappen, misstrauischen Blick. „Schwert.“ Innerlich verfluchte er sich dafür, es nicht früher bemerkt zu haben. „Sonst?“ „Aufzeichnungen. Proviant.“ „Und Kleidung?“ „Und Kleidung.“ „Ist dir nicht kalt?“ „Kalt?“ Beinahe so, als hätten seine Worte sein Gegenüber erst an die Kälte erinnert, ließ dieser Kiefernzweig Kiefernzweig sein und krümmte sich zusammen. Zitternd rieb er sich die Oberarme und Kouen hätte schwören können, dass er lautstark mit den Zähnen klapperte. „Ich sollte dich in drei Teile schneiden.“ Der Fremde sah auf. Seine Schultern bebten. “Ich zittere mich gerade in drei Teile.“ „Ich weiß.“ Ein letztes Mal überschlug Kouen die Möglichkeiten. Unmittelbare Gefahr ging von dem Fremden nicht aus, auch wenn er offensichtlich etwas verschwieg. Ohne seine Waffe stellte er kaum eine Bedrohung dar und er musste zumindest in Erwägung ziehen, dass sein Gegenüber nicht mehr war als ein Soldat von der Grenze, der angesichts der Festtage über die Strenge geschlagen hatte, oder einer von Hakurens Scherzen. Er ließ sein Schwert sinken. Ein paar Minuten später standen sie nebeneinander im Schnee. Neujahr in bereits getragener Kleidung zu verbringen brachte kein Glück, hieß es und vielleicht war an diesem Omen doch etwas dran. Kouen war niemand, der Volksglauben viel Beachtung schenkte. Sicher, auch er ließ an Neujahr Fenster und Türen öffnen, weniger um das Glück hinein zu lassen, als den Muff des Winters – und die Wärmebedürftigeren seiner Geschwister – zumindest für ein paar Tage aus seinen Räumen zu vertreiben. Knallfrösche entzündete er gern, weil sie laut waren und die Jüngeren quietschten und jubelten, wenn er es tat. Von anderen Geboten und Verboten hielt er nicht viel und doch – jetzt, wo er den Fremden aus dem Augenwinkel dabei beobachtete, wie er mit klammen Fingern das Obergewand zu schnüren versuchte, wollte er beinahe daran glauben. Die Leihgabe, zu der Kouen sich durchgerungen hatte, war alles andere, als ideal. An den Beinen waren dem Fremden die Gewandschichten, die er ihm überlassen hatte, zu kurz und entblößten die immer noch nackten Füße, an den Armen spannte sie. Die Kragen der einzelnen Schichten, überlappten einander in einem Gewirr, das seine Diener zur Verzweiflung getrieben hätte, das Kouen aber egal war. Unter den Stofflagen konnte Kouen das Beben der Schultern des Anderen sehen. Es wirkte echter, als das Zittern ein paar Minuten zuvor. Obwohl kaum Wind ging, spürte auch Kouen, wie ihm die Kälte unter die Kleidung kroch. „Andersherum. Du legst erst die rechte Seite über deine Brust, dann die linke. Und der Gürtel wird nicht über dem Überwurf gebunden, sondern über die Schicht darunter.“ „Oh.“ Seinen Anweisungen folgend, nestelte der Fremde am Gewand und zerrte am Gürtel, bis alles hielt. Irgendwie. Selbst im schwachen Lampionlicht konnte Kouen sehen, dass nichts so lag, wie es sollte und zumindest einer der Knoten schien nur aus bloßer Willenskraft zu bestehen, aber zumindest rutschte nichts. Vermutlich sahen sie mittlerweile beide aus, als seien sie gerade erst aus bestimmten Etablissements getorkelt. Neben ihm strich der Fremde behutsam über den Stoff des Ärmels. „Das Gewand ist neu, oder?“ Kouen fragte nicht nach, woher er das wusste. Ihm war bewusst, dass zumindest ein Soldat so eine Frage nicht gestellt hätte, selbst wenn er nicht wusste, wen er vor sich hatte. Jeder Bewohner Kous kannte diesen Brauch. „Es ist Tradition, am ersten Tag des neuen Jahres neue Kleidung zu tragen. Man streift damit alles Schlechte des alten Jahres ab.“ „Der Stoff ist eben und leicht, aber überraschend warm, die Stickereien und Nähte sauber und klar. Es scheint ein recht teurer Brauch zu sein.“ Kouen zögerte. Offenbar war es an ihm, etwas zu verschweigen. „Man verspricht sich dadurch Glück und Wohlstand“, antwortete er, „übrigens in allen Schichten der Bevölkerung.“ Der Fremde neben ihm nickte, ohne dass er von seinem Ärmel zu ihm aufsah. Mit einer letzten Geste strich er den Stoff glatt, dann ließ er beide Arme sinken. Sein Blick glitt nach vorn, nicht zu ihm, sondern zu den Feuerwerken, die noch immer über Rakushou explodierten. „Ich habe gehört, in Kou begrüßt man das neue Jahr später als anderswo.“ „Der Zeitpunkt des Festes richtet sich nach dem Mondkalender. Woher kommst du?“ „Balbadd.“ Automatisch rief Kouen das Wissen ab, das er über die Jahre aufgeschnappt hatte. Ein Stadtstaat, errichtet auf unzähligen Inseln, war Balbadd nicht groß, aber reich. Rashid Salujas Herrschaft war seit Jahren stabil. Unter ihr florierte der Handel, doch es verirrten sich nur wenige Kaufleute soweit östlich, dass sie Kou erreichten. Skeptisch musterte er den Mann neben ihm. Jetzt, wo sie näher beieinander standen und ohne Kiefernzweige zwischen ihnen, war es einfacher, Einzelheiten auszumachen. Seine Haltung war locker und voller Selbstbewusstsein, seine Gesichtszüge eben, das Haar lang und augenscheinlich gepflegt. Nur eine unscheinbare Schramme, die sich über sein Jochbein zog, störte das Bild. Dennoch, da war er sich sicher, hätten zumindest seine älteren Schwestern ihn hübsch gefunden. Kouen hingegen konnte damit nicht viel anfangen. Er verglich ihn nur mit den Händlern, die er in Rakushou getroffen hatte und kam zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. „Wie heißt du?“ Noch etwas, das er besser verschwieg. „En. Du?“ „Sin“, antwortete er lässig und, beinahe so, als würde er Kouens Gedanken ahnen, fügte er hinzu: „Wie der Seefahrer. Der aus den Geschichten, die überall verkauft werden. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal so nackt ende, wie er in– Hey, hast du Die Abenteuer des Sinbad überhaupt gelesen?“ „Die lesen nur kleine Kinder und Dummköpfe.“ „Also ja.“ Kouen stöhnte. Was hatten heute nur alle mit diesen dämlichen Büchern? „Ich lese so etwas nicht, Sin-san.“ „Ach, nein?“ „Ich habe meinen Bruder heute beim Lesen erwischt, das ist alles.“ „In dem Fall solltest du die Reihe lesen, bevor du dir ein Urteil bildest. Ich könnte dir meine Ausgabe leihen. Sie ist vollständig und – oh.“ „Weg?“ Sin nickte. Das Schweigen, das folgte, kommentierte Kouen nicht. Die Sache kam ihm immer mehr vor, wie einer von Hakurens dummen Scherzen. Sein Cousin war kein großer Leser, nie gewesen. Die wenigen Schriftrollen, mit denen Kouen ihn je gesehen hatte, waren Großteils Hausaufgaben gewesen, der Rest seichte Unterhaltung. „Du kannst sie demnächst bestimmt ersetzen, Sin-san. Es gibt sicher einen Händler, der sie verkauft, sobald die Feierlichkeiten vorüber sind.“ Musste er dennoch damit rechnen, dass Hakuren die Bücher kannte? Dass er wusste, dass Kouen sie las? Dass er ihm eine schlechte Imitation des großen Sinbad vor die Nase setzte und jetzt in den Büschen hockte und lachte? Er spähte hinter sich, doch die Büsche waren schwarz und stumm. „Euer Markt schließt über die Feiertage?“ Kouen schüttelte den Kopf, nicht nur wegen der Frage. Hätte Hakuren ihm in letzter Zeit hinterher geschnüffelt, er hätte es bemerkt. Er konnte es zwar immer noch von Koumei wissen, der sowohl neugierig als auch hinterlistig war, aber der war zu umsichtig, um potentiell wertvolle Informationen blind weiterzutratschen. „Nein, aber man kauft zu Neujahr bestimmte Waren nicht, weil es Unglück bringen soll.“ Blieb Koumei selbst. „Man wird sie mir also nicht verkaufen, damit ich armer, unwissender Ausländer kein Pech über mich bringe? Und Bücher gehören dazu?“ Nun, in diesem Fall würde er mitspielen. „Und Schuhe.“ Sin sah an sich hinunter und Kouen folgte seinem Blick. Seine Füße waren dunkel gegen den Schnee, der im Lampionlicht rot schien. Er konnte keine Erfrierungen sehen, aber er wusste auch nur aus Schriftrollen, wie Erfrierungen aussahen. „Oh, verdammt“, murrte Sin und Kouen stimmte ihm mit einem knappen Nicken zu. „Ich glaube, das kommt für mich zu spät.“ „Etwas.“ „Denkst du, du kannst dir die Bücher von deinem Bruder leihen?“ Oh ja, ganz bestimmt. Abgesehen davon, dass die Rollen gerade in seinem Zimmer lagen, versuchte er sich vorzustellen, wie er sich seine eigenen Schriftrollen von Koumei lieh, scheiterte aber ob der Gewissheit, dass selbiger nichts freiwillig herausgeben würde, was er ihm zuvor mühsam entwendet hatte. Kouen schnaubte. „Er teilt nicht gerne.“ „Schade.“ „Ich habe sowieso nicht vor, sie zu lesen.“ „Du verpasst was.“ „Ja. Behauptungen, Übertreibungen und fünfköpfige, feuerspeiende Meuchelmörder.“ Einen Augenblick sah Sin ihn an, dann lachte er. Es war ein angenehmes, warmes Lachen, dennoch war Kouen, als hätte er etwas gesehen, das er nicht hätte bemerken sollen. „Fünfköpfige, feuerspeiende Meuchelmörder? Die gibt es nun wirklich nicht.“ „Noch nicht. Ich habe mit meinem Bruder darüber gewettet.“ Erneut musterte Sin ihn, dieses Mal weniger überrascht als neugierig. „Verstehe. Geht es um Leben und Tod? Oder, noch schlimmer, um die Ehre?“ „Quallen.“ „Oh.“ Er grinste, so, als gefiele ihm die Idee. „Hast du noch mehr Geschwister, En-san?“ Kouen nickte, antwortete aber nicht weiter. Er hatte schon genug erzählt und letztendlich ging es den Typen nichts an, egal, ob er tatsächlich nur ein Fremder war oder Koumeis Art, sich für den letzten Taubenbraten zu bedanken. Unwillkürlich drifteten seine Gedanken ab, zurück zu dem Fest, dass er gerade verpasste. Mittlerweile war es spät. Hakuyuu und Hakuren waren sicher noch auf und würden sicher bis zum Morgengrauen Feuerwerke zünden um Nian zu vertreiben. Bei Koumei hingegen war er sich nicht so sicher. Er hielt nicht viel von dem Lärm der Knallfrösche und glaubte noch weniger an das Jahresmonster, das mit ihnen vertrieben werden sollte, als Kouen es tat. Die Drachentänze, die es in den nächsten Tagen geben würde, würden ihm sicher mehr gefallen, doch aktuell hatte er sich sicher in seinem Bett verkrochen oder schlief unauffällig zwischen den Tauben im Palastgarten. Seine Schwestern hingegen gehörten mittlerweile ins Bett, zumindest die jüngeren von ihnen. Eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen, sie dorthin zu schicken oder zumindest ihre Dienerinnen dazu anzuweisen, es in seinem Namen zu tun. Unter seinem Blick stieg eine Rakete besonders hoch in den Himmel und verglühte in roten Funken über dem Palast. „Du solltest dort sein und mit ihnen feiern.“ Kouen sagte nichts, aber vielleicht war das Antwort genug. „Stattdessen stehst du im Schnee.“ „Darüber solltest du froh sein.“ „Oh, das bin ich“, gab Sin zurück und hob lachend die Arme. Im Licht des Lampions leuchteten die Ärmel seines Überwurfs rot und warm. “Ohne dich würde ich mir was abfrieren. Du solltest trotzdem zurück gehen. Dein Bruder vermisst dich sicher.“ Möglicherweise tat Koumei das, wenn er nicht gerade schlief, tatsächlich, doch das Argument aus dem Mund eines Fremden zu hören, schmeckte bitter. „Was ist mit deinen Kameraden?“, versuchte er das Thema in eine andere Richtung zu lenken. Es funktionierte, wenn auch nicht so, wie Kouen es angedacht hatte. „Die? Die werden warten müssen.“ Irritiert wandte Kouen den Blick von einer Reihe von kleinen Lichtpunkten ab, die wie auf einer Schnur aufgefädelt nebeneinander in die Nacht leuchteten. „Oh, schau nicht so. Sie sind Kummer gewöhnt.“ Sin winkte ab. „Aber sie werden sauer auf mich sein, wenn ich, nichts für ungut, so“, erneut hob er die Arme, dieses Mal, um seinen leidlich zusammengebundenen Shenyi zu zeigen, beziehungsweise das, was Kouen ihm überlassen hatte, „im Gasthaus aufkreuze. Ich sollte zumindest versuchen, mir meine Sachen zurückzuholen, bevor ich mir die Standpauke meines Lebens einhandele.“ Kouen war sich bewusst, dass er heute Nacht selbst nicht durch die besten Ideen glänzte, doch das erschien selbst ihm dumm. „Du bist unbewaffnet.“ „Man hat dich noch nie mit einer Kiefer geschlagen, oder?“ Sprachlos schüttelte er den Kopf. Eine seiner Schwestern hatte hinter seinem Rücken einmal Kiefernnadeln nach ihm geworfen, aber das … Er erinnerte sich an den Griff, mit dem Sin die Kiefernzweige gehalten hatte, doch die Vorstellung nur mit einem Ast eine Räuberbande in die Flucht schlagen zu können, wollte nicht in seinen Kopf. „Vermutlich sind sie längst über alle Berge.“ „Sie haben im Schnee sicher Spuren hinterlassen.“ „Die du bei dieser Dunkelheit nicht sehen wirst.“ „Ich habe schon genug Zeit verloren.“ „Vertrödelt, meinst du.“ „Hilfst du mir, En-san?“ „Ich sollte dich in drei Teile schneiden.“ „Lieber sieben. Das ist sicherer.“ Das ist sicherer. Ungläubig verdrehte Kouen die Augen. Wenn das hier ein Scherz war, würde er jemanden dafür leiden lassen und es würde qualvoll sein. Drei Schritte brauchte er, dann erreichte er den Lampion und kniete sich hinunter. Sein erster Griff galt den Knallfröschen, die er umsichtig aufhob und in seinen Kragen schob, der zweite dem Lampion. „Es sind deine Füße, die du dir abfrierst.“ Neben ihm begann Sin zu lachen. „So schnell friert mir dann doch nichts ab.“ Kouen warf einen knappen Blick über seine Schulter, dann richtete er sich auf. Drei Schritte später stand er wieder neben Sin, wandte ihm den Blick aber nicht erneut zu. Stattdessen folgte er bereits Sins Spuren, die er beim Anschleichen hinterlassen hatte. Sie führten zurück in das Waldstück, das sich vor ihm erstreckte, und verloren sich schließlich im Unterholz und im schwächer werdenden Licht. Irgendwo hinter den Bäumen verlief die Straße, der er aus der Stadt gefolgt war, und führte weiter zu den nächsten Orten. Der Dungeon lag ebenfalls in dieser Richtung, doch im Dunkeln und ohne genaue Anhaltspunkte zur Orientierung konnte er sie nur grob einschätzen. „Dann hör auf zu zittern“, raunte er ihm zu. Er erntete nur ein belustigtes Schnauben. Die Bäume standen weniger dicht, als Kouen zunächst erwartet hatte. Dafür hingen die Äste tief und der Boden war übersät von abgestorbenen Ästen und alten Nadeln. Der Schnee, in dem Sins Spuren leicht hätten zu sehen sein sollen, half nicht. Die Äste über ihnen hatten zu viel Schnee abgefangen. Die Decke, die sich über den Waldboden gelegt hatte, war zu dünn, um ebenmäßig zu sein und betonte jeden Stein und jeden Zweig. Die Spuren hatte er bereits nach wenigen Metern aus den Augen verloren und sein Sinn für Entfernungen hatte sich mittlerweile ebenfalls verabschiedet. Er wusste, dass die Straße nach Rakushou immer noch vor oder links von ihnen liegen musste, doch er wusste auch, dass sie sie längst hätten erreichen müssen, hätten sie die Richtung beibehalten, die sie eingeschlagen hatten. Immerhin war es leicht, Sin im Auge zu behalten, der ein paar Schritte hinter ihm ging und immer wieder Richtungsanweisungen gab. Nicht, dass er diesen Richtungsanweisungen weiter traute, als er Sin hätte werfen können. In diesem Gewirr aus Nacht und Baumstämmen die Orientierung zu behalten war unmöglich. Irgendwann blieb er einfach stehen. Schnee knirschte unter seinen Füßen und Zweige knackten, dann stoppte Sin ebenfalls. „Was ist los?“ Er drehte sich nicht um. „Das hat keinen Sinn.“ Mit finsterem Blick starrte er durch die nächsten Baumstämme hindurch in die Dunkelheit. Für einen Moment glaubte er, dass es langsam heller wurde, doch er wischte den Gedanken beiseite. Vermutlich kam es ihm doch nur so vor, lag entweder am Schnee oder an seiner Frustration. „Dort–“ „Erspar es mir. Du hast keine Ahnung, wo wir sind!“ „En–“ „Erspar es mir, habe ich gesagt!“ Jetzt wandte er sich doch zu ihm. Das Licht des Lampions flackerte protestierend ob der barschen Bewegung und warf unruhige Schatten über seinen Ärmel, die nächsten Baumstämme und Sins unbewegtes Gesicht. Ein paar dicke Schneeflocken lösten sich von einem der Äste über ihm. Ohne zu zielen schlug Kouen nach ihnen, was vermutlich besser war, als das Schwert zu ziehen. Eher zufällig erwischte er eine von ihnen. Sie fühlte sich feucht an und schmolz rasch auf seiner Hand. Tauwetter. Sin indes bewegte sich nicht, so als hätte er ihn gar nicht bemerkt. Regungslos starrte er auf einen Punkt ein wenig links von seiner Schulter. „Was ist los?“ „Ich erspare dir, dass da vorn Licht ist.“ „Was?!“ Es war nur ein knappes Nicken, mit dem Sin in die Richtung wies, in die er blickte. Erneut drehte Kouen sich um, langsamer dieses Mal. Zuerst sah er nicht mehr, als Bäume und Schnee und die vage Gewissheit, dass es tatsächlich etwas heller war, als vielleicht vor einer halben Stunde. Dann bemerkte er das Flackern. Langsam und so leise wie möglich setzte er sich wieder in Bewegung. Die Zweige, die er unter sich ausmachen konnte, überschritt er, doch das half wenig gegen das Knistern von Schnee und Nadeln unter seinen oder Sins Füßen. Das Flackern wurde derweil rasch stärker. Bald wusste er, dass es mehr als nur ein Feuer sein musste, klein genug, um kontrolliert zu verbrennen, aber hell genug, um weit zu strahlen. Fackeln, vermutlich. Sein Verdacht bestätigte sich plötzlich, als der Wald um sie herum abrupt aufhörte. Und dann wusste er auch, wo sie waren. Ein massives Bollwerk ragte vor ihnen auf. Ein Oktogon aus riesigen Kalksteinquadern, jede Seite mehrere Dutzend Schritt lang und fast ebenso hoch, jede Ecke von einem ebenso wuchtigen Turm flankiert. Hinter dem Mauerwerk zeichnete sich schwarz der Wald ab, der in der Ferne wieder begann, und darüber das erste Licht der Dämmerung. Im Licht der Fackelkette, die die Soldaten um ihn gezogen hatten, leuchtete der Dungeon förmlich. Und noch etwas bemerkte Kouen in diesem Moment und nur das hielt ihn davon ab, Sin barsch zurück in den Wald zu drängen. In der Kette aus Leuchtfeuern klafften Löcher. Er schloss die Augen und verfluchte sich innerlich. Spätestens jetzt wäre es seine Aufgabe gewesen, unverzüglich nach Rakushou zurückzukehren, doch er wusste auch, dass der Weg ihn mit Pech über eine Stunde kosten würde, auch wenn er ihn sich jetzt nicht mehr würde suchen müssen. „Ist das?“, hörte er Sin hinter sich fragen, doch Kouen hob nur unwirsch die Hand, um ihm zu bedeuten still zu sein. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er sich darüber gewundert, dass Sin dem stummen Befehl tatsächlich Folge leistete, doch für den Moment war er nur froh darüber, dass er es tat. Behutsam stellte er den Lampion hinter den letzten Bäumen neben ihm ab. Eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt und in geduckter Haltung, setzte er sich wieder in Bewegung. Sin folgte ihm mit einigem Abstand. Ihr Weg führte sie vorbei an den Wurzelresten von Bäumen, die man hatte fällen lassen, bevor der Hohepriester den Dungeon errichtet hatte. Er war viel zu lang, viel zu ungeschützt, doch der Angriff blieb aus. Niemand näherte sich, niemand lauerte hinter einem der Baumstümpfe. Sie blieben unbehelligt, bis Kouen die Soldaten sehen konnte. Was eine undurchdringliche Reihe an Schwertern, Speeren und Feuern hätte sein sollen, die sämtliche unerwünschten Herausforderer abhalten konnte, war Chaos. Körper lagen neben den Feuerstellen, von denen einige nur noch schwach glommen. Manche lehnten nebeneinander. Keiner der Männer schien seine Waffe gezogen zu haben. Er konnte kein Blut sehen, doch das beruhigte Kouen nicht im geringsten. Beim ersten Soldaten, den er erreichte, hielt er inne und kniete sich nieder. Schnee knirschte hinter ihm, als Sin an ihm vorbei schritt und sich weiter umsah. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte die Wange des Mannes. Warm. Der Puls, den er an seinem Hals fand, war stark und gleichmäßig, nichts, was auf eine Verletzung oder drohende Gefahr hinwies. „Ich habe doch gesagt, dass ich mich um die Ablenkung kümmere.“ „Was?“ Irritiert sah Kouen auf. Sein Blick fiel auf Sin, der in seinem roten Übergewand wie ein Leuchtfeuer aus dem Schnee heraus stach. Dann realisierte er schlagartig – Sin sprach nicht mit ihm. Eine Gestalt stand neben ihm. Klein, vielleicht noch ein Kind, und kaum mehr, als ein weißer Schatten, der mit dem Schnee zu verschmelzen schien. Plötzlich fügte sich alles zusammen. Er wollte aufspringen, sein Schwert ziehen, doch die Erkenntnis lähmte ihn. „Wo sind deine Schuhe?“, fragte die Gestalt. Ihre Stimme klang unregelmäßig und brüchig. Wie im Stimmbruch. Sin zuckte mit den Achseln. „Du siehst aus, als kämst du aus einem Puff.“ „Ich trage eine wertvolle Neujahrsrobe. Nun, einen Teil davon.“ „Du trägst ein Shenyi, Sin“, verbesserte die Gestalt ihn. Sie reichte ihm etwas, dass einem Schwert viel zu ähnlich war, um keines zu sein. „Einen Teil davon und einen auffälligen noch dazu.“ „Erzähl du mir nichts von auffällig. Gehen wir.“ Beide wandten sich von ihm ab. Sie brauchten nur wenige Schritte, bis sie das Portal des Dungeons erreichen. „Willst du nichts gegen ihn tun? Er wird dich verraten.“ „Nein. Wird er nicht.“ Einen Moment lang spürte er Sins Blick auf sich, dann waren beide verschwunden. Was blieb, war eine Flut von Vorahnungen über das, was ihm unvermeidlich bevorstehen würde. Eine Stunde zurück bis nach Rakushou und noch länger, bis er einen Vorgesetzten aus dem Bett geschüttelt hatte, der ihm glaubte. Selbst, wenn Hakuyuu sofort aufbrach, war der Vorsprung bis dahin uneinholbar. Nein, entschied Kouen. Das würde nichts bringen. Und noch etwas entschied er, als er die Hand zurück auf den Schwertgriff legte und sich dazu zwang, aufzustehen. Wenn Sinbad dachte, er würde sich damit zufrieden geben, der Statist zu sein, der ihm den Weg zu Agares gezeigt hatte, hatte er sich geschnitten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)