Wieder in Fluss geraten von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 3: Wiedersehen ---------------------- 03 - Wiedersehen Der Bus nahm erneut eins der unzähligen Schlaglöcher auf der alten Landstraße mit und riss Chihiro aus ihrem Schlummer. Noch verschlafen sah sie aus dem Fenster und erblickte die satt grüne Landschaft ihrer Kindheit. Die dichten Wälder schmiegten sich an die Straße und ihr Blick wurde von einer grünen, undurchdringlichen Wand gebremst. Soweit das Auge sah, war keine Spur menschlicher Zivilisation zu entdecken, nur unberührte Natur. Stimmgemurmel erfüllte den Reisebus, ihre Kommilitonen unterhielten sich oder versuchten sich anderweitig die Zeit bis zu ihrer Ankunft zu vertreiben. Einige wenige waren in Bücher versunken, die übrigen, die nicht in Gespräche vertieft waren, waren mit Hilfe ihrer Kopfhörer in ihrer eigenen Welt gefangen; ihr leerer Blick endete im Nichts. „So ein Mist“, zerschnitt eine wütende Stimme neben ihr die friedliche Atmosphäre. „In dieser Drecksprovinz gibt’s ja nicht mal Empfang!“ Wütend sah Yaro auf sein Handy und tippte energisch auf dem Display herum, als glaubte er, durch seinen Ärger etwas daran ändern zu können. „Ich verstehe nicht, wie du es damals hier ausgehalten hast.“ Stumm lächelte Chihiro gedankenverloren. Shiroryu in Iwate also, sie kehrte an ihren Ursprung zurück. Viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden, schließlich hatte sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens hier verbracht. Sie erinnerte sich noch gut an ihren Kummer, als sie plötzlichen aus ihrem Zuhause gerissen wurde, da ihre Eltern gezwungen waren umzuziehen. Ihr Vater arbeitete in einer großen Firma, die im ganzen Land Fabriken unterhielt. Er arbeitete hart und Chihiro erinnerte sich noch gut, wie er freudestrahlend eines Abends nachhause kam und stolz verkündete, dass er befördert worden war und deshalb in die Zentrale im Süden des Landes versetzt wurde. Ihre Mutter hatte Freudentränen in den Augen gehabt und fiel ihrem Vater überglücklich um den Hals. Chihiro jedoch konnte sich damals nicht freuen. Mit einem Moment wurde ihr alles entrissen, was ihr damals etwas bedeutet hatte. Sie würde nach dem Umzug ihre Freunde nie wieder sehen, musste die Schule wechseln und ihre Klassenkameraden verlassen. Nie mehr konnte sie nach der Schule ihre Großmutter besuchen oder ihre Tante, die immer so leckeren Kuchen backte. Und auch die weiten Wiesen und Felder, in denen sie immer so gern spielte, musste sie hinter sich lassen. Die kleine, heile Welt ihrer Kindheit zerbrach an diesem Tag. Es war ein komisches Gefühl heute als junge Frau an diesen Ort zurückzukehren. Auf der einen Seite erschien ihr alles so vertraut, aber dennoch fremd zugleich. Viel hatte sich in dem vergangenen Jahrzehnt verändert, auch an diesem idyllischen Flecken Erde waren die Zeit und der Fortschritt nicht vorbeigegangen. Der Bus kam ruckartig zum Stehen, da die Straße einen noch kleineren und verwitterten Weg kreuzte. Ein alter Lkw schleppte sich laut schnaufend über die Kreuzung. Aufgeregt schaute Chihiro aus dem Fenster, sie wusste endlich, wo sie waren! Wenn man diese bucklige Piste hinabfuhr, erreichte man in kurzer Zeit das Ziel ihrer Reise. In der Gegenrichtung lag ihre ehemalige Schule, sie war früher diesen Weg jeden Tag mit dem Bus gefahren. Mit einem weiteren Ruck setzte der Bus sich wieder in Bewegung und bog auf die Straße ein. Nach kurzer Fahrt verbreiterte sich die Straße plötzlich zu einer neuen Landstraße und sie durchquerten ein modernes Industriegebiet. Links und rechts neben der Straße standen gigantische Fabrikhallen, graue und gesichtslose Kästen, aus denen Schornsteine in den Himmel ragten. Ab und zu mündete eine Abzweigung an einem der vielen Werktore, die allesamt fest verschlossen waren und von einem Pförtnerhäuschen bewacht wurden. Die Natur war hier gnadenlos vom Mensch verdrängt worden; statt des lebendigen Grüns regierte graue Tristesse. Plötzlich musste Chihiro gegen einen Kloß in ihrem Hals kämpfen. Sie erinnerte sich noch genau: Hier verlief ursprünglich der Kohaku-River, genau dort, wo jetzt die Fabriken standen. Der Fluss wurde damals zugeschüttet und auf ewig zerstört und der Gott des Stroms aus seiner Heimat vertrieben. Hier war sie fast ertrunken und wurde von dem weißen Drachen aus den Fluten gerettet. Ein Stich ging ihr durchs Herz bei dem Gedanken. Zu wissen was geschehen war mit diesem Ort aus ferner Erinnerung war eine Sache, aber nun auch noch zu wissen, welches Schicksal den Geist dieses Ortes erwartet hatte, waren zwei verschiedene Dinge. Und jetzt war auch noch der kleine, verbliebende Rest des einst so majestätischen Kohaku-Rivers in Gefahr. Ihr Professor hatte sie vor Beginn ihrer Reise informiert. Seit ungefähr einem Jahr starb die Natur rund um den Fluss. Es begann mit wilden, seltenen Pflanzen, die plötzlich eingingen. Tote Wildtiere wurden zuhauf gefunden und schließlich verkümmerte auch die Ernte auf den angrenzenden Feldern. Das wiederum brachte die örtlichen Bauern auf den Plan, die ihrer Einnahmequelle beraubt, der Provinzregierung Druck machten. Kurzfristig wurden sie mit Entschädigungen ruhig gestellt, doch um die eigentliche Ursache zu erforschen, wurde das Forscherteam von Chihiros Universität verständigt. Sie wurden gerufen und nun waren sie da. Zischend öffnete sich die Tür des Busses und die Reisenden strömten erleichtert hinaus an die frische Luft und vertraten sich die Beine. Sie waren an einer kleinen Feriensiedlung angelangt, die nun die nächste Zeit so etwas wie ihr Hauptquartier und Heim sein würde. Ein gutes Dutzend kompakter Bungalows stand dort rund um ein größeres Haupthaus, aus dem nun eine ältere Frau geschlendert kam und den Professor begrüßte. Sie wurden an die Rezeption geführt, die Wohngemeinschaften auf Zeit fanden sich – zum Teil unter großem Protest und gebrochenen Herzen – und schließlich bekam jeder einen Schlüssel in die Hand gedrückt. Frühstück im Essenssaal im Haupthaus, zwischen sieben und acht. Der Rest des Nachmittags wurde damit verbracht sich einigermaßen häuslich einzurichten. Chihiro teilte sich mit Yaro eine der kleineren Hütten, die schlicht und zweckmäßig eingerichtet waren. Nach dem Abendessen trafen sich alle, um den lauen Sommerabend zu einem Spaziergang zu ihrem aktuellen Studienobjekt zu nutzen. Die Wirtin ihrer Unterkunft hatte sich als eine Art Fremdenführerin angeboten und bereiterklärt ihnen einige interessante Dinge in der Umgebung zu zeigen. Sie schlenderten einen kleinen, befestigten Weg die Hügel hinab, der sie durch die Ausläufer des umgebenden Waldes führte. Schon hier waren die ersten Schäden zu sehen. Viele der Bäume waren kahl, obwohl es Hochsommer war. Schließlich führte eine steinerne Treppe direkt ans Ufer des Flusses. Die Reisegruppe stand nun versammelt am Ufer und analytische Blicke begutachteten die Umgebung. Das Gras war bräunlich und tot, kaum ein Tier war zu hören noch zu sehen. Einige der Studenten knieten am Ufer und schöpften etwas von dem Wasser mit den Händen aus dem Fluss, um prüfend daran zu riechen. Ein mutiger Student probierte sogar etwas davon zu trinken, spuckte aber sofort wieder aus. Das Wasser hatte einen stechenden metallischen Geschmack. Der Professor unterhielt sich derweil weiter mit der Wirtin und versuchte erste Informationen zu sammeln: Wann begannen die Pflanzen zu sterben, wie sah es hier davor aus und welche Tiere lebten für gewöhnlich an den Ufern des Kohaku-Rivers? Chihiro bekam von all dem wenig mit. Fest lag ihr Blick auf der gemächlichen Strömung und sie beobachtete das Fließen des vertrauten Wassers. Sie erinnerte sich wieder; Der Kohaku-River war eine Art Laune der Natur. Obwohl sie nur wenige Kilometer von seiner Quelle entfernt standen, war der Fluss bereits relativ breit und auch so tief, das ein Kind darin unmöglich stehen konnte. Die Strömung war deutlich zu erkennen, aber nicht reißend. Ruhig floss der Strom das kurze verbliebene Stück hinab. Ihr Blick wandte sich nach Osten. Dort am nahen Horizont waren einige Berge zu erkennen. Sie wusste von früher, dass dort der Fluss seine Quelle hatte. Unterirdisch lief er unter dem Gebirge und brach in einem tosenden Wasserfall aus dem Gestein. Ein kraftvolles Gewässer, nicht so ein dünnes Rinnsal, wie andere Flüsse nahe ihres Ursprungs. Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Die Wirtin berichtete gerade, wie damals entschieden wurde, den Kohaku-River zuzuschütten und ihn unterirdisch versickern zu lassen. Dies war immer eine einfache Gegend gewesen, die Menschen lebten zumeist von der Landwirtschaft und wirklicher Reichtum war fremd. Als das ganze Land von einer Welle der industriellen Aufrüstung erfüllt war, kamen die ersten Firmen und siedelten sich an. Kurze Zeit später wurden seltene Erze in dem anliegenden Gebirge entdeckt und sofort wurde sich daran gemacht die Vorkommen zu erschließen. Vor zehn Jahren schließlich stimmte die Regierung zu die Natur zugunsten des Fortschritts und Wohlstands zu opfern und gab dem Drängen eines mächtigen Industriellen nach. Chihiros Aufmerksamkeit richtete sich wieder nach innen, nachdenklich starrte sie in den Fluss. Wenn sie das Wasser berühren würde oder gar hineinsprang, würde Kohaku das merken? Unbewusst umschlossen ihre Hände den Jadedrachen auf ihrer Brust. Sie wusste von ihrer Reise in die Welt der Geister und Götter, dass die meisten Naturgeister direkt mit ihrem Element verbunden waren, sie eine Art zusätzlichen Sinn dafür hatten. Der Fluss war so etwas wie eine zusätzliche Gliedmaße für Wassergötter, ein Teil ihres Körpers. War das Wasser krank, griff dies auch auf den Geist über. Mit Schrecken erinnerte sich an den Flussgott, der es mit letzter Kraft in das Badehaus geschafft hatte. Seine Erscheinung war durch den ganzen Abfall, der in seinem Bett versenkt worden war, völlig verunstaltet. Der gutmütige, alte Drache war nicht wiederzuerkennen, er war einfach zu einem Klumpen Dreck geworden. War das die Gelegenheit, auf die sie so viele Jahre gewartet hatte, endlich Kontakt mit Haku aufnehmen zu können und ihn wiederzusehen? Sollte es so einfach sein, dass sie nur die Hand ausstrecken und ins Wasser greifen musste? Sie zögerte. Nein, das wollte sie nicht überstürzen. Außerdem war das nur eine Vermutung. Selbst wenn es klappte, war unklar, ob er sich überhaupt an sie erinnerte, geschweige denn sie sehen wollte. Wahrscheinlich hatte er das Menschenmädchen von vor zehn Jahren längst vergessen. Sie hatte ihm seinen Namen und damit seine Freiheit und Macht wiedergegeben, aber auch sein Leben ging weiter. Was sollte er, ein mächtiger Gott, mit einem einfachen und sterblichen Mädchen? Und neben all diesen Zweifeln stellten sich auch ganz praktische Fragen: Was sollte sie sagen, wenn er plötzlich vor ihr stand? War er immer noch ein Kind, ein Gott war immerhin unsterblich. Wenn auch er älter war, hatte er sich verändert? Schließlich die wichtigste Frage: Was sollte sie antworten, wenn er sie einlud ihm zurück zum Badehaus zu folgen? Sie war kein Kind mehr, sie konnte nicht von jetzt auf gleich alles hinter sich lassen. Sie hatte mittlerweile Verantwortung übernommen in ihrer Welt, es gab Menschen, die sie vermissen würden. Wie von selbst glitt ihr Blick zu Yaro, der etwas abseits mit zwei Freunden stand und eine Dose Bier in der Hand hielt. Nein, nicht heute. Sie musste das gut überlegen, bevor sie solch ein Experiment wagte. Die Gruppe setzte sich einige Zeit später wieder in Bewegung und wanderte im Wald geschützt entlang des Flusses. Die Luft war voller kleiner Fliegen, die wie Wolken unter den Ästen in der Luft schwebten. Ständig musste Chihiro die Augen schließen und darauf achten den Mund geschlossen zu halten, wenn sie wieder gezwungen war durch eins dieser Hindernisse zu gehen. Interessanterweise waren all die lästigen Erscheinungen der Natur nicht betroffen von den Auswirkungen der Verseuchung, Die meisten der Anwesenden klagten inzwischen lautstark über Mückenstiche, auch Chihiro blieb nicht verschont. Zähe Biester, dachte sie zerknirscht. Plötzlich blieb die Wirtin stehen und zeigte auf eine kleine Lichtung im Wald. Im Zwielicht der einsetzenden Dämmerung erschien eine kleine, von Wind und Wetter verwitterte Pagode. Sie schien lange in Vergessenheit geraten zu sein und an einigen Stellen arg verfallen. Das geschwungene Dach war löchrig, die Wände windschief. Die ganze Ruine war von Pflanzen überwuchert, Wurzeln trieben aus dem Boden und bildeten eine Einheit mit dem Stein. Es gab nicht einmal mehr einen Pfad, die Gruppe bahnte sich einen Weg durch das hohe Gras. „Das ist der alte Tempel des Flussgottes“, begann die Reiseführerin zu erzählen, als sie im Inneren waren und zeigte auf eine brüchige Statue. Mitten in dem winzigen Raum stand auf einem Sockel eine alte Darstellung eines Drachens aus hellem Stein. „Dieser Drache ist der Schutzgeist des Flusses. Früher haben die Menschen um gute Ernte und Schutz vor dem Wasser gebetet, aber das ist lange her. Die Bauern glaubten, dass ein weißer Drache in dem Fluss lebt. Um ihn zu besänftigen, haben sie diesen Schrein gebaut.“ Chihiro versuchte angestrengt die aufkommenden Tränen fort zu blinzeln. Sie konnte den Blick nicht von der Statue nehmen, auch wenn es ihr gerade das Herz zerriss. Ja, das war der Drache Nigihayami Kohaku Nushi in seiner ganzen Pracht. Die Darstellung war zwar stilisiert, aber das hundeähnliche Gesicht und die langen Barthaare waren lebensecht getroffen. Der Blick des Drachens lag stechend auf ihr und sah sie eindringlich an, als ob er ihr vorwarf ihn vergessen zu haben. Wie um sich zu rechtfertigen griff Chihiro wieder nach ihrem Anhänger. Stumm versuchten ihre Augen zu sagen, dass sie jeden Tag an ihn gedacht hatte und immer auf seine Rückkehr gewartet hatte. Sie vergaß vollkommen die Welt um sich herum, all ihre Sinne waren nun auf den steinernen Drachen fixiert. Mit einem Mal fühlte sie sich so schäbig, dass sie kurz zuvor nicht den Mut hatte und sich ein Herz genommen hatte über das Wasser Kontakt aufzubauen. Was machte sie sich eigentlich vor, was hielt sie denn in dieser Welt? Ihr ganzes Leben war auf dieses Wiedersehen ausgerichtet gewesen oder zumindest versuchte sie im Wissen um die andere Welt zu leben. Warum auch sonst dieses Studium und dieses Projekt? Weil sie nie wieder wollte, dass ein Flussgeist unter den Menschen leiden musste. Der Rest der Gruppe war nicht einmal annähernd so ergriffen wie Chihiro, die immer noch im Angesicht des Drachen mit den Tränen kämpfte. Die meisten waren bereits gelangweilt gegangen oder wandten sich gerade nach draußen. Yaro hatte immerhin ein Foto von sich und dem Drachen im Schwitzkasten gemacht, dann war auch er sofort wieder gegangen. Chihiro stand schließlich allein in dem verfallenen Schrein und konnte ihren Tränen endlich freien Lauf lassen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)