Wieder in Fluss geraten von Seelenfinsternis ================================================================================ Kapitel 1: Jeden Tag in der Dämmerung ------------------------------------- 01 – Jeden Tag in der Dämmerung Langsam, beinahe träge lief er durch die Gärten, die sich vor dem Badehaus ausbreiteten. Seine Gedanken aber waren nicht bei ihm, seine abwesenden Augen hatten keinen Blick übrig für die üppig blühende Pracht. Die ersten Boten der herannahenden Dämmerung kamen von Westen über den Himmel marschiert und die Schatten am Boden gehorchten ergeben und wurden länger. Goldenes Licht brach sich zwischen den Bäumen des Gartens, versuchte die Wärme des Tages zu bewahren und verströmte Behaglichkeit. Ein friedlicher Sommertag neigte sich dem Ende zu, doch der einsame Spaziergänger war zu sehr im Nebel seiner Gedanken gefangen, um sich an dem idyllischen Bild zu erfreuen. Dieser kurze Moment vor der Dämmerung, er war zu seiner einzigen Flucht geworden. Ein unbeobachteter Augenblick, in dem er seine quälenden Gefühle und Hoffnungen aus ihrem Versteck im hintersten Winkel seines Verstandes freilassen konnte. Die Blüte einer Hortensie glitt durch seine Hand, eine weitere Erinnerung streifte seinen rastlosen Geist. Dieser Ort war voller Erinnerungen an sie. Sie, das war die Eine, die damals das Licht in sein Leben zurückgebracht hatte. Ihre Wege hatten sich zweimal bisher gekreuzt und jedes Mal hatte es ihn tief berührt. Ihr letztes Aufeinandertreffen hatte ihm schließlich schmerzhaft zu verstehen gegeben, was sein eigentlicher Wunsch war, was ihn die ganze Zeit so quälte. Er wollte nicht mehr allein sein. Rational betrachtet war Haku auch gar nicht allein. Er war der Generalbevollmächtigte eines Badehauses, dessen viele Besucher und emsige Angestellten es wie einen Bienenstock zum Surren brachten. Es war schwierig auch nur zehn Schritte zu gehen ohne einem anderen in die Arme zu laufen, von Vereinsamung und Isolation konnte nicht wirklich die Rede sein. Kaum hatte sein Geist diesen Gedanke zu Ende formuliert, verzog er genervt das Gesicht. Dieser alberne Titel war der geniale Einfall der Alten gewesen. Nichts als Schönrederei, de facto leitete er alle Geschicke, die das Geschäft betrafen, da Yubaba sich völlig in ihre eigene Scheinwelt zurückgezogen hatte. Einmal hatte die Hexe den Kürzeren ziehen müssen und wurde dadurch in den Grundfesten ihrer Selbstherrlichkeit tief erschüttert. Trotzdem beharrte sie weiterhin darauf sich die Vorsteherin und Inhaberin des ehrenwertesten Badehauses der Geisterwelt zu nennen; der Drachenjunge war lediglich so gut von ihr unterrichtet worden, dass er sich um die profanen Widrigkeiten des Geschäftslebens kümmern konnte. Von dem Jungen war aber nicht allzu viel übrig geblieben. Zehn Jahre waren seitdem vergangen und aus dem bestimmt auftretenden Knaben war ein hochgewachsener junger Mann geworden. Ein außergewöhnlicher Mann sogar, denn er lebte sowohl frei und ungebunden in der Geisterwelt als auch als ein an seinen Fluss gebundener Schutzgeist. Eigentlich ein Widerspruch in sich, frei aber doch an einen Ort gebunden. Diese zerrissene Existenz war jedoch menschengemacht. Wegen ein paar Hektar Bauland war vor Jahrzehnten schon sein Fluss zerstört und sein Dasein als Flussgott fast beendet worden. Doch er und sein Fluss waren stark. Auf einer kurzen Strecke zwischen Quell und dem Verschwinden im Boden floss der Strom noch immer wie in alten Zeiten durch die Landschaft. Doch ein so unbedeutend kleiner Lauf verlangte nicht mehr die Präsenz seines Patrons. Aber auch wenn Haku physisch abwesend war, spürte er dennoch genau jeden Tropfen Wasser, der durch ihn hindurchfloss. Er und der Fluss, sie waren eins. Ein Wesen, ein Bewusstsein. Er war sich jeden Sandkorns in seinem Bett gewahr. Dort waren sie sich auch das erste Mal begegnet, stellte er fest, als seine Aufmerksamkeit wieder zu dem Gedanken davor zurücksprang. Sie drohte in ihm zu ertrinken, hilflos in seiner damals noch kräftigen Strömung gefangen. Er war ihr zu Hilfe geeilt, hatte sie zurück ans Ufer gebracht. Wie konnte er damals auch nur ahnen, dass diese eine, so kurze Begegnung sein Leben schon bald verändern würde? Jetzt stand er jeden Tag kurz vor der Dämmerung im Garten zwischen den das ganze Jahr über blühenden Pflanzen an der Grenze zu ihrer Welt und hoffte wie ein liebeskranker Narr, dass sie wieder zu ihm zurückkehren würde. Bei ihrem Abschied hatte er Chihiro versprochen, dass sie sich wiedersehen würden. Bald jedoch musste er einsehen, dass es schwierig sein würde dieses Versprechen auch zu erfüllen. Er konnte als Geist nicht einfach nach Belieben durch die Welt der Menschen spazieren, es war ihm nur erlaubt sich an seinem Fluss oder einem ihm gewidmeten Schrein aufzuhalten. In der ersten Zeit trieb er oft wartend in seinen Fluten, hatte tatsächlich die naive Hoffnung gehabt sie so wiedersehen zu können. Doch sie tauchte nie auch nur in seiner Nähe auf. Irgendwann hatte er eingesehen, dass es so sinnlos war. Es war ihm unmöglich sie zu suchen, er war nun einmal – ob er wollte oder nicht – an diesen einen Ort und an seine Welt gebunden. Also hoffte er seitdem, dass sie den Weg zurück in die Geisterwelt finden würde. Genau wie damals, als sie ein ängstliches Mädchen war und er sie völlig verzweifelt kurz vor der Dämmerung aufgelesen hatte. Deshalb stand er nun jeden Abend an der Grenze zu ihrer Welt und seine grünen Augen suchten die weiten Wiesen nach einem Hinweis auf sie ab. Auch das war an und für sich ein eher hoffnungsloses Unterfangen, doch er hatte ein Versprechen gegeben. Jeden Tag, kurz bevor mit der Dämmerung das rege Treiben im Badehaus beginnen würde, stand er zwischen den prallen Hortensien. Egal ob Sommer oder Regen, er würde auf sie warten. Wenn es sein musste bis in alle Ewigkeit. All diese Gedanken und Empfindungen behielt er aber sorgsam für sich. Nur an diesem Ort, zu dieser Zeit gestatte er sich diesen Augenblick der Schwäche. Nach außen hin war er ein bestimmt und sachlich auftretender Mann, der seinen scharfen Verstand nicht durch so etwas Nutzloses wie Gefühle trüben ließ. Sein Ruf unter den Arbeitern war berüchtigt, er galt als streng und akzeptierte nichts anderes als Perfektion. Doch er verlangt dasselbe auch von sich selbst und er verhielt sich stets fair, auch den niedersten Hilfsarbeiter behandelte er mit Respekt. So war er trotz seiner Makel respektiert und niemand wagte es auch nur ihn in Frage zu stellen. Schließlich kannten alle die Alternative und die Willkür und Launen Yubabas wünschte sich nun wirklich niemand zurück. Hastige Schritte näherten sich seinem geheimen Refugium. Eine völlig aufgelöste Rin rannte auf ihn zu und rief schon von weitem: „Meister Haku, kommt schnell! Die Fuchsgeister, diese unmögliche Bande… Sie haben während des Tages, als jeder geschlafen hat, alle Becken dazu benutzt unsere Tofuvorräte zu frittieren. Alles ist voller Öl, alles stinkt, es ist eine Katastrophe! In jeder Ecke stapelt sich nun das fettige Zeug und die Plagegeister finden das auch noch komisch! Sie haben mich ausgelacht und gefragt, was ich denn habe, das sei doch eine köstliche Überraschung!“ Die Schwarzhaarige redete sich mit jedem Schritt, den sie sich dem Drachen näherte, weiter in Rage und erreichte ihn wie eine Furie schimpfend. Es hatte lange gedauert, bis sie ihn gefunden hatte. Mit blanken Nerven war sie fast einmal durch das gesamte Gebäude gestampft, in der Hoffnung, dass ihr junger Herr dem unerhörten Treiben ein Ende setzen würde. Erst als sie unter dem Dach angelangt war und ihn immer noch nicht gefunden hatte, erinnerte sie sich daran, wo sie ihn schon einmal kurz vor der Dämmerung angetroffen hatte. Es irritierte sie ihn auch heute wieder zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu treffen und das Grübeln über den Umstand brachte ihren Furor für den Moment zum Verrauchen. Neugierig beobachtete sie sein scharf geschnittenes Gesicht, darauf bedacht sich ja nichts anmerken zu lassen. Komisch, warum war sein Gesicht so regungslos, trotz der schlechten Nachrichten, die sie ihm überbracht hatte? Gewöhnlich hätte er sie schon längst gefragt, wie so etwas nur passieren konnte. Nicht einmal die kleinste Spur Ärger flammte in seinen grünen Augen auf, sie weilten trüb in der Ferne und schienen etwas zu suchen. Überhaupt sah Haku aus, als sei er mit den Gedanken sehr weit weg. Es hatte etwas sehr Melancholisches, wie der Drache da in der immer weiter aufziehenden Dämmerung an der Grenze zwischen Grasland und Garten stand, der lange, dunkelgrüne Zopf im Wind flatterte und er sehnsuchtsvoll in die Ferne blickte. Auch Rin vermisste Sen. Sie hatte die Kleine und ihre unbekümmerte Art gleich ins Herz geschlossen und vermisste ihre Fröhlichkeit seitdem oft zwischen den vielen gestressten Gesichtern. Ging es dem Drachen etwas auch so? Sicher, sie hatten wohl damals viel zusammen erlebt, aber dass das Menschenmädchen so einen Eindruck auf den verschlossenen Flussgott gemacht hatte, konnte niemand ahnen. Nie hatte er auch nur ein Wort ihr gegenüber über das verloren, was er damals während ihres kurzen Abenteuers mit Sen erlebt hatte. Rin hatte selbst einmal einen stillen Moment genutzt und versucht mit Haku über die Lücke zu sprechen, die das Mädchen in vielen Herzen hinterlassen hatte. Er hatte schließlich die meiste Zeit mit ihr verbracht und so hatte sie gehofft, dass er es verstehen würde. Doch er hatte sie schroff abgewiesen und seither jedes Gespräch im Keim erstickt, das sich um Sen drehte. Jetzt, wo sie ihn so einsam warten sah, verstand sie endlich warum. Die größte Lücke hatte das Menschenkind im Herzen des Drachen hinterlassen und diese Lücke war seit dem Tag des Abschieds nicht ein bisschen verheilt. „Du hoffst Sen wiederzusehen und wartest hier auf sie, stimmt’s?“, fragte die junge Frau mit gesenkter Stimme. Auch wenn sie hier allein waren, wollte sie so diskret wie möglich sein. Ertappt verzogen sich Hakus Lippen zu einem bitteren Lächeln. „Jeden Tag.“ Er gestattete sich noch einen hoffenden Blick an den Horizont, dann endlich schaffte er es seine Augen von der Grenze von Himmel und Gras zu lösen und wandte sich den Problemen des Hier und Jetzt zu. „Du sagtest, die Inari haben wieder einen ihrer Streiche gespielt?“ Rin antwortete mit einem grimmigen Lächeln: „Lass uns den Füchsen die Leviten lesen!“ Energisch wandte sie sich zum Gehen und ging zügig voran. Dicht folgte ihr der Generalbevollmächtigte des Badehauses, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen, um seines Amtes zu walten. A/N: Laut einer bekannten Legende haben die japanischen Fuchsgeister, Inari genannt, den Ruf, gerne Aburaage (frittierten Tofu) zu essen. Deshalb heißt auch die Udon-Suppe mit Aburaage als Einlage „Kitsune-Udon“ und die Sushivariante damit „Inarizushi“; nach Fuchsart sozusagen. Kapitel 2: helle Träume in grauer Wirklichkeit ---------------------------------------------- 02 – helle Träume in grauer Wirklichkeit Die Kaffeemaschine blubberte und brodelte angestrengt, um ihrer Meisterin in kürzester Zeit die dringend benötigte Starthilfe in den Tag zu geben. Dampf stieg über der Glaskanne auf und eine zierliche Hand griff matt danach. Schwarz, heiß und lecker ergoss sich der Inhalt in eine alberne Tasse; Garfield verkündete verschlafen der Welt, wie sehr er den Montagmorgen hasste. Eine nicht minder verschlafen guckende Frau schüttete beiläufig etwas Milch in die Tasse und führte das Lebenselixier dann gierig an ihre Lippen. Ihre kalten Hände wärmten sich an der warmen Keramik, mit geschlossenen Augen genoss sie es, wie der Kaffee ihre Kehle hinabfloss und ihre Lebensgeister weckte. Nach der ersten Tasse fühlte sie sich nun soweit wieder hergestellt, um ihre übliche Morgenroutine weiter abzuarbeiten. Noch in ihren Pyjama gekleidet schlurfte sie weiter ins Badezimmer. Aus dem Spiegel blickte Chihiro eine junge Frau Anfang zwanzig an. Die warmen, braunen Augen waren noch immer halb geschlossen und auf Halbmast und die langen, ebenfalls braunen Haare fielen strubbelig über ihren Rücken. Ein altes, löchriges Top bildete das Oberteil ihrer Schlafgarderobe und kurz über dem Stoff, der ihre Oberweite bedeckte, lag ein Anhänger auf ihrer Haut. Wie jeden Morgen umschlossen ihre Hände die Kette und der kleine Drache aus Jade verschwand darin. Das etwas eigentümliche Ritual jeden Morgen gab ihr Kraft und erinnerte sie an ihr Abenteuer in der Welt der Geister und Götter. Niemals hatte sie den Drachen vergessen, den sie damals kennen und auch lieben gelernt hatte. Er hatte ihr versprochen, dass sie sich wiedersehen würden… damals, vor zehn Jahren, als sie noch ein Mädchen war. Als sie an der Grenze der Welten standen und er sich von ihr verabschiedete. Ganz sicher würden sie sich wiedersehen, das war sein Versprechen. Kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie diese unscheinbare Kette in der Auslage eines fliegenden Händlers auf einem Jahrmarkt gesehen. Sie hatte ihren Eltern so lange in den Ohren damit gelegen, bis sich ihr Vater schließlich erbarmt hatte, nur damit sie endlich ihn in Frieden lassen würde. Der kleine, grüne Drache war daraufhin ihre ständige Erinnerung geworden daran, dass dieses Abenteuer real war, dass es kein phantastischer Traum gewesen war. Sie vermisste den Drachenjungen, es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte und hoffte, dass sie sich wiedersehen würden. Es war schwer mit diesen Erinnerungen allein zu sein, mit niemandem konnte sie über die Erlebnisse sprechen, die sie so sehr geprägt hatten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, welche Verheerungen die Menschheit in die Welt der Geister brachte, wie sehr besonders die Naturgeister unter der steten Missachtung litten. Nie konnte sie die Begegnung mit dem Flussgott vergessen, der dank der Verschmutzung durch die Menschen zu einem wandelnden Berg stinkenden Unrats geworden war. Mit letzter Kraft hatte er es in das Badehaus geschafft, wo sie es dann mit der Unterstützung aller anderen Bediensteten geschafft hatte ihn davon zu befreien. Auch ihr Drache hatte unter der Rücksichtslosigkeit der Menschen schwer gelitten. Nur der Gier um einiger Hektar Bauland wegen war sein Fluss zugeschüttet worden. Von dem einst kräftigen Strom war nur ein kleiner Abschnitt übriggeblieben, der nach wenigen Biegungen wieder in der aufgeschütteten Erde versickerte. Als sich nach ihrem Schulabschluss die Frage ihrer weiteren Zukunft stellte, musste sie keine Sekunde darüber nachdenken. Sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun der Zerstörung der Natur und damit auch ihrer Götter Einhalt zu gebieten, zu erforschen, wie Menschen und Elementare friedlich koexistieren konnten. Also hatte sie sich an der Universität in der biologischen Fakultät eingeschrieben und widmete sich nun mit aller Kraft der Erforschung und Erhaltung von Ökosystemen. Inzwischen hatte sie das Grundstudium hinter sich gebracht und sich einem Forschungsteam der Universität angeschlossen. Oft wurden sie von Städten als Experten hinzugezogen, wenn es um Bauprojekte ging, aber auch wenn versucht wurde die Wunden in der Natur wieder zu heilen. Langsam schälte sie sich aus ihrem Schlafanzug und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser weckte auch nun die Hartnäckigsten ihrer Lebensgeister und sie genoss die wohlige Wärme, die an ihr herunterlief. „Hey Babe, mach hin, ich will auch endlich duschen“, drang eine männliche Stimme dumpf durch die Tür des Badezimmers. Genervt rollte Chihiro mit den Augen. Sie stand nicht mal zwei Minuten unter der Dusche und wie jeden Morgen stand ihr Freund erst auf den letzten Drücker auf und erwartete, dass sich alles und jeder seiner immensen Wichtigkeit unterzuordnen hatte. Yaro war der Mittelpunkt seines Universums, alle seine Mitmenschen kreisten wie Monde um ihn herum und sonnten sich in seinem Glanz. Trotzdem war Chihiro inzwischen seit zwei Jahren mit ihm zusammen und teilte sich das Appartement mit dem Kommilitonen. Rückblickend konnte sie gar nicht genau erklären, warum sie mit ihm zusammengekommen war. Sie konnte nicht einmal sich entscheiden, ob sie ihn wirklich liebte oder er nur eine Möglichkeit war die Einsamkeit und Leere in sich zu bekämpfen. Er war einfach da und inzwischen war es ihre Gewohnheit geworden seine Freundin zu sein. Es war so aufregend zu Beginn gewesen endlich einmal begehrt zu werden und die Neugierde hatte schließlich über ihre Bedenken gesiegt. Am Anfang dieses Abenteuers hatte sie tatsächlich ein schlechtes Gewissen gehabt, sie hatte sich so schäbig gefühlt, als würde sie ihren Drachen betrügen und verraten. Doch der Verstand hatte nach inzwischen acht Jahren über ihr Herz gesiegt und so hatte sie das erste Mal dem Werben eines Mannes nachgegeben. Er war nicht gekommen, er hatte sein Versprechen gebrochen. Nach acht Jahren war es mehr als unwahrscheinlich, dass wie aus dem Nichts ein weißer Drache vor ihrem Fenster in der Luft schweben würde und sie zu sich holte. Es war nicht so, dass sie es sich nicht weiter wünschen würde, diese romantische Hoffnung hatte sie auch jetzt niemals aufgegeben. Der Jadedrache um ihren Hals war Beweis genug. Aber sie war inzwischen erwachsen geworden, reifer und sie war zu der Einsicht gekommen, dass ihr Leben weitergehen musste. Vielleicht hatte der Flussgott sie auch längst vergessen. Sie war schließlich nur eine Sterbliche, eine unwichtige Sekunde in einem unsterblichen Leben. Es war ein furchtbar naiver Gedanke, dass er alle Hebel der Geisterwelt in Bewegung setzen würde nur um irgendwie einen Weg zu ihr zu finden. Wahrscheinlich hatte er recht schnell eingesehen, dass es schlicht unmöglich war, dass sie sich wiedersahen und hatte ebenfalls sein Leben im Badehaus weitergelebt. Vorsichtig stieg sie aus der Wanne und wickelte sich tropfnass in ein großes Handtuch. „Ich mach ja schon“, meckerte sie und ging durch die Tür hinüber ins Schlafzimmer, wobei sie eine Spur von Wassertropfen auf dem Boden hinterließ. Auf dem Bett saß ein junger Mann und starrte abwesend auf das Handy in seinen Händen. Immer wieder wischten seine Finger hektisch über das Display und ein leises Glöckchen läutete in unregelmäßigen Abständen. Sein nackter Oberkörper war braungebrannt, die kurzen blondierten Haare standen in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Ein dunkler Bartschatten lag über seinem Gesicht und verlieh ihm ein verwegenes Aussehen. Mit mäßigem Interesse verfolgte Chihiro, wie Yaros Finger in einem aberwitzigen Tempo über das kleine Gerät tanzten und er der realen Welt entschwunden war. Er nahm keinerlei Notiz von ihr, dabei hatte er es eben doch noch so eilig gehabt. „Wolltest du nicht unbedingt sofort ins Bad?“, grummelte sie und drehte sich genervt zu ihrer Seite des Kleiderschranks. „Häh?“ Es dauerte einen Moment, bis der junge Mann den Faden wieder gefunden hatte. „Achso, ja!“ Schwungvoll erhob er sich aus den Laken und wie Gott ihn schuf schlenderte er ins Badezimmer, jedoch nicht ohne sein Telefon aus der Hand zu legen. „Machst du mal Kaffee, Babe?“, drang es noch dumpf hinter der geschlossenen Tür hervor. Endlich allein, entkam ein genervtes Stöhnen ihren Lippen. Nahm er sie überhaupt noch wahr oder war sie ein besseres Hausmädchen für ihn mit gewissen Vorzügen? Bedeutete sie und ihre Beziehung ihm noch irgendetwas? Wie so oft, wenn sie darüber nachdachte, kroch die Einsamkeit kalt in ihre Brust und hinterließ einen dumpfen Schmerz. Sie fühlte sich so allein und verloren auf der Welt. Wie oft wünschte sie sich einfach nur in den Arm genommen zu werden, einfach nur die schützende Geborgenheit einer Umarmung genießen zu dürfen? Sie schüttelte den Gedanken ab, dafür war nun keine Zeit. Die Zeiger der Uhr legten ein strammes Tempo auf dem Ziffernblatt der großen Uhr an der Wand vor, die Melancholie musste warten. Kaum waren die Türen des Schrankes offen, beschäftigte ein neuer Gedanke ihren unruhigen Geist. Was sollte sie bloß anziehen? Sie griff sich das oberste T-Shirt vom Stapel und einen Moment später war aus dem verschlafenen Griesgram eine einigermaßen gesellschaftlich vorzeigbare junge Frau geworden. Mit einem kurzen, aber nicht minder kritischen Blick prüfte sie ihre Erscheinung im Spiegel. Irgendwie hatte sie seit ihrem Abenteuer eine merkwürdige Affinität zu lachsfarbenen Oberteilen entwickelt. Die Farbe erinnerte sie an glückliche Zeiten, an ihre Uniform in Yubabas Diensten. Es war zwar ein schlichtes und entbehrungsreiches Leben gewesen, auch wenn es nur kurz währte. Dennoch hatte sie sich an diesem unmöglichen Ort das erste Mal in ihrem Leben gewollt und akzeptiert gefühlt. „Scheiße, schon so spät?“, fluchte Yaro, kaum dass er aus dem Bad wieder erschien. „Hör endlich auf zu trödeln, wir müssen los!“, blaffte er Sekunden später Chihiro an. Gemeinsam verließen sie die Wohnung, die in einem hohen Haus voller kleiner Appartements inmitten eines belebten Viertels der Stadt lag. Aus den umliegenden Gebäuden ergossen sich immer weiter Menschenmassen auf die Straße, die dichtgedrängt mit leerem Blick nebeneinander entlangliefen, ohne auch nur von einem der Mitmenschen Notiz zu nehmen. Stoisch trottete Chihiro Yaro hinterher und sie folgten weiter der Herde Berufstätiger. Es war einfach verrückt; So viele Menschen umgaben sie und doch fühlte sie sich so unendlich allein und verlassen. Der Eingang zur Metro bildete eine Art Trichter, durch den sie sich die Menge quetschte. Unsanft drückte sie ein gesichtsloser Mensch hinter ihr in der Reihe gegen das Drehkreuz und ermahnte sie so, sich doch bitte dem monotonen Gleichschritt anzupassen. In dieser grauen, streng getakteten Welt gab es keine Zeit für Tagträume, Zeit war schließlich Geld. Chihiro war heilfroh, dass sie tatsächlich noch einen Sitzplatz in dem vollbesetzen Zug ergatterte. Ihren Freund hatte sie inzwischen aus den Augen verloren, aber es war vergeudete Mühe sich darum Gedanken zu machen. Er würde so oder so die ganze Fahrt über nur wieder auf den kleinen, leuchtenden Bildschirm starren und kein Wort mit ihr wechseln. Spätestens im Hörsaal würde sie ihn wieder treffen, außerdem war er alt genug um alleine Bahn zu fahren. Ratternd fuhr die Metro durch die unterirdischen Tunnel und schüttelte die Passagiere durch. Ab und an quietschten in einer Kurve laut die eisernen Räder auf, wenn sie sich an den Gleisen rieben, sonst störte kein Geräusch die lärmende Eintönigkeit der Fahrt. Nach einigen Stationen erreichte der Zug endlich wieder das Tageslicht. Der Weg führte sie weiter durch ein kurzes Stück freie Fläche, die noch zwischen den Stadtteilen offen und brach geblieben war. Chihiros Blick verlief sie im Grün der Wiesen und Bäume auf der anderen Seite der Glasscheibe. Schon immer hatte die Natur eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt, die sanft von der Morgensonne angestrahlte Landschaft half ihrer rastlosen Seele für den Moment Ruhe zu finden. Schließlich löste sich ihr Blick von der Erde und wanderte in den Himmel. Es versprach ein schöner Sommertag zu werden, nur ein paar harmlose weiße Wolken waren auf die azurblaue Leinwand des Himmels getuscht. In großer Höhe sah sie Flugzeuge, die weiße Kondensstreifen hinter sich entlangzogen. Weiße Schatten am Horizont…. Ihre träumerischen Gedanken wanderten wieder zu der Welt der Götter und Geister. Sie war auf einem dieser Schatten geritten über den sternenklaren Nachthimmel. Der weiße Drache war ihr damals gefolgt, wollte sie beschützen. Gedankenverloren umschlossen ihre Finger den Anhänger um ihren Hals. Wie schön wäre es, wenn sie eines Abends in den Himmel schauen würde und die schlanke Gestalt sich hell gegen die Nacht abzeichnen würde. Wenn wieder ein lautes Rumpeln vor der Tür seine Ankunft ankündigen würde und er majestätisch vor ihrer Tür stünde. Stolz darauf, endlich einen Weg in ihre Welt gefunden zu haben und er sie dann mit sich nehmen würde. Andere Mädchen träumten vielleicht von dem Prinzen auf weißem Ross, der sie zum Glück führen würde. Chihiro dagegen träumte vom weißen Drachen, der auch gleichzeitig ihr Prinz war. Schließlich verschwand die Metro wieder im Dunkel einer der vielen Tunnel, die unter der Stadt verliefen und ihre glücklichen Phantasien hatten ein jähes Ende. Wie sollte sie auch in dieser bedrückenden Atmosphäre einen schönen Gedanken finden? Um sie herum gab es nichts als graue Einförmigkeit. Wenige Stationen später konnte sie wenigstens die Enge des Zugabteils hinter sich lassen und die Treppen hinauf ans Licht erklimmen. Zügig lief sie das kurze Stück von der Metrostation bis zum Campus der Universität. Sie war tatsächlich ein bisschen spät dran, ihr geliebter Kaffee aus der Mensa, der ihre Augen in der ersten Vorlesung offen halten sollte, musste also heute leider ausfallen. Zu lang waren die Schlangen vor den Kaffeeautomaten und ihr Professor war ein sehr Pünktlichkeit liebender Mensch. Besser auf einen Kaffee verzichten als einen Tadel zu kassieren. Schnellen Schrittes marschierte sie weiter über das weitläufige Gelände und hatte bald das hektische Gewühl hinter sich gelassen. Die biologische Fakultät lag versteckt am anderen Ende des Campus. Ein altehrwürdiger, großer Klinkerbau erhob sich zwischen hohen Bäumen, umgeben von einem Garten. Dieser war das Revier der Botaniker, die dort allerlei seltene und exotische Pflanzen hegten, pflegten und erforschten. Für die empfindlicheren Exemplare gab es ein Stück hinter dem Gebäude auch Gewächshäuser. Das alte Gebäude beherbergte auch eine eigene Bibliothek und eine Vielzahl von kleinen Hörsälen, Büros und Laboren. Vor dem Keller jedoch gruselte es Chihiro, hier war die „Sammlung“ untergebracht. Kenner nannten sie eine Schatzkammer, aber Chihiro lief nur bei dem Gedanken daran ein kalter Schauer über den Rücken. Unzählige Tiere, Teile von Tieren und sogar von Menschen wurden dort in mit Formaldehyd gefüllten Gläsern aufbewahrt. Auch viele Skelette nannte die Sammlung ihr Eigen, ebenso Tausende sorgsam katalogisierte und archivierte Insekten. Ein wahres Gruselkabinett. Glücklicherweise lagen die Tage hinter ihr, an denen sie dort hinabsteigen musste. Stattdessen lief sie eine breite Treppe empor und erreichte etwas außer Atem einen mit modernsten Computern ausgerüsteten Raum. Vor den Geräten saßen bereits viele junge Menschen, die meisten von ihnen nippten an einem Pappbecher voll Kaffee. Stumm und möglichst unauffällig huschte Chihiro zu einem freien Platz. Yaro hatte es irgendwie geschafft vor ihr anzukommen, hatte aber noch nicht bemerkt, dass sie inzwischen auch angekommen war. Zu sehr war er in das Gespräch mit dem Kerl zu seiner Rechten vertieft; wahrscheinlich ging es wie so oft entweder um Sport oder Frauen, wahlweise auch beides. Der streng über seine Brille hinwegguckende Mann am Pult vorne jedoch hatte sie bemerkt und schüttelte mürrisch den Kopf. Dieser Raum war so etwas wie das Hauptquartier der Ökologen. Hier waren die vielen Rechner, die unablässig die Daten auswerteten, mit denen sie gefüttert wurden und versuchten so die Entwicklung der Natur verständlich zu machen und auch vorherzusagen. Ihre Arbeit folgte einem festen Rhythmus: Hinaus ins Feld, Proben nehmen, Messungen vornehmen, dann im Labor die Proben auswerten und all die Werte in die riesigen Datenbanken eingeben. Irgendwann spuckten die Computer schließlich neue Zahlen aus und es lag dann an den jungen Wissenschaftlern daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dieser Kreislauf war vor kurzem erst wieder erfolgreich durchlaufen worden und nun war Chihiro gespannt, welche Aufgaben sich ihr als nächstes stellen würden. „Unser nächstes Ziel liegt in der Provinz Iwate im Nordosten“, begann schließlich der Grauhaarige am Pult zu sprechen, nachdem das allgemeine Gemurmel sich gelegt hatte. „Dort ist in einer Gegend nah den Bergen etwas völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Flora und Fauna sterben, niemand weiß warum. Seit kurzer Zeit sind auch die örtlichen Bauern betroffen, weshalb man sich nun für das Problem interessiert. Die Provinzregierung hat uns beauftragt uns der Sache anzunehmen.“ Das Stimmgewirr nahm wieder zu, einige murrten hörbar darüber, dass es in den Norden ging und auch noch in eine solch ländliche Region. Offenbar hatten sie auf ein Ziel gehofft, was eher zu ihrer persönlichen Sommerplanung passen würde. Chihiro dagegen war mit einem Mal hellwach. Das war doch die Region, in der sie geboren wurde und aufwuchs? „Unsere Exkursion führt uns in das kleine Dorf Shiroryu, an den Kohaku-River.“ Chihiros Herz setzte einen Schlag aus. Sie kannte diesen Ort genau, denn dort hatte sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbracht. Und sie kannte diesen Fluss genau, denn sie wäre als kleines Mädchen fast darin ertrunken, wenn nicht ein weißer Drache sie aus seinen Fluten gerettet hätte. Kapitel 3: Wiedersehen ---------------------- 03 - Wiedersehen Der Bus nahm erneut eins der unzähligen Schlaglöcher auf der alten Landstraße mit und riss Chihiro aus ihrem Schlummer. Noch verschlafen sah sie aus dem Fenster und erblickte die satt grüne Landschaft ihrer Kindheit. Die dichten Wälder schmiegten sich an die Straße und ihr Blick wurde von einer grünen, undurchdringlichen Wand gebremst. Soweit das Auge sah, war keine Spur menschlicher Zivilisation zu entdecken, nur unberührte Natur. Stimmgemurmel erfüllte den Reisebus, ihre Kommilitonen unterhielten sich oder versuchten sich anderweitig die Zeit bis zu ihrer Ankunft zu vertreiben. Einige wenige waren in Bücher versunken, die übrigen, die nicht in Gespräche vertieft waren, waren mit Hilfe ihrer Kopfhörer in ihrer eigenen Welt gefangen; ihr leerer Blick endete im Nichts. „So ein Mist“, zerschnitt eine wütende Stimme neben ihr die friedliche Atmosphäre. „In dieser Drecksprovinz gibt’s ja nicht mal Empfang!“ Wütend sah Yaro auf sein Handy und tippte energisch auf dem Display herum, als glaubte er, durch seinen Ärger etwas daran ändern zu können. „Ich verstehe nicht, wie du es damals hier ausgehalten hast.“ Stumm lächelte Chihiro gedankenverloren. Shiroryu in Iwate also, sie kehrte an ihren Ursprung zurück. Viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden, schließlich hatte sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens hier verbracht. Sie erinnerte sich noch gut an ihren Kummer, als sie plötzlichen aus ihrem Zuhause gerissen wurde, da ihre Eltern gezwungen waren umzuziehen. Ihr Vater arbeitete in einer großen Firma, die im ganzen Land Fabriken unterhielt. Er arbeitete hart und Chihiro erinnerte sich noch gut, wie er freudestrahlend eines Abends nachhause kam und stolz verkündete, dass er befördert worden war und deshalb in die Zentrale im Süden des Landes versetzt wurde. Ihre Mutter hatte Freudentränen in den Augen gehabt und fiel ihrem Vater überglücklich um den Hals. Chihiro jedoch konnte sich damals nicht freuen. Mit einem Moment wurde ihr alles entrissen, was ihr damals etwas bedeutet hatte. Sie würde nach dem Umzug ihre Freunde nie wieder sehen, musste die Schule wechseln und ihre Klassenkameraden verlassen. Nie mehr konnte sie nach der Schule ihre Großmutter besuchen oder ihre Tante, die immer so leckeren Kuchen backte. Und auch die weiten Wiesen und Felder, in denen sie immer so gern spielte, musste sie hinter sich lassen. Die kleine, heile Welt ihrer Kindheit zerbrach an diesem Tag. Es war ein komisches Gefühl heute als junge Frau an diesen Ort zurückzukehren. Auf der einen Seite erschien ihr alles so vertraut, aber dennoch fremd zugleich. Viel hatte sich in dem vergangenen Jahrzehnt verändert, auch an diesem idyllischen Flecken Erde waren die Zeit und der Fortschritt nicht vorbeigegangen. Der Bus kam ruckartig zum Stehen, da die Straße einen noch kleineren und verwitterten Weg kreuzte. Ein alter Lkw schleppte sich laut schnaufend über die Kreuzung. Aufgeregt schaute Chihiro aus dem Fenster, sie wusste endlich, wo sie waren! Wenn man diese bucklige Piste hinabfuhr, erreichte man in kurzer Zeit das Ziel ihrer Reise. In der Gegenrichtung lag ihre ehemalige Schule, sie war früher diesen Weg jeden Tag mit dem Bus gefahren. Mit einem weiteren Ruck setzte der Bus sich wieder in Bewegung und bog auf die Straße ein. Nach kurzer Fahrt verbreiterte sich die Straße plötzlich zu einer neuen Landstraße und sie durchquerten ein modernes Industriegebiet. Links und rechts neben der Straße standen gigantische Fabrikhallen, graue und gesichtslose Kästen, aus denen Schornsteine in den Himmel ragten. Ab und zu mündete eine Abzweigung an einem der vielen Werktore, die allesamt fest verschlossen waren und von einem Pförtnerhäuschen bewacht wurden. Die Natur war hier gnadenlos vom Mensch verdrängt worden; statt des lebendigen Grüns regierte graue Tristesse. Plötzlich musste Chihiro gegen einen Kloß in ihrem Hals kämpfen. Sie erinnerte sich noch genau: Hier verlief ursprünglich der Kohaku-River, genau dort, wo jetzt die Fabriken standen. Der Fluss wurde damals zugeschüttet und auf ewig zerstört und der Gott des Stroms aus seiner Heimat vertrieben. Hier war sie fast ertrunken und wurde von dem weißen Drachen aus den Fluten gerettet. Ein Stich ging ihr durchs Herz bei dem Gedanken. Zu wissen was geschehen war mit diesem Ort aus ferner Erinnerung war eine Sache, aber nun auch noch zu wissen, welches Schicksal den Geist dieses Ortes erwartet hatte, waren zwei verschiedene Dinge. Und jetzt war auch noch der kleine, verbliebende Rest des einst so majestätischen Kohaku-Rivers in Gefahr. Ihr Professor hatte sie vor Beginn ihrer Reise informiert. Seit ungefähr einem Jahr starb die Natur rund um den Fluss. Es begann mit wilden, seltenen Pflanzen, die plötzlich eingingen. Tote Wildtiere wurden zuhauf gefunden und schließlich verkümmerte auch die Ernte auf den angrenzenden Feldern. Das wiederum brachte die örtlichen Bauern auf den Plan, die ihrer Einnahmequelle beraubt, der Provinzregierung Druck machten. Kurzfristig wurden sie mit Entschädigungen ruhig gestellt, doch um die eigentliche Ursache zu erforschen, wurde das Forscherteam von Chihiros Universität verständigt. Sie wurden gerufen und nun waren sie da. Zischend öffnete sich die Tür des Busses und die Reisenden strömten erleichtert hinaus an die frische Luft und vertraten sich die Beine. Sie waren an einer kleinen Feriensiedlung angelangt, die nun die nächste Zeit so etwas wie ihr Hauptquartier und Heim sein würde. Ein gutes Dutzend kompakter Bungalows stand dort rund um ein größeres Haupthaus, aus dem nun eine ältere Frau geschlendert kam und den Professor begrüßte. Sie wurden an die Rezeption geführt, die Wohngemeinschaften auf Zeit fanden sich – zum Teil unter großem Protest und gebrochenen Herzen – und schließlich bekam jeder einen Schlüssel in die Hand gedrückt. Frühstück im Essenssaal im Haupthaus, zwischen sieben und acht. Der Rest des Nachmittags wurde damit verbracht sich einigermaßen häuslich einzurichten. Chihiro teilte sich mit Yaro eine der kleineren Hütten, die schlicht und zweckmäßig eingerichtet waren. Nach dem Abendessen trafen sich alle, um den lauen Sommerabend zu einem Spaziergang zu ihrem aktuellen Studienobjekt zu nutzen. Die Wirtin ihrer Unterkunft hatte sich als eine Art Fremdenführerin angeboten und bereiterklärt ihnen einige interessante Dinge in der Umgebung zu zeigen. Sie schlenderten einen kleinen, befestigten Weg die Hügel hinab, der sie durch die Ausläufer des umgebenden Waldes führte. Schon hier waren die ersten Schäden zu sehen. Viele der Bäume waren kahl, obwohl es Hochsommer war. Schließlich führte eine steinerne Treppe direkt ans Ufer des Flusses. Die Reisegruppe stand nun versammelt am Ufer und analytische Blicke begutachteten die Umgebung. Das Gras war bräunlich und tot, kaum ein Tier war zu hören noch zu sehen. Einige der Studenten knieten am Ufer und schöpften etwas von dem Wasser mit den Händen aus dem Fluss, um prüfend daran zu riechen. Ein mutiger Student probierte sogar etwas davon zu trinken, spuckte aber sofort wieder aus. Das Wasser hatte einen stechenden metallischen Geschmack. Der Professor unterhielt sich derweil weiter mit der Wirtin und versuchte erste Informationen zu sammeln: Wann begannen die Pflanzen zu sterben, wie sah es hier davor aus und welche Tiere lebten für gewöhnlich an den Ufern des Kohaku-Rivers? Chihiro bekam von all dem wenig mit. Fest lag ihr Blick auf der gemächlichen Strömung und sie beobachtete das Fließen des vertrauten Wassers. Sie erinnerte sich wieder; Der Kohaku-River war eine Art Laune der Natur. Obwohl sie nur wenige Kilometer von seiner Quelle entfernt standen, war der Fluss bereits relativ breit und auch so tief, das ein Kind darin unmöglich stehen konnte. Die Strömung war deutlich zu erkennen, aber nicht reißend. Ruhig floss der Strom das kurze verbliebene Stück hinab. Ihr Blick wandte sich nach Osten. Dort am nahen Horizont waren einige Berge zu erkennen. Sie wusste von früher, dass dort der Fluss seine Quelle hatte. Unterirdisch lief er unter dem Gebirge und brach in einem tosenden Wasserfall aus dem Gestein. Ein kraftvolles Gewässer, nicht so ein dünnes Rinnsal, wie andere Flüsse nahe ihres Ursprungs. Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Die Wirtin berichtete gerade, wie damals entschieden wurde, den Kohaku-River zuzuschütten und ihn unterirdisch versickern zu lassen. Dies war immer eine einfache Gegend gewesen, die Menschen lebten zumeist von der Landwirtschaft und wirklicher Reichtum war fremd. Als das ganze Land von einer Welle der industriellen Aufrüstung erfüllt war, kamen die ersten Firmen und siedelten sich an. Kurze Zeit später wurden seltene Erze in dem anliegenden Gebirge entdeckt und sofort wurde sich daran gemacht die Vorkommen zu erschließen. Vor zehn Jahren schließlich stimmte die Regierung zu die Natur zugunsten des Fortschritts und Wohlstands zu opfern und gab dem Drängen eines mächtigen Industriellen nach. Chihiros Aufmerksamkeit richtete sich wieder nach innen, nachdenklich starrte sie in den Fluss. Wenn sie das Wasser berühren würde oder gar hineinsprang, würde Kohaku das merken? Unbewusst umschlossen ihre Hände den Jadedrachen auf ihrer Brust. Sie wusste von ihrer Reise in die Welt der Geister und Götter, dass die meisten Naturgeister direkt mit ihrem Element verbunden waren, sie eine Art zusätzlichen Sinn dafür hatten. Der Fluss war so etwas wie eine zusätzliche Gliedmaße für Wassergötter, ein Teil ihres Körpers. War das Wasser krank, griff dies auch auf den Geist über. Mit Schrecken erinnerte sich an den Flussgott, der es mit letzter Kraft in das Badehaus geschafft hatte. Seine Erscheinung war durch den ganzen Abfall, der in seinem Bett versenkt worden war, völlig verunstaltet. Der gutmütige, alte Drache war nicht wiederzuerkennen, er war einfach zu einem Klumpen Dreck geworden. War das die Gelegenheit, auf die sie so viele Jahre gewartet hatte, endlich Kontakt mit Haku aufnehmen zu können und ihn wiederzusehen? Sollte es so einfach sein, dass sie nur die Hand ausstrecken und ins Wasser greifen musste? Sie zögerte. Nein, das wollte sie nicht überstürzen. Außerdem war das nur eine Vermutung. Selbst wenn es klappte, war unklar, ob er sich überhaupt an sie erinnerte, geschweige denn sie sehen wollte. Wahrscheinlich hatte er das Menschenmädchen von vor zehn Jahren längst vergessen. Sie hatte ihm seinen Namen und damit seine Freiheit und Macht wiedergegeben, aber auch sein Leben ging weiter. Was sollte er, ein mächtiger Gott, mit einem einfachen und sterblichen Mädchen? Und neben all diesen Zweifeln stellten sich auch ganz praktische Fragen: Was sollte sie sagen, wenn er plötzlich vor ihr stand? War er immer noch ein Kind, ein Gott war immerhin unsterblich. Wenn auch er älter war, hatte er sich verändert? Schließlich die wichtigste Frage: Was sollte sie antworten, wenn er sie einlud ihm zurück zum Badehaus zu folgen? Sie war kein Kind mehr, sie konnte nicht von jetzt auf gleich alles hinter sich lassen. Sie hatte mittlerweile Verantwortung übernommen in ihrer Welt, es gab Menschen, die sie vermissen würden. Wie von selbst glitt ihr Blick zu Yaro, der etwas abseits mit zwei Freunden stand und eine Dose Bier in der Hand hielt. Nein, nicht heute. Sie musste das gut überlegen, bevor sie solch ein Experiment wagte. Die Gruppe setzte sich einige Zeit später wieder in Bewegung und wanderte im Wald geschützt entlang des Flusses. Die Luft war voller kleiner Fliegen, die wie Wolken unter den Ästen in der Luft schwebten. Ständig musste Chihiro die Augen schließen und darauf achten den Mund geschlossen zu halten, wenn sie wieder gezwungen war durch eins dieser Hindernisse zu gehen. Interessanterweise waren all die lästigen Erscheinungen der Natur nicht betroffen von den Auswirkungen der Verseuchung, Die meisten der Anwesenden klagten inzwischen lautstark über Mückenstiche, auch Chihiro blieb nicht verschont. Zähe Biester, dachte sie zerknirscht. Plötzlich blieb die Wirtin stehen und zeigte auf eine kleine Lichtung im Wald. Im Zwielicht der einsetzenden Dämmerung erschien eine kleine, von Wind und Wetter verwitterte Pagode. Sie schien lange in Vergessenheit geraten zu sein und an einigen Stellen arg verfallen. Das geschwungene Dach war löchrig, die Wände windschief. Die ganze Ruine war von Pflanzen überwuchert, Wurzeln trieben aus dem Boden und bildeten eine Einheit mit dem Stein. Es gab nicht einmal mehr einen Pfad, die Gruppe bahnte sich einen Weg durch das hohe Gras. „Das ist der alte Tempel des Flussgottes“, begann die Reiseführerin zu erzählen, als sie im Inneren waren und zeigte auf eine brüchige Statue. Mitten in dem winzigen Raum stand auf einem Sockel eine alte Darstellung eines Drachens aus hellem Stein. „Dieser Drache ist der Schutzgeist des Flusses. Früher haben die Menschen um gute Ernte und Schutz vor dem Wasser gebetet, aber das ist lange her. Die Bauern glaubten, dass ein weißer Drache in dem Fluss lebt. Um ihn zu besänftigen, haben sie diesen Schrein gebaut.“ Chihiro versuchte angestrengt die aufkommenden Tränen fort zu blinzeln. Sie konnte den Blick nicht von der Statue nehmen, auch wenn es ihr gerade das Herz zerriss. Ja, das war der Drache Nigihayami Kohaku Nushi in seiner ganzen Pracht. Die Darstellung war zwar stilisiert, aber das hundeähnliche Gesicht und die langen Barthaare waren lebensecht getroffen. Der Blick des Drachens lag stechend auf ihr und sah sie eindringlich an, als ob er ihr vorwarf ihn vergessen zu haben. Wie um sich zu rechtfertigen griff Chihiro wieder nach ihrem Anhänger. Stumm versuchten ihre Augen zu sagen, dass sie jeden Tag an ihn gedacht hatte und immer auf seine Rückkehr gewartet hatte. Sie vergaß vollkommen die Welt um sich herum, all ihre Sinne waren nun auf den steinernen Drachen fixiert. Mit einem Mal fühlte sie sich so schäbig, dass sie kurz zuvor nicht den Mut hatte und sich ein Herz genommen hatte über das Wasser Kontakt aufzubauen. Was machte sie sich eigentlich vor, was hielt sie denn in dieser Welt? Ihr ganzes Leben war auf dieses Wiedersehen ausgerichtet gewesen oder zumindest versuchte sie im Wissen um die andere Welt zu leben. Warum auch sonst dieses Studium und dieses Projekt? Weil sie nie wieder wollte, dass ein Flussgeist unter den Menschen leiden musste. Der Rest der Gruppe war nicht einmal annähernd so ergriffen wie Chihiro, die immer noch im Angesicht des Drachen mit den Tränen kämpfte. Die meisten waren bereits gelangweilt gegangen oder wandten sich gerade nach draußen. Yaro hatte immerhin ein Foto von sich und dem Drachen im Schwitzkasten gemacht, dann war auch er sofort wieder gegangen. Chihiro stand schließlich allein in dem verfallenen Schrein und konnte ihren Tränen endlich freien Lauf lassen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie. Kapitel 4: Ein Glockenschlag in der Nacht ----------------------------------------- 04 –Ein Glockenschlag in der Nacht Endlich war Chihiro allein, die Stimmen der Anderen entfernten sich immer weiter und waren schließlich nicht mehr zu hören. In der Stille gestattete sie sich schließlich ihrem drängenden Verlangen nachzugeben und endlich den Tränen freien Fluss zu lassen. Sie strömten über ihre Wangen, die sich schnell röteten, sammelten sich an ihrem Kinn und tropften in den staubigen Boden zu Füßen des Drachen. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie erneut mit tränenerstickter Stimme. „Ich bin so dumm gewesen, was mache ich mir eigentlich vor?“ Immer mehr dunkle Flecken bildeten ein seltsames Muster auf der trockenen Erde, auf der sie nun schon eine ganze Weile kniete. Immer wieder zitterte ihr zierlicher Körper, wurde von der Trauer und Einsamkeit geschüttelt. Doch die Anwesenheit der großen Statue hatte auch etwas Tröstliches. Wie auch der leibhaftige Haku strahlte sie eine beschützende Geborgenheit aus und Chihiro ließ sich nur allzu gerne von dieser Aura umfangen. Schließlich kuschelte sie sich an den kühlen Stein und umschlang ihre Knie mit den Armen. „Warum bist du nicht gekommen um mich zu holen? Warum hast du mich allein gelassen“, wisperte sie in die Stille der aufziehenden Nacht. „Ich habe jeden Abend in den Himmel geschaut, ich wollte so gerne von dir zurück gebracht werden. Ich vermisse doch alle so… Dich, Rin, Kamaji. Niemals habe ich euch vergessen, ich habe jeden Tag an dich gedacht.“ Mit einer staubigen Hand wischte sie sich die Tränen von den Wangen und hinterließ eine schmutzige Spur. „Weißt du, als Kind hatte ich immer wieder von dir geträumt“, fuhr sie nun mit fester Stimme fort. „Es war immer der gleiche Traum. Ich lag in meinem Bett und habe geschlafen, das Fenster war offen; ein warmer Sommerwind flatterte in den Vorhängen und plötzlich weckte mich im Traum ein lautes Geräusch von draußen. Ich eilte zum Fenster und dann stand da ein wunderschöner, weißer Drache im Hof.“ Kurz unterbrach sie ihre Erzählung, um sich das Bild aus ihrem Traum wieder in den Geist zu holen und ein versonnenes Lächeln brach durch die dunklen Wolken. „Deine Schuppen funkelten im Mondlicht, genau wie damals, als du mich bei Zeniba abgeholt hast. Dann ritt ich auf deinem Rücken durch die Nacht, immer weiter. Die Sterne am Horizont zeigten den Weg, unter uns flog die Landschaft vorbei; manchmal wurde sie von weichen Wolken versteckt. Du bist immer weiter gen Horizont geflogen, darüber hinaus und plötzlich waren wir wieder in der Geisterwelt.“ Nach Bestätigung suchend hob sie ihren Blick und sah zur Statue des Drachen. Regungslos hatte die ihrem Traum gelauscht. Chihiros Blick glitt erneut über den hellen Stein. Filigran waren die einzelnen Schuppen von einem kundigen Bildhauer modelliert worden, doch kein irdischer Stein konnte den sphärischen Glanz dieser Drachenhaut abbilden. Kein Opal, kein Perlmutt und kein Edelstein der Welt schimmerten schöner als Hakus Körper im Mondschein. Wie in Wasser gefangenes Sternenlicht, sinnierte sie weiter. „Doch dann, kurz bevor wir ankommen, wache ich jedes Mal auf und liege in meinem Bett. Das Fenster ist geschlossen, von draußen ist nur das Rauschen der Stadt zu hören. Nur Flugzeuge sind am Himmel zu sehen. Du bist nicht da. In jeder Nacht, in der ich diesen Traum habe, stelle ich mich danach ans Fenster und spähe in die Dunkelheit hinaus. Seit fast zehn Jahren. In diesen Momenten weiß ich, dass unser Abenteuer kein Traum war und hoffe jedes Mal, dass der Traum ein Zeichen ist, dass du gleich kommst. Aber du bist nicht da.“ Der steinerne Blick des Drachen traf sie vorwurfsvoll, als sie kurz aufsah. „Wie hätte ich denn zu dir gelangen sollen? Ich bin doch nur ein Menschenmädchen! Ich habe keine Macht so wie du“, rechtfertigte sie sich vor dem stummen Tadel. „Als ich ein Kind war, bin in unzählige Male in den Wald gegangen, in dem der Tunnel damals aufgetaucht war. Aber egal wie sehr ich gesucht habe, da war kein Tunnel!“ Inzwischen kniete sie vor dem Sockel der Figur. Sanft strich ihre Hand über den Körper. „Bitte glaub mir, ich habe niemals aufgegeben dich zu finden.“ Ohne Furcht hob sie den Kopf wieder und hielt dem Blick des Flussdrachen stand. Doch nun, da sich ihre Augen endlich von der tränenbefleckten Erde gelöst hatten, entdeckte sie unter dem Dach der Pagode noch etwas anderes. An einen dicken Balken gebunden, hing eine Glocke von der Decke, direkt hinter dem Rücken des Drachen. Das Messing war schon angelaufen und verwittert, trotzdem hatte es der Zeit und der Witterung Stand gehalten und wartete geduldig auf seinen Einsatz. Ein nicht minder verwittertes Seil baumelte aus dem Innern und war an dem Klöppel befestigt. Früher einmal musste diese Glocke prächtig gewesen sein, dachte Chihiro. Das Metall war mit einem aufwändigen Muster verziert, dass durch die Korrosion nur noch zu erahnen war und die Farben der Kordel waren längst verblasst. Ihre Familie war nie besonders spirituell oder gar religiös gewesen, dennoch wusste sie genau, wozu in jedem Tempel eine oder mehrere Glocken angebracht waren. Durch das Läuten versuchten die Menschen die Aufmerksamkeit der Gottheit des Schreins zu erlangen, um danach ihre Wünsche und Gebete vortragen zu können. Plötzlich stand Chihiro auf mit neuem Elan. Das Seil war ziemlich weit oben angebracht, sie musste sich aufs Äußerste strecken, um es erreichen zu können. Entschlossen packten es ihre Hände und sie zog mehrmals daran. Ein dumpfes Läuten ertönte; irgendwo zwischen dem Laut einer hellen Glocke und eines tiefen Gongs. Staub rieselte zu Boden. Als der Klang verhallt war, klatschte sie zweimal in die Hände, wie es die Tradition erforderte und konzentrierte sich auf ihr Gebet an den Gott des Flusses. Haku, ich bin hier! Ich bin an deinem Fluss! Komm zu mir, hol mich zurück! Du hast versprochen, dass wir uns wiedersehen. Die Stille war nun noch dröhnender, noch viel unerträglicher als zu vor. Gespannt lauschte Chihiro in die inzwischen aufgezogene Nacht. Ihr Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust, überschlug sich beinahe vor lauter Vorfreude auf ein Wiedersehen. Von draußen war das sanfte Rauschen des Windes zu hören, der sich in den Wipfeln de Bäume verfing und das hohe Gras in ein grünes Meer verwandelte. Sekunde um Sekunde verstrich, doch nichts geschah. Schließlich hielt sie es nicht mehr in Inneren der alten Pagode aus, sie stürmte hinaus und spähte in den klaren Nachthimmel – so wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Minute um Minute verstrich, die Zeit verging und Chihro stand noch immer auf der kleinen Lichtung im Wald und sah angestrengt in die Nacht. Dutzende Wolken waren in der Zwischenzeit über sie hinweg gezogen, der Mond wanderte auf seiner Umlaufbahn und hatte ein gutes Stück seines nächtlichen Wegs geschafft und die vielen Zikaden waren trotzdem nicht müde geworden ihr Lied zu spielen. Nur die junge Frau hatte sich in der Zeit nicht bewegt, geschweige denn den Blick von den Sternen genommen. Wie naiv war sie eigentlich, dachte Chihiro schließlich genervt von sich selbst und ihrer dümmlichen Hoffnung. Hatte sie im Ernst geglaubt, sie klingele einmal und wie von Zauberhand stieg Haku aus einer Rauchschwade vor ihren Augen? Ja, der Schrein war mal von irgendwelchen Bauern ihm zu Ehren errichtet worden und die Drachenstatue sah ihm durchaus ähnlich. Aber das hieß noch lange nicht, dass er es mitbekommen würde, wenn eine hirnlose Sterbliche wie sie ihren albernen Sehnsüchten nachhing und mit offenen Auge träumte! Warum quälte sie sich selbst so sehr, warum machte sie sich Hoffnung, wo keine war? Müde und enttäuscht beschloss sie endlich zur Herberge zurück zu laufen und ins Bett zu gehen. Der Weg war nicht weit und die hell beleuchteten Bungalows waren im Dunkeln ohne Probleme zu finden. Leise schloss sie die Tür auf und fand Yaro auf der Couch liegend, der eine seiner geliebten Sitcoms im Fernsehen schaute. „Hey Babe, da bist du ja. Wo bist du gewesen, du warst auf einmal weg?“ Etwas überrascht stand Chihiro im Flur und überlegte fieberhaft, was sie nur antworten solle, während sie ihre Turnschuhe aufband. „Ich… ich hatte mir den Tempel noch etwas angesehen. Ihr wart alle schon weg, da bin ich noch ein bisschen spazieren gegangen“, stammelte sie schließlich verlegen. Wie so oft aber konnte sie auf Yaros Desinteresse an ihrem Leben zählen; er hinterfragte kein Wort noch stellte er Fragen, er begann einfach seinen Monolog: „Wenn du meinst. Du hast hier echt was verpasst, die anderen haben was zu trinken geholt. Aber du hast ja wie immer getrödelt. Jenny, diese Amerikanerin, die hier ihr Auslandssemester macht, war irgendwann so betrunken, dass sie ihr Top ausgezogen hat. Wir haben jetzt ne Wette am Laufen, ob ihre Titten echt sind. Was sagst du? Wenn du willst, kannst du noch einsteigen!“ In diesem Moment spürte Chihiro noch deutlicher das Bedauern, dass es nicht geklappt hatte Haku zu dem kleinen Schrein zu rufen. „Danke, verzichte“, antwortete sie mit all ihrer zur Verfügung stehenden Gleichgültigkeit. Manchmal fragte sie sich ernsthaft, ob Yaro so schlicht im Kopf war, wie er immer tat und die geistreichen Momente, die sie so an ihm schätze, nur gespielt waren nach einem geistreichen Drehbuch, das er zufällig einmal gefunden hatte. Dieser Mann interessierte sich zunehmend nur noch für sich selbst und seinen Spaß. „Ich bin von der langen Reise ziemlich platt, ich geh ins Bett. Gute Nacht“, rief sie durch den Flur, bekam aber keine Antwort mehr. Erschöpft sank sie in die fremden Kissen und musste dem aufwühlenden Tag Tribut zollen; Minuten später war sie fest eingeschlafen. „Wer ist auf die geniale Idee gekommen, die neue Lieferung Kräuter in einem der Dampfbäder stehen zu lassen und dort zu vergessen?“ Hakus Stimme hallte durch das gesamte Treppenhaus, er stand auf dem obersten Treppenabsatz und schaute streng auf das Heer Bediensteter und Frösche herab. Seine Augen hatten jenes kalte und stechende Grün angenommen, dass in den letzten Jahren so typisch für sie geworden war. Erbarmungslos suchte sein Blick nach demjenigen, dem zu verdanken war, dass diese Ladung feinster Lavendel unwiederbringlich verschimmelt war. Frösche, Arbeiter, Yunas und sogar die Aufseher flüchteten aus dem Sichtfeld des Drachen. Sie erinnerten ihn an Kakerlaken, wenn man das Licht entzündete. Rin war die Einzige unter den Angestellten des Badehauses, die die Courage besaß dem Drachen zu widersprechen und damit waren ihr die Bewunderung und der Respekt der anderen sicher. Auch jetzt eilte sie die Treppen hinauf. „Es ist doch keine große Sache“, begann sie ruhig auf Haku einzureden, "„Kamaji hat doch noch genug.“ „Darum geht es nicht“, schnaubte Haku. Ohne ein weiteres Wort zu sagen machte er auf dem Absatz kehrt und kehrte zu seinen Räumen zurück. Doch so einfach wollte Rin ihn nicht davon kommen lassen und eilte ihm nach. „Was ist es dann?“, fragte sie, kurz bevor er wieder in seinem Büro verschwand. Der Perfektionismus des Generalbevollmächtigten war gefürchtet, genau wie seine Wut. Hinter vorgehaltener Hand wurde seitens der Yunas immer wieder getuschelt, dass eine Frau dem Drachen guttun würde; er brauchte dringend ein Ventil für seine Kraft. Es sorgte immer wieder für Klatsch, dass der gutaussehende Flussgott noch immer ohne Gefährtin war. Wollte er keine oder umgab ihn ein dunkles Geheimnis? Rin wusste es besser. Sie wusste, dass Haku Chihiro entsetzlich vermisste, die ihn damals in der kurzen Zeit nachhaltig verzaubert hatte mit ihrer fröhlichen und unbekümmerten Art. Vor allem war sie eine der Wenigen, die nichts auf das Brüllen des Drachen gab, ihm nicht immer seinen Willen gab und ihn so etwas gezähmt hatte. Oh, ihre kleine Sen würde seiner Garstigkeit guttun, dachte Rin – nicht nur heute. Aber die Welt der Menschen und die der Geister waren getrennt und so blieb ihr nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen. Haku drehte sich kurz zu ihr herum, er war ihr noch eine Antwort schuldig. „Lavendel wächst nur jenseits der Sümpfe, das ist ein Menschenkraut. Der seltsame Eremit, der diesen Garten bestellt, liefert nicht, das heißt, ich muss Nachschub abholen.“ „Verstehe“, erwiderte Rin. Es hatte keinen Sinn mit ihm darüber zu diskutieren. Nötig war es nicht, dass er nun sofort aufbrach, aber sie war der Meinung, dass es für alle Beteiligten nun besser war, dass der Drache an die frische Luft kam. Sie folgte ihm wortlos in sein Arbeitszimmer. „Der Morgen graut. Ich denke, ich werde zum Einbruch der Nacht wieder zurück sein“, sprach Haku nun mit kalter Stimme. „Du kümmerst dich um alles bis zu meiner Rückkehr.“ Er öffnete die große Glastür, die auf einen weitläufigen Balkon führte. „Verstanden“, nickte Rin. Ein warmes Licht blendete die junge Frau plötzlich und nur einen Wimpernschlag später stand der erhabene, weiße Drache vor ihr. Haku knurrte einen Abschiedsgruß, dann erhob er sich elegant in die Lüfte. „Pass auf dich auf“, flüsterte Rin und verfolgte, wie der Drache durch die Wolken schwamm und schon fast am Horizont verschwunden war. Doch plötzlich durchzuckte ihn etwas, wie als durchfuhr ein Blitz den schlanken Körper. Er fiel, immer tiefer und tiefer, bis er fast die Oberfläche des weiten Sees erreicht hatte. Doch kurz bevor er hart auf dem Wasser aufschlug, fing er sich wieder, gewann rasch an Höhe und eilte mit ganzer Kraft genau in die entgegengesetzte Richtung. Gehetzt war er wenige Augenblicke später aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Was war da bloß passiert, überlegte Rin aufgeregt, welche Nachricht hatte ihn erreicht, die ihn so aus der Fassung brachte? Kapitel 5: Aufgewühlte Gedanken und aufgewühltes Wasser ------------------------------------------------------- 05 – Aufgewühlte Gedanken und aufgewühltes Wasser Tage voller Arbeit hatten erfolgreich verhindert, dass sich Chihiro weiter in trübsinnigen Gedanken verlieren konnte. Ein fleißiges Heer von Studenten hatte unermüdlich in den vergangenen Tagen Proben gesammelt in der Umgebung des Kohaku-Rivers und Chihiro hatte das provisorisch eingerichtete Labor nur zum Schlafen und Essen verlassen. Im Keller ihrer Unterkunft hatten sie alle gleich am ersten Tag nach ihrer Ankunft das ansehnliche Arsenal an Kolben, Bechergläsern und anderen Apparaturen zur chemischen Untersuchung der Proben aufgebaut und Chihiro hatte sich mit Feuereifer in die ihr zugeteilte Aufgabe gestürzt. Durch umfangreiche und exakte Testreihen wollte sie so dem Geheimnis der Verödung der Gegend auf die Schliche kommen. Immer wieder versetzte sie die Proben mit verschiedenen Lösungen, um aus der Reaktion Schlüsse ziehen zu können. Jede noch so kleine Veränderung, jeder gewonnene Messwert wurde akribisch protokolliert. Es gab zu diesem Zeitpunkt kein wichtig oder unwichtig und so wuchs der Berg Papier stetig an. Sie liebte ihre Tätigkeit, darin fand sie ihre volle Erfüllung. Mit einem Reagenzglas in der einen und einer Pipette Testmittel in der anderen Hand vergaß Chihiro sogar, dass sie in jener sternenklaren Nacht in dem verlassenen Tempel nach Haku gerufen hatte; selbst Yaros unmögliches Benehmen verschwand hinter emsiger Betriebsamkeit. Am Abend brüteten die anderen Studenten und auch ihr Professor über den Ergebnissen; mit den von Chihiro gewonnen Messwerte wurde ein Computer gefüttert, der die endlosen Zahlenkolonnen in bunte Diagramme und Kurven verwandelte. Bereits nach kurzer Zeit hatte sich der Anfangsverdacht erhärtet: Das Wasser des Flusses war die Ursache des Sterbens der Natur, irgendetwas verseuchte den Fluss. Lange hatten sie in ihrer abendlichen Runde die Ergebnisse diskutiert und einen Plan erarbeitet um herauszufinden, was genau es war, das den Fluss verunreinigt hatte. Nur eines war zum jetzigen Zeitpunkt klar: Die Ursache war auf keinen Fall natürlich, sondern von Menschenhand verursacht. Leider ruhte nun das Labor, da zunächst neue Proben gesammelt werden mussten. Es bereitete Chihiro Unbehagen sich dem Fluss zu nähern, aber all ihre Einwände und Vorschläge, warum es besser wäre doch noch einige Zeit im Labor zu verbringen, wurden entkräftet oder abgelehnt. Aufmunternd riet ihr eine Kommilitonin, den dunklen und stickigen Keller doch einmal zu verlassen und die Sommersonne zu genießen; sie sei die Einzige der gesamten Truppe, die nach einer Woche immer noch bleich wie ein Gespenst war. Da jede Gegenwehr vergebens war, blieb Chihiro nun nichts anderes mehr übrig, als sich geschlagen zu geben. Doch das mulmige Gefühl in ihrem Bauch wuchs stetig an, als sie in der Nacht vor ihrem Einsatz wach im Bett lag. Was würde passieren, wenn sie das Wasser berührte oder gar in den Fluss hineinging? Sofort waren all die wirren Gedanken und Gefühle um den Flussgott wieder in ihrem Geist präsent und wüteten einem Sturm gleich. Sie konnte auch immer noch nicht sagen, was sie sich eigentlich wünschte oder erhoffte. Würde es sie glücklich machen, wenn Haku vor ihr aus den Fluten auftauchen würde? Was würde passieren? Wäre er noch immer der Gleiche kindliche Geist wie damals vor zehn Jahren oder hatte er sich mit der Zeit verändert? Und wenn er sich verändert hatte, zum Guten oder zum Schlechten? Was würde aus ihr werden, wenn er sich zum Negativen verändert hätte und das Bild, das sie schon so lange in ihrem Herzen trug und ihr immer Kraft gegeben hatte, in einem Moment zerstört wurde? Nervös spielte sie mit dem Drachenanhänger an ihrer Brust. Sie erinnerte sich an das, was Rin ihr damals erzählt hatte; dass er hart und kalt sei, ein grausamer Meister, der Yubabas Befehl gehorchte und den alle Angestellten des Badehauses gefürchtet hatten. Doch diesem Meister Haku war sie nie begegnet, in ihrer Gegenwart war er stets freundlich, beschützend und liebevoll gewesen. Hatte er sich diese Seite auch ohne sie bewahren können, überlegte Chihiro sorgenvoll. Immer weiter verlor sie sich im Sog dieser düsteren Gedankenkette. Zehn Jahre unter Yubabas Einfluss waren sicher nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. War er nun auch ein so skrupelloser Magier wie die alte Hexe? Plötzlich tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, Bilder von einem Haku mit einer grotesk großen Warze und einem überdimensioniertem Haarknoten. Sie schauderte und schüttelte den Gedanken fort. Aber die Frage verharrte in ihrem Hinterkopf: Wie mochte er nun aussehen? Für einen Moment glitt ihre Aufmerksamkeit hinfort zu stechend grünen Augen, in deren Blick Macht, Güte und auch großer Kummer lagen. Dieser Blick, den er ihr geschenkt hatte bei ihrer ersten Begegnung und er ihr versprach ihr Freund zu sein…. Ihr Herz machte einen Hüpfer bei der Erinnerung. Er war so unglaublich beschützend und fürsorglich gewesen. Sofort hatte sie sich geborgen gefühlt, als er sich mit ihr vor der am Himmel kreisenden Yubaba versteckt hatte; damals, als er das in der Geisterwelt verlorene Mädchen in einer schäbigen Ecke aufgelesen hatte. Diese Erinnerung hatte nun erfolgreich jede grauenhafte Vorstellung des heutigen Hakus verdrängt. Da war er wieder in ihrer Vorstellung, der so wunderbar perfekte weiße Drache, der seine menschliche Prinzessin eines Tages retten würde aus der grauen und trostlosen Welt. Dieser Haku in ihren Träumen war überirdisch perfekt in jedweder denkbaren Weise. Wunderschön, freundlich, galant, zuvorkommend…. wieder schüttelte sich Chihiro. Sie musste aufhören dieser Wunschvorstellung nachzuhängen. Nicht mal ein Flussgott konnte ihr entsprechen und sie wäre in jedem Fall enttäuscht, wenn sie – wider Erwarten doch – irgendwann ihm gegenüber stünde. Das Vernünftigste wäre es sowieso endlich diese sinnbefreite Gehirnakrobatik sein zu lassen und endlich zu schlafen, schimpfte die leise Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Der Tag morgen versprach anstrengend und aufregend zu werden, sei es nun mit oder ohne Haku. So ein Fluss untersuchte sich ja schließlich nicht von alleine. Rückblickend konnte Chihiro nicht erklären, welcher Wahnsinn sie geritten hatte, dass sie nun mit einer Anglerhose bekleidet bis zur Hüfte im sanft dahinplätschernden Wasser des Kohaku-Rivers stand und Schilf vom morastigen Ufer pflückte. Es fehlte einfach jeglicher vernünftige Grund, warum sie all ihre Bedenken über Bord geschmissen hatte, in dieses außergewöhnlich unförmige Kleidungsstück gestiegen war und frohen Mutes in die Strömung gewatet war. Jetzt stand sie da, versuchte widerspenstige Schilfhalme aus dem Schlick zu rupfen und zu allem Ärger meldete sich ihr Verstand auch noch wieder zum Dienst zurück. Ihre Laune hatte damit für heute ihren unrühmlichen Höhepunkt gefunden. Die finstere Stimmung war aber nicht von Dauer, denn sie wurde so gleich von unbezähmbarer Neugierde verdrängt, die ihr Herz zum Klopfen brachte. Ihr Forschergeist erwachte und die Gedanken ratterten im Stakkato durch ihr Gehirn. Sie stand im Wasser…. Nein, nicht richtig. Sie hatte bisher das Wasser nicht berührt, es gab keinerlei physischen Kontakt zwischen dem Fluss und ihrer Haut; das hässliche Gummimonster um ihre Beine herum hatte das erfolgreich verhindert und verschaffte ihr Zeit. Das bekräftigte ihre Vermutung, dass sie nass werden musste, um die Aufmerksamkeit des Flussgottes zu erhaschen – wenn sie das überhaupt wollte, was sie noch nicht abschließend entschieden hatte. Langsam und vorsichtig näherte sich ihr Gesicht der Wasseroberfläche. Sie gab sich alle Mühe, dass nicht aus Versehen ihre Nase vor lauter Neugierde nass wurde. Langsam wurde der Fluss zu ihren Füßen wieder klar, der Schlamm, den sie mit ihren Schritten aufgewühlt hatte, sank langsam wieder zu Boden und hinterließ geheimnisvolle Wirbel tanzend in dem Strom. Das Sonnenlicht brach sich an der Oberfläche und schien in einzelnen Strahlen bis hinunter auf den grün bewachsenen Grund. In der Strömung wiegten sich sanft die Algen und übrigen Wasserpflanzen, die in Chihiros Augen wie ein dichter Wald in einem Sturm aussahen. Die Halme und Blätter trotzten wie mächtige Bäume dem Zerren des Wassers, die Algen verbragen wie Moos den unansehnlichen Boden und verhießen Bequemlichkeit wie ein grünes Kissen mitten in der Natur. Die Ruhe und der Frieden dieser Unterwasserlandschaft wirkten bis durch die Oberfläche hinauf und beruhigten Chihiros Geist wieder, der aufgewühlt war wie der Boden hinter ihren Schritten. Zufrieden mit sich und den Geschehnissen sammelte sie neuen Mut und stapfte auf ein neues Büschel Schilf zu. Fest griff ihre Hand nach den Halmen, hielt sie fest und die junge Frau zog fest daran. Doch das rebellische Gewächs weigerte sich und blieb trotzig im Grund verwurzelt. Chihiro stapfte näher an das Büschel heran, packte das Rohr mit beiden Händen und riss nun mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft. Unter lautem Ächzen und Stöhnen rangen die junge Frau und die Pflanze miteinander, bis sich plötzlich mit einem Ruck die Wurzel löste und Chihiro mit einem lauten Platschen rückwärts ins Wasser fiel. Prustend ruderte sie mit den Armen und spuckte das vor Schreck verschluckte Wasser wieder aus. Das Gummimonster um ihre Hüfte ließ sie im Stich, lief voll Wasser und zog sie unter die Oberfläche. Auf dem glitschigen Untergrund fanden ihre Füße kaum Halt, immer wieder rutschte sie aus und schaffte es nicht sich wieder aufzurichten. Sie paddelte unbeholfen weiter nach oben, immer noch von der vollgesogenen Anglerhose behindert und schaffte es schließlich wieder aufzutauchen. Erleichtert schnappte sie nach Luft, doch nur eine Sekunde später stieß sie die wieder erschrocken aus. Etwas packte ihre Beine und zog sie wieder unter Wasser. Verzweifelt schlug sie um sich, doch das helle Licht der Sonne über ihr verschwand immer weiter in den Wolken des aufgewühlten Schlicks. Egal wie sehr sie sich mühte, es gelang ihr nicht wieder Halt zu finden. Das Wasser war nun so trüb, dass sie nicht einmal mehr ihre Hände sehen konnte. Chihiros plötzliches Verschwinden blieb nicht unbemerkt. Am Ufer brach ein panischer Tumult aus, als ihre Freunde ihr Verschwinden bemerkt hatten. Eben stand sie doch noch dort im Fluss, jetzt war sie wie vom Erdboden verschwunden! Das konnte nichts Gutes bedeuten. Hektisch durchsuchten alle das Ufer und versuchten irgendwo in den braunen Fluten eine Spur von ihrer Kommilitonin zu finden. Doch nichts, kein Hinweis. Nicht mal ein verräterisches Plätschern oder einige Luftblasen waren zu sehen, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Entsetzliche Angst umschloss Yaros Herz und raubte ihm fast die Luft zum Atmen. Das durfte nicht sein, wie konnte das nur passiert sein, dass seinem Mädchen etwas zustieß? Er musste sofort handeln, es hing nun von ihm ab! Der Rest dieser feigen Idioten lief ja doch nur am Ufer entlang anstatt etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen. Mit einem kraftvollen Sprung stürzte er sich in die Fluten und tauchte tief hinab auf den Grund, um nach seinem Mädchen zu suchen. In dem grünen, trüben Wasser konnte er kaum einen Meter weit sehen, doch verzweifelt tasteten seine Hände vorwärts in der Hoffnung Chihiro zu packen zu bekommen. Blubbernd verließ der letzte Atem Chihiros Lippen. Gerade war sie im Begriff sich der wohligen Schwärze hinzugeben, die nach ihr rief, als zwei leuchtend grüne Augen sie aus dem Nebel anstarrten. Sofort war sie wieder vollends bei sich und erwiderte den neugierigen Blick aus der Tiefe. Dabei vergaß sie völlig, dass sie eigentlich gerade dabei war zu ertrinken. Langsam gab das Wasser weiter ihren Blick frei und offenbarte das fein geschnittene Gesicht eines jungen Mannes. Lange dunkelgrüne Haare umwehten es, getragen von der Strömung und seine Lippen bildeten ein sanftes Lächeln. Für eine kurze Zeit konnte Chihiro den Blick nicht von diesem überirdisch schönen Gesicht lösen und trieb erstarrt im Wasser. Doch der Bann löste sich wieder und sie schaffte es ihre Aufmerksamkeit auf den Rest ihres plötzlich aufgetauchten Begleiters zu lenken. Aus dem Jungen war tatsächlich ein Mann geworden, aber sonst hatte sich seine Erscheinung nicht verändert. Noch immer trug er ein weites, weißes Gewand und eine ebenso traditionelle blaue Hose. Sein Blick, dachte Chihiro verträumt. Er hatte noch immer diesen beschützenden und warmen Schein und sie verlor sich sofort in seiner Geborgenheit. Der Moment wurde rüde unterbrochen, als schließlich auch die eiserne Reserve Chihiros Atem unter Husten ihre Brust verließ. Entsetzt riss sie die Augen auf und war sich plötzlich wieder der Gefahr bewusst, in der sie schwebte. Verdammt, wenn nicht sofort etwas geschah, würde sie ertrinken! Dem Flussgeist wurde genauso plötzlich bewusst, in welch heikler Situation sich die junge Frau befand und er befreite sich von dem Zauber der jungen Frau in seinem Lauf. Ruhig, aber zügig legte er zwei Finger an ihre zitternde Kehle und sprach stumme Worte. Ein Leuchten erschien an seinen Fingerspitzen und hüllte Chihiros Hals in seinen Schein. Die Atemnot war sofort verschwunden. Wie, das konnte Chihiro nicht erklären; sie atmete, sie nahm Sauerstoff auf, aber ihre Lungen füllte weder Wasser noch Luft. Magie, dachte sie. Er war nun einmal der Schutzgeist dieses Flusses und die Gesetze der Natur galten für ihn nicht. Schweigend trieben sie im Wasser und waren sowohl unfähig den Blick von einander zu lösen als auch etwas zu sagen. Das Mädchen in der aufgeblähten Anglerhose fand zuerst wieder Worte: „Wieso muss ich immer beinahe sterben, wenn ich dich treffe, Haku?“, fragte sie gespielt vorwurfsvoll und konnte doch dabei ein Lächeln nicht verbergen. Peinlich berührt zuckte sein Blick für einen Moment vor Scham beiseite. „Ich vergesse immer, dass du ein Mensch bist“, gab er schließlich verschämt zu. Er war einfach unfähig seinen Blick von ihr zu lösen. Sie schwebte vor ihm im Wasser, die Haare trieben in sanften Wellen in der Strömung und ihre warmen, braunen Augen suchten neugierig sein Gesicht ab. Aus dem kleinen, tollpatschigen Mädchen war eine junge, tollpatschige Frau geworden, bemerkte er amüsiert. Das störte ihn jedoch nicht im Geringsten, denn es war ihrer Ungeschicklichkeit – wieder einmal – gelungen ihn zu ihr zu führen. Wie auch schon bei ihrer ersten Begegnung war sie in sein Bett gefallen und drohte darin zu ertrinken. Seit Tagen schon hatte er unermüdlich seinen Fluss der Länge und der Breite nach durchkreuzt auf der Suche nach ihr. Die Erkenntnis, dass sie an seinem Fluss war und ihn rief, hatte ihn alles andere vergessen lassen und er war so schnell es ging vom Badehaus in mitten der Geisterwelt zu seiner Quelle geeilt. Doch dort fand er keine Spur von ihr. War sie schon wieder gegangen? Oder hatte sie etwa vergessen, dass ein Flussgeist seinen Lauf nicht verlassen konnte und sie über das Wasser Kontakt aufnehmen musste? Doch all diese Gedanken waren jetzt egal. Ihre Präsenz, die mit einem lauten Klatschen in seinem Bewusstsein einschlug, hatte ihn beinahe überwältigt. Wie in Trance schwamm er zu ihr und hatte sogar vergessen, dass das Wasser nicht ihr eigentliches Element war. Nachdem er ihren Körper mit seinem Wasser versöhnt hatte, war er wieder in diesem berauschten Gefühlszustand; genau wie in dem Moment, als er sie in seiner Strömung spürte. Alles andere verschwand aus seinem Kopf. Ihre Sterblichkeit, die vergangene Zeit, die Geisterwelt. Da waren nur noch sie und dieses Gefühl. Dem Drängen dieses Gefühls folgte er nun. Ungeduldig zog er ihren zierlichen Körper an sich, führte vorsichtig ihren Kopf an seine Lippen, um das zu tun, was er schon so lange Zeit unbedingt tun wollte. Doch plötzlich legte sich eine Hand auf seine Brust, drückte sanft dagegen und große, braune Augen schauten ihn ängstlich an. Kapitel 6: Mensch und Drache ---------------------------- 06 – Mensch und Drache Chihiros Hand verharrte auf Hakus Brust, scheu suchten ihre Augen nach den seinen. Verwirrung spiegelte sich in beiden Augenpaaren, doch jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen. Der Drache fand zuerst Worte: „Du hast nach mir gerufen, hier bin ich. Nach so langer Zeit sehe ich dich endlich wieder! War es nicht das, was du dir gewünscht hast?“ Seine Stimme wurde mit jedem gesprochenen Wort etwas schärfer und vorwurfsvoller. „Ja“, antwortete Chihiro sofort, bevor ihr erneutes Schweigen Haku weiter zurückweisen konnte. „Es ist nur…“, stammelte sie und suchte unbeholfen nach Worten, „Es ist wie ein Traum. Doch ich bin wach und ich weiß einfach gar nichts gerade.“ Unsicher schlang sie ihre Arme um ihren Körper ihre Hand suchte nach einer Strähne ihres Haars um damit gedankenverloren zu spielen. „Ich wollte dich einfach nur sehen und wissen, ob du dich noch an mich erinnerst. So oft habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, dich wiederzusehen. Aber jetzt ist mein Kopf einfach leer.“ „Hast du im Ernst geglaubt, ich hätte dich vergessen?“, fragte Haku betrübt. „Es ist viel Zeit vergangen seit ich in der Geisterwelt war“, antwortete Chihiro ruhig. Dann kam ihr ein Gedanke. „Weißt du überhaupt, wie viel Zeit?“ Sie versuchte diese Frage so ruhig und neutral auszusprechen wie es nur möglich war. Sie hatte das Temperament des Drachen vergessen; so ruhig und kontrolliert er auch damals die meiste Zeit war, so konnte er ebenso dickköpfig sein und impulsiv handeln, besonders wenn es um sie ging. Sie erinnerte sich wieder daran, dass Rin und die anderen Angestellten des Badehauses sie vor ihm gewarnt hatten. Ihr gegenüber war er immer freundlich und beschützend, wenn sie unter sich waren. Die anderen erlebten ihn dagegen als stur, ungeduldig und unnachgiebig. „Eben typisch Drache“, hallten Rins Worte in Chihiros Erinnerung nach. Die Frage verwirrte Haku noch weiter und er hatte keine Antwort darauf. Darüber hatte er sich gar keine Gedanken gemacht. „Es sind über zehn Jahre vergangen“, übernahm Chihiro für ihn. „Schau mich an, ich bin kein Kind mehr. Es ist so viel Zeit vergangen, dass ich nun eine Frau bin.“ „Ist mir aufgefallen“, gab Haku kleinlaut zu und schaute dabei Chihiros Körper einen Augenblick länger an als nötig gewesen wäre die Veränderung zu bemerken. Sofort fiel ihm die Kette mit dem Jadeanhänger um ihre Brust auf. Der Anblick hellte seine Laune wieder etwas auf. Zaghaft schwamm er noch etwas näher an die im Wasser treibende Frau heran und versuchte dabei nicht wieder so ungestüm zu wirken und sie zu verschrecken. Langsam streckte er seine Hand nach dem Anhänger aus, schaute ihr aber, kurz bevor seine Fingerspitzen ihre Haut berühren würden, in die Augen um sich ihrer Erlaubnis sicher zu sein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Drachen in der Hand hielt. „Du hast mich trotz der vielen Zeit nicht vergessen?“, fragte er nun wieder vollkommen ruhig und strich ein letztes Mal über den polierten Edelstein. „Niemals.“ „Aber… warum stößt du mich dann von dir?“ Verzweifeltes Unverständnis lag in seinen grünen Augen. „Weil ich mich gerade wieder genauso ängstlich und unsicher fühle, wie das kleine Mädchen, das damals in deine Welt gestolpert ist. Versuche das doch zu verstehen. Es hat sich in meinem Leben seitdem so viel verändert. Lass es mich doch erst einmal begreifen.“ Langsam aber sicher bildete sich ein Knoten in ihrer Brust, all die aufgestauten Gefühle, Hoffnungen und Ängste bahnten sich gerade ihren Weg und überfielen ihr Bewusstsein auf einmal. „Ich hab eigentlich kaum mehr daran geglaubt, dich jemals wieder sehen zu können. Jahrelang hab ich versucht wieder den Weg zum Badehaus zu finden, aber der Pfad war plötzlich irgendwie verschwunden. All das, auch du, wurde zu einer kostbaren Erinnerung, die ich in meinem Herzen trug und vor allen anderen beschützte. Ich hatte manchmal furchtbare Angst all das zu vergessen. Und vor allem hatte ich Angst, dass du mich vergessen hast und das Versprechen, das du mir gegeben hast.“ Die grünen Augen weiteten sich vor Schreck. War sie deshalb böse auf ihn? „Chihiro, ich habe“, begann er aufgeregt zu sprechen, doch sie schnitt ihm sofort das Wort ab. All die Erinnerungen überwältigten sie nun vollends und bahnten sich als Tränen ihren Weg nach draußen. „Als ich dann mit der Schule fertig und damit auch irgendwie erwachsen war, musste ich entscheiden, wie mein Leben weitergehen sollte. Ich zog weg von dem Ort, an dem damals das Tor existierte und damit hatte mich auch alle wirkliche Hoffnung verlassen den Weg eines Tages wiederzufinden. Ich hab mein Leben als Mensch gelebt, es musste ja irgendwie weitergehen.“ Stumm und bedrückt hörte Haku ihren Worten zu und ließ diese auf sich wirken. Er schien sie genau abzuwägen. Hatte er eben noch versucht sich zu erklären, verengten sich nun seine Augen. „Mit weitergehen meinst du dann wohl den Mensch, der gerade in meinem Wasser taucht und nach dir sucht.“ „Was?“, platzte es erschrocken aus Chihiro heraus. Das durfte jetzt einfach nicht wahr sein, dass Yaro das Wiedersehen mit Haku endgültig in eine Katastrophe verwandelte. „Wenn du mich nicht in deinem Leben haben willst, warum hast du mich dann gerufen?“, fragte Haku resigniert. „Die vergangene Zeit, diese zehn Jahre wie du sagtest, habe ich jeden Tag gehofft, du würdest zurückkommen. Das Versprechen hatte ich auch nie vergessen, mir ist es nur leider unmöglich in der Welt der Menschen außerhalb meines Flusses zu existieren. Kaum hatte ich deinen Ruf gehört, bin ich hierher geeilt. Aber da warst du nicht. Da sprangen nur irgendwelche Menschen an meinem Ufer herum. Hast du vergessen, dass ich der Fluss bin?“ „Nein, habe ich nicht“, hielt Chihiro tapfer dem Kummer des Flussgottes stand, „Aber weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, wenn ich dich sehe, wollte ich erst dann in das Wasser, wenn ich mir über alles im Klaren bin. Und dann bin ich einfach hineingefallen.“ Dieses Gespräch entglitt ihr gerade vollkommen und sie schaffte es nicht etwas dagegen zu tun. Und das Haku Yaro sofort bemerkt hatte, half ihr auch nicht weiter. „Worüber willst du dir klar sein? Es ist doch einfach: Komm einfach mit mir, dann ist alles wie vorher“, stellte der Drache nun traurig die entscheidende Frage. „Ich bin nicht mehr dieselbe, ich bin kein kleines Mädchen mehr, das sich in der Geisterwelt verirrt hat“, entgegnete Chihiro nun bestimmt. „Ich bin nun erwachsen, eine Studentin und habe dort am Ufer eine Aufgabe. Es ist mehr ein Zufall, dass unsere Forschungsgruppe ausgerechnet deinen Fluss untersucht. Ich habe dort Freunde, ich habe eine Familie. Wie kannst du glauben, ich würde all das sofort hinter mir lassen?“ „Warum hast du nach mir gerufen?“, wiederholte Haku seine Frage nur kalt. Das war’s, dachte Chihiro traurig. Sie hatte es endgültig versaut, das würde kein glückliches Ende mehr nehmen. Tränen kullerten nun stärker aus ihren Augen, was unter Wasser zum Glück unbemerkt blieb. Oder vielleicht nahm er es ja doch wahr. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. „Ich wollte dich sehen, ich wollte sehen, ob du noch derselbe bist wie damals. Deine grünen Augen noch einmal sehen.“ Traurig schloss sie die Augen. Ihr Herz gab ihr die Antworten auf ihre Fragen gerade von allein. Er war nicht mehr der fürsorgliche Beschützer von damals, der die kleine Chihiro gerettet hatte. Er war nun ein ziemlich abgeklärter Flussgott, der wenig Widerspruch duldete. Haku war nicht so kalt, wie er gerade wirkte. Langsam, aber sicher dämmerte ihm, dass dieses ganze Wiedersehen kolossal schief gelaufen war und er daran nicht unbeteiligt war. Würde Rin es sehen, würde sie ihm sofort sagen, er solle aufhören sich wie ein Drache zu benehmen. Aber verdammt, das war er nun mal! Er versuchte sich wieder zu beruhigen, sich nicht von seinen wütenden Gedanken forttreiben zu lassen. Was leider auch bedeutete, dass dieser Kerl, der da so unbeholfen in seinen Wassern paddelte, seinen Badeausflug überleben würde. Vorerst. Mit einem traurigen Lächeln griff er erneut nach dem Jadedrachen. Überrascht zuckte Chihiro zusammen und verharrte vollkommen still. Hatte sie gerade Angst vor ihm? „Jade“, murmelte er, „Du hast scheinbar ein Gespür für so etwas.“ Er lächelte sanft und versuchte den Streit, den sie noch vor wenigen Augenblicken hatten, vergessen zu machen. Wenn er das jetzt auch noch vermasseln würde, wäre jedes Band zu ihr für immer zerrissen. Stumm, aber mit fragendem Blick sah sie ihn aus großen Augen an. „Jade speichert Magie“, erklärte er ruhig und ließ seinen eigenen Zauber in den Drachen aus dem magischen Stein fließen, der unter der Macht des Flussgottes begann kalt zu glühen. „Wenn du mich doch wiedersehen willst, kannst du mich damit rufen. Vergiss aber nicht wieder, dass ich den Fluss nicht verlassen kann.“ „Ich muss wie immer beinahe ertrinken um dich zu finden?“, fragte Chihiro schüchtern, die in der Zwischenzeit auch ihre Sprache wiedergefunden hatte. Haku antwortete mit einem mysteriösen Lächeln: „Der Drache beschützt dich, du wirst nicht ertrinken.“ Mit diesen Worten verschwand er in den trüben Fluten und Chihiro trieb allein im Wasser. Vorsichtig tasteten ihre Finger nach dem Drachenanhänger an ihrem Hals. Er fühlte sich anders an, mächtiger. Jetzt, da sie allein im Wasser trieb, begann sie langsam zu verstehen. Haku war ein Drache und es gab kaum ein Wesen auf der Welt, das besitzergreifender war als ein Drache. Sofort kamen ihr Bilder in den Sinn von den Drachen aus alten Sagen; mächtige geschuppte Riesen, die einen Berg Gold bewachten und jeden zu Asche verbrannten, der ihrem Schatz zu nahe kam. Jetzt verstand sie endlich, was gerade passiert war. Sie war für Haku der Berg von Gold, sein Schatz sozusagen. Den wollte der Drache nicht mehr hergeben, nachdem er ihn endlich gefunden hatte. Und – um im Bild zu bleiben – einen Moment später kam schon der kühne Ritter herbei geschwommen, der dem Drachen seinen Schatz rauben wollte. Kein Wunder, dass er so aufgebracht war! Chihiro war so wütend auf sich selbst; Da träumte sie ständig von ihrem weißen Drachen und kaum stand er vor ihr, behandelte sie ihn wie einen normalen Menschenmann. Das musste schiefgehen! Wenigstens hatte er ihr die Chance gelassen, es das nächste Mal besser zu machen. Und das würde sie! Sie wusste nun, was der Drache wollte. Bei ihrer nächsten Begegnung würde sie eine Antwort parat haben. Jetzt musste sie aber erst einmal Yaro in dem schlammigen Wasser finden, bevor ein Unglück geschah. Das Wasser schien ihre Gedanken zu kennen. Sanft, fast schon behutsam, wurde sie von einer starken Strömung gepackt und auf das Ufer geschleudert, in Sichtweite ihrer Kommilitonen. Sofort wurde sie gefunden, es entstand ein riesiges Geschrei und durcheinander. Erschöpft blieb Chihiro einfach liegen. Ihre Augenlider wurden mit einem Mal so schwer, sie hatte gar nicht bemerkt, wie viel Kraft das alles gekostet hatte. Kurz bevor ihre Augen einfach zufielen, sah sie, wie Yaro neben ihr aus dem Wasser kletterte. „Meister Haku, Meister Haku!“ Kaum war er auf dem Balkon in der obersten Etage des Badehauses gelandet, umschwärmte ihn schon eine Schar Frösche. Sie warteten kaum ab, dass er sich in seine menschliche Gestalt verwandelt hatte und plapperten aufgeregt durcheinander: „Es ist furchtbar, ihr müsst etwas tun! Die Füchse! Sie sind überall, sie schmeißen mit Reis um sich und betrinken sich mit Sake. Sie lassen sich auch nicht davon abhalten, sie sagen die Menschen haben es ihnen geschenkt. Alles ist dreckig, alles stinkt nach Sake. Tut doch was, Meister Haku!“ Das Stimmgewirr folgte ihm, als er schon längst auf seinem Weg in die unteren Stockwerke war wie ein Schwarm Fliegen. Das Chaos war wirklich enorm. Überall war Reis verteilt, natürlich besonders in allen Becken, damit er im warmen Wasser schön quellen konnte. Ein Luftgeist schüttelte zu Hakus Rechten gerade genervt Reiskörner aus seinem Körper. Yunas, Aufseher und das übrige Personal rannten wie aufgescheuchte Hühner durch alle Gänge; ein Teil versuchte das Chaos einzudämmen, der andere versuchte die flüchtigen Unruhestifter zu fangen. Rin stand an der Spitze der Verfolger und hatte sich mit einem großen Netzköcher bewaffnet, der sonst benutzt wurde um Dreck aus den ganz großen Becken zu fischen. Jetzt blies sie damit zur Fuchsjagd. Die aufmüpfigen Inari kamen Haku gerade recht. Seine Laune hatte schon vor seiner Ankunft ihren Tiefpunkt erreicht, er war so unglaublich wütend auf sich selbst und enttäuscht von dem Treffen mit Chihiro. Diese Wut musste weg, damit er wieder klar denken konnte. Seine Aura leuchtete eine Sekunde lang gleißend hell auf, dann war er wieder verwandelt in seine Drachengestalt. Gnadenlos machte er Jagd auf das dreckige Dutzend Füchse, seine schlanke Gestalt schoss wie ein Pfeil durch die große Halle. Seinen Schweif nutzte er dabei wie eine Waffe und erwischte damit einige der Inari, die sofort K.O. zu Boden gingen. Die kurze Treibjagd fand ein Ende, als er den Anführer der Aufrührer mit seiner Pranke zu fassen bekam. Ein junger Fuchs, fast noch ein Kind mit wuscheligem Haare und einem buschigen Schweif, lag vor Angst zitternd auf dem Rücken unter dem Drachen, Todesangst schien aus seinen grünen Augen. „Bitte…. Nicht…“, quietschte die kindliche Stimme, bis sie schließlich verstummte vor Panik. Der Drache senkte seinen Kopf, seine Schnauze berührte fast das Gesicht des Fuchses als er knurrte: „Verschwindet. Sofort. Mit all eurem Unfug.“ „J-Ja“, hauchte sein Opfer. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schmiss er den kleinen Fellball in Richtung des Ausgangs. Es dauerte keine drei Minuten und der Fuchszauber hatte das Tohuwabohu beseitigt und die Verursacher waren stiften gegangen. Die Wut des Drachens war noch nicht verraucht, immer noch funkelten die grünen Augen voll Zorn. Die meisten Gäste waren ohnehin schon geflohen, auch der Großteil des Personals. Rin war eine der wenigen Mutigen, die geblieben waren. Schließlich verwandelte sich Haku wieder in seine menschliche Erscheinung zurück. „Sag mal, war das wirklich nötig gewesen?“, fragte die junge Frau, während sie auf Haku zugelaufen kam. Er nahm kaum Notiz von ihr, drehte sich um und machte sich auf den Weg in sein Quartier. Rin folgte ihm, sie musste rennen, um ihn einzuholen. „He, ich hab was gefragt. War das wirklich nötig? Du hast fast die halbe Einrichtung zerstört beim Einfangen der Füchse.“ Schneidend antwortete er: „Du wolltest doch, dass ich den Inari Manieren beibringe, oder?“ Sie waren nun schon ein ganzes Stück gelaufen und hatten den öffentlichen Bereich des Badehauses verlassen. Jetzt, da sie unter sich waren, konnte sie vertraulicher mit ihm sprechen. „Ich glaube kaum, dass du das nur wegen der Füchse so wütend bist. Was ist passiert? Hat der alte Eremit Ärger wegen des Lavendels gemacht?“ Irgendwas wurmte den Drachen gewaltig, stellte Rin in Gedanken fest. So aus der Fassung hatte sie ihn lange nicht erlebt, nicht seit… „Es ist nichts“, knurrte Haku und setzte seinen Weg unbeirrt fort. „Es ist etwas mit Sen“, stellte Rin nüchtern fest. „Das ist das einzige, was dich so aus der Fassung bringt.“ „Es ist nichts“, wiederholte Haku stur und war erleichtert, endlich die Tür zu seinen Räumen zu erreichen. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du hast sie getroffen, warst unwiderstehlich drachig und du selbst und jetzt ist alles ein Scherbenhaufen.“ Er knallte die Tür hinter sich zu und verbannte so auch Rins Stimme. „Du weißt, wo du mich findest, wenn du einen Rat brauchst“, klang es dumpf durch das schwere Holz. Dann verschwand die Stimme, er hörte nur noch sich entfernende Schritte auf dem Flur. Haku machte sich nicht die Mühe das Licht anzumachen. Die Dunkelheit tat seiner geschundenen Seele gut, sie beruhigte ihn. Er hatte sich wie ein kompletter Idiot verhalten. Ja, er war unwiderstehlich er selbst gewesen. Chihiro hatte recht, es war viel Zeit vergangen und er wollte es nicht wahrhaben. Er wollte sie einfach nur bei sich haben. Jetzt blieb ihm nur die Hoffnung, dass es ein zweites Mal geben würde und er es besser machen konnte. Es lag an ihr, ob sie ihn wiedersehen wollte. Er würde ein Auge auf sie haben, während sie an seinem Fluss weilte. Aber er wünschte sich gerade nichts sehnlicher als von Chihiro in ihrem Leben gewollt zu werden. Sie sollte ihn wieder rufen. Und dann wäre er zur Stelle. Weniger drachig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)