Gildenmomente von Yosephia (Auszüge eines Epos') ================================================================================ Unmögliches - Ungeschriebene Geschichte --------------------------------------- Zitternd bahnte Lucy sich einen Weg durch die Straßen von Crocus und erinnerte sich, wie es hier noch vor wenigen Tagen ausgesehen hatte. Die hellen Pflastersteinstraßen, die mit warmen Farben verputzten Häuser, die bunten Marktstände überall. Das erwartungsvolle Summen der Einwohner und Gäste, das Gelächter von Kindern. Vor wenigen Tagen noch hatte das Leben hier in voller Blüte gestanden, doch jetzt… Doch jetzt lagen die meisten der Gebäude in Trümmern. Das Feuer hatte alles zu schwarz und dunkelbraun verkohlt. Und statt Lachen hörte man Weinen und Schreien. Die Menschen irrten durch die Trümmer auf der Suche nach ihren Angehörigen oder nach einem sicheren Unterschlupf. Ihre vorher fröhlich funkelnden Augen wirkten nun trüb und dunkel, zuweilen so unendlich leer, dass sie wie lebende Tote wirkten. Diese Menschen brauchten Hilfe. Sie mussten fort von der Oberfläche, mussten im Untergrund Schutz suchen. In den Kanalisationen vorerst und von dort aus weiter in die Tiefe. Die Oberfläche war kein sicherer Ort mehr für sie, wo doch jederzeit Drachen vom Himmel stürzen und ihnen den Tod bringen konnten. Jemand musste es ihnen sagen, sie anführen, für die Bedürftigen sorgen. All die Waisen, die nun verzweifelt durch die Straßen irrten. Die unzähligen Verletzten… Aber Lucy konnte ihnen nicht helfen. Sie verschloss sich vor dem Elend um sie herum, um sich auf das konzentrieren zu können, was nun vor ihr lag. Noch war es nicht zu spät. Wenn sie sie nur schnell genug fand, hatten sie alle noch eine Hoffnung. Dann war nicht alles verloren! Ihr Vormarsch geriet ins Stocken, als sie auf einem ehemaligen Marktplatz in eine große Menschenansammlung stolperte. Auf einer Obstkiste stand ein hakennasiger Mann, dessen feine Kleidung im Vergleich zu den meisten anderen hier beinahe blütenrein war. Wohl ein Reicher, der sich rechtzeitig in seinem persönlichen Keller hatte verkriechen können. Jetzt hob er mit gewichtiger Miene die Arme und sprach in einer Tonlage, als wäre er ein allwissender Prophet: „Wir müssen uns unterwerfen! Wir müssen sofort alle Kampfhandlungen einstellen und den Drachen unseren guten Willen zeigen. Wenn wir für sie arbeiten, werden sie uns verschonen und irgendwann werden wir gleichberechtigt mit ihnen sein!“ In der Menge wurde getuschelt. Einige schüttelten resigniert den Kopf, andere waren empört, wieder andere nickten hoffnungsvoll. Lucy presste die Lippen aufeinander. Er hätte eine Menge dazu zu sagen. Er würde diesem Wichtigtuer gehörig den Marsch blasen. Sie wandte sich ab, um den Marktplatz zu umgehen und weiter zu suchen. Lautes Gebrüll in der Menge ließ sie inne halten. Ein verdreckter Junge mit halb zerfetzter Kleidung und zahlreichen Bandagen am ganzen Körper schubste den Wichtigtuer von der Obstkiste und sprang selbst darauf. „Wenn wir uns ihnen ausliefern, ist das unser Tod! Das sind Bestien, sie kennen keine Ehre und keine Gnade!“ „Was weißt du denn schon davon, Junge?“ „Sie haben meinen Vater getötet!“, rief der Junge zurück. „Hey, du bist doch ein Magier! Seht nur, er hat ein Gildenzeichen an der Schulter! Hättet ihr uns nicht retten sollen? Ihr habt versagt!“, rief jemand in der Menge. „Wir haben gekämpft! Bis zum letzten Mann haben wir für euch gekämpft!“, rief der Junge aufgebracht. „Aber dort draußen sind zehntausend Drachen, durch deren Haut kein einziger magischer Angriff dringen kann. Wir brauchen eine neue Strategie, aber wir werden einen Weg finden. Wenn ihr euch jetzt den Drachen ausliefert, habt ihr überhaupt keine Chance.“ „Und bis dahin sollen wir die Hände in den Schoß legen und auf sie warten?!“, rief der Wichtigtuer aufgebracht. Die Menge wurde immer unruhiger. Heiße Diskussionen brachen aus, eskalierten an mehreren Stellen zu Prügeleien. Der Junge versuchte, die unzähligen Stimmen zu übertönen, aber er hatte keine Chance. Er wurde von der Obstkiste geschubst und von mehreren Männern ergriffen. Brüllend schlug er um sich und seine Fäuste umhüllten dabei erst violette, dann grüne Flammen. Schnell nahmen die Männer Abstand. Er wollte wieder auf die Obstkiste steigen, doch sie war in den Wirren der Menge zertrampelt worden. Was er danach tat, konnte Lucy nicht mehr erkennen. Die Menschen drängten sich immer dichter aneinander. Einige flohen panisch, andere kamen aus allen angrenzenden Straßen, um sich an der Prügelei zu beteiligen. Lucy wandte sich ab. Sie konnte Romeo nicht helfen. Das hier war nicht ihre Front und auch nicht die seine, auch wenn sie gut verstehen konnte, warum er es dennoch versucht hatte. Weiter streifte sie durch die Straßen, suchte hinter jedem Trümmerhaufen, in jedem halbwegs intakten Haus. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie konnte spüren, wie sie schwächer wurde. Sie musste zurückkehren, bevor ihre Magie versiegte. Sie musste einfach! Zwischen den Trümmern einer Kathedrale hielt sie erneut an. Unzählige Leichen waren von Freiwilligen hergebracht worden. Priester gingen durch die Reihen und standen den Angehörigen bei, die um ihre Toten trauerten oder nach ihren Lieben suchten. Der einstmals überkuppelte Platz war erfüllt vom Weinen und Schreien der Menschen. Schwer schluckend schritt Lucy die vielen Reihen ab. Fast alle Gesichter waren ihr unbekannt, aber einige wenige waren ihr erschreckend bekannt. Rufus von Säbelzahn, ihm fehlten beide Arme und ein Bein und die Haare waren größtenteils verbrannt, das Gesicht zur Hälfte zerfetzt. Zwei Reihen weiter lag zu Lucys Entsetzen sogar Jura von Lamia Scale, ein Großteil seines Körpers von einer Art Säure fürchterlich zugerichtet. Neben ihm saß Lyon mit ähnlichen Verletzungen. Er blickte nicht einmal auf, als Lucy an ihm vorbei ging. Erzas Freundin Miriana und ihre Gildenkameradin Beth von Mermaid Heel lagen nebeneinander. Miriana schien erstickt zu sein, Beths Körper wies mehrere Verletzungen auf, die darauf hinwiesen, dass sie unter einem eingestürzten Gebäude gefunden worden war. Mehrere ihrer Gildenkameraden saßen und standen um sie herum und trauerten um sie. Alle waren sie zumeist schwer verletzt. Die Gildenmeisterin Kagura stand mit steinerner Miene zwischen den Köpfen der beiden Toten. Ihr Schwertarm war von der Schulter an fort. Als sie die letzte Reihe erreichte, wollte Lucy schon erleichtert aufatmen und ihre Schritte wieder beschleunigen, als sie am Ende der Reihe blaue Haare ausmachen konnte. Um Kraft flehend schloss Lucy die Augen. Das durfte nicht sein. Dafür hatte sie jetzt nicht die Kraft. Sie musste weiter. Aber… sie war es sich selbst und ihrer Gilde schuldig… Zitternd ging Lucy zum Ende der Reihe. Ihre Knie knickten ein. Vor ihr lag nicht nur Juvia, sondern auch Gray, beide mit unzähligen Wunden übersäht, sie mussten bis zum bitteren Ende gekämpft haben. Als man Juvia neben Gray gelegt hatte, war ihre Hand auf seine gefallen. Man musste sie wohl gemeinsam gefunden haben. Seite an Seite gestorben. So hatte Juvia sich das sicher nicht vorgestellt… Mühsam holte Lucy Luft und barg das Gesicht in den Händen, presste die Finger schmerzhaft fest gegen ihre Schädeldecke. Sie musste aufstehen. Sie musste weiter gehen. Sie musste weiter suchen. Gray und Juvia waren tot. Sie konnte ihnen nicht mehr helfen. Er lebte noch. Ihm konnte sie noch helfen. Sie musste aufstehen! Nur langsam schaffte Lucy es wieder auf die Beine, aber sie brachte es noch nicht über sich, ihren Kameraden den Rücken zu zukehren. Wenn sie jetzt gehen würde, würde sie die Beiden niemals wieder sehen, das wusste sie. Ganz genau prägte sie sich alles ein, sie wusste noch nicht einmal, wieso sie das eigentlich tat. Keiner würde von ihr Details über diesen Anblick erfahren wollen. Für keinen aus der Gilde würde etwas mehr als die Tatsache wiegen, dass Gray Fullbuster und Juvia Loxar für immer von ihnen gegangen waren. Und dennoch hielt Lucy stumm Wache neben den Leichen ihrer Kameraden, bis sie in sich drin spürte, dass der richtige Moment gekommen war. Wortlos nahm sie Abschied, dann wandte sie sich ab und verließ so schnell wie möglich die Kathedrale. Weiter bahnte sie sich ihren Weg durch die Trümmer der königlichen Stadt, suchte unermüdlich weiter, ignorierte ihre zunehmende Erschöpfung, gönnte sich keine einzige Pause. Unter einer steinernen Brücke fand sie ein notdürftiges Lazarett. Unter den Verletzten erkannte Lucy Eve und Hibiki von Blue Pegasus. Keiner von ihnen schien schwer verletzt zu sein, aber beide waren offensichtlich sehr erschöpft. Eve lag bewusstlos neben seinem sitzenden Kameraden. Als dieser den Blick hob und Lucy erkannte, leuchtete für einen Moment Hoffnung in seinen Augen auf, die jedoch genauso schnell wieder erlosch. Ohne auch nur ein Wort mit ihm auszutauschen, wandte Lucy sich wieder ab. Wenn er noch genug Magie gehabt hätte, hätte er ihr bei ihrer Suche helfen können, aber sie war nach wie vor auf sich allein gestellt. Eine Weile folgte Lucy dem Fluss. Sie machte sich keine Sorgen, dass sie sich verirren konnte. Damit das nicht geschah, hatte sie Vorkehrungen getroffen. Aber allmählich hatte sie Angst, sie nicht rechtzeitig zu finden. Crocus war eine der größten Städte des gesamten Kontinents, nicht so beschaulich wie Magnolia. Hier hatten vor dem Angriff der Drachen abertausende von Menschen gelebt und neben den Wohnvierteln besaß die Stadt Fabriken und Werkstätten, Sportplätze, Kathedralen, Schulen und viele andere öffentliche Gebäude. Obendrein hatten sich die Kämpfe gewiss nicht auf die Stadtgrenzen beschränkt. Lucy selbst war nach dem ersten Angriff am Rande der Stadt erwacht. Um das gesamte Gebiet zu durchsuchen, würde es Tage dauern. Lucy hatte keine Tage – er hatte keine Tage –, sondern Stunden. „Lucy?“ Blinzelnd hob sie den Blick. Vor ihr stand Cana, die sich auf eine provisorische Krücke stützte und zahlreiche Verbände trug, darunter auch einen, der die Hälfte ihres Gesichts verbarg. Vage ließen sich die Ränder von Brandwunden darunter erkennen. „Du bist es!“, keuchte Cana erleichtert und drehte sich um. „Lisanna, es ist Lucy!“ Hinter einer halb eingefallenen Hauswand neben Cana tauchte Lisannas weißer Haarschopf auf. Die Gesichtszüge der jüngeren Magierin wirkten um Jahre gealtert. Tiefe Trauer hatte sich hinein gegraben. „Lucy, hast du etwas von den Anderen gehört oder gesehen? Gray, Juvia, Na-“ Langsam ging Lucy auf ihre Freundinnen zu. „Gray und Juvia sind tot“, erklärte sie leise und wagte es dabei nicht, ihnen in die Augen zu blicken. Es auszusprechen, machte es noch viel unerträglicher, aber es war tatsächlich immer noch erträglicher, als Lisanna weiter reden zu lassen. Als sie auf einer Höhe mit ihren Kameradinnen war, erblickte sie hinter den Trümmern, wo Lisanna aufgetaucht war, ein notdürftiges Lager. Vorne lagen Meister Makarov, Alzack und Reedus. An Alzacks Seite saß Asuka, die immer wieder die Hand ihres Vaters streichelte. Levy, das Gesicht von mehreren tiefen Schnitten verunziert, hockte neben Makarov und flößte ihm mit einer Feldflasche Wasser ein. Jeder Schluck schien eine Qual für den alten Mann zu sein – und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, kam er Lucy wirklich alt vor. Er war dem Tode nahe. Zumindest um Reedus und Alzack schien es nicht so schlimm bestellt zu sein. „Wo ist Wendy?“, fragte Lucy tonlos. „Dort“, antwortete Cana und deutete zitternd auf eine Tür. Sie hing nur noch an einer Angel, aber die Mauer war noch intakt. Früher musste es sich hierbei um das Hinterzimmer eines Ladens oder ähnliches gehandelt haben. Obwohl sie sich sicher war, zu wissen, was sie dort finden würde, betrat Lucy den Raum. Aneinander gereiht ruhten dort mehrere Körper, alle mit Laken oder Decken bedeckt, aber ihre Umrisse waren noch deutlich zu erkennen. Max, Warren, Jet und Droy… Fried und Bixlow… Unter den nächsten beiden Laken lagen ein Mann und eine Frau, beide mit weißen Haaren. Lucy hatte vorher schon in Lisannas Augen erkannt, dass Elfman und Mirajane tot waren, aber es nun zu sehen, war beinahe zu viel für sie. Sie musste sich an der Wand abstützen und mehrmals tief ein- und ausatmen. „Erza hat überlebt“, erklärte Cana hinter ihr mit gedämpfter Stimme. „Gerard hat sie mit seinem Leben gerettet. Sie hat daraufhin alle um sich gescharrt, die noch kämpfen wollen, um mit ihnen gegen die Drachen zu ziehen. Evergreen und Laxus sind mit ihr gezogen. Auch einige aus den anderen Gilden. Shelia von Lamia Scale und Sting und Rogue von Säbelzahn…“ „Sie haben keine Chance“, murmelte Lucy und stieß sich wieder von der Wand ab. Als nächstes passierte sie Gazilles Leichnam, schlimmer zugerichtet als jeder andere, den sie bisher gesehen hatte. Seine gesamte untere Körperhälfte fehlte. Unter dem Laken neben ihm lag unverkennbar Pantherlilly. „Wenn nicht einmal Drachentöter Drachen töten können, wie sollen sie es dann schaffen…?“ Cana gab keine Antwort. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe. Nach Pantherlilly kam Visca, was für Lucy beinahe noch schockierender als Gazilles Tod war. Asuka war eine Halbwaise, Alzack war Witwer. In was für eine Zukunft konnte die kleine Asuka jetzt überhaupt noch blicken…? Lucky und Nav und schließlich… Wendy und neben ihr die einzige unverhüllte Leiche, die in Charlys zitternden Armen ruhte. Für Lucy fühlte es sich an, als würde alle Kraft von ihr weichen. Sie ging in die Knie und blickte von Wendy zu Happy und wieder zurück. Wendy war ihre – seine – letzte Chance gewesen! Wie sollte Lucy ihn retten? Sie hatte keine Heilmagie! Sie. Konnte. Nichts. Tun! Charly hob den tränenverschleierten Blick. „Happy ist meinetwegen gestorben“, krächzte sie kaum verständlich. „Ich wollte Wendy nicht verlassen. Er hat mich beschützt… Er ist meinetwegen gestorben…“ „Ich weiß… was du meinst“, wisperte Lucy gequält und betrachtete den blauen Exceed voller Trauer, dachte an ihre erste Begegnung mit ihm, an all die Abenteuer mit ihm – und mit… Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und drückte diese mitfühlend. Canas Stimme klang kratzig: „Lucy, ist er tot? Nat-“ Hastig schüttelte Lucy die Hand ihrer Freundin ab, drehte sich jedoch nicht um. Wortlos kroch sie zu Happy und Charly, beugte sich über ihren toten Freund und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Zaghaft griff sie danach nach Wendys lebloser Hand, die unter dem Laken hervorlugte, und drückte diese zum Abschied. Zuletzt strich sie über Charlys Kopf, dann stand sie wieder auf und verließ langsam den Raum, nahm dabei von jedem ihrer Kameraden stummen Abschied, rief sich all die schönen Momente mit ihnen in Erinnerung. Als sie in den Vorraum zurückkehrte, blickte nur Lisanna auf, Levy kümmerte sich immer noch wie in Trance um Makarov, obwohl offensichtlich war, dass es für ihn keine Hilfe mehr gab. Ihre Bewegungen waren ruckartig, wirkten nur mühsam kontrolliert. Levy hatte ihre beiden Teamkameraden und langjährigen Freunde verloren. Und Gazille. Was genau zwischen Levy und Gazille existiert hatte, wusste Lucy nicht, aber sie wusste, dass dort etwas gewesen war. Etwas, dessen Verlust Levy in eine Art vegetativen Zustand geschleudert hatte. Einzig und allein die Pflege ihrer verwundeten Kameraden schien sie noch in dieser Welt zu halten. „Lucy, bitte bleib’ hier bei uns“, flehte Cana und ergriff die Hand ihrer Freundin. „Ich habe Vater mit meinem Kartenzauber kontaktiert. Er wird bald hier sein und dann suchen wir einen sicheren Unterschlupf.“ „Gray und Juvia liegen in der Kathedrale im Westviertel. Auf einem Marktplatz ganz in der Nähe habe ich auch Romeo gesehen“, erwiderte Lucy matt und entzog ihre Hand dem schwachen Griff. „Lucy“, presste Cana gequält hervor. „Bitte…“ „Hier ganz in der Nähe ist unter einer Steinbrücke ein Lazarett errichtet worden. Hibiki und Eve von Blue Pegasus sind dort. Vielleicht können sie euch helfen, Romeo zu finden, wenn Hibiki wieder bei Kräften ist“, fuhr sie fort und kniete sich neben Makarov, ergriff dessen Hand und drückte sie sachte. Mühsam öffnete der alte Gildenmeister seine Augen und obwohl er entsetzliche Schmerzen haben musste, erwiderte er Lucys Händedruck und für einen winzigen Moment leuchtete das großväterliche Lächeln in seinen Augen auf, mit dem er Lucy vor so langer Zeit in die Gilde aufgenommen hatte. Dann schlossen sich seine Augen wieder und sein Brustkorb erzitterte vor Anstrengung beim nächsten Atemzug. Wortlos stand Lucy auf und verließ das Versteck ihrer Freunde. Levy und Lisanna blieben, wo sie waren, aber Cana folgte ihr und versuchte wieder, Lucy zurück zu halten. Wieder schüttelte diese sie ab und schlug einen anderen Weg ein, als den, auf welchem sie hierher gelangt war. Sie wollte nicht schon wieder am Lazarett und an der Kathedrale und am Marktplatz vorbei. Sie hatte keine Zeit mehr. Er hatte keine Zeit mehr. „Lucy…“ Müde drehte Lucy sich um und blickte ihrer Freundin zum ersten Mal richtig in die Augen – oder vielmehr in das eine, welches nicht durch den Verband verborgen wurde. Auch Cana wirkte um Jahre, nein, um Jahrzehnte gealtert. Von der einstigen Verwegenheit war nichts mehr zu sehen. Aber Cana hielt sich aufrecht. Sie schulterte die Last der Verantwortung für ihre überlebenden Kameraden. In gewisser Weise war sie jetzt wohl die neue Gildenmeisterin – und die letzte. Der Blickkontakt schien Cana endlich zu überzeugen. Ihr kamen die Tränen, aber sie wischte sie schnell fort und lächelte gequält. „Es war eine tolle Zeit.“ „Die beste“, stimmte Lucy ihr zu. Ihre Mundwinkel schmerzten, als sie versuchte, zu lächeln. „Pass’ gut auf Charly auf. Happys Tod darf nicht umsonst gewesen sein.“ „Werde ich“, versprach Cana immer noch mit diesem gequälten Lächeln. „Leb’ wohl, Lucy.“ „Leb’ wohl, Cana“, erwiderte Lucy, dann wandte sie sich ab und schlug den kürzesten Weg zu ihrem Versteck ein. Dieses Mal lief sie schneller, sah nicht nach links, nicht nach rechts. Sie musste niemanden mehr suchen, über niemandem mehr Bescheid wissen. Wendy war tot. Happy, Gray, Juvia, Gazille, Mirajane… bald auch Makarov – und so sehr Lucy sich auch wünschte, sie könnte an Erza und ihre Begleiter glauben, so war sie sich doch sicher, dass auch sie bald von den Drachen getötet wurden. Es waren zu viele. Keiner kam gegen sie an. Nicht einmal er. Schwankend erreichte Lucy einen verriegelten Kellereingang, der jedoch bereits geöffnet wurde. Leo und Sagittarius traten hervor, letzterer mit angelegtem Pfeil am Bogen. Hinter ihnen standen Taurus und Aquarius und Lucy wusste, dass auch die anderen sechs Stellargeister des Zodiac-Kreises noch da waren, mit welchen sie einen Vertrag geschlossen hatte. „Endlich bist du zurück!“, seufzte Leo erleichtert. „Lucy, du musst endlich unsere Tore schließen. Zehn goldene Schlüssel auch nur für eine Minute gleichzeitig zu benutzen, ist eigentlich schon tödlich!“ „Ich musste es tun. Ihr ward die Einzigen, denen ich ihn anvertrauen konnte“, erwiderte Lucy entschlossen und holte ihren Schlüsselbund hervor. „Hast du Wendy gefunden?“, fragte Leo, obwohl seine Miene verriet, dass er sich die Antwort auf seine Frage schon denken konnte. „Sie ist tot“, sprach Lucy es dennoch aus. „Beinahe die gesamte Gilde… Ich… ich kann nichts mehr tun…“ „Dann solltest du dich verabschieden“, riet Aquarius ungewöhnlich sanft und legte Lucy sogar eine Hand auf die Schulter. „Und danach gehst du zu den Anderen, wo du in Sicherheit bist. Du musst dich erholen.“ Ohne eine Antwort zu geben, schloss Lucy eines nach dem anderen die Tore der zehn goldenen Schlüssel in ihrem Besitz. Wie es ihr gelungen war, alle gleichzeitig und so lange geöffnet zu halten, konnte sie im Nachhinein nicht mehr sagen. Sie hatte einfach nur daran gedacht, wie verzweifelt ihre Lage war und dass sie unbedingt einen starken Schutz brauchte – und dann hatte es einfach funktioniert. „Lucy…“ Als sie zuletzt Leos Tor schließen wollte, bedeutete er ihr, zu warten. „Du wirst doch zu den Anderen zurück gehen, oder?“ Wortlos blickte Lucy in die Augen ihres Stellargeistes und Freundes. Er war es schließlich, der den Blickkontakt abbrach und resigniert seufzend den Kopf schüttelte. Unschlüssig zog er die Schultern hoch, blickte hinter sich ins Innere des Verstecks und blickte dann wieder zu Lucy. „Wir werden einander nicht wieder sehen, oder?“ „Ich glaube nicht“, murmelte Lucy. Schweigend standen sie einander gegenüber. Lucy hätte das Tor des Löwen einfach schließen können, aber sie spürte, dass Leo noch etwas sagen wollte und nur nach den richtigen Worten suchte, also wartete sie. „Du warst eine tausendmal bessere Stellargeistmagerin als Karen oder irgendjemand sonst“, begann Leo schließlich unsicher. Trauer lag in seinem Blick, als er ihr wieder in die Augen sah. „Du warst nicht einfach nur unsere Partnerin, sondern unsere Freundin… ein Teil unserer Familie… Ich wünschte, wir hätten dich und die Anderen beschützen können… Wir haben versagt.“ Matt schüttelte Lucy den Kopf. „Die Einzige, die versagt hat, bin ich… Aber ich bin dankbar für die Zeit mit euch. Es war eine Ehre, mit euch kämpfen zu dürfen…“ Jetzt war es Leo, der den Kopf schüttelte, während er sich langsam auflöste. „Die Ehre lag ganz bei uns, Lucy. Du bist die mächtigste Stellargeistmagierin, die jemals existiert hat…“ Die Worte hallten in Lucys Gedanken nach, als sie ihr Versteck betrat und die Tür von innen verbarrikadierte. Die Dunkelheit hier wurde von einem kleinen Feuer in Schach gehalten, neben welchem ein notdürftiges Lager errichtet worden war. Auf diesem Lager lag er. Im Grunde war sein gesamter Körper bandagiert. Er hatte sich im Kampf über jedes menschenmögliche Maß hinaus getrieben, hatte selbst dann noch gekämpft, als eine Drachenkralle seinen Bauch aufgeschlitzt hatte. Mit diesem Einsatz hatte er Lucys Leben gerettet, aber Lucy konnte keine Dankbarkeit dafür aufbringen. Zitternd setzte sie sich neben ihn und ergriff seine Hand. Noch schlug sein Puls. Noch hob sich seine Brust. Aber sie konnte spüren, wie er von Sekunde zu Sekunde immer schwächer wurde. Seine Hand zuckte in ihrer und er schlug langsam die Augen auf. Mehrmals musste er blinzeln, ehe sein Blick sich fokussierte. Seine Lippen umspielte ein Hauch des Lächelns, mit dem er Lucy vor so langer Zeit in die Gilde eingeladen hatte. „Lucy…“ „Natsu…“ „Du warst… lange weg…“ „Ich habe Wendy und die Anderen gesucht. Ich habe Hilfe für dich gesucht“, krächzte Lucy und jetzt auf einmal konnte sie die Tränen um ihre Freunde vergießen, die vorher einfach nicht hatten kommen wollen. Natsu schien die Bedeutung dieser Tränen zu verstehen. Schmerz verzog sein Lächeln. Dennoch drehte er seine Hand, bis er ihre hielt anstatt andersherum. „Gray?“ Gequält schüttelte Lucy den Kopf. „Gazille? Der Opa? Mira?“ Jedes Mal schüttelte Lucy den Kopf und immer mehr Tränen rannen über ihre dreckigen Wangen. Für einen Moment schloss Natsu die Augen, schien um Kraft zu beten, dann sah er beinahe flehend in Lucys Augen. „Happy?“ Schluchzend krümmte Lucy sich neben ihm zusammen, klammerte sich an seine zitternde Hand. So viele tote Freunde. So viele Lücken. So viel Verlust. Und der schlimmste stand ihr noch bevor. Wie sollte sie das nur ertragen…? Natsus bandagierte Hand an ihrer Wange ließ sie den Blick heben. Obwohl es ihm schreckliche Schmerzen zufügen musste, hatte er sich aufgerichtet. Tränen schimmerten in seinen Augen und er keuchte vor Schmerz und Erschöpfung, aber in seinen Augen loderte noch immer diese Flamme, die Lucy bisher in jeder noch so ausweglosen Situation ermutigt hatte. „Das kann nicht… das Ende sein!“, presste Natsu entschlossen hervor. „Ich weigere mich! Es muss… einen Weg… geben!“ „Welchen, Natsu?“, krächzte Lucy verzweifelt und legte ihre Hand auf seine, versuchte, alles von seiner Wärme zu erhaschen, was er ihr jetzt noch bieten konnte. „Sie sind alle tot… Da draußen sind tausende Drachen… Und du…“ „Du findest einen Weg…“, unterbrach er sie und blickte sie mit einem solchen Urvertrauen an, dass sie für einen Moment alles vergaß und sich wie so oft in der Vergangenheit Zuversicht einhauchen ließ. „Du wirst… alle retten… Wenn irgendjemand das kann… dann du…“ Stöhnend vor Schmerz musste er sich wieder hinlegen. Lucy kroch näher an ihn heran und er legte zitternd einen Arm um sie. Sie schmiegte sich in die Umarmung und weinte sich das Elend von der Seele. Weinte um ihre Kameraden und um ihre Zukunft und vor allem um Natsu, dessen Atmung immer schwächer wurde. „Gib… niemals… auf“, murmelte er und sein schwacher Atem streifte ihre Stirn. „Niemals…“ „N-niemals“, würgte Lucy und klammerte sich an Natsu, als sie spürte, wie sein Körper sich verkrampfte. Wie lange sie noch so neben ihm lag und immer wieder ‚Niemals’ murmelte, konnte Lucy im Nachhinein nicht sagen. Natsus Todeskampf fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Bis zuletzt hielt er sie fest. Bis zuletzt fühlte er sich stark und warm und einfach unbesiegbar an. Bis zuletzt blieb er der Natsu Dragneel, der ihr ein Zuhause gegeben hatte und der so oft für sie gekämpft hatte. Und als er schließlich seinen letzten Atemzug tat und sein Arm von ihr glitt, war sie es, die ihn festhielt, die ihm Stärke und Zuversicht gab. Sie blieb bei ihm, als er starb, spürte seinen letzten Herzschlag unter ihrer Hand, spürte später, wie sein Körper erkaltete, war Zeugin, wie der einzige Mann starb, der Fiore hätte retten können… Lange hatte Lucy neben Natus Leichnam ausgeharrt, hatte alleine die Totenwache gehalten, hatte all der schönen Momente mit Natsu gedacht. Irgendwann war sie neben ihm eingeschlafen – und als sie Stunden später erwacht war, hatte sie gewusst, was sie tun konnte, um ihr Versprechen zu halten. Wie in Trance war sie wieder durch die halbe Stadt gelaufen und nun stand sie vor dem Eclipse-Tor. Unterwegs hatte sie die Leichen zahlreicher königlicher Wachen gesehen. Unter ihnen auch Yukino. Schweren Herzens hatte sie auf Crux’ Anweisung hin Yukinos Schlüssel an sich genommen. „Und es wird funktionieren?“, fragte Lucy den weisen Stellargeist, der so ernst und wach war, wie sie es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. „Das ist nicht die Frage“, erwiderte er leise und musterte Lucy besorgt. „Die Frage ist, ob du wirklich dazu bereit bist. Das Tor hat keine Magie mehr gespeichert. Wenn du es einsetzen willst, musst du alle zwölf goldenen Schlüssel zerbrechen. Womöglich wirst du sogar deine gesamte Magie einbüßen. Du wirst dort, wo du landest, hilflos sein.“ „Das war ich hier auch“, erwiderte Lucy leise und blickte auf ihren rechten Handrücken hinunter, wo das Gildenzeichen langsam verschwand. Als Natsu gestorben war, hatte es begonnen. Mittlerweile war es nur noch zur Hälfte zu sehen. „Es geht hierbei nicht darum, was ich in der Vergangenheit anders machen kann – sondern wen ich rechtzeitig warnen kann. Damit kann ich vielleicht die Gilde und alle Anderen retten.“ „Das wird diese Zeitlinie hier aber nicht ungeschehen machen“, erklärte Crux traurig. „Natsu und die Anderen werden tot bleiben. Dein Fairy Tail wird nicht wieder auferstehen. Diese Zeitlinie hier wird fortbestehen, so wie tausende andere parallel dazu verlaufen, einige genau wie diese hier, andere mit gravierenden, wieder andere nur mit kleinen Abweichungen. Die Gesetze der Zeit lassen sich auch durch die stärkste Magie nicht außer Kraft setzen. Du wirst nur eine dieser vielen Zeitlinien beeinflussen können.“ „Und in einer dieser Zeitlinien wird Fairy Tail durch mich hoffentlich vor dem bewahrt, was hier geschehen ist. Das ist es mir wert“, antwortete Lucy entschieden und schenkte dem Stellargeist ein mattes Lächeln. „Du hast mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Dafür danke ich dir, Meister Crux.“ „Lange Abschiede liegen mir nicht“, murmelte Crux unbehaglich. „Leb’ wohl, Lucy.“ „Leb’ wohl…“ Als Crux verblasst war, drehte Lucy sich zum Eclipse-Tor um und hob die zwölf goldenen Schlüssel, je sechs mit einer Hand. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch mal all ihre toten und verletzten Kameraden, ihre Freunde, ihre Familie… Sie würde sie alle in dieser neuen Zeit wieder sehen, aber sie würden nicht ihre Familie sein. Sie würde für ein anderes Fairy Tail alles hinter sich lassen und vielleicht würde sie dabei sterben, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann sehnte sich ein Teil von ihr sogar nach dem Tod. Aber bis dahin… „Niemals aufgeben“, wisperte sie, dann konzentrierte sie ihre Magie auf das Tor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)