Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 5: Rätselhafte Fotos ---------------------------- „Wir haben Sie gestern Abend vermisst, Fräulein Lian“, meinte Dumbledore freundlich und bediente sich ausgiebig am reich gedeckten Frühstückstisch. Jiang Li fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und neigte verlegen den Kopf. „Bitte entschuldigen Sie meine Ungezogenheit. Ich fürchte allerdings, dass der gestrige Tag nicht ohne Spuren an mir vorübergegangen ist, daher war ich so frei, sofort mein Zimmer aufzusuchen … Natürlich hätte ich es nicht versäumen dürfen, Ihnen vorher eine gute Nacht zu wünschen.“ Offensichtlich sah sie relativ betrübt aus, denn der alte Zauberer lachte gutmütig und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Das können Sie ja heute alles nachholen. Wie ich höre, werden Sie sich ebenfalls auf den Weg ins Ministerium machen?“ „Ich muss einen alten Freund besuchen“, antwortete sie lächelnd und griff nach einem gedämpften Weizenbrötchen. „Ihm ein paar Fragen stellen. Und Sie? Organisieren weiterer – Mitarbeiter?“ Dumbledore lachte und biss herzhaft in einen großen gebratenen Weizenfladen. „Sie wissen ja, wie das so ist. Allerdings war man auch vor sechzehn Jahren sehr hilfsbereit, darum kann ich hoffen. Eine Reise nach China lohnt sich auf jeden Fall, auch wenn sich wider Erwarten nichts ergeben sollte.“ „Es freut mich sehr, dass es Ihnen hier gefallen hat, doch ich fürchte, dieser Fall trifft nicht auf alle zu“, lächelte Jiang Li ein bisschen spöttisch und wies mit den Augen unauffällig auf Snape, der wie gewöhnlich missmutig vor sich hin brummelte und in seinem Getreidebrei rührte. Dumbledore feixte. „Wissen Sie eigentlich, dass Severus einmal in einer schwachen Minute lobende Worte über Sie gefunden hat? Das dürfte kurz nach Ihren O.W.L.s gewesen sein. Er meinte doch tatsächlich, er wäre froh, wenn ein paar Schüler aus den anderen Häusern soviel Grips hätten wie Sie.“ „Soso!“ erwiderte Jiang Li und wurde puterrot. „Das klingt für mich aber eher so, als hätte er versehentlich zuviel von einem Aufmunterungstrank erwischt.“ „Ja, ja, der gute Severus. Wer hätte gedacht, dass er einmal ein Mitglied eines anderen Hauses schätzt? Habe ich Ihnen eigentlich erzählt …“ Und dann begann er, von einem vier Jahre zurückliegenden Schuljahr zu erzählen, in dem Snape offensichtlich einmal den Quidditch-Schiedsrichter gegeben hatte. Jiang Li musste kichern. Sich Snape auf einem Besen auch nur vorzustellen reizte unwiderruflich zum Lachen. Sie selbst hatte niemals Quidditch gespielt, die Bibliothek war da bei Weitem reizvoller gewesen. Obwohl … „Professor Dumbledore, befindet sich Irma Pince noch in Hogwarts?“   Die Außenstelle des Zaubereiministeriums in Anshan befand sich in einem hohen, verwitterten Gebäude aus rötlichem Sandstein, dass sich inmitten einer langen, beinahe ebenso geschäftigen Gasse wie der in Xi’an befand. Jiang Li setzte alles auf eine Karte. Sorgfältig wie noch nie hatte sie ihre Garderobe ausgesucht: zuerst eine lange, rote Robe mit gewaltigen Ärmeln, die bis zu den Knien reichten, mit dem Symbol des Drachen und Phönix in goldenen, blauen und grünen Seidenfäden bestickt; unter der Brust gürtete sie das Gewand mit einer breiten Sammetschärpe in samtigem Schwarz, ebenfalls reich verziert. Unter der Robe, die ab Mitte der Oberschenkel in einem sanften Bogen verlief, der in Höhe der Fußspitzen seinen Abschluss in einer weichen Spitze fand, trug sie einen ebenso bis über die Knöchel reichenden Rock, der wie die Samtschärpe in tiefstem Schwarz leuchtete. Selbst ihr Haarband, das ihre langen Haare zu einem voluminösen Knoten band, war schwarz mit einer riesigen roten Chrysantheme darin. In der dichten Menge, die sich die breite Eingangstreppe empor wälzte, fiel ihr prunkvolles Outfit gar nicht so sehr auf, wie sie zuerst befürchtet hatte. Eigentlich bewegte sie sich im guten Mittelfeld, ein Haufen anderer Männer und Frauen, darunter auch genügend Ministeriumsbeamte, stellten Kleider der verschiedensten Modellarten und Farben zur Schau. Jiang Li sah sich kurz um, ob sie Dumbledore oder einen der anderen Zauberer bemerken würde, doch in der bunten Menschenmenge war das nicht möglich. Seufzend betrat sie das Amt schließlich durch die riesigen, bronzebeschlagenen Schwingtüren und sah sich in der weitläufigen Halle um. Hier nach Chu Yangdais Arbeitsplatz zu fragen schien beinahe lachhaft. Wer sollte sich schon an einen einfachen Sekretär erinnern? Viel zu viele Beamte hetzten eilig hin und her, trugen Berichte oder Gegenstände in die verschiedenen Büros. Ein adretter junger Mann baute sich diensteifrig vor ihr auf und lächelte zuvorkommend. „Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein, gnädige Dame?“, fragte er freundlich und sah sie erwartungsvoll an. Jiang Li bemühte sich, nicht allzu sehr wie die verwirrte Provinzlerin zu wirken, sondern neigte nur knapp den Kopf. „Ich suche Sekretär Chu, leider ist mir sein Betätigungsfeld nicht bekannt …“, meinte sie langsam und fixierte ihn nachdrücklich. Er lächelte verwirrt, verneigte sich dennoch sehr höflich. „Sekretär Chu? Nun … das werden wir gewiss gleich haben.“ Als sie ihm mit schnellen Schritten quer durch die große, marmorverflieste Halle folgte, war Jiang Li dem hellen, perfekt abdeckenden Make-up sehr dankbar, das sie schon vor Jahren in einem kleinen Trödelladen erstanden hatte. Eigentlich machte sie sich wirklich nicht viel daraus, sich so aufzutakeln, aber heute war kein gewöhnlicher Tag. Heute würde sie aus Chu den Verbleib ihres diebischen Exfreundes herausquetschen. Dem jungen Angestellten fiel ihr unheilvolles Grinsen auf. Er beschleunigte umgehend und fand in seinen Unterlagen, schnell wie noch nie, den Untersekretär Chu Yangdai. „Dritter Stock, in der Abteilung zur Kontrolle und Beobachtung von magischen Geschöpfen. Soll ich Sie anmelden?“ „Oh, nein, ich will Ihnen wirklich keine Mühe bereiten“, strahlte Jiang Li den jungen Mann entzückt an und bemerkte sein schüchternes Lächeln nicht einmal. Ihre Augen glänzten euphorisch, als sie auf einen der altmodischen Fahrstühle am Ende der Halle zueilte. Der dritte Stock wirkte für die frühe Morgenstunde relativ belebt. Es gab mehrere wütende Gesichter, die Kisten oder Käfige trugen, viele davon mit Brandmalen oder leichteren Fleischwunden. Jiang Li drängte sich gerade durch eine Gruppe diskutierender Ministeriumsmitarbeiter, als aus einer Kiste vor ihr ein armdicker Strahl grüner Flammen barst und ein riesiges Loch in die Tür an der rechten Seite brannte. Erschrockene Stimmen und vereinzelte Schreie wurden laut; zwei der Beamten packten den gefährlichen Behälter und hetzten den Gang hinab. Jiang Li sah sich wieder nach Chu um. Vermutlich saß er in irgendeinem unwichtigen Büro und sie konnte alt werden, bis sie ihn in diesem Gewusel fand.  Dann kam ihr die zündende Idee. „Verzeihung!“ Der angesprochene Beamte sah sich einer jungen Frau in einem eindrucksvollen roten Kleid gegenüber, die ihn mit einem wölfischen Lächeln musterte. Instinktiv trat er einen Schritt zurück und lächelte verwirrt zurück, dumpf ahnend, dass ihm etwas Unangenehmes bevorstand. „Ich möchte mich beschweren“, erklärte die Frau mit lauter, klarer Stimme, „und zwar über einen Ihrer Mitarbeiter. Er hat mir nämlich erklärt, dass man Shins ganz einfach durch Erbsen vertreiben könnte, und soll ich Ihnen meine Schwiegermutter zeigen …“ Ein paar der Umstehenden hoben interessiert die Köpfe und begannen ein zustimmendes Gebrummel. „Ich will mich auch beschweren, letzte Woche kam ich hierher und da – “, begann ein aufgedunsener, phlegmatischer Mann mit kurzatmiger Stimme und die Leute lauschten gespannt. Der Bedienstete packte die Frau am Arm und bedeutete ihr hastig, still zu sein. „Kommen Sie, das haben wir gleich, aber provozieren Sie hier bitte keinen Aufstand.“ Jiang Li grinste verstohlen, als der Magistratsbedienstete nervöse Blicke nach beiden Seiten warf und sie in ein kleines Büro bugsierte. „Nun, wer ist denn der Missetäter?“ fragte der Mann etwas freundlicher und griff nach einem Stapel Papier, der hinter ihm lag. „Untersekretär Chu Yangdai“, antwortete Jiang Li mit leicht gekränkter Stimme und richtete mit Nachdruck ihren Ärmel, an dem er sie durch die Menge gelotst hatte. Prompt röteten sich die Ohren des bemitleidenswerten Angestellten, obwohl er vorgab, mit voller Konzentration seine Liste durchzusehen. „Ich bringe Sie zu ihm“, meinte er nach einer Weile und erhob sich hastig, penibel darauf bedacht, diesmal die weite Robe nicht zu berühren. Er war wirklich sehr froh, als er sie im Vorzimmer des Untersekretärs zurücklassen und sich mit einer mehr als eiligen Verbeugung fortstehlen konnte. Chu Yangdai hob erstaunt den Blick, als er die beiden vor seinen Schreibtisch treten sah, denn normalerweise hatte er mit den Leuten vor seiner Tür so gut wie nichts zu tun. Daher überraschte ihn die Erklärung, es handle sich um eine Beschwerde, umso mehr. „Bitte setzen Sie sich doch.“ Warum sah ihn diese Frau nur so eigenartig an? Es dauerte einige Zeit, bis Chu Yangdai begriff. „Du liebe Zeit.“ Mehr fiel ihm momentan nicht dazu ein. Jiang Li warf ihm einen durchdringenden Blick zu und ließ sich schließlich betont graziös nieder, wobei sich ihr langer Rock am Stuhlbein verfing und sie beinahe zu Fall gebracht hätte. Peinlich, peinlich. Glücklicherweise gelang es ihr gerade noch die Balance zu halten; hoffentlich hatte Chu das nicht bemerkt. Der war allerdings viel zu verlegen, um das kleine Malheur zu beachten. Zuerst starrte er eine Zeitlang schweigend auf den Tisch und mied selbst dann noch nach Kräften ihren Blick, als er mit einem Seufzen zu sprechen begann. „Was willst du denn hier. Wenn du wegen Kuan-yin kommst, da muß ich dich leider enttäuschen. Er ist schon längst nicht mehr in Anshan.“ Jiang Li täuschte ein amüsiertes Lachen vor. „Ich weiß, dass er nicht mehr hier ist. Allerdings weiß ich ganz genau, dass er bei dir war, deshalb bin ich hier. Du bist sein bester Freund“, sie beugte sich weit nach vorne und fixierte ihn mit einem starren, beschwörenden Blick, „also hat er dir sicher so einiges erzählt. Nein, hör’ mir zu!“ Sie sprang auf die Füße und knallte beide Handflächen auf den Tisch, als er abweisend die Hände hob und den Kopf schüttelte. „Ich will ihn ja gar nicht zurück! Ich will nur wissen, wo er hin wollte!“ „Ja, natürlich! Das nennt man dann „nicht-zurück-wollen“, was?“, lachte Chu Yangdai höhnisch auf und erhob sich nun ebenfalls. Schwer atmend starrten sich die beiden über den Tisch gebeugt an, bis Chu schließlich vor ihrem zornigen Blick kapitulierte. Er senkte ergeben den Kopf, setzte sich wieder und bot ihr mit einer Handbewegung ein zweites Mal den Sessel an. „Was willst du denn von mir hören? Er hat mir alles erzählt, als er vor etwa zwei Monaten hier war.“ Chu runzelte ärgerlich die Stirn und schnaubte verächtlich. „Ich hätte nie von dir gedacht, dass du ihn so schlecht behandeln würdest. Als wir uns damals alle im Sommer auf Hainan getroffen haben, bist du mir nicht so übel vorgekommen.“ Jiang Li erstarrte innerlich zu Eis. Trotzdem bemühte sie sich, das ganze mit einem herablassenden Lächeln zu überspielen. „Soso, was habe ich denn so Schlimmes gemacht, dass er sich dafür extra bei dir ausheulen musste? Kuan-yin ist doch wirklich kein Baby mehr. Abgesehen davon, was auch immer er dir erzählt hat, schlecht behandelt hat er schlussendlich nur mich!“ „Ah ja? Das klang aber völlig anders.“ Er kaute trotzig an seiner Unterlippe und betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Jiang Li unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und versuchte es sanfter. „Yangdai, er hat mich hintergangen, betrogen und zu guter Letzt auch noch etwas sehr Wichtiges aus der Kampfschule mitgehen lassen. Gut, ich gebe zu, ich habe ihn vermutlich wirklich nicht immer behandelt, wie er es verdient und gebraucht hätte, aber so bin ich eben. Allerdings war ich immer ehrlich zu ihm.“ Chu presste die Lippen zusammen und schwieg immer noch, doch sein Widerstand schien bereits ein wenig geschmolzen zu sein. Sie versuchte es noch einmal. „Die Frau, mit der er aus Xi’an weg ist – war sie bei ihm?“ Das schien endlich gewirkt zu haben. Er hob den Kopf und musterte sie mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung. „Ich wollte ja mit ihm reden. Über dich und darüber, dass ich es nicht gut finde, wie er mit dir Schluss gemacht hat. Einfach so mit dieser Xia wegzugehen, das finde ich ja selbst nicht in Ordnung. Aber es war nichts zu machen, er wirkte völlig daneben. Blass und krank, fürchterlich sah er aus. Aber das Mädchen ist unwerfend.“ Sein Gesicht nahm einen Moment lang einen regelrecht verzückten Ausdruck an, bis ihm einfiel, dass diese Worte der Exfreundin seines Freundes gegenüber vermutlich nicht gerade angebracht waren. „Tut mir leid.“ „Schon gut“, gab Jiang Li zurück und bemühte sich, nicht allzu verletzt zu erscheinen. „Hat er dir auch erzählt, dass er ein Amulett aus der Kampfschule gestohlen hat? Anscheinend wollte er es der Frau schenken. Deswegen fallen jetzt Woche für Woche immer mehr und immer schrecklichere Dämonen und Monster in den Wäldern ein, wir kommen kaum noch zur Ruhe!“ Chu Yangdai schwieg, doch sie kannte die Antwort auch so. „Yangdai, ich sage die Wahrheit. Es geht in diesem Fall nicht nur um mich allein. Bitte. Hilf mir, okay?“ Wieder war es eine lange Zeit still. Jiang Li hielt den Atem an und drückte innerlich die Daumen. Sie musste wissen, wo sich Kuan-yin befand. Sie musste es wissen. „Hier, sieh mal.“ Chu räusperte sich, kramte umständlich in einer Schublade und schob ihr endlich zwei kleine Fotos über den Tisch. Sie griff danach und musste sich mächtig zurückhalten, um sie nicht mit einem Ruck an sich zu reißen. Im ersten Moment war sie verwirrt. Beide Fotos waren Schnappschüsse, irgendwo aus einem Versteck heraus gemacht; doch obwohl man Kuan-yin deutlich darauf erkennen konnte (er wandte dem Betrachter beharrlich den Rücken zu und stapfte mit eingezogenen Schultern eine Straße entlang), sah man von seiner Begleitung umso weniger. Sie sah sehr wohl ab und zu über ihre Schulter; doch ihre Gesichtszüge wirkten verschwommen und unscharf, als würde ständig eine Art Verzerrungsfilter darüber wischen. Dennoch war offensichtlich, dass es sich bei dieser Person um eine sehr hübsche, junge Frau handelte, mit kinnlangen Haaren und einer extravaganten Robe, sicherlich nicht viel älter als Jiang Li selbst. Sie starrte das Bild minutenlang an, ohne zu denken, ohne sich zu rühren. Das war also diese geheimnisvolle Xia, wegen der Kuan-yin sie verlassen hatte. Ihre Augen brannten, doch sie weinte nicht. Nur die rechte Hand, mit der sie Chu Yangdai die Fotos wieder zurückschob, zitterte ein kleines bisschen. „Woher hast du die“, fragte sie ihn langsam und musste sich räuspern, da ihre Stimme heiser klang, „von ...“ „Na, von Kuan-yin werde ich sie wohl kaum haben“, gab Chu mit einem schmalen Lächeln zurück und verstaute die Bilder vorsichtig wieder in seiner Schreibtischlade. „Aber ich wollte die beiden unbedingt fotografieren. Ich wollte sie ...“ Seine Stimme brach und wurde leiser „... unbedingt noch einmal – sehen ...“ Er schüttelte krampfartig seinen Kopf und stierte schweigend auf die Tischplatte. Seine Augen hatten einen irren Glanz angenommen; er schien sich ihrer Anwesenheit gar nicht mehr bewusst zu sein. Jiang Li überkam ein kaltes Frösteln. „Yangdai“, versuchte sie ihn wieder auf sich aufmerksam zu machen. Er reagierte kaum, sah nicht einmal zu ihr hoch. „Yangdai, wo wollten die beiden hin? Hat er dir gesagt, wohin sie unterwegs sind?“ So sehr sie sich auch bemühte, Untersekretär Chu schien in eine andere Welt abgedriftet zu sein. Schließlich gab sie es auf, erhob sich und schob den Stuhl mit einem harten Ruck gegen den Tisch. Während sich aus Chus Mundwinkel ein dünner Speichelfaden einen Weg über sein Kinn bahnte, verließ sie mit versteinertem Gesicht das Ministerium.   Auf der Straße angelangt begann sie so hastig auszuschreiten, dass ihr mehr als einer der Passanten verwundert nachstarrte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wahnsinnig, total verrückt war Yangdai geworden, dabei hatte sie ihn damals im Urlaub auf Hainan ganz nett gefunden. In einer kleineren Gasse, in der sich viele berüchtigte Pubs und Bars befanden, begann sie zu rennen und fetzte sich wütend die Chrysantheme aus dem Haar. Prompt begannen einige der Kneipengänger lautstark zu grölen und ihr zweideutige Scherze zuzubrüllen; Jiang Li verlor die Nerven und schleuderte die arg mitgenommene Blume in den johlenden Haufen. „Da, viel Spaß damit! Ihr könnt sie gern behalten!“ brüllte sie wütend und wollte schon nach ihrem Schwert greifen, als ihr einfiel, dass sie sich nicht mehr in der Kampfschule Lian befand. „Ach verdammt –“ „Hey! Lasst das Mädchen mal in Ruhe!“ Aus den dunklen Tiefen der Kneipe schob sich eine massige Gestalt nach vorne und packte einen Kerl, der bereits seinen Zauberstab gezogen hatte, schroff an der Schulter. „Bist du blind, Idiot? Das da ist eine von den Lians vom Huashan, ´ne Schülerin von der alten Zhen Juan!“ Den Namen dröhnte er geräuschvoll und schüttelte sein Opfer heftig. Der Angesprochene zuckte zusammen und schaute sich furchtsam nach dem Neuankömmling um. Jiang Li brauchte eine Weile, bis sie ihn erkannte. Dann allerdings vergaß sie für einen Moment ihren Zorn und rannte auf den vierschrötigen Mann zu. „Chen! Toll, dich wieder mal zu sehen! Was verschlägt dich denn hierher?“ Chen stieß den Mann, den er immer noch mit festem Griff gepackt hielt, nachlässig zur Seite und breitete grinsend beide Arme aus. Jiang Li fiel ihm jubelnd um den Hals und ließ sich kurz durch die Luft wirbeln. Als sie schließlich wieder fest auf beiden Beinen stand, waren ihre ohnehin schon unordentlichen Haare wild zerzaust, und ihre Wangen glühten feuerrot. Chen lachte und schlug ihr kräftig auf die Schulter. „Klein wie eh und je! Aber ich sag’s ja immer, die Größe ist nicht entscheidend! Komm, ich geb’ dir einen aus.“ Bereitwillig folgte sie ihm ins Innere der Spelunke und begrüßte seine restlichen Freunde, die alle rund um einen großen Tisch geschart saßen und ihr fröhlich zuprosteten. Viele von ihnen kannte sie bereits; es handelte sich ausschließlich um andere Schwertkämpfer, die im Laufe der Zeit mit den Lian-Schwestern ihre Kräfte gemessen oder sich schlicht und einfach nur eine Ruhepause im Badehaus gegönnt hatten. Wäre es ein normaler Tag gewesen, hätten keine zehn Pferde Jiang Li in diesen Pub gebracht, doch heute war alles anders. Zorn, Schmerz, Eifersucht und ein gewisser Anteil an gekränkter Eitelkeit tobten in ihr und fegten jegliche Vernunft restlos davon. Sie bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Chen orderte Getränk nach Getränk, sie trank Bruderschaft mit den Anwesenden, schnorrte Zigaretten und bestach schließlich den Kellner, ihr einige Packungen zu besorgen, wofür er in seiner Arbeitszeit drei Läden abklappern musste. Die Stimmung stieg immer weiter; vorübereilende Fußgänger, die den Pub passierten, schüttelten entweder missbilligend die Köpfe oder regten sich lautstark auf. Als Jiang Li gerade bequem im Türrahmen lehnte, eine Flasche Qing Dao-Bier in der linken, eine qualmende Zigarette in der rechten Hand, fühlte sie plötzlich eisenharte Finger, die sich in ihre Schulter gruben. Als sie mit milder Überraschung den Blick senkte, sah sie eine kleine, füllige Frau vor sich stehen, die offensichtlich schon seit längerer Zeit ihrem Missmut mit lautem Geschrei Luft machte. Ihr ebenso kugelrunder Mann keifte mit schriller Stimme aus sichererer Entfernung und schüttelte erbost die Faust. „Eine Schande ist das! Am frühen Abend! Ja, schämt ihr euch denn alle nicht?“ Einige Neugierige blieben stehen und spitzten die Ohren. Jiang Li schüttelte den strengen Griff ab und schaute die Frau herausfordernd an. „Was geht dich das an? Steck’ deine Nase lieber in deine eigenen Angelegenheiten!“ Sie nahm einen tiefen Lungenzug und blies der sprachlosen Frau angriffslustig den Qualm ins Gesicht. Während die Meute hinter ihr zu grölen begann, grinste Jiang Li gehässig, nahm einen kräftigen Schluck und wandte sich um, ohne die zweifellos wütende Antwort abzuwarten. Trotzdem entging ihr nicht, wie mehrere Schaulustige zu murmeln begannen. „Kein Wunder, die sind ja alle gleich, diese Schwertkämpfer: was man nicht im Kopf hat ...“ Unerwarteterweise tat ihr das Gelächter weh. Wieder fiel ihr der Sprechende Hut ein, die Auswahl, dass er sie um jeden Preis in eins der anderen Häuser stecken wollte, nur nicht nach Ravenclaw. Aber sie hatte am Ende doch gesiegt. Auf sie traf das Sprichwort nicht zu.   Als sie spätnachts im Haus ihrer Eltern eintrudelte, brannte in der Eingangshalle noch Licht und ihre Mutter erwartete sie mit verschränkten Armen. Jiang Li wollte eigentlich schweigend an ihr vorbeigehen, doch ein scharfer Ausruf ihrer Mutter hielt sie zurück und zwang sie wider Willen, sich umzudrehen. „Schön, dass du so früh nach Hause kommst, ohne eine Nachricht zu schicken. Vater und ich waren den ganzen Tag über in Sorge, dir hätte etwas passieren können!“ „Mir ist aber nichts passiert, wie du siehst. Kann ich jetzt ins Bett?“ Jiang Li hob abschätzig eine Augenbraue und bemühte sich, gerade zu stehen. In diesem Moment roch ihre Mutter die Alkoholfahne, gepaart mit Zigarettenrauch und Kneipendunst. Sie wurde blaß und kam näher. „So ist das also, du betrinkst dich, denkst nicht einmal an deine Gäste und bist auch noch frech zu deinen Eltern. Lian hat dir wohl gar nichts beigebracht, wenn du es so an Benehmen mangeln lässt. Ich muß mich wirklich schämen für dich!“ Den letzten Satz spuckte sie mit aller Verachtung, die sie momentan wohl empfinden konnte, aus. Jiang Li erschrak, bemühte sich aber, es nicht offen zu zeigen. „Für mich brauchst du dich wirklich nicht verantwortlich zu fühlen, Mutter! Das kannst du dir für Joogiya und die anderen beiden aufsparen, die sind wenigstens deine akzeptierten Kinder!“ „Akzeptiert? Du glaubst, wir hätten dich nicht akzeptiert?“ fragte ihre Mutter, plötzlich leise geworden und kam auf sie zu. Ihre Augen waren riesengroß und die Stimme nur noch ein heiseres Flüstern. „Du undankbares Biest, weißt du denn gar nicht, was wir alles auf uns genommen haben, nur damit du in Sicherheit warst?“ Sie kam immer näher und jagte Jiang Li regelrechte Angst ein. Noch nie hatte sie ihre Mutter so wütend und außer sich gesehen. Sonst hatte sie es immer geschafft, ihren Eltern Schuldgefühle einzureden, doch heute war der Bogen offensichtlich überspannt. Sie schluckte schwer und duckte sich leicht in eine Abwehrhaltung. „Als du ein kleines Mädchen warst, mussten wir um unser aller Leben fürchten. Ich und Vater, wir waren beide so froh, so froh, dass Großmeisterin Lian uns darum gebeten hat, dich in ihre Schule aufnehmen zu dürfen. Denn auf dem Huashan, das wussten wir, da würde dich Voldemort nie finden. Als dann Joogiya kam, wir alle waren in größter Gefahr, wem hätte ich sie geben sollen? Ein zweites Mal kam keine Meisterin an unsere Tür. Die Großeltern? Die kannte Voldemort schon. Sicherer war es, sie dicht bei mir zu behalten, damit ich sie schützen konnte, sollte einer der Todesesser unsere Tätigkeiten aufdecken.“ Sie hielt kurz inne und atmete schwer; Jiang Li starrte sie völlig entgeistert an. „Dir konnte nichts geschehen, wenigstens dir nicht. Joogiya hätte sterben können, Voldemort hätte sie foltern können, um uns zum Reden zu bringen, alles hätte passieren können. Und jetzt, nach allem, was wir für dich getan haben, kommst du hierher und machst uns Vorwürfe über Vorwürfe, unterstellst mir und deinem Vater, du wärst kein akzeptiertes Kind! Du liebe Güte ...“ Sie begann heftig zu schluchzen und barg ihr Gesicht in den weiten Falten ihres Ärmels. Da tauchte wie aus dem Nichts eine der Hauselfen auf und zupfte vorsichtig an ihrem Morgenmantel. „Nicht weinen, gnädige Frau, das tut Ihnen nicht gut ...“ Mit sanfter Gewalt bugsierte sie die Weinende in Richtung Tür und schaute Jiang Li mit unmissverständlich zornerfülltem Gesicht an. „Und Sie gehen wohl auch besser schlafen. Sie müssen morgen früh aufstehen!“ Die piepsige Stimme der Hauselfe klang eisig und lastete Jiang Li schwer auf der Brust. Anstatt sich auf den Weg nach oben in ihr Zimmer zu machen, ging sie wieder nach draußen und setzte sich auf einen großen Stein, der ein Stück weit von den Gebäuden entfernt lag. Es war ganz ruhig in der Nacht, nur ein paar Grillen zirpten in einiger Entfernung. Jiang Li zündete sich eine Zigarette an und legte den Kopf zurück. Die Sterne leuchteten so schön, sie wollte sie die ganze Nacht beobachten. Nur nicht ins Haus zurück. Sie schämte sich so; in den ganzen letzten Jahren hatte sie es nicht einmal geschafft, mit ihren Eltern ein vernünftiges Gespräch zu führen. Dabei hatte sie sich oft gewünscht, sich vollkommen mit ihnen auszusöhnen, oft, wenn sie alleine in ihrem Bett in der Kampfschule lag, wünschte sie sich das. Aber immer, wenn sie ihnen dann gegenüberstand, verflogen alle guten Vorsätze und zurück blieb nur der alte, unsägliche Zorn, der immer wieder neu aufflammte und jede Hoffnung auf Frieden vergällte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)