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Ein neuer Versuch

Fortsetzung von: Veränderung
von

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Ankommen

Es war einer dieser Abende, die nicht besser sein könnten. Nick hatte Jakob, Sara und mich zu sich eingeladen, um Videospiele zu spielen, und wir waren alle seiner Einladung gefolgt, bewaffnet mit mehr Schokolade und Getränken als man im Monat zu sich nehmen sollte. Stilecht im selbst bemalten Jutebeutel.

Sara und ich kamen gemeinsam, wir hatten uns davor bei ihr getroffen, und sie fühlte sich in Favoriten, wo Nick wohnte, unwohl. Ich fand es nicht weiter schlimm, wir hatten lange hier gewohnt.

Relativ mühelos fanden wir zu Nick, wir hatten Übung. Anläuten, den Lift nach oben nehmen, anklopfen. Nick umarmen, Jakob High-fiven. Sara setzte sich auf den einzigen Sessel, Nick sich auf den Boden, Jakob und ich nahmen am Bett Platz. Ein Joint machte die Runde, wir spielten Kinderspiele, Super Mario Bros und Little Big Planet. Ein weiterer Joint machte die Runde, Nick hing mittlerweile kopfüber vom Bett, sagte immer wieder: „Schaut, ich spiele überkopf! Und ich hab noch alle... Okay, fast alle... egal.“

Es wurde immer später, ich lehnte an Jakob, während ich auf eine Pflanze sprang und er durch ein Rohr rutschte. Sara atmete so gleichmäßig, dass Nick ihr eine Decke gebracht hatte.

Egal, wo wir hätten sein können. Hier war es am schönsten.
 

Das Landen des Flugzeugs weckte mich auf. Ich warf einen Blick auf meine Hände, meine Kleidung. Ja, ich war noch immer Hannah. Wie seit drei Jahren.

Ich war nicht lange in Argentinien gewesen. Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte zog es mich wieder fort, und irgendwann landete ich in Wien. Hier war vorerst Endstation. Planlos, was ich mit meinem Leben und Hannahs gutem Gedächnis anfangen sollte, studierte ich Spanisch, Portugiesisch und Englisch, in der Hoffnung, das irgendwann besser dolmetschen zu können als heute. Daneben hatte ich eine Stelle als Kellnerin gefunden, die zumindest die Wohnung in Brigittenau bezahlte, unweit der, in der ich gestorben war. Während ich auf mein Gepäck wartete, drehte ich mir eine Zigarette, steckte sie hinter mein Ohr, und nahm Kisten in Empfang, die ich dann in Nanas alten Transporter verlud, mit dem sie mich abholte.

„Du solltest nicht rauchen“, warf sie mir entgegen, anstatt mich zu begrüßen. Ich ließ mich nicht davon beirren, schloss sie in die Arme.

„Du solltest deine einzige Enkelin umarmen, anstatt sie mit Vorwürfen zu begrüßen.“

Wir fuhren zu ihr, ich bekam den Schlüssel für die Wohnung erst am nächsten Tag.

Als wir im Vorort angekommen waren, hatte ich mich noch immer nicht an den Wiener Verkehr gewöhnt, obwohl Nana darauf bestanden hatte, zu fahren.

Wir luden gar nicht erst aus, ich hatte noch Kleidung bei meinen Großeltern, auch wenn sie mittlerweile nicht mehr so gut passen würde. Ich hatte an Gewicht verloren. Mein Haar war kürzer, die Brille hatte ich durch Kontaktlinsen ersetzt.

Grandpa bewegte sich nicht, als ich das Haus betrat. Er starrte nach draußen, wo die Nacht bereits ihre Arme ausstreckte. Ich küsste ihn trotzdem auf die Wange.

Nana hatte mir mein Lieblingsessen gemacht, wir aßen ruhig und bedächtig zusammen, die Pflegerin fütterte meinen Großvater. Sie schlief auch in Jarovs altem Zimmer.

Ich verbrachte die Nacht auf der Couch, von Jakob träumend. Und auch ein wenig von Simon. Seltsam, wie selten ich an die beiden gedacht hatte. Aber jetzt, wo ich zurück war, galt jeder Gedanke ihnen.

Ich war froh, als der Morgen endlich graute, und ich mich mit heißem Kaffee auf die Terrasse setzen konnte, und beobachtete, wie Wien um mich herum aufwachte, die Kinder zur Schule geführt wurden oder zum Bus liefen, sich Autos in den Verkehr einreihten, Fahrräder jene schnitten, Jugendliche fast blind über die Straße liefen, die Augen auf das Handy geheftet, taub, weil ihnen die Musik in ihren Ohren das Hörvermögen nahezu vollständig verminderte. Nana gesellte sich zu mir. Ich fühlte mich ihr so nahe wie schon lange niemandem mehr.

Gefangen

Und dann löste ich mich von meinem alten Leben, kletterte in den Transporter, diesmal alleine. Mein Führerschein, französisch, aber überall in Europa gültig, steckte in meiner Tasche. Letzten Sommer hatte ich dort gearbeitet, für eine Zeitung, recherchierte über französische, jugendliche Drogenabhängige. Verglich diese mit den englischen. Der Artikel hatte einen Preis gewonnen. Die Ironie tat schon fast weh.

Nachbarn gossen die Blumen. Kinder stiegen aus Bussen. Es roch nach Essen, war Mittag. Ich überlegte, wieder hinein zu gehen, noch mit meiner Großmutter zu essen, zu lachen. Aber dann drehte ich den Schlüssel, der Motor sprang hustend an, der Gang wurde eingelegt, genau wie eine CD. Tegan and Saras I know, I know, I know schallte mir entgegen. Hannahs Geschmack war mir entgegen gekommen: Nicht nur mochte ich jetzt ihre Musik, sondern nun auch Mädchen. Es war seltsam gewesen. Aber auch schön.

Ich ordnete mich in den Verkehr ein, erschrak, weil ich angehupt wurde, und bemerkte, dass ich aus Versehen die Spur gewechselt hatte. Meine Fahrpraxis hatte ich in den kurvigen Straßen der Berge erhalten. Ich fuhr das erste Mal in der Großstadt, und dann gleich in Wien. Der Ford, den ich geschnitten hatte, fuhr an mir vorbei, lautstark hupend. Der Beifahrer zeigte mir den Mittelfinger.

„Willkommen daheim“, dachte ich, und verpasste das „Biegen sie jetzt rechts ab“, meines Navigationssystems. Ich fluchte, diesmal auf Deutsch, und fühlte mich überraschenderweise besser.

Irgendwann kam ich im 20. Wiener Gemeindebezirk an, versuchte, die Straße zu finden, und verpasste erneut eine Ausfahrt. Ich fluchte, wollte umdrehen, und sah in dem Moment einen mir wohlbekannten Audi.

Nein. Es war unmöglich. Ich versteinert hinter dem Lenkrad, sah Simon und Jesaia, immer zusammen, nie allein. Ersterer sah verändert aus, trug die Haare etwas kürzer. Wirkte reifer. Jesaia hatte sich nicht verändert. Gar nicht. Nicht einmal sein Haar war länger. Er war noch immer groß, sein Haar noch immer unordentlich. Ich erinnerte mich, als ich nicht an ein Glas gekommen war, und er mir geholfen hatte. Aber ich hätte besser auf die Straße achten sollen.

Ich erinnerte mich an das schwer zu verstehende Französisch meines Fahrlehrers, an Unfallberichte, Gangschaltungen, Kupplungen, Lenkmanöver, all dass, das mir nichts half, als ich einen entgegenkommenden Lastwagen frontal traf.
 

Das Erwachen war mir schon in den letzten Jahren schwer gefallen, anfangs, weil ich nie genug geschlafen hatte, dann, weil ich nachts in meiner alten Welt gelebt hatte. Die mir vertrauter war als Hannahs. Ich lernte jeden Tag neues von ihr, alte Erinnerungen, alte Freunde, alte, vertraute Dinge, die ich noch nie berührt, gekostet, erfahren hatte. Doch jetzt erschien es unmöglich. Ich war in meinen alten Gedanken gefangen. Und ich musste einen Weg nach draußen finden.

Ich versuchte es mit links, und stürzte in eine Erinnerung.

„Es macht keinen Sinn mehr.“

Jakobs Stimme kam aus der Ferne, langsam wurden die verschwommenen Umrisse schärfer. Wir waren in seinem Schlafzimmer, er saß am Fußende, fixierte seine Handgelenke. Er hatte einen Farbfleck hinter seinem Ohr. Weiß. Trocken.

Ich hatte die Arme um seinen Kopfpolster geschlungen, die Beine verschränkt, saß neben ihm. Es war vorbei. Für ihn zumindest.

„Was macht schon einen Sinn?“

Meine eigene Stimme wirkte fremd, ich wollte ihn nicht verlieren. Sie zitterte. Ich klammerte mich an seinen Polster, als könnte ich ihn so halten.

„Ich meine... geht es bei einer Beziehung nicht nur darum, das Leben... weniger einsam zu gestalten? Jemand anderen zu haben, auf den man sich verlassen kann? Mit dem man das alles durchsteht?“

Ich versuchte, ihn zu überzeugen,er starrte weiterhin auf seine Handgelenke. Schmal. Vertraut. Dann hob er den Kopf, der Blick wanderte von den Gelenken zu mir. Zu meinem linken Arm. Er hatte ein winziges Loch, einen kaum merkbaren Einstich.

„Julia...“

Seine Stimme brach weg. Er ließ sich für einen erneuten Versuch genug Zeit, dass ich seinen Polster fast erwürgte.

„Julia, ich kann das nicht mit dir durchstehen.“

Ich erinnerte mich nicht an die letzte Nacht. Nur daran, dass Sara und ich das erste Mal seit langem wieder allein etwas unternommen hatte, mein kurzes, blondes Haar in Kontrast zu ihrem langem, schwarzen. Früher hatten wir es zusammengeflochten. Jetzt ging das nicht mehr.

Irgendwann war ich in Jakobs Wohnung aufgewacht, in seinem Bett. Allein. Er hatte die Nacht auf der Couch verbracht, und ich wusste nicht, wie es dazu gekommen war.

„Jakob, du hast auch schon...“

Sein Blick brachte mich zum Schweigen.

„Ich weiß nicht einmal mehr, was passiert ist.“

Irgendwo war es auch unfair, Jakob hatte vor mir andere Dinge getan. Aber sich nie die Venen zerstochen. Er war älter, er hatte gewusst, was er tat, hielt er mir vor. Die Worte prasselten auf mich ein wie Hagel, ich atmete seinen Geruch ein, der überall hing.

Vielleicht das letzte Mal.

Als mir dieser Gedanke kam, begann ich zu weinen, und er legte den Arm um mich. Wir verharrten in der Position, er zog mich zu sich.

Wir sagten lange nichts, jedes Mal, wenn ich es versuchte, scheiterte ich. Irgendwann spürte ich seine Finger in meinem Haar, er spielte gedankenverloren damit. Als wäre alles wie früher. Ich rang nach Luft, er küsste mich auf die Stirn.

„Ist es vorbei?“

Ich traute mich kaum, die Frage zu stellen.

Er holte Luft. Ich schnitt ihm das Wort ab.

„Es war nur ein Fehler.“

Er atmete die Luft wieder aus, seine Finger zogen Kreise auf meinem Oberarm. Blieb still, also redte ich weiter.

„Ich will dich nicht verlieren.“

Jakob reagierte nicht, fuhr weiter meinen Arm auf und ab. Irgendwann blieb sein Zeigefinger auf dem kleinen, blauen Fleck stehen, der meinen Arm zierte. Nur leicht. Aber es tat weh.

Ich wusste, was demnächst passieren würde. Wir würden noch lange reden, irgendwann würden wir uns darauf einigen, zusammen zu bleiben. Vorerst.

Ich versuchte, die Erinnerung zu lassen. Nach vorne zu gehen. Langsam lösten sich die Fäden, die mich hielten, ich löste mich von Julia, schwebte davon. Jakob hielt sie noch immer im Arm, aber ich zog weiter.

Es wurde dunkler.

Irgendwann war ich in einem beruhigenden, schwarzen Nichts, fühlte mich leer. Ich wusste, dass ich zur nächsten Erinnerung musste, und ich hatte das unschöne Gefühl, zu wissen, was ich als nächstes erleben würde:

Das erste Zusammentreffen mit Simon.

Aber offensichtlich hatte ich noch Zeit. Ich ließ mich durch das Nichts treiben, und wartete.



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