Farben bringen Freude von Nepatan ================================================================================ Kapitel 1: Farben bringen Freude -------------------------------- Farben bringen Freude Im Büro war es still. Seto hatte sich in seinem Chefstuhl zurückgelehnt und las gerade den finanziellen Bericht der Kaiba Corp. für die ersten sechs Monate dieses Jahres durch. Er war sehr ausführlich und ging über mehrere Seiten mit Grafiken und Texten und genauen Beschreibungen vom Umsatz und den Kosten der Firma, sowie der Zustand der Passiven und Aktiven und die Bilanz am Ende. Kaiba las ihn gerade zum zweiten Mal durch, um sicher nachzugehen, dass nirgendwo ein Fehler unterlaufen war, so dass die weiteren Projekte des Großunternehmens bis zum Ende des Jahres präzise geplant und durchgeführt werden konnten. Bis jetzt sah auch alles sehr gut aus, was bedeutete, dass endlich alles so funktionierte, wie er es haben wollte. „Hey, Seto!“ Die Stille wurde auf einmal so abrupt von dem Eintreten Mokubas unterbrochen, dass der Brünette ein wenig zusammenzuckte und für die ersten ein paar Atemzüge überrascht und irritiert von den Blättern, die er in der Hand hielt, aufsah. Normalerweise erlaubte sich keiner seiner Angestellten ohne anzuklopfen in sein Büro hineinzuplatzen, so dass er diese Störung nicht gerade positiv aufnahm. Allerdings entspannte er sich sofort wieder, als er Mokuba erblickte, der gerade die Tür hinter sich zu fallen ließ. In seiner typischen Euphorie und guter Laune kam er auf ihn zu und wedelte mit einem Buch in der Hand hin und her. So kannte Seto den Kleinen nur, wenn er wirklich den brillanten Einfall für etwas hatte oder auch etwas unbedingt haben wollte. „Ich habe eine tolle Idee, was wir mit den Kindern aus dem Waisenhaus bei unserem Besuch diesen Samstag machen können!“, plapperte der Schwarzhaarige munter darauf los, bevor der junge Firmenchef in der Lage war zu fragen, was los war. Kurz blinzelte Seto und warf dann den Bericht auf den Schreibtisch, um sich dann vorzulehnen und Mokubas Vorschlag zu lauschen. Es war ihm klar, dass er jetzt für ein paar Minuten den Bericht auch vergessen konnte. Sobald sein kleiner Bruder etwas wollte, würde er nicht Ruhe geben, ehe er es bekam. Er ähnelte ihm in diesem Sinne wirklich zu sehr. „Und wie lautet sie?“, hackte er nach und beobachtete wie Mokuba sich auf die Eckcouch hinsetzte und auf den freien Platz neben sich klopfte. Seto stand auf und ging zu ihm, um sich neben ihn niederzulassen. Offenbar würde das ein längeres Gespräch werden. „Ich habe in diesem Buch etwas über ein Fest gefunden, was die Christen jedes Jahr im Frühling feiern. Es heißt Ostern und ist eigentlich sehr lustig und ausgefallen, was sie da machen!“ Kaiba runzelte leicht fragend die Stirn. Ein Christenfest? Sollten sie das jetzt mit den Waisenkindern nachfeiern oder wie? „In den unterschiedlichen Ländern hat man verschiedene Traditionen dafür, doch alle Christan malen Eier bunt an!“, erzählte Mokuba weiter, ohne sich vom Blick seines Bruders zu stören und öffnete das Buch, um ihm ein paar Bilder zu zeigen. „Das Fest war ursprünglich heidnisch. Man hat schon zur Zeit der alten Ägypter und Sumerer Eier geschmückt, da das Ei an sich ein Symbol für den Zyklus von Leben und Tod ist und vor allem ein Symbol der Wiedergeburt und Auferstehung. Im Christentum wurde diese Symbolik übernommen und so sind Eier ein unzertrennlicher Teil des Osterfestes. Am Anfang wurden sie nur rot bemalt und repräsentierten so das Blut Christi, ihres Gottessohnes, der zur Zeit des Osterfestes gekreuzigt wurde und später von den Toten wieder auferstand. Aber irgendwann danach haben sie angefangen, sie bunt zu machen und somit durch die Farben Unterschiedliches auszudrücken und sich auch zu wünschen. Rote Eier repräsentieren das Leben und sind ein Symbol für Gesundheit und Kraft. Weiße Eier stellen Reinheit und Weisheit dar, blaue Eier stehen für Wahrheit und geistige Kraft. Grüne Eier stehen für Fruchtbarkeit und Schönheit, gelbe Eier – für Mitgefühl, Sonne und Licht, orangene Eier – für Freude und Glück, und violette Eier symbolisieren Frieden und den Triumpf über das Böse. Man malt auch in einigen Regionen der Welt die Eier mit unterschiedlicher Ornamentik und Motiven an. Schau mal, wie bunt die sind!“ Begeistert zeigte der Schwarzschopf auf einige farbige Fotos im Buch, die selbst Seto überraschten. Dort gab es Eier – einfarbige, angemalte, angeklebte, glitzernde, mit Sprüchen darauf und bunt befleckte… Die Bilder wirkten lebendig und man sah auch bei einigen Frauen, die die Eier dann sorgfältig bemalten, und den Kindern, die einfach mit Farben draufschmierten, dass es anscheinend sehr viel Spaß machte sie für das Fest so extra vorzubereiten. „Und weißt du, was noch lustiger ist?“ Natürlich wusste Seto das nicht, doch Mokuba würde es ihm gleich sicherlich sagen, weshalb er diesen nur schweigsam anblickte und wartete, bis er mit der Information fortfuhr. „Sie kämpfen mit den Eiern dann! So gesehen schlagen sie mit dem einem Ei auf das andere.“ Der Brünette hob jetzt beide Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Warum den ganzen Aufwand mit den Eiern machen, wenn sie danach sowieso kaputt geschlagen wurden? Das verstand er gar nicht. „Bitte?“, hörte er sich selbst laut fragen. „Warum der ganze Aufwand dann?“, kam auch die logische Frage darauf. Die Antwort fiel simpel aus: „Weil es Spaß macht!“, erwiderte sein Bruder nur breit grinsend. „Und der Gewinner des Wettkampfes, also der, mit dem völlig intaktem Ei, wird gesund über das ganze Jahr sein und keine Krankheit wird ihn befallen.“ Eier zum Spaß bunt machen und dann einschlagen? Okay, das war wirklich ausgefallen, obwohl er den Teil des Kampfes als logisch empfand. Schließlich messen sich Menschen liebend gern und jeder kämpfte, für das, was er am Meisten haben wollte... Aber Moment… Wenn sie die Eier einschlugen, bedeutete das doch… „Machen sie mit den Eiern etwas, bevor sie damit kämpfen? Außer sie bunt zu machen?“ Mokuba blinzelte kurz und wirkte für einen Moment fragend, ehe er die Gedanken seines Bruders erriet und lächelte. „Sie werden hart gekocht.“ Aha. Das konnte jetzt mehr passen. Seto wollte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn man mit rohen Eiern kämpfte. Sicherlich würde es danach mehr als nur angeschlagene Eier geben. „Es gibt noch eine Sache mit den Eiern. In Europa, in Deutschland, gibt es den Brauch am Ostersonntag Eier vor den Kindern im Garten zu verstecken. Sie müssen sie dann suchen. Wer die meisten Eier findet, der hat gewonnen. Oh, und ja, außer Eier werden dazu auch Süßigkeiten versteckt. So Schokoeier, Schokohasen und so etwas. Das ist doch auch etwas, was man mit den Kindern am Samstag machen könnte! Meinst du nicht auch, Seto?“ Der Brünette überlegte. Die Idee bedeutete etwas mehr Aufwand und Organisation, aber es war nicht etwas, was ein Hindernis für jemanden wie ihn darstellte. Allerdings ein Christenfest? Wirklich? Mokuba schien sein Zögern zu bemerken, weshalb er ihm ein paar weitere Argumente für dieses Unterfangen darlegte: „Kämpfen macht Spaß. Und das Eier bemalen wird sicherlich viele Kinder zusammenbringen. Das Versteckspiel wird auch lustig. Bunt ist außerdem schön. Man kann mit den Eiern auch die Zimmer schmücken. Sieh, Seto so geht das!“ Der Schwarzhaarige schob Seto das Buch unter die Nase und dieser wich zuerst irritiert zurück, ehe er danach griff. Er sah dann auf die Seite, wo erklärt wurde, wie Schmuckeier gemacht werden konnten. Man machte jeweils zwei Löcher oben und unten am rohen Ei und blies den Inhalt heraus, ehe man dann das Ei bemalen und nachher durch die Löcher eine Schliefe durchziehen konnte, um das nun gefertigte Ei aufzuhängen. Es sah einfach aus, auch wenn man sicherlich aufpassen musste, das Ei beim Bemalen nicht kaputt zu machen. „Ich könnte so wahrscheinlich den weißen Drachen auf ein Ei für uns malen“, überlegte Mokuba laut und als der Firmenchef zu ihm blickte, sah er ihn strahlen, wie schon lange nicht mehr. Er schien sich sehr auf diesen Besuch zu freuen und noch mehr auf die Idee mit den Waisenkindern Eier zu bemalen. Es wäre falsch von ihm, ihm diese Freude zu nehmen. Seto blickte auf das Buch und das Bild mit dem bunten Ei mit der Schleife darauf. Vielleicht würde das nicht in einem Desaster enden, wie er sich das vorstellte. „Bitte, Setooo! Lass uns das machen!“ Mokubas bittende Stimme und dann der Blick der großen unschuldigen Hundeaugen ließen den älteren Kaiba aufseufzen und kapitulieren. Er war machtlos gegenüber diesem Blick und diesem Ton und das wusste sein kleiner Bruder ganz genau. Was noch schlimmer war – er hatte ein gutes Gespür dafür wann er sie einsetzen musste und wie, so dass Seto dagegen nie resistent werden konnte. „Fein. Wir machen das mit den Eiern.“ „Danke, großer Bruder!“, jauchzte Mokuba freudig auf und warf sich um den Hals seines Bruders, wobei letzterer gerade verhindern konnte, dass man ihn seitlich umschmiss. Ein wohliges glückliches Gefühl breitete sich wie immer in dem jungen Firmenchef aus, wenn der Schwarzhaarige so emotional reagierte, und berührte sein Herz, was ihn sanft lächeln ließ. Vorsichtig wuschelte er durch die rabenschwarzen Haare, während der Kleinere sich eng bei ihm anschmiegte. „Ich werde das organisieren und so brauchst du dich nicht darum kümmern“, verkündete Mokuba, nachdem er zu Seto aufsah und ihn aus strahlenden Augen anblickte. „Darf ich Roland nehmen, damit er mir hilft?“ „Ja. Nimm wen immer du auch brauchst.“ „Super! Danke, Seto! Du bist der Beste!“ Der Jüngere nahm ihm das Buch über Ostern aus der Hand und war mit einem Satz auf den Beinen, bevor er dann in Richtung Tür rannte. „Die Kindern werden diesen Tag nie vergessen!“, gab er kund, als er sich noch einmal zu ihm umdrehte, grinste dann über beide Ohren und verließ eilig das Büro. Kaiba sah kurz nachdenklich auf die geschlossene Tür. Ja, er glaubte, Mokuba würde alles machen, um die Waisenkinder zum Lachen zu bringen. Schließlich wussten sie beide, wie solche Kinder ihr Leben lebten und was für Schattenseiten so ein Leben hatte. Die Welt erschien für die Kleinen noch rauer, wenn sie ohne liebenden Eltern aufwuchsen, und sie fühlten sich einsam trotz Freundschaften, die sie untereinander knüpften. Sie wussten nicht, wie es war, jemandem nahe zu stehen und sich für jemanden zu sorgen, sie konnten nicht alle Möglichkeiten nutzen, die ihnen das Leben bot. Sie waren größtenteils auf sich alleine gestellt und mussten mit den Gefühlen und Fragen alleine klarkommen, die ihre Existenz prägten. Warum mussten sie so leben? Wieso wollte sie keiner? Waren sie es überhaupt wert zu leben? Konnten sie überhaupt so weiter existieren? Würden ihre Träume und Wünsche jemals in Erfüllung gehen? Wenn Seto an diese Zeit zurückdachte, dann spürte er in seinem Herzen tiefsten Schmerz, große Einsamkeit und Hass. Es schmerzte, weil er sich an den Verlust seiner Eltern erinnerte, der überhaupt dafür verantwortlich war, dass sein und Mokubas Leben einen anderen Lauf nehmen musste. Sie beide hatten ihre Eltern geliebt und diese hatten diese Liebe erwidert und sich liebevoll um sie gekümmert. Doch nach dem Unfall war all diese Liebe verloren gegangen und es blieb nur das, was Geschwistern zusammenhielt – Liebe und Vertrauen. Gefühle, für die Seto froh war, dass sie noch existierten und ihm ermöglichten zu atmen und weiter zu kommen. Ohne Mokuba wäre er vermutlich jetzt nicht dort, wo er sich gerade befand, denn er hätte nichts gehabt, wofür er sich zu kämpfen lohnte. Er verspürte Hass, weil die Menschen, die er für eine Familie gehalten hatte und mit seinen Eltern verwandt waren, ihn und seinen Bruder in der Stunde der Not auf der Straße wie räudige Hunde gelassen hatten und das Vermögen seiner Eltern für sich beanspruchten. Seto konnte bis heute diesen Fakt nicht herunterschlucken und einfach vergessen, denn das war der größte Vertrauensbruch gewesen, den er je in seinem Leben erlebt und der nur den Schmerz in seinem Herzen genährt hatte. Die erdrückende Einsamkeit, trotz Fakt, dass er und Mokuba immer noch einander hatten, resultierte aus diesem Schmerz und diesem Hass, denn seit jener Zeit und nachdem Gozaburo sie adoptiert hatte, war Seto nicht mehr in der Lage einer anderen Person zu vertrauen und nah an sich heran zu lassen, auch wenn er sich so sehr nach jemandem sehnte, der auch für ihn da sein konnte, wie er es all die Jahre für Mokuba gewesen war. Jemand, der ihn auffing, wenn er fiel und ihn nicht verurteilte für den, den er war. Auch wenn er es nicht gerne vor sich selbst zugab, hatte er in diesem Sinne Angst, die sein Misstrauen in anderen nährte. Er hatte Angst erneut verraten zu werden und bei diesem Mal wirklich alles zu verlieren, was für ihn wertvoll war. Am Meisten fürchtete er den Verlust von Mokuba und Seto kannte sich selbst, um zu sagen, dass er diesen nicht verkraften konnte. Er wollte sich nicht mal vorstellen, was aus ihm werden würde, wenn seinem Bruder etwas passierte. Davor graute es ihn und zwar gewaltig. Seto schüttelte den Kopf, um die trüben Gedanken loszuwerden, atmete durch und richtete sich auf, um zu seinem Schreibtisch zu schreiten und sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Er hatte eigentlich gewusst, dass dieser Besuch ins alte Waisenhaus alte Wunden aufreißen würde, doch er hatte ihn angenommen, als die Leiterin ihn vor einer Woche kontaktiert hatte. Die ganze Sache hatte vor vier Monaten mit einer Reportage zu dem Unwetter in Domino City im Fernsehen angefangen, als ein großer alter Kirschbaum von einem Blitz getroffen wurde und sein mächtiger Stamm ein Teil des Waisenhauses unter sich begrub. Ein Wunder hatte die Kinder und die Arbeiter dort gerettet, die sich einfach im anderen Teil des Gebäudes zu diesem Zeitpunkt befanden und nur mit dem Schrecken davonkamen. Aber als er und Mokuba diese Reportage sahen, war ihnen der gleiche Gedanke durch den Kopf geschossen. Die Kinder brauchten Hilfe. Bevor sich Seto versah, hatte er dann nach dem Telefon gegriffen und seinen besten Architekten, der beim Projekt Kaiba Land mitgewirkt hatte, zu sich ins Büro bestellt. Mit ihm hatte er dann den Vorfall und die festgelegte Vorgehensweise des Staates beim Wiederaufbau von öffentlichen Gebäuden von nicht staatlichen Firmen besprochen. Es hatte dann einige Tage und Nerven mit der Stadtadministration gekostet, bis der Architekt und die Experten der Kaiba Corp. im Waisenhaus erschienen, sich den Schaden ansahen und die Pläne des Gebäudes aus dem Stadtarchiv in die Finger bekamen, um ein Wiederherstellungsprojekt des Gebäudes auf die Beine zu bringen. In kürzester Zeit wurde dieses realisiert. Die Arbeiter hatten mit verlängerten Arbeitszeiten gearbeitet, um es zu beenden, und nun konnten die Kinder und Arbeiter des Waisenhauses erneut das ganze Gebäude benutzen und sogar neu ihre Arbeit und ihr Leben dort organisieren, da der neue Gebäudeflügel um einiges funktioneller war, als der alte und sogar zusätzlich Platz bot – etwas, was Seto noch mehr lange und verhasste Gespräche mit der Administration gebracht hatte, da die Erweiterungen sich natürlich nicht mehr mit dem alten Gebäudeplan vor der Zerstörung deckten. Nun da dort alles wieder so funktionierte, wie es sollte, hatte ihn Miss Kanou, die Leiterin des Waisenhauses, eingeladen sie zu besuchen, um sich auch persönlich für die Unterstützung der Kaiba Corp. zu bedanken. Eigentlich hätte er ablehnen wollen, doch Mokuba war dabei gewesen, als er das Gespräch führte, und hatte es wieder mit seinem unschuldigen Blick geschafft ihn dazu zu bewegen, anzunehmen. Seit diesem Tag war der kleine Wirbelwind nun Feuer und Flamme und hatte sich Mühe gegeben sich etwas Besonderes für die Kinder dort zu überlegen, da er natürlich davon ausging, dass sie dort etwas länger bleiben würden. Kaiba hatte seine Euphorie nicht bremsen können und nun hatte er dieses ‚Osterangebot‘, von dem er hoffte, dass es seinen Zweck erfüllen würde. Aber wenn eins Mokuba sehr gut konnte, dann war es andere mit seiner Lebensfreude und Begeisterung anzustecken und Freunde zu finden. Ganz anders als er selbst. Seto nahm einen Schluck von seinem schon kalten Kaffee und griff dann nach dem Halbjahrbericht, um weiter zu lesen. Er brauchte sich keine Gedanken um den Samstag mehr machen. Der Rest würde sich selbst richten. Hoffte er zumindest… *~*~*~* Die schwarze Limousine der Kaiba Corp. parkte direkt vor dem Waisenhaus. Der Motor verstummte und nach wenigen Augenblicken öffnete Roland die rechte Hintertür, aus der nun Mokuba heraussprang und Seto ihm kurz daraufhin folgte. Es war ein merkwürdiges Gefühl hier zu sein. Die Brüder blieben stehen und blickten auf das Gebäude mit dem Garten und dem Spielplatz vor ihnen. Seto umfasste eine leichte Melancholie. Es war, als wären keine zehn Jahre vergangen, seit er hier mit Mokuba gewesen war. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hatte. Die alten Bäume, der Spielplatz, der große Sandkasten, der Zaun, der Eingang, die Gardinen an den Fenstern… Das einzig neue war der westliche Flügel, auf dem man jetzt freie Sicht hatte, da der große Kirschbaum fehlte, der davor gestanden hatte. Man merkte, dass die Materialien, die für den Bau benutzt wurden, andere Qualität hatten und der Gebäudeflügel war ein Halbstockwerk höher als sein Vorgänger, doch er fügte sich gut in das Gesamtbild ein. Trotzdem verlor das Waisenhaus dadurch nicht seine alte Ausstrahlung. Es wirkte immer noch alt und verlassen, fremd und dann doch bekannt. Einerseits rief dieses Gebäude in Seto zuerst Negatives hervor, andererseits erinnerte er sich auch an die schöne Momente, die er hier mit seinem kleinen Bruder erlebt hatte. Seine Vergangenheit hier war nie komplett schwarz gewesen. Das verdankte er nur und allein den vielen Mitarbeitern, die ihn und Mokuba hier betreut und empfangen haben. Besonders Miss Kanou. „Mister Kaiba? Sir, alles in Ordnung?“ Rolands besorgte Stimme riss den jungen Firmenchef aus seinen Erinnerungen und er schüttelte diese ab, ehe er zu ihm aufblickte. Offensichtlich hatte man in seinem Gesicht mehr gelesen, als man es gewohnt war. Allerdings war da wohl ein bisschen mehr. Seto erinnerte sich, dass Roland ihn vor der Abfahrt zwei Mal gefragt hatte, ob er bereit war, zu gehen. Dieser wusste als einziger Außenstehender über alle Details in seinem Leben Bescheid, vor allem was dieser Ort für ihn bedeutete und er darüber empfand. Dabei hatte es ihm der Brünette nicht erzählen müssen. Der Ältere hatte ihn einfach beim Heranwachsen beobachtet und ihm in allem beigestanden. Allerdings nicht einfach, weil man ihn dazu verpflichtet hatte. Man sah es vielleicht Roland nicht sofort an, aber er war ein sehr treuer Freund und ein Mensch mit dem Herzen an richtigem Fleck. Ein Grund, weshalb er so sehr Setos Vertrauen genoss, und der Brünette ihn als Teil der Familie ansah. „Alles Bestens, Roland“, beruhigte Kaiba seinen Angestellten und sah zu Mokuba, der ihn erwartungsvoll anblickte. „Lasst uns hereingehen.“ Die Gartentür war offen. Sie betraten den Garten und machten sich auf den Weg zum Eingang des Gebäudekomplexes. Auf dem Weg dorthin sah Seto in einen der Räume hinein, der eine Aussicht auf den vorderen Gartenbereich hatte. Dort spielten kleine Kinder, vielleicht im Alter von 4 bis 8 Jahren. Hellgrüne Gardinen hangen an den Seiten der Fenster herab, die sehr gut zum Rest der Raumgestaltung passten, die in Hellgrün und Weiß gehalten war. Man entdeckte selbst durchs Fenster viel Spielzeug, geordnet auf den Regalen. Legosteine, Autos, Flugzeuge, Puppen, Bälle, Plüschtiere. In der Mitte des Raumes, saß ein großer Teil der Kinder um einen runden Tisch herum und zeichnete. Das erinnerte Seto daran, wie oft er am Anfang mit Mokuba an diesem Tisch gesessen hatte, um zu malen oder Origami zu machen. Manchmal hatten sie den Tisch als Grund für ein Haus aus Legosteinen benutzt und stundenlang daran gebaut. Sie waren gerade in dieser Zeit unzertrennlich gewesen. Nicht nur, weil sie auf einander aufbauten und nur einander hatten. Sondern auch, weil die Anfangszeit im Waisenhaus besonders schwer für sie war. Sie mussten nicht nur den Verlust ihrer Eltern und den Verrat ihrer Verwanden verkraften, sondern auch ihren Platz unter den Kindern finden, die sie nicht so leicht in ihrer Gruppe aufnehmen wollten. Aus dem einfachen Grund, dass sie einige der wenigen waren, die überhaupt noch wussten, wie es war Eltern zu haben. Ein Fakt, der oft zu Neid und Hass führte, was für ihn und Mokuba unverständlich gewesen war. Seto spürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Seine Gedanken gingen weiter zurück und ließen viele Bilder aufleben, wo das Leben im Waisenhaus ein Kampf gewesen war, seinen Platz zu finden. Er wollte diese Momente nicht wieder aufleben lassen, daher nahm er einen tiefen Atemzug und schüttelte die Erinnerungen weg. Er wollte nicht, dass sie Gefühle an der Oberfläche trieben, die irgendwo in ihm vergraben lagen, um ihn so in eine Flut versinken zu lassen, die ihn auseinanderreißen wollte. Die Vergangenheit blieb Vergangenheit. Er und Mokuba hatten diese Zeit zusammen und mit viel Mühe überstanden und waren nun frei von ihrer Last. Sie führten ein neues Leben, hatten neue Freundschaften geschlossen und erfüllten ihre Träume. Das war wichtiger, als der Schatten der vergangenen Tage. Noch wichtiger war, wie sie ihren Weg in die Zukunft weitergehen wollten. Und das bestimmten sie auch hier und jetzt. „Willkommen, Herr Kaiba! Wir haben Sie erwartet!“ Eine der zuständigen Sozialarbeiterinnen empfing sie am Eingang des Waisenhauses, nachdem Roland ihr Kommen gemeldet hatte. Sie war jung, vielleicht im Alter von Seto, und trug Kleidung, die sie auch als Sozialarbeiterin kennzeichnete. Ihre Haut war wie Elfenbein und ihr offenbar langes, weißblaues, glattes Haar war zu einem leichten Zopf zusammengebunden, aus dem sich eine Strähne gelöst hatte, die ihr frech im Gesicht hing. Ihre Augen strahlten und waren blau wie der Himmel. Ihr Lächeln wirkte dabei so hinreißend, dass es dem Brünetten auffiel, dass er sie deswegen lang musterte. Normal schenkte er Menschen nicht so viel Aufmerksamkeit, außer sie weckten mit etwas sein Interesse. Er musste auch gestehen, so eine junge Frau hatte er bis jetzt nie gesehen. „Mein Name ist Kisara.“ Ihre Stimme war sanft und melodisch. Sehr angenehm. „Ich bin eine der Zuständigen für die Kinder im Waisenhaus. Frau Kanou hat mich gebeten, Euch zu ihr zu führen. Würdet Ihr mir bitte folgen?“ Offenbar blieb keine Zeit zum Vorstellen seiner Begleiter, denn die junge Frau wandte sich ab und ging los. Seto folgte ihr nur schweigend nach einem kurzen Blickaustausch mit seinem Bruder. Man hörte aus einigen der Zimmer Kinderstimmen und Ausrufe. Es war so fast wie in einem Kindergarten, nur dass es hier Kinder in unterschiedlichem Alter gab, die alle eines gemeinsam hatten – dieses Waisenhaus war ihr einziges Zuhause und die Arbeiter hier – ihre einzige Familie. Die Tragik ihres Schicksals veränderte auch die Atmosphäre in diesem Gebäude und diese war für die beiden Brüder sehr präsent. „Es hat sich hier kaum etwas verändert, findest du nicht auch, Seto?“, fragte ihn Mokuba mit gesenkter Stimme, während sie den langen Flur zum Zimmer der Direktorin entlangschritten. „Es ist, als wären wir erst gestern von hier weggegangen, um unser neues Leben zu beginnen.“ So war es wirklich. Selbst Seto empfand das so. Hier roch und sah alles genauso aus wie vor etwa zehn Jahren. Dabei hätte man vermuten können, dass die Zeit diesen Ort in etwas anderes verwandelt hatte. Vielleicht in ein altes krächzendes Gebäude? Oder in ein buntes Zuhause für die Kinder der neuen Zeit? Aber nichts der Gleichen sahen Seto und Mokuba. Es war einfach so, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. „Irgendwie ist das gruselig“, beendete der Schwarzschopf seinen Kommentar und der Brünette konnte ihm stumm zustimmen. Gruselig traf es präzise. Es war, als wären sie in ihrer Vergangenheit gereist, nur um zurückblicken zu können zu dem, was sie einst waren. Doch dem war nicht so. Das war nicht die Vergangenheit. Es war dasselbe Waisenhaus ja, aber er und Mokuba waren keine kleinen verlorenen Kinder mehr. Sie hatten ein eigenes Leben außerhalb diesen vier Wänden. Es war zwar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten, aber es war auch mehr, als sie erwartet hatten. Ihr Stiefvater Gozaburo hatte ihnen keine wirklich glückliche Kindheit ermöglicht, aber dafür ihnen eine Zukunft eröffnet, die sie nun alleine und nach ihren Wünschen gestalteten. Das Leben eines Menschen hatte immer zwei Seiten. Eine, erfüllt von Leid und Anstrengungen und eine andere, erfüllt von Möglichkeiten und Freude. Wie man diese Seiten kombinierte und welche die Oberhand behielt, hing allein von jeder einzelnen Person ab. Das war Setos Einstellung und er vermittelte diese auch seinem Bruder, um ihn vor dem Teufelskreis der Verzweiflung und Hilflosigkeit zu schützen, der jeden Menschen in irgendeiner Art und Weise zu verfolgen schien. Dass doch viele Jahre vergangen waren, seit Seto und Mokuba dieses Waisenhaus das erste Mal betreten hatten, bewies nur die Direktorin Frau Kanou. Im Gegensatz zum Gebäude erkannte man bei ihr die Spuren des Alterns. Ihr Gesicht war mir vielen Falten überzogen, ihre Haare waren weißgrau, ihre kleinliche Figur wirkte gedrungen und sie bewegte sich nicht mehr so grazil und leichtfüßig wie vor zehn Jahren. Dafür hatte sie ihren Kleidungsstil beibehalten und hatte immer noch die gleiche warme Ausstrahlung, wie beim ersten Mal, wo sie ihr begegnet waren. Seto hatte nie gewusst wie alt die Frau war, doch wenn er sie jetzt so ansah, wie sie sich von dem Schreibtisch erhob, um sie zu begrüßten, würde er meinen, dass sie kurz vor dem Ruhestand war. „Seto! Mokuba! Ich freue mich, euch beide wieder zu sehen nach so vielen Jahren!“ Sie lächelte sie herzlich an, während sie ihnen einzeln die Hand reichte und dann umarmte. Man merkte ihr an, dass sie diesen Besuch mit Freude erwartet hatte. „Uns auch, Frau Kanou!“, erwiderte Mokuba und strahlte über beide Ohren. Er hatte die Direktorin immer gemocht, denn sie stand an ihrer Seite, genau in dem Moment, wo sie es brauchten. Seto hatte sich ebenfalls bei ihr ruhiger gefühlt, auch wenn bei weitem nicht so, wie sein kleiner Bruder. Jetzt als Erwachsener aber konnte er auch verstehen, warum das so gewesen war. Für ein Kind, das gerade mal 8 Jahre war, hatte er Bürden getragen, die ihn jeden Tag begleiteten. Der Verlust seiner Eltern, der Verlust eines warmen Zuhauses, der Verrat der Verwandten, Mokuba und die Verantwortung des großen Bruders – selten hatte dieser Schatten von ihm zurücktreten können, so dass er länger im Licht bleib und solche Menschen wie Frau Kanou bemerkte. Doch hier und in diesem Moment nahm er sie anders wahr und verstand die Freude Mokubas. Er erkannte den guten Menschen in ihr, von dem er immer gewusst hatte, dass er da gewesen war, und realisierte, wie viel sie eigentlich für ihn und wohl für die anderen Kinder aus dem Waisenhaus wirklich getan hatte. Sie hatte nicht alles wieder gut machen können, aber sie ließ sie nie wirklich alleine mit ihrem Leben kämpfen. Etwas, wofür wenige den Willen und die Stärke hatten, um es zu verwirklichen. Und das Jahre lang. „Es ist gut, Sie wieder wohlaufzusehen, Frau Kanou“, grüßte sie seinerseits Seto und sah, wie die Direktorin ihn forschend musterte. Sie wirkte so, als versuche sie dadurch etwas zu erfahren, was nicht offensichtlich, aber für sie sehr wichtig war. Er konnte nicht erraten, was es war, doch er war sich sicher, dass sie ihre Fragen stellen würde, wenn sie welche hatte. „Danke. Ich halte mich noch. Auch wenn die Jahre schon von mir verlangen, mich zur Ruhe zu setzen. Setzt euch!“ Sie deutete auf die kleine rotbraune Couch und zog einen Stuhl dazu, damit sie sich ihnen gegenüber setzen konnte. Seto und Mokuba machten es sich bequem, Roland blieb stehen und wollte keinen Stuhl haben. „Ich hoffe, ihr könnt ein wenig länger bleiben. Die Kinder haben ein nettes Geschenk für euch als Dankeschön vorberietet.“ „Nun, wir haben schon unsere Zeit so eingeplant, dass das möglich ist“, entgegnete Seto ruhig. „Wenn wir ehrlich sein sollten, müssten wir fragen, ob nicht etwas ansteht, da wir unsererseits für die Kinder etwas gebracht haben.“ Diese Information überraschte die ältere Dame. Sie blinzelte etwas. Ihr Blick wurde fragend und interessiert zu gleich. „Wir haben uns eine Kleinigkeit überlegt“, fing Mokuba an zu erklären. „Wir wollen etwas mit den Kindern machen, was uns allen Spaß bereiten wird. Wir haben einige Eier mitgebracht, die wir mit ihnen bunt anmalen werden.“ „Eier bunt anmalen?“, fragte Frau Kanou überrascht. „Ja! Das ist ein sehr alter Brauch, den die heutigen Christen in ihrer Religion beibehalten haben und an ihrem Osterfest praktizieren. Das Ei war ja lange Zeit ein Symbol des Kreislaufs von Leben und Tod. Und ein farbiges Ei symbolisiert das, was für die Menschen wichtig am Leben ist. Zum Beispiel Freude, Glück, Gesundheit. Wenn man jemandem ein farbiges Ei schenkt, wünscht man ihm das, wofür das Ei mit seiner Farbe steht.“ Mokuba erzählte das mit einer Leidenschaft und Begeisterung, die die alte Dame sehr rührten. Sie nickte und erschien begeistert von der Idee. „Es gibt bei den Christen auch unterschiedliche Techniken, wie man die Eier anmalen kann. Sie sind alle sehr spannend. Wir haben alles Nötige besorgt, damit für jedes Kind was dabei ist, was er gerne mit seinem Ei machen würde. Ich habe auch selbst ein paar der Sachen ausprobiert. Es ist wirklich lustig.“ Das hatte Mokuba tatsächlich. Seto war vor zwei Tagen nach Hause gekommen und hatte seinen kleinen Bruder in der Küche am Tisch entdeckt, der eifrig einige Eier bunt machte. Seine Hände waren mit Farbe beschmiert und er hatte es sogar geschafft sich das Gesicht irgendwie anzumalen, was Seto unweigerlich an ihre Kindheit und Mokubas erste Malversuche erinnerte. Er hatte dann etwas gespürt, was er schon fast vergessen hatte, ein Gefühl der kindlichen Unschuld und Freude, vermischt mit brüderlichem Stolz und Liebe. Manchmal hatte er den Eindruck zu vergessen, wie eng er und sein kleiner Bruder verbunden waren und wie schön es war, wenn sie zusammen etwas machten, was ihnen Spaß machte. Solche Momente wie diesen, wo er ihn so in der Küche sah, erinnerten ihn, Gott sei Dank, daran, dass in Wirklichkeit das für ihn am wichtigsten im Leben war. Mehr als alles andere, was ihn motivierte das Beste aus sich herauszuholen. Mehr als die Firma und sein Lieblingsspiel. Mehr als seinen eigenen Ehrgeiz. So war es an dem Abend dazu gekommen, dass er sich schnell umgezogen hatte, um sich dann zu Mokuba zu gesellen und mit ihm die anderen Eier anzumalen. An diesem Abend hatte er den Kleinen ziemlich oft lachen hören, während er sich so wohl, wie seit langem nicht mehr, gefühlt hatte. „Das klingt wirklich nach etwas, was es hier allen gefallen würde“, entgegnete Frau Kanou erfreut und riss damit den Brünetten aus seinen Gedanken. „Wir können den großen Gemeinschaftsraum im neuen Flügel benutzen. Er ist, dank dem Umbau, breit und hell genug. Und alle passen rein. Ich werde ein paar der Arbeiterinnen rufen, damit wir die Tische umstellen. Gibst es Sachen, die von unserer Seite noch nötig sind?“ „Nein“, Mokuba schüttelte den Kopf und lächelte. „Wir haben wirklich alles. Wir brauchen nur Wasser, ein wenig Essig und ein paar Kerzen. Einige der Farben brauchen ein paar Tropfen Essig, um sich im Wasser auflösen zu können. Die Kerzen sind für den Wachs, der beim Färben benutzt werden kann. Ansonsten haben wir Farben, Pinsel, Wachs, bunte Aufkleber, Gummihandschuhe, Farbbecher und Watte.“ „Wachs und Watte?“ Frau Kanou wirkte überrascht. „Ja. Mit Wachs kann man so malen, wie mit Pinsel oder Kreide. Dazu braucht man einen sogenannten Wachstift mit einem spitzen Metallende, was erhitzt wird. So schmilzt der Wachs und kann dann zum Malen benutzt werden. Das wird für die Kinder interessant, die sehr gern zeichnen und malen. Watte benutzt man, um Eier richtig bunt zu machen. Da nimmt man sich Watte, tut etwas von den unterschiedlichen Farben drauf und tropft etwas warmes Wasser zum Auflösen der Farben, bevor man das Ei darin einwickelt. Es kommen dann wirklich schöne bunte Flecken heraus.“ //Wenn der Rest davon nicht einem auf das T-Shirt kleben bleiben//, dachte sich Seto innerlich amüsiert, da er den Anblick von Mokuba am Mittwoch vor sich hatte. „Das ist natürlich sehr einfallsreich“, bemerkte die Direktorin und ihrem Lächeln nach zu urteilen, hatte sie ein ähnliches Bild wie Seto im Kopf, bloß nur mit einem der Kinder aus dem Waisenhaus. Sie erhob sich von ihrem Platz und bat sie auf sie zu warten, während sie ein paar der Mitarbeiterinnen zusammenrief. Minuten später befanden sich diese mit Seto, Mokuba und Roland im besagten Gemeinschaftsraum, wo sie die Tische umstellten und alle nötigen Malutensilien auf diese ordneten. Auch die Eier wurden hereingebracht und in der Mitte der Tische auf die Eierkartons stehen gelassen. Ein großer Teil davon war gekocht und wäre nachher essbar, die anderen, aus denen man Schmuckeier machte, waren roh. Zu ihnen gehörten ein paar Schüsseln und Eiernadeln, damit man den Inhalt aus diesen in die Schüssel herausblasen und dann die leere Hülle mit Ölfarben anmalen konnte. Eine kleine Kartonschachtel enthielt einfarbige Schleifen und lag in der Nähe. Nachdem Mokuba alles kritisch überprüft hatte – Seto überließ ihm ausnahmsweise die ganze Organisation – erklärte er den Arbeitern und Arbeiterinnen des Waisenhauses wie die Eier angemalt werden konnten. An sich war die Sache sehr einfach, doch da die Kinder nicht gerade wenig waren, mussten die Möglichkeiten vorher abgeklärt werden, damit kein Chaos entstand. Zumindest keines, was sich schwer bändigen ließ. Eine Viertelstunde später führten drei der Sozialarbeiterinnen die Kindergruppen in den Raum hinein. Die Überraschung und Verwirrung konnte man ihnen direkt vom Gesicht ablesen, als sich alle um den Tisch herum versammelten und die vielen Eier und Bechern mit bunten Farben erblickten. Einige der Kleinen sahen zu den beiden Kaiba Brüder auf und wirkten etwas aufgeregt. Wie Seto aufschnappen konnte, wussten sie genauestens über sie Bescheid, was wohl vermuten ließ, dass sie im Fernsehen die Duellmonstersturniere und die Eröffnung von Kaiba Land verfolgt hatten. Er begegnete sogar ein paar scheuen Blicken. „Setzt euch, meine Kinder!“, forderte Frau Kanou die Jüngeren auf und sah zu, dass jeder Platz nahm. Ihr warmer Blick streifte jedes der Kinder und sie schenkte einen ein warmes und aufmunterndes Lächeln. Als alle Platz genommen hatten, fuhr sie fort: „Wir haben euch allen erzählt, dass dir an diesen Samstag besondere Gäste bei uns erwarten. Sie sind gute Freunde von uns und sie haben nach dem Unwetter vor einiger Zeit uns geholfen, unser Zuhause wieder aufzubauen.“ Man konnte einige der Kinder nicken sehen, andere sahen bewundernd zu den beiden Kaiba Brüdern herüber. „Das sind Seto und Mokuba. Sie werden heute ein wenig Zeit mit uns verbringen. Begrüßt sie bitte.“ „Hallo, Seto und Mokuba!“, riefen die Kinder im Chor und Frau Kanou sah zu ihren beiden Schützlingen herüber. Mokuba grinste die Kinder breit an. „Hallo, zusammen!“, begrüßte sie der Schwarzschopf fröhlich. „Ich bin Mokuba und das ist mein großer Bruder Seto!“ Er sah zum Brünetten hinauf und lächelte, bevor er wieder zu den Kindern blickte. „Ich freu mich, dass wir euch endlich besuchen konnten! Frau Kanou hat uns erlaubt etwas länger bei euch zu bleiben und deshalb haben wir uns etwas Feines ausgedacht. Seht ihr die Eier hier? Wir werden sie heute bunt anmalen, mit ihnen das Waisenhaus schmücken und spielen! Ich sag euch auch wie…“ Schon hatte der jüngere Kaiba die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich gezogen und nutzte das aus, um ihnen zu erklären, wie das funktionieren würde, was er sich vorstellte. Seto beobachtete schweigend das Ganze und überließ bewusst seinem Bruder die Führung – schließlich war es sein Einfall und er hatte allein das ganze organisiert. Es war so gesehen Mokubas Geschenk an die Kinder. Ihm selbst reichte nur, dass die Kinder dadurch fröhlicher wurden und Spaß hatten. Mehr konnten sie ihnen leider nicht geben. Jedes Kind musste um seinen eigenen Platz auf der Welt kämpfen, denn nur so war es fair und nur so kam man voran. Die Idee kam gut an. Die meisten Kinder mochten es zu zeichnen und mit Farben zu kleckern, weshalb es nicht verwunderlich war, dass sie alle mitmachen wollten. Besonders nachdem Mokuba ihnen versprach nachher mit ihnen ein Suchspiel zu spielen, wobei es für die Kinder Überraschungen geben sollte. So voller Elan und Eifer nahmen sich die Kinder jeweils ein Ei und begannen es anzumalen und zu schmücken. Die Sozialarbeiter machten mit und sorgten für Ordnung. Mokuba selbst rannte vom Kind zu Kind und half bei der Verwirklichung ihrer Ideen. Der Raum wurde schnell von Lachen und aufgeregte Kinderstimmen erfüllt. Die Atmosphäre wurde entspannt und fröhlich. „Es gefällt ihnen“, stellte Frau Kanou schmunzelnd fest. Es war schön die Kinder so engagiert und enthusiastisch zu sehen. Außerdem war das für sie eine große Abwechslung. Die Kaiba Brüder ahnten sicherlich nicht wie bewegend ihr Besuch hier wirklich für die Kinder war. „Wollen wir?“, wandte sie dann an den Älteren Kaiba, der schweigsam auf die Kleinen und seinen Bruder sah. Er schien kurz in Gedanken zu sein, bevor er sie anblickte und nickte. Zusammen mit Kisara und Roland verließen die beiden den Raum, um alles für das Suchspiel vorzubereiten. Sie hatten sich geeinigt dieses in zwei der Gemeinschaftsräume zu verlegen, da sie dort auch größere Sachen verstecken konnten im Vergleich zum Garten, wo alles auf den ersten Blick sichtbar sein würde. Schließlich wollten sie das Spiel interessant für die Kinder machen und diese sollten Spaß bei der Suche haben. Dafür hatte Mokuba während der Woche mehrere Päckchen vorbereiten lassen, die eine ungefähr gleiche Größe hatten und einen ähnlichen Inhalt enthielten – zwei Spielzeuge, Duellmonsterskarten, ein Buch und einen kleinen Korb mit Süßigkeiten. So würde jedes Kind praktisch die gleiche Auswahl haben, so dass kein Streit bei der Suche entstand. Die Päckchen waren sorgfältig in zwei große Kartons verstaut, damit sie leichter transportiert werden konnten und eben diese Kartons entluden nun Kaiba und Roland aus dem Wagen, um sie in das Waisenhaus zu bringen, wo die Frauen sie auspackten. „Oh!“, rief Kisara entzückt aus, als sie das Schutzpapier über die Päckchen wegschob und dann die bunten Geschenke entdeckte. Sie hob eines davon hoch und ihre Augen begannen sanft zu strahlen, als sie die schöne Schleife und die schöne Verpackung mit den Tieren darauf sah. „Sie sind so farbenfroh. Das wird den Kindern sehr gefallen!“ Seto blickte sie an und war zugegeben überrascht über ihre Reaktion. Sie freute sich wirklich und ein warmes Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht, so dass sie wie eine junge Mutter wirkte, die genauso aufgeregt über die Geschenke ihres Kindes war, wie dieses selbst. Für einen Moment hielt der Brünette inne und sah länger auf Kisaras Profil. Diese Situation erinnerte ihn an etwas, was er längst in das hinterste Eck seiner Gedanken verbannt hatte, um zu verhindern, dass es ihn einholte und ihn angreifbar machte. Eine alte Erinnerung an seine Mutter ein paar Monate vor dem tragischen Unfall. Sie hatte an einem Stuhl gesessen und entzückt eine blaugelbe Jacke betrachtet, die sie aus einer Geschenktüte für Mokuba an seinem Geburtstag herausgenommen hatte. Auf der Vorderseite hatte diese zwei Jackentaschen gehabt und hinten – einen Elefantenkopf mit einem grüngelbem Cape. Mokuba selbst war vor ihr, hatte seine Hand auf ihr Knie gelegt und sie mit großen Augen angeschaut. Sie hatte sich über die Jacke sehr gefreut. So sehr, dass sie Mokuba dazu bewegte, sie sofort anzuprobieren. Danach hatte sie ihn sehr lange mit einem Lächeln im Gesicht betrachtet. Ihre sanften rauchgrauen Augen waren von einem wunderbaren Glanz erfüllt gewesen, der sein kleines Herz aufgeregt hüpfen ließ, während er die beiden nur angesehen hatte. Er hatte sich damals ebenfalls gefreut, aber auf Grund der Freude seiner Mutter und weniger über die Jacke, die sein Bruder bekommen hatte. An noch etwas erinnerte er sich. Da war sein Vater gewesen und hatte die beiden ebenfalls beobachtet. Neben ihm war er stehen geblieben und in seinem Blick hatte man Ruhe und Wärme entdeckt – Gefühle, die nur einem liebenden Herzen bekannt sind. Ein Blick, der Seto gesagt hatte, dass alles in Ordnung war und es weiterhin so wunderbar schön sein würde. Er hatte diesem Blick geglaubt. Bis zum jenen Tag… Der Brünette wandte den Blick von Kisara ab, da der Stich in seinem Inneren erneut den Verlust hervorrief, denn er in Kindesalter hätte überwinden müssen. Es war schön und schmerzvoll zu gleich die junge Frau so zu sehen und eigentlich wollte er weder mit dem einen, noch mit dem anderen konfrontiert werden. Doch er hatte gewusst, dass der Besuch hier so etwas anrichten konnte. Das und sicherlich vieles mehr, wenn er diesen Gefühlen erlaubte sein Gemüt einzunehmen. „Seto?“ Der Angesprochene zuckte zusammen und drehte sich um, um Frau Kanou zu entdecken, die neben ihm trat, während sie selbst ein Geschenkpäckchen in den Händen hielt. Sie sah zu ihm auf und für einen Moment zögerte sie, auch wenn sie seine Aufmerksamkeit auf sich hatte. Ihm schoss es durch den Kopf, dass es daran liegen könnte, weil sie etwas in seinem Ausdruck gesehen hatte, was vorher nicht da gewesen war. Etwas, was diese Erinnerung hervorgerufen hatte und ihn wieder angreifbar machte. Nein, das gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie durfte nicht mehr so in ihn hineinblicken, wie einst vor zehn Jahren. Er wollte nicht zurückblicken. Es hatte einfach keinen Sinn. Was geschehen war, war geschehen. Er schritt nun weiter voran. „Du und Mokuba, ihr habt wirklich viel für das Waisenhaus und die Kinder hier getan. Ich wollte mich dafür bedanken. Eure Fürsorge wird hier nie vergessen werden“, sprach sie langsam aus und suchte seinen Blick. Er versuchte wieder gefasst und fokussiert zu bleiben, während er in ihre Augen schaute, die doch müde und kraftlos wirkten. Er konnte sicherlich nur erahnen wie viel Sorgen und Nerven das Waisenhaus und die Kinder dieser Frau kosteten und was sie bei ihr anrichteten. Er hatte sich oft genug gefragt, wie sie es die ganze Zeit über geschafft hatte, so stark zu bleiben bei dem Leid, wovon sie jeden Tag Zeuge wurde. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und war für jeden da, der sie brauchte, egal ob er um Hilfe bat oder sich nur anlehnen wollte. Selbst für ihn war sie vor Jahren da gewesen an einem Abend, wo er nicht in der Lage gewesen war, einzuschlafen. Sie war besorgt gewesen, hatte ihn ausgefragt, doch er hatte kein Wort hervorgebracht. Und doch war sie bei ihm geblieben, hatte seine Hand gehalten bis sich seine Anspannung gelöst hatte und er eingeschlafen war. Sie war wirklich eine starke Frau und doch in diesem Moment sah man ihr an, welche Opfer sie für diese Stärke bringen musste. Die Zeit, wo sie standhaft wie ein Felsen im Meer sein konnte, war langsam vorbei. „Ihr braucht Euch nicht zu bedanken. Wir haben das getan, was getan werden musste“, entgegnete er nach einer kleinen Pause, in der sie sich nur ansahen. Dann wandte er sich dem Karton zu und fuhr mit dem Herausnehmen der Päckchen fort. „Es ist trotzdem nicht selbstverständlich, Seto“, sagte sie sanft und in ihrer Stimme klang etwas Trauer mit. „Nicht jeder würde so handeln wie ihr, vor allem auch keiner, der das gleiche Schicksal erlitten hat, wie die Kinder hier. Es ist ironisch, aber gerade die Kinder, die es schaffen dieses Haus zu verlassen, kehren oft nicht hier her zurück und vergessen einfach diesen Ort. So als würde er eine schlechte Erinnerung sein, die sie losgeworden sind. Du und Mokuba aber, ihr habt uns nicht vergessen. Ihr wart da, als wir euch am meisten brauchten. Das macht nicht jeder. Ihr habt euch nicht nur fürs Waisenhaus eingesetzt, nein, ihr seid nun heute hier und bringt den Kindern mit dem Malen und diesen Geschenken sehr viel Freude. Das hättet ihr nicht tun müssen. Aber ihr habt es getan und ich kann sagen, es kommt von euren Herzen.“ Kaiba hielt erneut inne und blickte auf das Geschenk in seinen Händen. Es hatte eine rote Packung mit vielen Autos und Flugzeugen und einer gelben großen Schleife genommen, die er auf den Tisch nebenan setzen wollte. Jetzt schaute er darauf und schien über das Gesagte nachzudenken. „Wir wissen einfach genau, was den Kindern hier fehlt“, sagte er dann nach ein paar Augenblicken leise, aber deutlich. „Wir verstehen warum sie traurig sind, obwohl sie lächeln, warum sie grausam sind, obwohl sie keinen offensichtlichen Grund dafür haben. Sie wollen nicht nur ein Zuhause, sondern jemand, der sie liebt und mit dem sie die Welt erforschen können. Sie wollen wie die anderen zur Schule gehen, Freundschaften schließen, lachen, Unsinn anstellen und sorglos auf die Zukunft blicken. Es sind einfache Sachen. Doch sie bekommen diese nicht so, wie sie diese verdienen.“ Er stellte das Päckchen auf den Tisch und blickte die Direktorin an. „Das Waisenhaus kann ihnen nicht alles geben, selbst wenn es hier Menschen gibt, die sich liebevoll um die Kinder sorgen. Doch es ist anders, als liebende Eltern. Es ist anders, als mit einem Geschwisterchen. Ihr gebt wirklich euer Bestes für sie und sie sehen das, doch vollständig das ersetzen, was ihnen fehlt, könnt ihr leider nicht. Ich und Mokuba können das auch nicht. Aber wir wollten ihnen etwas geben, was ihnen zeigt, dass man sie nicht vergessen hat und sie geliebt und gemocht werden auch außerhalb dieses Ortes. Etwas, was ihnen zeigt, dass die anderen Menschen sie nicht vergessen und in Stich gelassen haben, nur weil sie keine Eltern haben. Sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich ihr Leben verändern wird, denn wenn sie das tun, dann verlieren sie sich selbst.“ Frau Kanou sah ihn überrascht an. Hinter seiner zurückhaltenden und stillen Natur verbarg sich immer noch, nach all den Jahren, der sanfte Kern einer fürsorglichen und verständnisvollen Persönlichkeit, die sich oft nur dann zeigte, wenn es um den kleinen Mokuba ging. Allerdings besaß diese Persönlichkeit ein größeres Herz, als Frau Kanou vermutet hatte. Ein Herz, das sich auch um Fremde so sorgen konnte, wie um die eigene Familie. Seto waren die Kinder hier wirklich nicht egal und es schien fast so, als würde ihr Schicksal ihm wirklich nah ans Herz gehen. In seinen Worten hatte man nur Ehrlichkeit und Anteilnahme herausgehört und in diesem Moment wurde der Direktorin klar, dass der kleine Junge von etwa zehn Jahren zu einem erwachsenen und verantwortungsbewussten Mann herangewachsen war, der nicht vergessen hatte, woher er kam und was er erlebt hatte. Sie hatte oft gehört wie Zeitungen und Medien über ihn sprachen und vieles davon war ihr unglaublich erschienen. Sie dachte manchmal, er hatte sich komplett verändert und zu jemanden entwickelt, den er nicht war, doch sie war froh sich geirrt zu haben. Seto hatte die Persönlichkeit behalten, die ihn vorantrieb. Die sanfte und beschützerische Person, die da war, wenn alle anderen weggingen. Die Person, die standhaft wie ein Felsen im Meer blieb und sich von nichts erschüttern ließ. Sie hatte das so oft gesehen und erlebt, während sie ihn und Mokuba beobachtet hatte. Sie hatte Angst gehabt, dass die Änderungen, die Seto durchmachte, diese Seite in ihm zerstören konnten. Allerdings war das nicht passiert und sie war sehr froh darum. „Du hast mit vielem Recht, Seto. Dank dir und Mokuba geht es den Kindern nun besser. Sie werden eure Fürsorge und Wärme nicht vergessen. Ich bin froh, dass sie nie verloren gegangen ist nach all der Zeit. Ich bin sehr stolz auf euch beide. Ihr habt wirklich das Beste aus eurem Leben gemacht. Ich hoffe, dass ihr Ansporn für alle anderen Kinder hier sein werdet. Noch einmal: Danke.“ Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln und in ihren alten Augen sah man einen angenehmen warmen Glanz auftauchen. Ihre Worte hatten in diesem Augenblick sehr viel Kraft gehabt und der junge CEO spürte, dass diese Kraft auf ihn überging. Es war merkwürdig, doch er fühlte sich stolz. Wie ein Kind, was der schweren Aufgabe der Eltern gerecht wurde und nun das wohl verdiente Lob dafür erhielt. Er hatte die Direktorin nie bewusst als Familie betrachtet, aber jetzt fragte er sich, ob er ihre Prägung auf seine Entwicklung nicht unterschätzt hatte. Sie hatten nicht zu lang das Vergnügen mit einander gehabt, aber einige der Erlebnisse mit ihr waren immer noch so in seinem Gedächtnis vorhanden, als wären sie eben gestern passiert. Er hatte sie nie vergessen und sie ihn auch nicht. Es tat gut das zu wissen. Auf ihre Worte bevorzugte er es allerdings in diesem Moment zu schweigen. Er nickte ihr nur ruhig zu, um dann mit dem Auspacken weiter zu machen. Bald waren die beiden Kartons leer, so dass es an der Zeit war mit dem Verstecken der Geschenke anzufangen. Es war nicht immer leicht einen guten Platz dafür zu finden, doch in den Räumen hier war es definitiv besser, als im Garten draußen. Viele der Geschenke landeten unter Tischen und Stühlen, zwischen Spielen in den Regalen gequetscht, unter einem Stapel Bücher oder einer Tischdecke, hinter einer Gardine oder in einer dunklen Ecke. Einige sah man recht schnell, bei anderen musste man zwei-drei Male hingucken, um zu sehen, dass das ein Geschenkpacket ist und nicht irgendein Spiel. Mokuba hatte selbst an solche Sachen bei dem Aussuchen der Geschenkverpackung geachtet und das bemerkte Seto erst, als er ein Geschenk zwischen zwei Stapel von Brettspielen schob. Es hatte Legofiguren und Bausteine auf dem weißen Hintergrund drauf und wenn er zurücktrat, verschmolz das Geschenkpapier direkt mit den bunten Packungen der Spiele daneben. Das Kind, was das hier sah, würde sich sicherlich sehr über die Entdeckung freuen. Überhaupt Versteckspiel war eines der Lieblingsspiele von Kindern und es war egal, ob sie sich versteckten oder etwas Verstecktes suchen mussten. Sie hatten gleichviel Spaß und wollten so etwas immer öfters spielen. Der Brünette stellte sich vor, wie eines der Kinder nach ihrem Besuch an diesem Samstag zu einer der Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter ging und um Erlaubnis bat so ein Spiel wieder zu organisieren. Der Gedanke daran ließ ihn etwas schmunzeln. Er wandte sich von Regal ab und nahm das nächste Geschenk, was noch keinen Platz gefunden hatte. Nach einer Weile waren sie mit der Vorbereitung fertig und entschlossen sich dazu, zu den Kindern zurückzukehren. Der Gemeinschaftsraum erinnerte an Bienenkorb mit brummenden kleinen und fleißigen Bienchen in Form von Kindern, die zwar kein Honig sammelten, aber eifrig ihre Eier färbten, durcheinander sprachen und fröhlich lachten. Einige der Eier trockneten, während andere bereits fertig getrocknet waren und in den Körben, die Mokuba besorgt hatte, lagen, so dass sie eine Freude fürs Auge darboten. Ein paar andere Eier hingen hingegen bereits an den Griffen der Fensterrahmen und schmückten den Raum. Das waren die Eier, von denen Mokuba ihm erzählt hatte, dass der Inhalt eines rohen Eis durch zwei Öffnungen an beiden Enden herausgeblasen wurde, bevor man das Ei dann bemalte, eine Schleife durchschob und diese kunstvoll zusammenband, so dass es nicht ausrutschte. Danach konnte man es aufhängen, wobei mehrere Eier mit unterschiedlich langen Schleifen ein ganzes Schmuckgebilde bilden konnten. Solche Gebilde sah er auch jetzt an zwei Fenstergriffen hängen und leicht in der Sonne glänzen, da über die Farben entweder Öl oder Lack kam, damit sie fixiert waren und mit der Zeit nicht in einander übergingen oder verblassten. Sie wirken ebenso schön und farbenfroh, die die Eier in den Körben und brachten einen wirklich zum Lächeln. Es war unfassbar, was man mit einem Ei alles anstellen konnte. Die Christen hatten aus einem ganz einfachen Brauch eine Kunst entwickelt, die scheinbar keine Parallele hatte. Und diese Kunst war einfach fesselnd nicht nur durch ihre Schönheit und Einfallsreichtum, sondern auch durch den Fakt, dass sie Menschen verband, Familien zusammenhielt und Wünsche äußerte, die sonst unausgesprochen blieben. Ostern war einfach das Fest der bunten Eier und der Freude. Es war das Fest der Familie und der Einheit. Seto konnte verstehen, warum Mokuba so begeistert war und er hoffte, dass die Kinder aus dem Waisenhaus eines Tages das auch begriffen. Es war wichtig zusammenzuhalten, wenn die Welt scheinbar auseinanderfiel. Es war wichtig seine Wünsche und Träume zu verfolgen und nie aufzugeben, wenn man weiterkommen wollte. Das machte jeden einzelnen Menschen stark. Etwas, woran Seto sich nach all den Jahren wieder erinnerte. Er hatte es vergessen gehabt. Nicht, weil er es wollte, sondern, weil man ihm eingeredet hatte, dass es anders war. Aber heute, wo er die Kinder so sah, wusste er, was die wirkliche Wahrheit war. Eine, die ihn hierher an diesem Tag nach so langer Zeit führte. „Es war seit langem nicht mehr so fröhlich und laut hier“, bemerkte Kisara angenehm überrascht. Sie blickte auf die Kinder und auf ihr Gesicht erschien ein sanftes und glückliches Lächeln. „Alle freuen sich so. Das ist so schön.“ Sie wandte ihren Blick ab und sah den Brünetten für einen Augenblick an. „Vielen Dank, dass Ihr den Kindern so eine Freude gemacht habt!“ Sie verbeugte sich höflich nach japanischer Art, während der Firmenchef sie nachdenklich ansah. Er nickte dann leicht als Antwort, bevor er auf die Kinder blickte. Ja, wenn er die Kleinen so ansah, glaubte er ihr aufs Wort. Es herrschte geradezu Euphorie im Raum. „Ah! Da sind sie ja endlich!“, rief Mokuba erfreut aus, als er seinen Bruder, Roland, Kisara und die Direktorin bemerkte. Er sprang von seinem Platz und rannte auf sie zu. „Seid ihr fertig? Wir wollten noch nach Ostergeschenken suchen!“ Die Euphorie war so groß, dass sie auch seinen kleinen Bruder erfasst hatte. Er wirkte aufgeregt und glücklich. Seto musste bei dem Anblick einfach lächeln. „Alles ist vorbereitet“, bestätigte er dann mit ruhiger Stimme. „Super!“, freute sich der Schwarzschopf, bevor er sich zu den Kindern umdrehte und laut ausrief: „Hey, ihr alle! Die Überraschung ist fertig! Lasst und Geschenke suchen!“ „Au, ja!“, rief ein Kind freudig aus. „Geschenke!“, kam es von einem anderen. „Wo sind die?“, fragte jemand. „Ich weiß, wo, folgt mir einfach!“, entgegnete Mokuba und bevor die Erwachsenen reagieren konnten, waren alle Kinder aufgestanden und rannten nun dem jüngeren Kaiba hinterher. „Vorsichtig, nicht schubsen, Kinder!“ Die Sozialarbeiter folgten ihnen eilig und achteten darauf, dass die Euphorie nicht unerwartete und unkontrollierbare Ausmaße annahm. Auch die Direktorin ging mit den Kindern und achtete ebenfalls darauf, dass alles bester Ordnung blieb. Kaiba sah ihnen nach und schmunzelte. Er wollte ihnen folgen, als er eine Silhouette aus den Augenwinkeln erfasste. Verwundert blieb er stehen und wandte sich zum Tisch um, wo an dem entfernten Ende ein schwarzhaariges Mädchen noch auf seinem Platz saß und sehr konzentriert ein Ei anmalte. Es hatte offensichtlich keine Notiz von dem Verschwinden der anderen genommen oder wollte die anderen gar nicht beachten. Seto fragte sich, ob alles in Ordnung war und trat auf die Kleine zu, um zu sehen, was los war. Während er sich näherte, bemerkte er die sorgfältig geordneten Eier auf eine Eierpackung vor dem Mädchen, die ähnliche Motive und Farben hatten und somit zu vermuten war, dass es diese alle selbst gemacht hatte. Wie Seto feststellte, hatte das Mädchen viele der Techniken ausprobieren, die Mokuba den Kindern erklärt hatte. Es schien malerisch begebt zu sein und das merkte man an die aufwendigeren Motive auf den Eiern. „Hey, Kleines!“, sprach er das Mädchen sanft und mit etwas leiserer Stimme an, da er es nicht erschrecken wollte. Das Kind hielt inne und schaute verwundert zu ihm hinauf. „Magst du nicht zu den anderen gehen und dein Geschenk suchen?“ „Geschenk?“, blinzelte ihm das Mädchen verwirrt entgegen und sah sich in den sonst leeren Raum um. Es wirkte zuerst, als wüsste es nicht, wovon der Brünette sprach, aber offensichtlich stimmte das nicht ganz. „Du meinst das Versteckspiel? Nein, mag ich nicht.“ „Warum nicht?“, fragte Seto ruhig und setzte sich langsam an den freien Platz neben das Mädchen, welches wieder damit beschäftig war sein Ei zu bemalen. „Weil ich lieber alle meiner Eier anmalen mag. Das Geschenk kann ich nachher noch suchen, wenn alle ihres haben.“ Die Antwort kam wirklich überraschend. Dass ein Kind sich nicht auf Geschenke freute, sondern das Malen bevorzugte, war etwas seltsam. Aber jeder hatte nun seinen eigenen Geschmack. Seto schaute auf die Eier vor dem Mädchen. „Verstehe“, entgegnete er und deutete auf ein unbemaltes Ei, was bei dem Mädchen war. „Darf ich das anmalen?“, fragte er dann und sah wie das Mädchen nun seinerseits überrascht aufblickte. „Magst du auch lieber malen?“, wollte es wissen, woraufhin der Brünette schmunzelte. „Ich muss keine Geschenke suchen, also…“ Das Kind blinzelte und lächelte dann. „Gut. Aber mal was Schönes und Buntes darauf, ja?“, sagte es und reichte ihm das Ei. „Gehen Blumen?“, fragte Seto scheinbar ahnungslos und schaute sich um, um einen Pinsel zu finden. „Blumen wären toll!“, bestätigte das Mädchen. „Ich mache auf mein Ei Schmetterlinge. Schau mal!“ Tatsächlich war das Ei voller Schmetterlinge. Das Mädchen war eine eifrige Malerin und schien wohl bunt wirklich zu mögen. Keines ihrer Eier konnte sich auf weniger als drei Farben beschränken. Sie mischte Farben so ziemlich durcheinander und schien dabei Riesenspaß zu haben. „Wie heißt du, Kleines?“ Der Brünette hatte bereits einen Pinsel gefunden und tauchte ihn in orangener Farbe ein, um dann mit diesen eine Blume zu malen. Malen war nicht unbedingt sein Bereich, aber einfache Sachen wie Blumen, Schmetterlinge, Hasen, kleine Drachen, Autos und Strichmännchen konnte er hinbekommen, so dass sie sich sehen ließen. „Michiko“, antwortete die Kleine. „Aber man nennt mich Michi“, erklärte sie. „Du bist Mokubas großer Bruder, ja?“ „Ja. Ich heiße Seto“, bestätigte er und malte selbst weiter. Aus der Blume wurde was und er hatte sie gleich fertig. „Es ist so cool, dass ihr uns die ganzen Eiern gebracht hat, zum Anmalen! Ostern ist ein lustiges Fest. Mokuba hat uns davon erzählt.“ „Ja, meinst du?“ „Ja! Es gibt nichts Besseres!“, bestätigte ihm Michiko und nickte, um ihre Aussage zu bekräftigen. „Malen ist toll!“ „Du malst scheinbar sehr gern?“ „Au, ja! Oft den ganzen Tag. Es macht Spaß! Ich mag alle Farben. Hast du eine Lieblingsfarbe?“ „Mhmm, ich denke hellblau und weiß, wieso?“ „Hellblau? Ich auch! Ich werde gleich einen blauen Schmetterling machen!“ Kaiba schmunzelte, da seine Frage ignoriert wurde und beobachtete stattdessen wie Michiko enthusiastisch ihren Pinsel in die blaue Farbe eintauchte, um dann einen Schmetterling zu machen. Ein niedlicher Anblick. „Da bist du ja, Seto!“ Mokubas leicht aufgebrachte Stimme ließ den Brünetten aufblicken. Dieser hatte schnell das Fehlen seines großen Bruders bemerkt und hatte sich entschieden ihn zu suchen. Nun fand er ihn jetzt beim Tisch und bemerkte auch das schwarzhaarige Mädchen, das konzentriert etwas auf sein Ei malte. „Michi, was machst du noch hier?“, fragte der jüngere Kaiba verständnislos und näherte sich den beiden, wobei er neugierig auf das Ei schielte. „Meine Eier zu Ende malen! Seto hilft mir dabei!“, verkündete die Schwarzhaarige und sah Mokuba entschlossen an. „Ich will sie fertig bekommen, damit wir sie nachher mit Frau Ayaka in den Spielezimmern aufhängen können. Sie hat mir das versprochen.“ „Aha. Okay. Darf ich helfen? Du hast die Schleifen noch nicht durchgeschoben oder? Soll ich das machen?“ „Das wäre toll. Ich hab nämlich Angst die Eier kaputt zu machen wie mein erstes.“ „Keine Angst! Wir kriegen das schon hin!“, versicherte Mokuba und setzte sich auf den anderen freien Platz neben Michiko. Sie hatte noch zwei weiße Eier vor sich und sie und Seto würden diese schon bunt bekommen. Daher suchte sich der jüngere Kaiba ein paar Schleifen heraus, bevor er damit anfing die bemalten Eier aufzuhängen. „Das wird wirklich cool aussehen, wenn es fertig ist“, konstatierte Mokuba nach einigen Augenblicken und betrachtete das Ei mit den bunten Kreisen, das er eben fertig bekommen hatte. „Das machst du wirklich toll, Michi!“, lobte er die Schwarzhaarige und lächelte sie breit an. Auf einmal wurde die Jüngere verlegen und sah auf ihr Ei. „Danke“, murmelte sie und lächelte leicht vor sich hin. Eine zarte Röte schlich sich in ihre Wangen. „Ich hoffe, alle anderen freuen sich auch so.“ „Klar! Deine Eier sind toll! So bunt! Ich mag sie!“, entgegnete Mokuba, worauf Seto schmunzeln musste. Er beobachtete die beiden still und dachte daran, dass diese Osterüberraschung für die Kinder doch noch eine gute Idee war. Obwohl der Besuch so ziemlich viele alte Erinnerungen wachrief, konnten diese die Begeisterung der Kinder und Michiko nicht überschatten. Ja, bunte Eier waren schön. Sie waren Wünsche und Träume, an denen man ganz fest glaubte und hoffte, dass sie irgendwann in Erfüllung gehen werden. Sie stellten das dar, was viele Menschen an Festen mit einander verband. Freude. Die Freude, die keine Unterschiede kannte und jeden so annahm wie er war, egal woher er kam und wie er hieß. Die Freude, die jedem ein Lächeln herauslockte und ihn in eine helle Zukunft blicken ließ. Die Freude, für die es sich lohnte nie aufzugeben, egal, was auf einen zukam. Jeder kannte sie. Die Freude des Lebens… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)