Froschhüpfer von Yosephia (Wie man zu einer Familie kommt) ================================================================================ Hüpfe sechsmal – und rette die Kinder ------------------------------------- Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen. Isaac Asimov „Ist gestern noch etwas Besonderes passiert?“ Aus seinen Gedanken gerissen blickte Sting Yukino an, die ihn mit einem seltsamen Funkeln in den Augen von der Seite betrachtete, während sie dem matschigen Weg folgten, der zum Waisenhaus führte. Auf ihren Wangen war eine Röte zu erkennen, die ein wenig zu intensiv war, um von der Kälte herzurühren, aber ihre Lippen umspielte ein ahnungsvolles Grinsen. So erinnerte sie ihn beinahe ein wenig an Minerva, nur dass diese wahrscheinlich weniger subtil gefragt hätte. Sting hatte jedoch viel zu gute Laune, um sich davon auch nur im Ansatz in Verlegenheit stürzen zu lassen. Die gestrige Nacht mit Rogue war unglaublich gewesen. Sie waren Beide schier unersättlich gewesen, hatten einfach nicht voneinander ablassen können. Eng umschlungen waren sie irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen und in derselben Position waren sie heute Morgen aufgewacht, so erholt und zufrieden wie schon lange nicht mehr. Sie waren gewiss nicht sexgeil, aber diese Nacht hatten sie eindeutig dringend gebracht. Es hatte ihnen mehr als nur gut getan, sich mal nur aufeinander zu konzentrieren. In dieser Nacht war alles einfach und schön und berauschend gewesen. Keine Ängste, keine Sorgen, kein Ärger. Es hatte nur sie Zwei gegeben und ihre tiefen, vibrierenden Gefühle füreinander! Jetzt fühlte Sting sich wieder beschwingt und zuversichtlich. Sie würden es schaffen, die Kinder zu adoptieren, immerhin waren es ihre Kinder und sie konnten sich dabei voll und ganz auf ihre Freunde verlassen – und darauf, dass diese auf sie aufpassten, selbst wenn sie sie nicht darum baten. Wegen des Auftritts gestern hatte Sting heute frei gehabt. Die psychologische Beurteilung am Vormittag war zu Stings Überraschung recht entspannt verlaufen. Der Psychologe namens Mikuni Shin hatte Sting bei weitem nicht so nervtötend und herablassend behandelt wie vor drei Wochen Michello und er hatte sich auch mit einem freundlichen Lächeln verabschiedet. Sting entschied, das einfach als gutes Zeichen zu betrachten. Den freien Mittag hatte er genutzt, um nach weiteren Wohnungen zu suchen. Zwei interessante hatte er auch tatsächlich gefunden und die Anzeigen für Rogue auf den Schreibtisch gelegt, ehe er aufgebrochen war, um sich mit Yukino zu treffen. Wie er sie per SMS gebeten hatte, hatte sie eine Schachtel dabei, aus der es verführerisch duftete. Lector und Frosch würden sich unter Garantie riesig freuen. Sting freute sich selbst schon darauf, seinen eigenen Muffin zu verdrücken. Yukinos Backkünste waren schon legendär unter ihren Freunden gewesen, als sie noch gar nicht ihre Ausbildung zur Konditorin angefangen hatte! Als sie in die Straße einbogen, in der das Waisenhaus lag, stutzte Sting. Normalerweise warteten die Kinder immer vor der Tür, überwacht von einer der immer-mürrischen Erzieherinnen. Nur bei Regen hatten die Erzieherinnen sie drin behalten. Heute waren die Kinder jedoch trotz des trockenen Wetters und der eher milden Temperaturen nicht zu sehen. Sting beschlich ein ungutes Gefühl und unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Das Lächeln wich aus Yukinos Gesicht, als sie den Stimmungsumschwung bemerkte, und sie beeilte sich, dem Blonden zu folgen. Mit langen Schritten folgte er dem kurzen, gepflasterten Weg zwischen Zaun und Eingangstür und klopfte laut gegen die Tür. Zuerst tat sich nichts und er klopfte noch mal, lauter dieses Mal. Das ungute Gefühl wurde stärker und auch Yukino schien nervös zu werden, denn sie hielt den Klingelknopf neben der Tür unnötig lange gedrückt. Schließlich wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet und Sting erkannte das Gesicht eben jener unfreundlichen Erzieherin, die damals die Kinder in Empfang genommen hatte, als Sting und Rogue sie zurück ins Heim gebracht hatten. Ihre Miene war genauso finster wie sonst, aber in ihrem Blick lag auch Beunruhigung und noch ehe sie den Mund aufmachte, wusste Sting bereits, dass sie log. „Die Kinder können heute nicht mit Ihnen spielen, sie sind krank.“ „Beide gleichzeitig?“, fragte Yukino mit einem zutiefst skeptischen Stirnrunzeln, das keinen Zweifel daran ließ, dass sie der Frau auch nicht glaubte. „Es sind Kinder, so etwas kann schnell über Nacht kommen und die Beiden glucken ja immer aufeinander“, erklärte die Frau und machte bereits Anstalten, die Tür wieder zu schließen. „Sie können in ein paar Tagen wieder kommen.“ Gleichzeitig machten Sting und Yukino einen Schritt nach vorn und hielten so die Tür auf. Die Beunruhigung im Blick der Frau wuchs und Sting schlug das Herz bis zum Hals. „Wo sind meine Kinder“, fragte er mühsam beherrscht. „Ich will sie sofort sehen!“ „Dazu haben Sie keinerlei Recht“, empörte sich die Frau aggressiv. Ohne weiter auf sie zu achten, schob Sting sich an ihr vorbei, Yukino folgte ihm auf dem Fuße. Suchend sah er sich im Eingangsbereich um. Geradeaus befand sich eine Treppe, rechts ging es in den Verwaltungstrakt mit dem Besucherzimmer, wie er bereits wusste, und aufgrund des Essensgeruchs vermutete er, dass links der Speisesaal lag. Kurzerhand strebte er die Treppe an. „Verschwinden Sie auf der Stelle oder ich rufe die Polizei!“, rief die Erzieherin. „Ich gehe nicht eher, ehe ich nicht meine Kinder gesehen habe!“, fauchte Sting sie an und erklomm die Treppe, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm und immer wieder nach Lector und Frosch rief. Yukino und die mittlerweile beinahe hysterische Erzieherin eilten ihm hinterher. Im ersten Stock stellte sich ihm eine andere Erzieherin in den Weg, die er auch schon vom Sehen kannte. Er hatte keine Ahnung, wie sie und ihre Kollegin hießen. Das hatte ihn nie gekümmert. Mit solchen Leuten wollte er keine Bekanntschaft pflegen. „Sting!“ Froschs schrille Stimme ließ Sting zusammen zucken. Die Panik darin schnitt ihm tief ins Herz. Mit schmerzhaft hämmerndem Herzen blickte er nach links und rechts. „Dort kam der Ruf her“, sagte Yukino, ihr Gesicht bleich vor Sorge, als sie an Sting vorbei in den linken Gang einbog. Die zweite Erzieherin stellte sich ihnen bei der Feuerschutztür in den Weg. „Die Kinder sind hier nicht.“ „Wo sind sie dann?“, fragte Yukino unnachgiebig. „Sie dürfen sie nicht sehen.“ „Sting!“ Nichts und niemand mehr konnte Sting halten, als er den Schrei seiner Tochter und das verzweifelte Trommeln ihrer winzigen Fäuste an einer Tür hörte. Er schob sich grob an der Erzieherin vorbei und eilte den Gang entlang bis zu der Tür, hinter der er immer noch Froschs Trommeln hören konnte. Als er die Klinke herunterdrückte, begriff er, dass die Tür abgeschlossen war. Diese Hexen hatten seine Kinder eingesperrt! „Frosch, ich bin hier! Ich hole euch da raus!“, rief er durch die Tür. Dahinter erklang ein verzweifeltes Jammern. Sting meinte, das Wort Lector zu verstehen, und ihm wurde beinahe übel vor Angst. Er wirbelte herum und starrte die beiden Erzieherinnen an. „Schließen Sie sofort diese Tür auf oder ich trete sie ein!“, fauchte er. „Sie können uns hier gar nichts befehlen“, zischte die erste Erzieherin, aber ihr Blick zuckte immer wieder ängstlich zu der Tür. „Schließen Sie diese Tür auf!“, brüllte Sting aus Leibeskräften. Beide Erzieherinnen wichen vor Angst einen Schritt vor ihm zurück, aber das war ihm vollkommen egal. „Geben Sie mir sofort den Schlüssel oder ich rufe die Polizei“, sagte Yukino mit so harter Miene, wie Sting es vorher noch nie bei ihr gesehen hatte, und hob warnend ihr Handy. Die Erzieherinnen wechselten einen beklommenen Blick, dann knickte die zweite ein und zog ihren Schlüsselbund hervor. Yukino riss ihn ihr sofort aus der Hand und war mit wenigen Schritten neben Sting. Sie musste fünf Schlüssel ausprobieren, bis sie den richtigen fand. Die ganze Zeit war Froschs Weinen und Jammern zu hören. Als die Tür geöffnet wurde, stolperte das Mädchen heraus. Gerade noch rechtzeitig konnte Yukino in die Knie gehen und sie auffangen. Sting ging neben ihnen in die Hocke und zog seine Tochter in seine Arme. Schluchzend schlang sie die winzigen Arme um seinen Hals und die Beine um seine Hüfte. „Frosch, wo ist Lec-“ Yukinos Keuchen ließ Sting aufblicken. Ihm wurde speiübel. Lector saß auf der Kante eines schmalen Betts, noch in einen hässlichen Einheitspyjama gekleidet, den Blick auf Froschi in seinen Händen gerichtet. Der Kopf des Plüschtiers war halb abgerissen und der Junge hielt es so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Grund für Yukinos Keuchen war allerdings Lectors Gesicht: Die gesamte linke Gesichtshälfte schien ein einziger Bluterguss zu sein… „DAS SIND KINDER!!!“, schrie Yukino aus Leibeskräften und wirbelte zu den Erzieherinnen herum. „Das sind kleine, wehrlose Kinder!!! Wie tief kann man eigentlich sinken, Kinder zu schlagen?! Haben Sie überhaupt kein Schamgefühl?!“ Sting hörte gar nicht mehr, was seine Freundin noch alles schrie. Er fühlte sich wie gelähmt, als er vor seinem Sohn in die Hocke ging. Vom Nahen sah der Bluterguss noch tausendmal schlimmer aus. Die linke Augenbraue war aufgeplatzt und ein getrocknetes Blutrinnsal zog sich von dort aus über die Schläfe und bis zur Wange hinunter. Am schlimmsten war jedoch die bodenlose Angst in Lectors Augen, die extrem geweitet und ins Leere gerichtet waren. Der Junge stand unter Schock, begriff Sting. Nie zuvor in seinem Leben hatte Sting sich so schrecklich gefühlt. Er hatte den Kindern so oft versprochen, dass er sie beschützen würde – dass er verhindern würde, dass ihnen jemals wieder jemand weh tat. Er hatte geschworen, seine Kinder zu beschützen! „Lector“, krächzte er verzweifelt und hob die Rechte, um sie vorsichtig auf die Schulter seines Sohnes zu legen, während er mit der Linken noch immer Frosch fest an sich drückte. Lector zuckte zuerst bei der Berührung zusammen – für Sting fühlte es sich an, als würde ihm jemand einen Dolch ins Herz rammen –, doch dann trat Erkennen in seinen Blick. Tränen sammelten sich in den Augen und schon im nächsten Moment hielt Sting auch Lector im Arm. Selbst mit brennenden Augen drückte Sting sein Gesicht in Lectors Haare. Ihm lagen tausende Entschuldigungen auf der Zunge, aber er sprach keine einzige davon aus. Schon in seinen eigenen Gedanken klangen sie vollkommen bedeutungslos. Er hatte sein Versprechen gebrochen! Erst als Yukino ihm eine Hand auf die Schulter legte, hob er den Blick. Die maßlose Wut in ihren braunen Augen war noch nicht herunter gekühlt, aber jetzt herrschte Sorge vor. „Lass’ uns die Kinder schnell ins Krankenhaus bringen, ich habe ein Taxi gerufen.“ Wortlos nickte der Blonde und stand mit beiden Kindern auf. Als Froschi dabei runter fiel, ging Yukino rasch in die Knie und hob das Kuscheltier auf. Sie ging voraus und die Erzieherinnen wichen vor ihr zurück, keine von ihnen erhob noch irgendeinen Protest. Eine von ihnen hatte Kuchenkrümel und Schokocreme im Gesicht und am Boden lag die Packung mit den Muffins, die Yukino mitgebracht hatte. Sting ignorierte sie alle, er hielt einfach nur seine Kinder fest an sich gedrückt. Selbst als er ins Taxi stieg, ließ er Lector und Frosch nicht los, obwohl es das nicht gerade einfacher machte. „Ruf’ Rogue an“, bat er Yukino krächzend, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. „Er muss es wissen…“ Zitternd vergrub er wieder das Gesicht in Lectors Haaren. Seit er den Jungen in den Armen hielt, hatte dieser nicht aufgehört, zu zittern. Stings Brust schmerzte und durch seinen Kopf echote nur ein einziger Gedanke: Er hatte versagt… Einen sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache. Marcus Tullius Cicero Bereits als er gesehen hatte, wie Rufus die Bibliothek betreten hatte, hatte Rogue gewusst, dass etwas nicht stimmte. Sein alter Schulfreund hatte ihn nicht einmal angesehen, sondern war sofort weiter zu Org gegangen und hatte eindringlich mit diesem gesprochen. Der alte Bibliotheksdirektor hatte mehrmals besorgt in Rogues Richtung geblickt und dann ruckartig genickt. Erst dann war Rufus zu Rogues Schalter gekommen. „Pack’ deine Sachen, Sting ist mit den Kindern im Krankenhaus“, hatte er nur gesagt. Rogue konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor etwas Schlimmeres gehört zu haben. Nur vage erinnerte er sich daran, wie Rufus ihm die Hälfte seiner Sachen hinterher getragen und ihn zu seinem Auto dirigiert hatte, das er schief und im Halteverbot geparkt hatte. Rufus hatte ihn auf den Beifahrersitz gedrückt und sich hinters Lenkrad gesetzt. Während der Fahrt waren tausend Horrorszenarien durch Rogues Kopf gegeistert, obwohl Rufus ihm versichert hatte, dass weder Sting noch die Kinder lebensgefährlich verletzt oder erkrankt seien. Als sie das Krankenhaus erreichten, sprang Rogue bereits aus dem Wagen, als dieser noch ausrollte. Nach mehreren Beinahekollisionen mit Besuchern und Patienten erreichte er das Foyer und sah sich ruckartig um, sein Atem ging nur stoßweise und sein Brustkorb tat richtig weh, so heftig klopfte sein Herz. Ein Klopfen auf seiner Schulter ließ ihn herum fahren. Hinter ihm stand sein Vater mit todernster Miene, er trug noch seinen Anzug von der Arbeit, nur die Krawatte hatte er gelockert. „Hier lang“, sagte er nur und strebte auf den Korridor zur Rechten zu. Rogue war zu benommen, um auch nur nachzufragen, warum sein Vater hier war. Er folgte ihm einfach nur den Korridor entlang und dann zwei Treppen hoch, dann wieder einen Korridor entlang bis zu einem verglasten Wartezimmer, wo Weißlogia, Minerva und Yukino standen und mit Belno sprachen. Ihre Mienen waren genauso ernst wie Skiadrums und Rufus’, Yukino gestikulierte immer wieder hektisch und zitterte am ganzen Körper. „Diese Monster gehören eingesperrt!“, rief sie gerade mit schriller Stimme, als Rogue von seinem Vater an der Tür des Wartezimmers vorbei geführt wurde. Zwei Räume weiter öffnete Skiadrum eine Tür und nickte seinen Sohn hinein. Drinnen saß Sting auf einem Kinderkrankenbett und hielt Lector im Arm, dessen linke Gesichtshälfte violett und blau schillerte, an der Augenbraue hatte der Junge ein Pflaster. „Rogue!“ Der Schwarzhaarige wirbelte nach rechts, wo Orga mit Frosch stand, deren schwarze Augen vom vielen Weinen geschwollen waren. Mit zwei Schritten war Rogue bei seinem Freund und nahm ihm das Mädchen ab, das seine Arme nach ihm ausgestreckt hatte. Der winzige Körper zitterte haltlos und Schluchzer drangen an Rogues Ohren. Selbst zitternd drückte er seine Tochter an sich und strich ihr durch die grünen Haare. Langsam ging er zum Bett und ließ sich neben seinem Partner nieder. Als Sting aufblickte, erkannte Rogue, dass seine Augen gerötet waren und gepeinigt flackerten. Der Schwarzhaarige wusste sich nicht anders zu helfen, als seinem Freund einen Kuss auf die Stirn zu hauchen, ehe er vorsichtig durch Lectors Haare strich. Der Junge zuckte zuerst zusammen und blickte nur vorsichtig, beinahe ängstlich hoch, doch als er Rogue erkannte, entspannte er sich wieder und klammerte sich sofort mit einer Hand an Rogues Pullover. Vor ihnen ging Skiadrum in die Hocke. Natürlich wusste er schon längst darüber Bescheid, dass er bald Großvater sein würde. Rogue hatte ihm bereits alles erzählt, aber bisher hatte es sich nie ergeben, dass Skiadrum seine Enkelkinder kennen lernte. So hatte Rogue sich das erste Treffen der Drei wirklich nicht vorgestellt. „Yukino hat uns alle zusammen getrommelt“, erklärte Skiadrum ruhig. „Nach allem, was Frosch uns erzählt hat, wollte die Erzieherin ihr zur Strafe fürs Bettnässen den Plüschfrosch weg nehmen. Als Lector sich eingemischt hat, wurde er geschlagen. Die Erzieherinnen wollten es vor Sting und Yukino verbergen, aber die Beiden haben sie gezwungen, die Kinder frei zu lassen, und haben sie hierher mitgenommen. Es wurde bereits ein MRT gemacht. Lector geht es… gut.“ Unter gut verstand Rogue etwas völlig anderes, aber er begriff, was sein Vater meinte. Ein Schlag, der so einen schlimmen Bluterguss verursachte, hätte noch viel schlimmere Folgen nach sich ziehen können. Ein Schädelhirntrauma oder… nein, in diese Richtung wollte Rogue wirklich nicht weiter denken. „Danke“, murmelte Rogue dumpf und hob den Blick, um auch Orga zunicken zu können, der wie ein Wächter neben der Tür stand, in seinen Augen mühsam beherrschte Wut lodernd. Rogue war viel zu benommen, um wütend sein zu können. Seine vorherrschenden Gefühle waren Sorge und Dankbarkeit, weil seinem Sohn nichts Schlimmeres passiert war. Die Tür ging wieder auf und Belno betrat den Raum, hinter ihr Weißlogia, Minerva, Yukino und Rufus. Minerva hatte Yukino die Hände auf die zitternden Schultern gelegt. In ihren Händen hielt die Weißhaarige Froschi. Belno hatte die Lippen fest zusammen gepresst und ihre Miene war extrem angespannt. „Was da passiert ist, ist absolut inakzeptabel. Ich werde ein Disziplinarverfahren gegen die Erzieherinnen in Gang setzen. Die gesamte Belegschaft des Heims muss sich für das verantworten, was mit Lector und Frosch passiert ist“, erklärte die Frau mit mühsam ruhiger Stimme. „Die Frau, die Lector geschlagen hat, wird nie wieder auch nur in die Nähe eines Kindes kommen, dafür werde ich höchst persönlich Sorge tragen.“ Das machte auch nicht wieder ungeschehen, was dem Jungen widerfahren war, aber Rogue sagte nichts dazu, sondern wischte nur behutsam neue Tränen von Froschs Wangen. „Was Lector und Frosch betrifft… erhalten Sie die befristete Pflegschaft für die Beiden.“ Zum ersten Mal regte Sting sich. Seine Arme schlangen sich etwas fester um Lector und er blickte über dessen Kopf hinweg zu der alten Dame vom Jugendamt. „Wir können sie mit uns nehmen?“ Belno nickte ernst. „Es wäre nicht zu verantworten, die Kinder jetzt zu fremden Pflegeeltern oder gar in ein anderes Heim zu schicken. Es ist offensichtlich, dass Lector und Frosch ein Vertrauensverhältnis zu Ihnen aufgebaut haben. Doktor Shin hat das bei seinem ersten Gespräch mit den Beiden auch schon bestätigt. Sobald Doktor Marvell also das Okay gibt, können Sie Lector mit nach Hause nehmen.“ „Danke“, sagte Rogue benommen. Sie durften ihre Kinder mit nach Hause nehmen! Mochte die Pflegschaft befristet sein und mochten daran noch so viele neue Auflagen hängen, Lector und Frosch mussten nicht zurück ins Heim – und Rogue würde sich lieber strafbar machen, als die Beiden jemals wieder dorthin zu lassen! „Vielen Dank, dass Sie so schnell her kommen konnten“, ergriff Skiadrum das Wort, der sich aufgerichtet und seinem Sohn eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Es war gut, dass Sie mich so schnell kontaktiert haben“, erwiderte Belno und nickte Yukino anerkennend zu, die Froschi mittlerweile an ihre Brust drückte. Minervas Hände ruhten noch immer auf ihren schmalen Schultern. Nachdem Belno sich verabschiedet hatte, wandte Yukino sich schuldbewusst an Rogue. „Es tut mir Leid, dass du es als Letzter erfahren hast. Sting wollte, dass du sofort Bescheid weißt, aber ich wollte nicht, dass du alleine durch die Stadt rennst oder fährst, und dann musste ich so viele Leute anrufen und…“ „Ich habe nichts gesagt“, erwiderte Rogue und rang sich zu einem Lächeln durch. Er fühlte sich noch immer zittrig, aber die Geste war sehr ernst gemeint. Ohne die Besonnenheit der Weißhaarigen hätte Sting sich womöglich jede Menge Ärger einhandeln können, als er die Kinder gegen den Willen der Erzieherinnen hierher gebracht hatte. „Danke, Yukino.“ Er blickte in die Runde seiner Freunde, die alles stehen und liegen gelassen haben mussten, um so schnell wie möglich hierher zu kommen. „Danke Leute.“ Sting neben ihm sagte nichts und als Rogue ihn von der Seite musterte, fiel ihm auf, wie tief die Schultern hingen und wie verbittert die fein gemeißelten Gesichtszüge waren. Hier und jetzt wollte er seinen Partner allerdings nicht darauf ansprechen, daher drehte er sich in die andere Richtung, um zu seinem Vater aufzublicken. „Kannst du uns nach Hause bringen?“ „Das erledigt Weiß, der ist mit seinem Transporter da“, erwiderte Skiadrum. Minerva schnaubte leise. „Ihr werdet andauernd mit Transportern gefahren. Scheint wohl eure Familientradition zu sein.“ „Es gibt Schlimmeres“, meinte Weißlogia leichthin, aber Rogue entging nicht, dass der Hundetrainer seinen Sohn mit einem besorgten Blick bedachte. Allerdings schien er auch entschieden zu haben, Sting in Ruhe zu lassen, und drehte sich zur Tür um. „Ich gehe mal nach Dine suchen. Wahrscheinlich rettet sie gerade mal wieder zehn Kinder gleichzeitig.“ „Ich komme mit“, sagte Skiadrum und klopfte seinem Sohn zum Abschied auf die Schulter. Das wissende Grinsen seines besten Freundes ignorierte er gekonnt. „Ich melde mich demnächst bei euch, passt bis dahin auf euch auf.“ Auch Orga und Rufus verabschiedeten sich. Rufus steckte mitten in einem heiklen Programmierprojekt und Orga hatte eigentlich Dienst und seine Pausenzeit schon um eine Stunde überspannt. Mit einem festen Handschlag bedankte Rogue sich bei ihnen und nahm einigermaßen verlegen seine Tasche und seine Jacke von Rufus entgegen. „Ich muss noch kurz etwas erledigen“, sagte Minerva und zückte ihr Handy, während sie den Raum verließ. Als nur noch Yukino bei ihnen im Raum war, begann Frosch auf Rogues Schoß zu zappeln. Er ließ sie zu Boden gleiten und sie ging zu Yukino, die sofort in die Hocke ging und ihr mit einem traurigen Lächeln Froschi reichte. Das Mädchen schniefte, als es den tiefen Riss im Stoff des Kuscheltiers betrachtete, aber es brach nicht wieder in Tränen aus. Rogue nahm sich fest vor, Froschi so schnell wie möglich zu seiner Cousine Juvia zu bringen. Die würde das sicher so gut reparieren können, dass danach nichts mehr von dem Riss zu sehen war. „Danke, Tante Yu“, flüsterte Frosch und schlang die kleinen Arme um den Hals der Weißhaarigen. Deren braune Augen waren verdächtig glasig und erst jetzt fiel Rogue auf, wie erschöpft sie wirkte und wie sehr ihre Hände zitterten. „Tante Yu hat die Hexen in die Flucht geschlagen“, sagte Lector leise und blickte voll glühender Bewunderung zu der Weißhaarigen. „Sie hat ganz laut geschrien.“ „Ich habe die Beherrschung verloren“, nuschelte Yukino verlegen, aber eine gehörige Restwut glomm in ihren Augen auf. „Sting war derjenige, der sich sofort um die Kinder gekümmert hat.“ Der Blonde schrumpfte noch etwas mehr in sich zusammen und Rogue runzelte die Stirn. Sobald sie Zuhause und die Kinder versorgt waren, musste er das wirklich klären! Die Tür wurde wieder geöffnet und Weißlogia steckte den Kopf herein. „Wir haben grünes Licht von Grandine, aber sie will Lector morgen noch mal untersuchen und wenn er sich erbricht, müsst ihr sofort herkommen. Das MRT hat zwar nichts ergeben, aber in den nächsten Tagen müsst ihr dennoch vorsichtig sein.“ Mit einem erleichterten Nicken stand Rogue auf und Lector rutschte von Stings Schoß, hielt sich jedoch sofort wieder an dessen Hand fest. Yukino hob Frosch in die Höhe und so verließen sie das Zimmer. Auf dem Korridor erwartete Minerva sie und wandte sich sofort an Weißlogia. „Setzt du Yukino unterwegs bitte am Kitchen ab? Loke wartet dort.“ „Aber Loke hat doch heute Schicht“, protestierte Yukino entrüstet. „Er hat getauscht“, winkte Minerva leichthin ab. „Musst du eigentlich nirgendwohin?“, fragte Rogue, der schon ahnte, dass Loke seine Schicht getauscht hatte, weil Minerva ihn darum gebeten hatte. Insgeheim gab er ihr Recht damit. Yukino brauchte jetzt jemanden, der sie beruhigte. „Hast du keinen Dienst heute?“ „Ich hatte Frühdienst, aber weg muss ich tatsächlich, ich habe mein Date sitzen lassen“, antwortete Minerva freimütig. Diese Neuigkeit riss sogar Sting aus seiner Lethargie. „Ein Date? Mit Laxus?“ „Fragt ihn doch“, war die hoheitsvolle Antwort, ehe Minerva sich an Yukino wandte, um Froschs Haare zu zausen. „Pass’ gut auf die Jungs auf, ja? Die brauchen Frauenunterstützung.“ „Frosch denkt auch!“, stimmte das Mädchen treuherzig zu, was Minerva wieder einmal dieses weiche Lächeln entlockte. Sie hockte sich hin und hielt Lector die Hand für ein High Five hin. „Und du wirst schnell wieder gesund, ja? Sobald es dir wieder gut geht, lade ich dich auf den besten Hamburger der Stadt ein.“ „Au ja!“, freute der Junge sich und schlug mit leuchtenden Augen ein. Als sie vor dem Zodiac Kitchen hielten, wartete Loke bereits mit seinem Motorrad und zwei Helmen davor. Er drückte Rogue zwei Tüten mit je zwei Schachteln mit den Worten „Mit besten Grüßen von Minerva“ in die Hände, ehe er einen Arm um seine Freundin schlang. Erleichtert bemerkte Rogue, wie diese sich endlich richtig entspannte. Loke würde sich gut um sie kümmern. Eine Sorge weniger, sehr gut. Vom Restaurant aus brachte Weißlogia sie direkt nach Hause. Er klopfte seinem Sohn zum Abschied auf die Schulter und tauschte einen besorgten Blick mit Rogue, sagte jedoch nichts, wofür dieser ihm dankbar war. Die Kinder beruhigten sich endlich etwas und wurden wieder fröhlich, Rogue wollte nicht, dass sie sich gleich wieder aufregten. In der Wohnung angekommen, widmeten sie sich zuerst dem Essen, das Loke für sie eingepackt hatte. Es war fantastisch wie immer. Das Zodiac Kitchen war nicht umsonst ein Fünf-Sterne-Restaurant. Vor allem Lector aß mit großem Appetit, was Rogue als ein weiteres gutes Zeichen betreffend seinen Gesundheitszustand wertete. Wie in den wenigen Tagen, als die Kinder bei ihnen gewesen waren, brachte Rogue sie auch dieses Mal nach dem Essen ins Badezimmer, wo er sie wusch, während Sting im Wohnzimmer alles für sie vorbereitete und dann saubere Sachen für die Kinder heraus suchte. Als die Kinder sauber und frisch angezogen waren, krochen sie freiwillig auf das Schlafsofa. Selig scharte Frosch ihre Plüschtiere um sich und kuschelte sich an Lector, der verlegen schnaufte, aber einen Arm um sie legte, während er im anderen Arm seinen Plüschwolf hielt, der in den vergangenen drei Wochen geduldig auf der Couch auf ihn gewartet hatte. Erst als er endlich mit Sting alleine im Schlafzimmer war, wandte Rogue das Wort an seinen Freund, der sich mit mechanischen Bewegungen umzog. „Sting, was ist mit dir los? Die Kinder sind endlich wieder bei uns und Lector wird wieder gesund.“ „Nichts“, wehrte Sting halbherzig ab und drehte Rogue den Rücken zu. Dem platzte endgültig der Kragen. Er schlug die Schranktür vor der Nase seines Freundes wieder zu und zwang den Blonden, sich herum zu drehen. „Rede mit mir!“, fauchte er. „Ich bin doch nicht blind, Sting! Den Anderen ist es auch aufgefallen. Wenn du es ihnen nicht sagen willst, ist das deine Entscheidung, aber du wirst mich nicht anschweigen!“ Sting biss sich auf die Unterlippe, sagte jedoch nichts, sondern starrte nur zu Boden. Nur mit äußerster Mühe konnte Rogue sich davon abhalten, ihn ordentlich durchzuschütteln. Stattdessen packte er das Kinn seines Freundes und drückte es nach oben, um ihn so zu dazu zu zwingen, ihn anzusehen. Zuerst kämpfte Sting dagegen an, aber dann gab er nach und sah Rogue endlich direkt in die Augen. In dem tiefen Blau erkannte Rogue heftige Schuldgefühle, ja, beinahe Selbstverachtung. „Es hätte nie so weit kommen dürfen“, stieß Sting mit belegter Stimme hervor. „Ich hatte Lector und Frosch versprochen, dass ihnen niemand mehr weh tun würde!“ Jetzt endlich begriff Rogue es richtig. Seufzend nahm er das Gesicht des Blonden in beide Hände und strich mit den Daumen behutsam über die Wangen, während er eindringlich in die blauen Augen blickte. „Das war nicht deine Schuld, Sting. Wir mussten die Kinder zurück dorthin bringen, sonst hätten wir unsere Chancen verspielt, sie adoptieren zu können. Diese widerlichen Frauen haben den Beruf verfehlt, daran trägst du aber keine Schuld.“ „Aber ich hatte es Lector versprochen“, krächzte Sting und erzitterte heftig. „Und er macht dir nicht den geringsten Vorwurf“, erwiderte Rogue mit sanfter Stimme. „Er hat dich im Krankenhaus nicht eine Sekunde lang losgelassen und weißt du, warum? Weil er dir vertraut. Er weiß, wer ihm das angetan hat – und das warst weder direkt noch indirekt du!“ Sting blinzelte heftig und dann löste sich eine Träne und rann über die linke Wange. Behutsam wischte Rogue sie fort. „Wir sind die Väter der Beiden, aber das macht uns nicht allmächtig oder allwissend. Wichtig ist, dass wir dann für sie da sind, wenn sie uns brauchen, und das warst du. Du hast dich nicht abwimmeln lassen, sondern unsere Kinder befreit. Darauf kommt es an. So sehe ich das und so sehen das auch die Kinder. Sie vertrauen dir und sie lieben dich.“ Mittlerweile liefen die Tränen in Strömen über das Gesicht des Blonden und sein gesamter Körper erzitterte heftig. Rogue unternahm keinen Versuch, die Tränen einzudämmen, er schlang lediglich die Arme um seinen Freund und zog ihn so zum Bett. Er hielt ihn die ganze Zeit fest, während Sting seinen überschäumenden Gefühlen Luft machte, bis er seiner Erschöpfung erlag und einschlief. Das Knarren der Tür ließ Rogue schließlich den Blick vom Gesicht seines Freundes heben. Im Türspalt standen Lector und Frosch, jeder mit seinem Lieblingsplüschtier ausgestattet. Den freien Arm hatte Lector um seine kleine Freundin gelegt, um sie daran zu hindern, den Raum zu betreten. „Geht es Sting nicht gut?“, flüsterte er ängstlich. „Doch, jetzt geht es ihm wieder gut. Er hatte nur große Angst um euch“, erklärte Rogue und winkte die Kinder zu sich. Erleichtert folgten sie der Einladung und krochen auf das Bett. Der Schwarzhaarige legte sich direkt hinter seinen Freund, Frosch kuschelte sich an dessen Bauch und Lector legte sich hinter sie. Als Rogue den Arm ausstreckte, konnte er ihn um seine gesamte Familie legen. Zärtlich strich er erst durch Lectors, dann durch Froschs Haare, während er das Gesicht in Stings Haaren vergrub. Er blieb noch so lange wach, bis sich zu Stings ruhigen Atemzügen auch die der Kinder dazu gesellt hatten, dann gab er den Kampf gegen seine eigene Erschöpfung auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)