Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 11: Die Nacht, in der sie auf der Flucht war ---------------------------------------------------- 9 Tage vor der Opferung Zitternd strich Lucy über die Blässe des Apfelschimmels, flüsterte dem Tier Beruhigungen zu, während es immer wieder versuchte, auf die Beine zu kommen. Mit der medizinischen Versorgung von Tieren kannte Lucy sich noch viel weniger aus als mit der von Menschen, aber ihr war schon seit Minuten klar, dass es für den treuen Hengst keine Rettung gab. Bei dem Sturz, der Lucy aus dem Sattel und in das Geäst einer Eiche befördert hatte, hatte er sich gleich beide Vorderbeine gebrochen. „Es tut mir Leid“, krächzte Lucy schwach. „So Leid… Bitte vergib mir, dass ich dir nicht helfen kann…“ Das Tier wieherte gequält. Lucy trieb es die Tränen in die Augen, als sie einen langen Dolch an die Kehle des Pferdes setzte. „Bitte verzeih’ mir“, wimmerte sie wieder und stach die Waffe bis zum Heft in die weiche Haut. Der muskulöse Körper bäumte sich auf, der Dolch glitt aus Lucys schwachen Fingern und dann spritzte das Pferdeblut auf ihr Gesicht und ihr Wams. Das Tier zuckte heftig und Lucy musste zurückweichen. Sie wusste, dass sie eigentlich ihre Flucht fortsetzen musste, aber sie harrte knapp außer Reichweite des Pferdes aus, bis es sich nicht mehr rührte. Zitternd kroch sie danach zurück und schloss die leeren Augen, ehe sie ihren blutbesudelten Dolch im Gras abwischte und zurück in die Scheide an ihrem Gürtel steckte. Erst dann brachte sie es über sich, wieder aufzustehen und den Blick zum Himmel zu erheben, um sich anhand der Sterne zu orientieren. Doch sie konnte keinen einzigen Stern ausmachen. Es war bewölkt und erst jetzt begriff Lucy, dass es nicht nur Tränen waren, die über ihre Wangen liefen und das Pferdeblut abspülten. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das würde es Loke viel schwerer machen, sie wieder zu finden, und ihr blieb keine andere Wahl, als ziellos weiter zu laufen. Da sie nicht wusste, wer die Angreifer waren, woher sie kamen und was sie überhaupt für Absichten hatten, hatte sie ohnehin keinen Anhaltspunkt für eine sichere Fluchtrichtung. Ihr blieb einzig und allein die Wahl, sich irgendwo zu verstecken oder weiter zu laufen. Obwohl sie sich nach dem stundenlangen Gewaltritt, der ihrem Pferd das Leben gekostet hatte, schrecklich zerschunden fühlte, entschied sie sich für letzteres. Jetzt in einem Versteck zu hocken, würde ihr keinerlei Erholung bringen. Ihre Gedanken jagten einander. Immer wieder fragte sie sich, wo ihre Freunde wohl waren und ob es ihnen gut ging. Natürlich wusste sie, dass die vier Geister eben dank ihrer Veranlagungen wehrhafter waren als sie selbst, aber sie kam einfach nicht von ihrer Sorge um ihre Getreuen los. Und dann kreisten ihre Gedanken wieder um die Fragen nach den Angreifern. Die wildesten Theorien jagten einander in ihrem Kopf, eine haltloser als die nächste. Das viele ergebnislose Denken bescherte der Blonden pochende Kopfschmerzen, die von den Schritten auf dem unregelmäßigen Waldboden immer schlimmer wurden. Dennoch quälte Lucy ihren matten Gliedern weitere Schritte ab. Immer wieder stolperte sie im Dunkeln über Baumwurzeln und –stümpfe, über heruntergefallene Äste und über Steine oder rutschte auf nassem Gras aus. Geminis Langschwert hing immer schwerer und klobiger an ihrer Hüfte und ihr Umhang, der sie kaum vor dem stetig prasselnden Regen zu schützen vermochte, verhedderte sich immer wieder in Büschen. Mehrmals blieb Lucy stehen und legte mit geöffneten Lippen den Kopf in den Nacken, um ihre trockene Kehle zu benetzen, aber sie wagte es nicht, lange stehen zu bleiben. Noch immer trieb die Angst sie an und nun kroch auch noch die Kälte in ihre Glieder. Als einziger Schutz blieb ihr, weiter zu gehen. Stunde um Stunde schleppte sie sich weiter. Die ganze Zeit regnete es. Lucy war völlig durchnässt und auch ihre gut verarbeiteten Stiefel boten keinen Schutz mehr. Das Leder scheuerte unangenehm an ihren Waden und ihre linke Hacke schmerzte mit der Zeit so sehr, dass Lucy nicht mehr richtig auftreten konnte. Mit dem ersten Dämmerlicht nahm der Regen noch einmal zu und die Bäume standen immer dichter beisammen, sodass Lucy sich immer wieder seitwärts durch die Lücken schlängeln oder Umwege laufen musste. Sie versuchte, immer geradeaus zu laufen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie gnadenlos daran scheiterte. Ohne strikte Orientierung waren Menschen gar nicht dazu in der Lage, eine gerade Linie zu laufen, das hatte sie bereits vor vielen Jahren in Meister Capricorns Wildnis-Unterricht im Kargland gelernt. Als es langsam heller wurde, ließ auch endlich der Regen nach. Erleichtert schlug Lucy ihre Kapuze zurück und spähte nach dem Sonnenaufgang, um endlich zu erfahren, in welche Richtung sie sich bewegte. Doch noch immer hingen düstere Wolken am Himmel und die dicht stehenden Bäume behinderten Lucys Sicht noch zusätzlich. Resigniert schleppte sie sich weiter. Kurz dachte sie darüber nach, das Langschwert fortzuwerfen, um Gewicht einzusparen, aber letztendlich obsiegte doch ihre Vorsicht. Auch wenn sie immer mit dem Rapier geübt hatte, mit dem schweren Langschwert konnte sie im Ernstfall doch mehr ausrichten als nur mit ihrem Dolch. Als der Boden unter ihr absackte, war Lucy viel zu überrascht und viel zu erschöpft, um den Sturz verhindern zu können. Mit einem lauten Platschen fiel sie in kniehohes Wasser und stieß sich die Schulter am Stumpf einer abgestorbenen Birke. Keuchend stemmte sie sich wieder in die Höhe und sah sich um. Sie war in einem Moor gelandet. Abgestorbene Erlen und Birken vermittelten auf dem ersten Blick, dass der Wald weiter ging, aber dazwischen wuchs das Feuchtigkeit liebende Wollgras und wiegte seine langen Halme mit den weißen, haarartigen Blüten in einer Brise, die der völlig durchnässten Lucy bis in die Knochen ging. Ermattet setzte Lucy sich auf den Baumstumpf, an dem sie sich gestoßen hatte, und ließ den Blick schweifen. Zur Linken hatte sie einen schilfumstandenen Teich, auf dem Stock-, Tafel und Schellenten gründelten. Direkt vor und weithin rechts von ihr erstreckte sich das Moor. Verzweifelt blickte Lucy zurück. Hinter ihr lag endloser, nichtssagender Wald. Sollte sie links den Teich umgehen? Oder rechts das Moor? Oder sollte sie einfach geradeaus weiter laufen, um das Moor zu durchqueren? Sie war ohnehin bis auf die Knochen durchweicht, da kam es auf den Marsch durch das Moor auch nicht mehr an. Aber wie weit erstreckte es sich noch? Wenn sie bereits im Einzugsgebiet der Freien Stadt Malba war, konnte es ohne weiteres sein, dass sie sich hier in einem der Weiten Moore befand, die oft die Ausmaße mehrerer mühseliger Tagesmärsche hatten. Benommen betrachtete Lucy eine Wollgrasblüte direkt vor sich, die sich in der kalten Brise wiegte. Hin und her. Hin und her… Lucys Körper war bleischwer. Sie hatte keine Ahnung, wie sie jemals wieder auf die Beine kommen sollte. Einfach hier sitzen bleiben und nie wieder auch nur einen Schritt tun, das erschien ihr wie ein Traum… Weit entfernte Rufe rissen sie aus ihrer Trance. Die Blonde sprang auf und hetzte durch das Moor. Als es darauf ankam, war die Entscheidung einfach. Es war unmöglich, sich im Moor zu bewegen, ohne Krach zu machen, aber Lucy steuerte auf ein dichtes Gestrüpp in der Ferne zu. Noch waren die Stimmen weit weg und ihre Besitzer würden das Platschen hoffentlich nicht hören. Und wenn Lucy sich in dem Gestrüpp verstecken konnte, würden die Verfolger das Moor hoffentlich nicht absuchen. Denn in ihrem Zustand konnte Lucy niemandem mehr davon laufen. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie endlich das Gestrüpp erreicht hatte. Erleichtert wollte sie sich hinein zwängen, als etwas vor ihr laut auf die Wasseroberfläche schlug. Federn wirbelten auf und dann flog ein Krickentenweibchen davon. Zu ihren Füßen erkannte Lucy sieben cremefarbene Eier. „Da ist jemand!“ Der Ruf, so weit er auch entfernt war, ging Lucy durch Mark und Bein. Sie wirbelte herum und sah sicher ein Dutzend Menschen in der Ferne, die nun auf sie zu kamen. Und es sah keineswegs so aus, als wären sie genauso erschöpft wie Lucy. Mit einem panischen Wimmern drehte sie sich wieder herum und stakste so schnell, wie sie nur konnte, durch das Moor. Das Gestrüpp, das ihr Schutz werden sollte, ließ sie hinter sich, hastete weiter. Immer wieder bleib sie mit ihren Stiefeln im kniehohen Morast stecken – und jedes Mal rieb das Leder schmerzhaft über die wundgescheuerten Waden und erweiterte dabei wohl die Verletzungen. Tränen rannen über Lucys verdreckte Wangen, aber die junge Frau schleppte sich weiter. Das Platschen ihrer Verfolger wurde langsam lauter. „So ein Hundsdreck!“, fluchte ein Mann. „Lassen wir sie doch einfach laufen. Die ist es nicht wert.“ „Nein, sie ist eine von denen! Es ist unsere Aufgabe, sie alle zu töten, also schnappt sie euch“, widersprach eine dunkle Frauenstimme herrisch. An einem halb vermoderten Baumstamm im Wasser blieb Lucy hängen und fiel mit einem erschrockenen Aufschrei vornüber. Sie rutschte aus dem linken Stiefel heraus, wodurch die aufgerissene Ferse direkt mit dem modrigen Wasser in Berührung kam. Lucy brüllte vor Schmerz. Mehrmals gaben ihre Arme unter der Last ihres Körpers nach, ehe sie es schaffte, sich wieder in die Höhe zu stemmen. Sie taumelte weiter, ohne noch mal zurück zu blicken. Das Platschen und die Rufe waren nun ganz nahe. Lucy wusste, dass es hoffnungslos war, aber konnte sie deswegen einfach aufgeben und die Bemühungen ihrer Freunde verraten? Grobe Hände packten sie an den Armen und griffen in ihre langen Haare, deren Frisur sich schon während des Ritts aufgelöst hatte. Sie wurde brutal zurück gerissen. Mit einem verzweifelten Aufschrei schlug sie um sich. Ihre Faust landete in etwas Weichem und zwei der Hände ließen sie wieder los. Lucy warf sich nach vorn, um auch dem zweiten Häscher zu entkommen. Sie trat mit dem rechten Fuß aus und traf tatsächlich etwas. Ein schmerzerfülltes Fluchen erklang. Mit der Kraft der Verzweiflung rappelte Lucy sich wieder auf und zog das schwere Langschwert, wirbelte damit so schnell herum, wie das bei dem Untergrund und in ihrem Zustand überhaupt möglich war. Sie wurde von ihrem eigenen Schwung mitgerissen und die Spitze des Schwertes kam so hoch, dass sie einem der grobschlächtigen Männer die Wange und den Nasenrücken aufschlitzte. Der Verletzte brüllte wie am Spieß und sein Kumpan sprang zurück – außer Reichweite von Lucys Schwert. Hinter den Beiden erkannte Lucy acht weitere Männer, die sie auch gleich erreichen würden. Etwas weiter hinten folgten eine dunkelhäutige Frau mit brustlangen, weißen Haaren und ein großer, massiger Mann mit Glatze und langem Schnurrbart, anscheinend die Anführer dieses Suchtrupps. Es gab keine Chance auf Entkommen. Aber Lucy hatte sich zu sehr abgekämpft, um jetzt klein bei zu geben! Wild entschlossen hob sie ihr Schwert schräg vor den Körper. Sie musste es mit beiden Händen halten, aber wenn sie ehrlich war, stünden ihre Karten noch schlechter, wenn sie jetzt ihren Rapier hätte. Die elegante Waffe erforderte Schnelligkeit und Wendigkeit – und das war hier im Moor einfach undenkbar. Der Unverletzte der beiden Männer sprang mit erhobenem Schwert vor. Lucy trat mit aller Kraft ins Wasser, sodass es dem Angreifer ins Gesicht spritzte. Er ließ eine Hand vom Schwert, um über seine Augen zu wischen. Lucy drehte sich zur Seite und schlug mit ihrem Schwert nach der führenden Hand des Mannes. Die scharfe Klinge fuhr durch die Haut und traf gleich Knochen. Lucy konnte es knacken hören und ihr Angreifer schrie gequält auf. Er riss seine Hand zurück und fiel auf seinen Hosenboden. Schnell, aber vorsichtig brachte Lucy etwas Abstand zwischen sich und die beiden Verletzten. Ihre Schreie ließen die Blonde erschaudern, aber sie brachte sich in Stellung, um sich gegen die drei Männer zu verteidigen, die als nächstes nahten. Einer von ihnen bewegte sich trotz des Moores sehr geschickt. Vielleicht war er in der Nähe eines Moores aufgewachsen. Jedenfalls ließ er seine Kameraden hinter sich und sprang dann auf Lucy zu. Zu spät erkannte sie den Sinn und Zweck dieses Manövers. Weder ausweichen noch parieren konnte sie noch und wurde vom Gewicht des Mannes zu Boden geschleudert. Für einige Sekunden wurde sie unter Wasser gedrückt, ehe der Angreifer sich weit genug aufrichtete, um ihr das Schwert zu entreißen. Keuchend tauchte Lucy wieder auf, die Augen voller Angst geweitet. Sie tastete nach ihrem Dolch am Gürtel, aber der Mann über ihr hielt ihre Hände grob gepackt und dann tauchte ein zweiter hinter ihr auf, riss ihren Kopf an den Haaren in den Nacken und setzte ihr einen Dolch an die Kehle. Sie erhaschte einen Blick in seine Augen. Ein manischer Hass starrte zurück und Lucy begriff langsam, dass es bei all dem nie um sie gegangen war, sondern um ihre Freunde. Das hier mussten Geisterjäger sein und sie hielten Lucy wohl auch für einen Geist. „Was habt ihr mit meinen Freunden gemacht?“, krächzte sie und zwang sich, weiter in diese hasserfüllten Augen zu blicken. „Das, was sie verdienen, diese Missgeburten“, zischte der Mann und Lucy spürte, wie der Dolch die Haut an ihrem Hals ritzte. Ein unbeschreiblicher Horror erfüllte Lucy. So oft war sie in den Annalen Heartfilias auf die Erwähnungen von Geisterjägern gestoßen, aber sie war in einer friedlichen Zeit aufgewachsen, in der die Geister unter dem Kaiserlichen Schutz standen und in der die Vorsichtsmaßnahmen ihrer Vorfahren Früchte getragen hatten. Die Vorstellung, was diese… Unmenschen ihren Freunden vielleicht angetan hatten, einfach weil sie eben Geister waren, brachte die junge Fürstin schier um den Verstand. Sie dachte gar nicht darüber nach, was sie tat – sie hatte nicht einmal direkt vor, etwas zu tun –, aber sie stieß einen Schrei aus, der ihr selbst in den Ohren klingelte, und irgendetwas breitete sich um sie herum aus und schleuderte die Männer davon. Auf einmal war sie von etwas Heißem umgeben – ja, durchdrungen – und ihr Körper schien sich aufzulösen, so leicht und nichtssagend fühlte er sich an. Lucys Blick glitt von den Männern ab, die sie fassungslos anstarrten, fand auch an den Bäumen und am Wollgras keinen Halt, glitt zum Himmel hinauf und durch die Wolken hindurch zur Ferne der Gestirne. Und in Lucys Körper schlug ein doppelter Puls, stark und lebendig und geheimnisvoll. Mit einer Klarheit, die ihr nicht einmal das kostbare Teleskop von Professor Michello gewährte, erkannte Lucy die Sterne und wisperte ihre Namen. Und ihr Blick glitt weiter, durch die Sterne hindurch, erhaschte Bilder: Ein Drache, der über Bergen flog. Eine riesige Schlange in einer Höhle. Ein gefangener Dämon mit blutrünstig blitzenden Augen. Ein alter Mann an einem Schreibtisch… Irgendwoher wusste Lucy, dass sie alle sie in diesem Moment spüren konnten, doch sie konnte mit keinem von ihnen Kontakt aufnehmen. Weiter wurde ihr Blick gezogen in eine drohende Schwärze jenseits aller Sterne und Bilder. Lucy spürte die Gefahr, die davon ausging, und versuchte instinktiv, gegen diesen Sog anzukämpfen, doch es war vergebens. Sie traf auf die Schwärze und die Schwärze war Kälte und Schmerz und Verzweiflung. Und Lucy schrie mit aller Kraft, schrie, ohne Atem zu schöpfen, schrie, bis ihr Körper darunter zu zerreißen schien. Doch die Schwärze verschlang sie unbarmherzig. Und dann war da… nichts… 9 Tage vor der Opferung Eine kühle Hand an ihrer Wange ließ Mavis die Augen aufschlagen. Über sie beugte sich Zerefs bleiches, ernstes Gesicht mit den pechschwarzen Haaren und den unergründlichen dunklen Augen. Als er sah, dass sie wach war, beließ er seine Hand noch einige Augenblicke an ihrer Wange. Für die Dauer eines Herzschlages erkannte Mavis etwas Weiches in dem schmalen Gesicht. Dann nahm er seine Hand zurück und bot sie ihr an, um ihr aufzuhelfen. Wortlos nahm Mavis das Angebot an und sah sich um. Sie befanden sich im Arbeitszimmer, das zugleich auch als ihre Privatbibliothek diente. Ein großer, weiß verputzter Raum, in dem dank der hohen Fenster, die eine gesamte Breitseite ausmachten, warmes Sonnenlicht flutete. Der steinerne Boden war mit dicken Teppichen ausgelegt. Jeder Platz an der Wand war mit Regalen aus Weißbuchenholz gefüllt, alle schwer beladen mit teilweise jahrhundertealten Folianten und noch älteren Schriftrollen. An der Fensterfront stand auf einem großen Eisbärenfell ein wuchtiger Schreibtisch aus demselben Material, eine Handwerkskunst aus Magnolia mit stilisierten Baum- und Tierschnitzereien, dessen Füße in Baumwurzeln endeten. Daneben befand sich eine Stellwand aus Kork, an welcher eine große Karte Fiores und allerlei Notizen und Markierungen mit Nadeln befestigt waren. Zur anderen Seite des Tisches standen vor den Fenstern zwei Sessel aus Korbgeflecht, die mit Fellen gepolstert waren. Dazwischen ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine fein gearbeitete Kanne und zwei Tassen derselben Stilrichtung bereit standen. Das erfrischende Aroma von Wasserminze, vermischt mit der Süße von Himbeere kam aus dieser Richtung. Alles war wie immer und doch fühlte Mavis sich erschüttert wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Langsam ging Mavis zu einem der Sessel und ließ sich darauf nieder, um nach Kanne und Tasse zu greifen. Während sie einen vorsichtigen Schluck zu sich nahm, ging ihr Blick aus dem Fenster hinaus. Ganz Crocus lag ihr dort zu Füßen, bunt und laut und lebendig. Ein Hexenkessel der Gesellschaft, Wirtschaftsknotenpunkt, Hort der Bildung. Wie sehr es sich doch verändert hatte. Nicht ausschließlich zum Guten, das musste Mavis sich eingestehen. Wo viele Menschen eng beieinander lebten, gab es Betrug und Gier, Neid und Intrigen, Missgunst und Streit. Aber Mavis war sich dennoch sicher, vor dreihundert Jahren den richtigen Pfad eingeschlagen zu haben. In dieser Stadt gedieh auch so viel Gutes, gab es so viel Freude und Fortschritt. Crocus – Fiore, ja, ganz Ishgar – war auf dem richtigen Weg! Doch hier und jetzt half ihr der Blick aus dem Fenster nicht so weiter, wie er es sonst immer tat. Sie fand keine Antwort für ihre ungestellten Fragen. Crocus sah genauso aus wie noch vor einer Stunde. „Du hast nicht meditiert.“ Zerefs tiefe, ruhige Stimme lenkte Mavis’ Aufmerksamkeit vom Fenster ab. Wie immer trug er seine schwarze Robe mit der weißen Schärpe. Die alte Tracht seines Heimatlandes, doch es war kein patriotisches Bekenntnis, sondern eine ewige Selbstermahnung, wie Mavis wusste. „Nein, ich habe nach dem Atlas der Ersten Siedler gesucht“, bestätigte Mavis die Feststellung leise. „Es war stärker als die bisherigen Male.“ Zeref trat zum zweiten Korbsessel, um sich darauf nieder zu lassen. „Die Anderen werden es auch gespürt haben.“ Mavis gab nur ein nachdenkliches Brummen von sich und nahm noch einen Schluck Tee zu sich. Diese Impulse im Miasma waren nichts Neues für Mavis. Seit sie und die anderen Wächter sich auf das Miasma eingestimmt hatten, waren diese Impulse nun schon acht Mal aufgetaucht und hatten dabei nicht nur einen einzelnen Wächter berührt, wie es sonst immer bei der Ausübung von Magie geschah, sondern alle, besonders stark aber Mavis, die Wächterin des Lichts. Doch Zeref hatte Recht, dass dieser Impuls besonders stark gewesen war. Selbst jetzt noch kribbelte ihr gesamter Körper davon. Und ein seltsamer Geschmack lag auf ihrer Zunge, der sich vom Tee nicht vertreiben ließ. „Wir sind immer noch so schlau wie vor zweihundertfünfzig Jahren, was es damit auf sich hat“, seufzte Mavis frustriert und stellte ihre Tasse auf dem Tischchen ab. Da die Impulse die Wächter aller sieben Elemente trafen, waren sie sich sicher, dass es sich um eine Urmagie handelte, auch wenn die Geschichtsbücher der Magie ihnen samt und sonders sagten, dass die Urmagien mit dem Fanal vor fünfhundert Jahren zersplittert waren. Nach dem Fanal, dessen Ursache unklar war, hatte es nur noch die sieben Elementarmagien und ihre facettenreichen Spielarten gegeben. Mavis hatte unzählige Stunden, Tage, Jahre damit verbracht, alle Aufzeichnungen über Magie zu studieren, derer sie habhaft werden konnte, aber sie wusste bis heute nicht, was es mit dieser Urmagie auf sich hatte, die sie in den letzten zweihundertfünfzig Jahren mehrmals heimgesucht hatte. War der Magier ein Unsterblicher wie sie selbst? War er überhaupt ein Mensch? Was tat er, wenn er seine Magie ausübte? Die Fragen brannten mit jedem Mal stärker auf Mavis’ Seele und feuerten ihren Wissensdurst so sehr an wie nichts Anderes. „Habe ich dir mal erzählt, was Meister August an dem Tag gesagt hat, als er angefangen hat, mich zu unterrichten?“ Mavis richtete ihren Blick wieder auf Zeref, der sie ruhig ansah. Für Mavis, die ihn schon seit dreihundert Jahren kannte, sagte seine Miene dennoch so unglaublich viel aus. Und doch fühlte sie sich auch nach so langer Zeit noch wie gefangen. Ob er jemals aufhören würde, solch ein Mysterium für sie zu sein? „Vielleicht, dass Magie unergründlich ist?“, schlug sie unschuldig vor. An Zerefs Mundwinkel zupfte die Ahnung eines Lächelns. Für viele war es gar nicht zu erkennen, aber Mavis freute sich und musste unwillkürlich selbst lächeln. „Er sagte, selbst in tausend Jahren könnte man nicht alles über die Magie lernen. Sie wird immer Rätsel haben. Magie zu erlernen, bedeutet folglich, auch Einsicht und Demut zu lernen.“ „Hast du mich gerade hochmütig und uneinsichtig genannt?“, schmunzelte Mavis. „Nur stur und verbissen“, war die ruhige Antwort. Die Blonde musste grinsen. Sie schwang sich aus dem Korbsessel und ging zum Fenster, um auf den Kaiserpalast hinunter zu blicken, in dem sie aufgewachsen war und der nun offiziellen Anlässen diente. Am Fuße des Turms erkannte sie die weißen Umhänge der Runen-Ritter. Anscheinend war gerade Wachablösung. „Was sagt dir dein Gefühl, Zeref?“ „Dass, wer oder was auch immer diese Magie wirkt, schon längst etwas angerichtet hätte, wenn er es gewollt hätte. Die Impulse sind mächtig, aber gutartig und lebendig, nicht zerstörerisch.“ Obwohl sie schon vor Jahren zu einem ähnlichen Schluss gekommen war, tat es Mavis doch gut, diese Worte von Zeref zu hören. Mit einem Lächeln drehte sie sich wieder zu ihm um. Ihre Blicke begegneten einander und Mavis fühlte sich wieder einmal wie das junge Ding, das von dem fremdländischen, jungen Mann so fasziniert gewesen war, dass es gar nicht gewusst hatte, welche Frage es zuerst stellen sollte. Ein Klopfen riss Mavis zurück in die Gegenwart. Yuri und Warrod betraten das Arbeitszimmer, ohne überhaupt auf eine Aufforderung zu warten. „Wie geht es den Anderen?“, fragte Mavis ihre alten Freunde besorgt. „Chelias Ohren haben gewackelt“, kicherte Warrod und ordnete mit seinen hölzernen Fingern seine Haare, die eher an Laub erinnerten. Ein Erbe seines Volkes. Yuri verdrehte demonstrativ die Augen in Richtung des Pflanzenmagiers. „Warrod hat wieder seinen Weltuntergangswitz gebracht. Es war gar nicht so einfach, Totomaru davon abzuhalten, ihn zu verkohlen.“ Mavis musste grinsen. Warrod hatte im Verlauf der Jahrhunderte einen sehr eigenwilligen Humor entwickelt, aber auch wenn den außer einer Person niemand lustig fand, hatte er doch immer einen bestimmten Zweck und erfüllte ihn wundersamerweise auch. „Alles in allem sind sie ganz schön verwirrt, aber wohlauf. Sie sind zäh.“ Erleichtert nickte Mavis. Sie hatte schon viele Wächter auserwählt und auch auf ihrem letzten Weg begleitet, aber dennoch hatte jeder von ihnen etwas Besonderes für sie, gehörte beinahe zur Familie – und Mavis sorgte sich immer um ihre Familienmitglieder. „Mavis, es war dieses Mal stärker, nicht wahr?“, fragte Yuri mit ernster Miene. „Aber nicht bedrohlich“, fügte Warrod bedächtig nickend hinzu, wobei seine Blätter leise raschelten. „Richtig“, murmelte Yuri. „Aber wisst ihr, was Totomaru gesagt hat? Es fühle sich an wie ein Magiebrand.“ Das war eine neue These. Keiner von ihnen hatte einen Magiebrand durchgemacht, weil sie alle bereits vor dem kritischen Punkt unterrichtet worden waren. Wann genau ein Magiebrand ausbrach, war bei jedem Menschen anders. Bei manchen war das magische Potenzial so gering, dass sich die Magie nie hoch genug dafür aufstaute. Andere fanden irgendwie schon als Kinder einen Kanal für ihre Magie, oft auch, ohne es sogleich als Magie wahrzunehmen. Wenn magisch begabte Kinder solch einen Kanal jedoch nicht fanden, wurden sie irgendwann krank, bei einigen wirkte es wie eine Erkältung, andere kamen dabei dem Tode gefährlich nahe. Die Theorie dahinter war sehr kompliziert, aber im Wesentlichen hieß ein Magiebrand, dass der Mensch keine Magie mehr sammeln konnte und diese sich dann entlud. „Wie kommt er darauf?“, fragte Zeref. „Wir können Magiebrände nicht von anderen Magieanwendungen im Miasma unterscheiden.“ „Das habe ich ihm auch gesagt, aber er meinte, er kann es. Er hat seinen Magiebrand mit sechs gehabt und er hat den Magiebrand einer Fünfjährigen miterlebt.“ Eine von Zerefs Augenbrauen hob sich minimal an. „Das ist extrem früh.“ „Totomaru ist ein außerordentlich starker Feuermagier“, sinnierte Mavis beeindruckt. „Ich würde ihm zutrauen, dass er es mit Natsu aufnehmen könnte.“ Aus dem Augenwinkel nahm sie ein Zucken in Zerefs Gesicht wahr, aber der Schattenmagier sagte nichts, weshalb sie fortfuhr, als hätte sie nichts bemerkt. „Wenn das wirklich ein Magiebrand war, dann heißt das, dass irgendwo in Fiore eine überaus mächtige Magierlinie fortbesteht und dass jedes ihrer Mitglieder nach dem Magiebrand auf eine weitere Anwendung der Magie verzichtet.“ „Oder beim Magiebrand stirbt“, fügte Warrod ungewohnt ernst hinzu. Mavis unterdrückte ein Schaudern und nickte bedächtig, ehe sie sich wieder zum Fenster umdrehte. Irgendwo da draußen war ein sehr mächtiger Magier – ob nun tot oder lebendig –, dessen Magie eine Anomalie darstellte. Eine Magie, der Mavis nur allzu gerne auf den Grund gehen würde… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)