Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 18: Der Morgen, an dem die Trauer herein brach ------------------------------------------------------ 6 Monate zuvor Im Arbeitszimmer ihres Vaters roch es nach Papier und Tinte und nach dem Aroma der Kräuter, die ins Kohlebecken gestreut worden waren. Das Kohlebecken im Zentrum des Raums spendete wohltuende Wärme, um der bitteren Winterkälte zu trotzen. Und wie immer lag der Hauch von Vergangenheit in diesem Raum. Rundum waren alle Wände mit Regalen voll gestellt. Zum größten Teil enthielten sie ältere und neuere Bücher, aber daneben befanden sich in vielen der kleinen Regalfächer auch Ausstellungsstücke. Alte Rechenschieber, Münzwaagen und Sanduhren. Geschnitzte und gemeißelte Figuren. Allerlei Andenken aus fremden Ländern. Broschen, Schreibfedern, Kunstwaffen, hölzerne und marmorne Stadtmodelle, Sternengloben und –modelle. Die Sammlung zahlreicher Generationen von Fürsten und Fürstinnen mit den unterschiedlichsten Interessengebieten. Als kleines Mädchen hatte Lucy oft Stunden lang vor einem einzigen Regal gestanden, die Buchtitel studiert und die Andenken betrachtet, während hinter ihr die Feder ihres Vaters unermüdlich über Pergament oder Papier gekratzt hatte. Bei den großen Spitzbogenfenstern stand ein wuchtiger Schreibtisch aus edelstem Eichenholz mit liebevollen Blatt- und Blumenornamenten nach magnolischer Handwerkskunst. Ein Geschenk von Rita Dreyar anlässlich des Friedens von Lumen Histoire. Links davon stand ein Taktischer Tisch, ein riesiges geschnitztes Modell von Fiore mit detaillierten Gebirgen und Flussverläufen, winzigen Stadtsilhouetten und angedeuteten Wäldern. Es war nicht mehr vollends zeitgemäß, einige der Wälder existierten nicht mehr, neue Orte fehlten, ebenso einige neue Abzweige des Kaiserlichen Straßennetzwerks. Ein Modell von Jadestadt aus hellerem Holz war vorsichtig eingefügt worden und die Gebiete von Edolas und Extalia waren eingeschwärzt worden. Der Stuhl hinter dem Schreibtisch war schlicht und ungepolstert, das Holz an den Armlehnen abgenutzt. Dieser Stuhl war so alt wie das Fürstentum selbst, wenn man den eingeritzten Namen auf der Rückseite glauben durfte. Und er war ganz und gar unbequem. Eine Mahnung an jeden Fürsten und Regenten, dass dieses Amt keine Bequemlichkeit, sondern eine Verpflichtung war, von der viele tausend Leben abhingen. Der Anblick des Stuhls schaffte es seit geraumer Zeit, jedes Mal Lucys Laune zu dämpfen, wenn sie das sonst so gemütliche Arbeitszimmer betrat. Er erinnerte sie daran, was für eine Bürde sie bald tragen musste und wie viele Selbstzweifel sie deswegen plagten. Noch hatte ihr Vater diese Verantwortung inne, aber wenn sie diesen Raum das nächste Mal betreten würde, würde es ihr Platz auf diesem unbequemen Stuhl sein. „Er ist nicht so hart, wie er aussieht.“ Lucy drehte sich zu ihrem Vater herum, der im Türrahmen stand, seine Haltung wie immer mustergütig gerade, die Haare perfekt zurück gekämmt, der Schnurrbart vollkommen gerade gestutzt. In den Augenwinkeln hatte er stark ausgeprägte Falten und an den Schläfen ergrauten seine sandbraunen Haare, aber er trug sein Alter mit Würde. Wie immer trug er feine, aber zweckmäßige Kleidung. Der Winterkälte wegen hatte er sich eine wollene Jacke angezogen, schlicht und irgendwie unpassend, aber Lucy wusste aus Erfahrung, wie viel solche Strickjacken bei solchem Wetter wert waren, und natürlich bestand diese hier aus bester Heartfilia-Wolle. „Ich habe nach dem Sternenatlas von Meister Aquila gesucht“, erklärte Lucy ihre Anwesenheit. Die Aussage ihres Vaters über den Stuhl überging sie absichtlich. „Ich brauche ihn für meine Studien.“ „Du willst deine Magisterarbeit also wirklich in Astronomie ablegen, obwohl Professor Michello es dir so schwer macht?“, fragte Jude gelassen, ohne sich anmerken zu lassen, was er über den rüden Themenwechsel dachte. „Mutter hat es damals auch geschafft und sie war obendrein auch noch hochschwanger.“ Ein erinnerungsseliges Funkeln lag in Judes Augen, als er das Arbeitszimmer betrat und zielstrebig zu einem Regal ging. „Stimmt, Layla hat ihren Abschluss gemacht und zwei Wochen später haben wir dich bekommen. Damals waren wir schon vier Jahre verheiratet.“ Lucy verdrehte lächelnd die Augen. „Du hattest schon mal bessere Überleitungen für dieses Thema, Vater.“ Jude gluckste leise und zog den gewünschten Atlas aus einem der oberen Regalfächer. „Du bist bald die Fürstin von Heartfilia und die einzige Erbin. Ich sage ja nicht, dass du deswegen den nächstbesten Edelmann heiraten sollst, aber… vielleicht kannst du die Augen offen halten?“ „Gib doch einfach zu, dass du deine Pensionierung nutzen willst, um Enkelkinder zu verwöhnen“, schnaubte Lucy. Mit vollkommen ernster Miene drehte ihr Vater sich zu ihr um, aber seine Augen funkelten amüsiert. Lucy wiederum gab sich gar nicht erst die Mühe, empört oder vorwurfsvoll dreinzublicken. Sie würde es ihrem Vater vom ganzen Herzen gönnen, dass er sich um Enkelkinder kümmern konnte, aber sie hatte bisher einfach keinen Mann betroffen, mit dem sie sich die Familiengründung vorstellen könnte. Und sie hatte in Crocus keineswegs scheu in ihrer Studentenkammer gesessen, sondern war häufiger mit ihren Freunden um die Häuser gezogen, als es ihrem Vater wahrscheinlich lieb wäre. Nicht selten war sie dabei auch von Männern angesprochen worden, aber keiner davon hatte jemals wirklich ihr Interesse geweckt. „Wie wäre es denn mit diesem Freund, von dem du so viel erzählt hast? Gray?“ Entschieden schüttelte Lucy den Kopf. „Gray ist durch und durch ein Eismensch und mein Platz ist hier.“ „Zu schade aber auch“, seufzte Jude. Lucy winkte ab. Selbst wenn es dieses Problem mit Gray nicht gäbe, wäre eine Liebesbeziehung mit ihm für Lucy völlig undenkbar. Gray war genau wie Loke wie ein Bruder für sie. Sicherlich, es bestand nicht die geringste Blutverwandtschaft und jeder von ihnen wäre eine vorteilhafte Partie, aber bei Lucy sträubte sich beim Gedanken an eine Ehe mit einem von ihnen alles. Sie war so fest davon überzeugt, dass es irgendwo in Fiore die perfekten Frauen für ihre beiden Freunde gab – wobei sie es bei einem der Beiden ja schon wusste, auch wenn er selbst es noch nicht erkannt hatte. Genauso glaubte sie auch daran, dass Levy eines Tages einem Mann begegnen würde, der ihr Temperament aus ihr herauskitzeln konnte. „Und wenn du mal deine Fühler ausstreckst?“, schlug Jude vor. „Der Drachenreiter von Magnolia soll in deinem Alter sein…“ „Und ein Draufgänger und Tunichtgut“, schnaubte Lucy. „Wie lange hat man ihn schon nicht mehr an der Seite seines Fürsten gesehen? Heartfilia braucht keinen Fürstgemahl, der keine Pflichten kennt.“ „Aber du vielleicht“, sagte Jude ungewöhnlich ernst. „Du solltest jemanden an deiner Seite haben, wenn du den Thron besteigst. Jemanden, der dir den Rücken stärkt, selbst wenn er sich nicht mit dem Regierungsgeschäften auskennt.“ Kopf schüttelnd streckte Lucy sich und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Das eilt nicht. Du wirst mir sicher noch lange erhalten bleiben…“ Heute Der Stuhl war noch viel härter, als er aussah. Lucy hatte das Gefühl, viel zu klein und unbedeutend für ihn zu sein. Es kostete sie alle Beherrschung, nicht immer wieder auf ihm herum zu rutschen. Der aromatische Qualm des Kohlebeckens im Zentrum des Arbeitszimmers reizte ihre Nase und ihre Augen und sie fragte sich, wie sie ihn jemals als angenehm hatte empfinden können. Der ganze Raum wirkte feindselig und erdrückend auf sie. Die Wände schienen zusammen zu rücken, sie zu bedrängen, regelrecht zu zerquetschen. Die Luft war dünn, jedes Geräusch schien sie zu verhöhnen… Hatte ihr Vater sich auch so gefühlt, als er nach dem Tod seiner Frau die Regierungsgeschäfte übernommen hatte? War das der Fluch dieses Amtes? Oder der Familie? Müde hob Lucy eine Schreibfeder und zog einen der Verträge heran, die sie als neue Fürstin verifizieren musste. Der Lohn für die Hofangestellten und für die Verwaltungsbeamten. Der Sold für die Soldaten. Pachtverträge. Aufträge für Lieferanten. Alles musste neu ausgestellt werden. Nicht weil man ihr oder ihrem Vater misstraut hätte, sondern weil alles eindeutig sein sollte. Niemand sollte daran zweifeln müssen, wer für die Einhaltung eines Vertrags zu haften hatte. Ein Kaiserliches Gesetz. Es mochte Zeit rauben, aber Lucy verstand den Sinn dahinter und akzeptierte es. Sie musste nur ihre Unterschrift unter jeden Vertrag setzen, um alles andere würde sich Horologium, ihr Meister der Schriften, kümmern. Er kannte dieses Prozedere sogar schon aus der Zeit, als Lucys Großmutter gestorben und Layla die neue Fürstin geworden war. Ihre Mutter… Lucy hatte gerade einmal fünf Sommer gezählt, als Layla Heartfilia nach langem Kampf einer Herzkrankheit erlegen war. Sie konnte sich nur vage an die schönen Gesichtszüge erinnern. Am deutlichsten waren ihr die Geschichten ihrer Mutter über die Sterne in Erinnerung geblieben. Sowohl die Geschichten selbst als auch das Gefühl, das die sanfte, ruhige Stimme bei ihr verursacht hatte, wenn sie gemeinsam auf dem Astronomieturm von Sternheim gesessen und die Sterne beobachtet hatten. Eine Tradition, die sie bei trockenem Wetter jeden Mond mindestens einmal gepflegt hatten. Besonders in klaren Nächten hatte es Mutter und Tochter einfach immer nach draußen gezogen. Ob ihre Mutter auch den Puls der Sterne hatte spüren können…? Lucy legte ihre Feder beiseite und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Gedanken unproduktiv hin und her sprangen. Das war schon seit gestern so. Seit sie ihren Vater und all die anderen Opfer des Angriffs besungen hatte. Sie versuchte, es zu ignorieren, versuchte, sich mit Arbeit von diesem reißenden Gefühl in ihrer Brust abzulenken, aber der Chor der Einwohner zu Ehren ihres Vaters ließ sie einfach nicht mehr los. Dabei hatte sie gar keine Zeit für so etwas. Sie war jetzt die Fürstin Heartfilias. Das Wohl jedes Einzelnen ihrer Schutzbefohlenen stand weit über ihrem eigenen. Sie durfte diese Menschen und Geister nicht enttäuschen. Sie durfte ihre Eltern nicht enttäuschen. Seufzend griff Lucy wieder nach ihrer Feder und tauchte sie in das kleine Tintenfässchen. Ihre Hand zitterte nur minimal, aber es genügte, damit sich ein Tropfen Tinte von der Feder löste und auf das Pergament fiel. Rasend schnell breitete sich die Tinte über mehreren Zeilen des Schriftstücks aus. Wie eine schwarze Flut. Sie verschlang Buchstaben, ja, ganze Wörter, riss ein klaffendes Loch in den Text… Und alles, was Lucy tun konnte, war, zu starren. Wie gelähmt saß sie da, den Blick auf das besudelte Schriftstück gerichtet. Schwarze Tinte. Ein Nichts, das dem Ganzen den Sinn nahm. Ein Abgrund, dessen Ränder immer weiter bröckelten… Wie der Tod ihres Vaters. Egal wie selten sie ihn wegen ihres Studiums gesehen hatte, er war das Fundament gewesen, auf das sie immer hatte bauen können. Er hatte sie groß gezogen, hatte ihr immer beigestanden, immer auf sie gewartet, sie mit diesem besonderen Lächeln in seinen Augen begrüßt. Er war einfach immer da gewesen – und nun schien einfach alles in sich zusammen zu stürzen. Tränen tropften auf das Papier, ließen noch mehr Worte verschwimmen. Lucy wollte sie eindämmen und zurückkämpfen. Sie durfte jetzt nicht schwach werden, sie musste sich um die Bewohner Heartfilias kümmern, sich des Vertrauens würdig erweisen, das sie in sie setzten… „Lucy…“ Als sich zierliche Arme um sie legten, zuckte die Blonde zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Levy das Arbeitszimmer betreten hatte, konnte sich nicht einmal an ein Klopfen erinnern, aber jetzt war sie hier und hielt Lucy fest umarmt. Zuerst versteifte Lucy sich und versuchte, einen Arm zu befreien und die Tränen fortzuwischen. Doch ihre Freundin hielt sie unbeirrt fest und Lucy spürte, wie ihr Wille, stark zu bleiben, erlahmte. Sie war von Geisterjägern entführt worden, wäre beinahe hingerichtet worden und als sie nach Hause gekommen war, hatte sie erfahren müssen, dass ihre geliebte Heimat angegriffen worden war. Am schwersten wog für sie jedoch wirklich der Verlust ihres Vaters. Sie hatte die Studienzeit in Crocus genossen und war in diesen sechs Zyklen nur selten bei ihrem Vater gewesen, ja, aber vergessen hatte sie ihn nie. Ihren arbeitsverliebten, bedächtigen Vater, der alles beiseite geschoben hatte, wenn es galt, ihre Sorgen zu zerstreuen, ob sie eine gute Fürstin sein konnte. Ihren disziplinierten, etwas steifen Vater, der das Andenken ihrer Mutter immer in Ehren gehalten hatte… Zitternd klammerte Lucy sich an ihre Freundin. „Er ist tot“, würgte sie verzweifelt hervor. Die Tränen kamen nun in Sturzbächen und spülten jedweden Gedanken an Selbstbeherrschung hinfort. Der einzige Halt, der Lucy blieb, war Levy, die sie liebevoll umarmte, ihr Haar streichelte und sie alles aussprechen ließ, was sich seit Tagen in ihr aufgestaut hatte. „Er hat versprochen, mir zu helfen, und jetzt ist er tot…“ Lucys Schluchzer waren laut und hemmungslos. Auch ohne seine Drachensinne hätte Natsu sie von seinem Platz vor der Tür des Arbeitszimmers aus hören können. Sie drangen durch das Holz und mitten in seine Brust, wo sie einen schmerzhaften Stich verursachten. Schweren Herzens nahm er die Hand wieder von der Klinke. Nur allzu gerne wollte er in diesen Raum stürmen und Lucy fest in seine Arme schließen, aber dazu hatte er kein Recht und es war auch nicht angemessen. Als er mit Levy hierher gekommen war, um Lucy zu fragen, ob sie mit ihnen frühstücken wollte, hatte Levy ihn ermahnt, sie alleine ins Arbeitszimmer gehen zu lassen. Kurz darauf waren Lucys Schluchzer erklungen. Levy war jetzt für Lucy da und gab ihr Bestes, um sie zu trösten. Ihre sanfte Stimme, aus der sie beinahe gänzlich das zaghafte Zittern verbannt hatte, flüsterte beruhigende Worte, ohne wirklich viel Sinn zu ergeben, aber das mussten sie wohl auch nicht, auf die Tonlage kam es an. Natsu fürchtete, dass Lucy glauben würde, stark sein zu müssen, wenn noch jemand in den Raum treten würde. Aber sie musste jetzt weinen und ihre Trauer an die Luft lassen. Das war genau das, was Lucy jetzt brauchte – Natsu hatte das damals bei Cana gesehen, als Cornelia gestorben war. Unschlüssig lehnte Natsu sich neben der Tür an die Wand. Auch wenn er sich entschieden hatte, hier Levy das Feld zu überlassen, hatte er das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Auf Frühstück hatte er keinen Appetit mehr. Schritte im Korridor ließen ihn aufblicken. Es war Capricorn, der jedoch sofort innehielt, als er Natsu erblickte. Genau wie Loke schien auch der Schwertmeister ein ausgezeichnetes Gehör zu besitzen, denn in seine Augen trat aufrichtiger Kummer, nachdem er kurz gelauscht hatte. Natsu stieß sich von der Wand ab und ging zu dem Tiergeist. „Levy ist bei ihr“, erklärte er mit gedämpfter Stimme. Capricorn nickte. „Auch wenn die Umstände alles andere als erfreulich sind, ich bin erleichtert, dass die Herrin Freunde hat, die sie stützen.“ Mit einem letzten Blick auf die Tür des Arbeitszimmers drehte er sich um und bedeutete Natsu, ihm zu folgen. Der zögerte einige Herzschläge lang. Noch einmal lauschte er Lucys Schluchzern und Levys Worten, atmete den Geruch von Lucys Tränen ein. In seiner Brust verspürte er immer noch einen schmerzhaften Stich, aber er gestand sich ein, dass er Lucy keine Hilfe war, wenn hier herum stand. Da konnte er genauso gut Capricorn folgen. Sie schritten den kurzen Korridor hinunter bis zur Galerie, die auch gleichzeitig Teil des Empfangssaals war. Über eine breite Treppe mit reich ornamentierter Balustrade war das obere Stockwerk mit den privaten Gemächern der Fürstenfamilie zu erreichen. Ein riesiger Kronleuchter hing im Zentrum des Saals. Anstelle von Kerzen trug er Lichtlacrima. Selbst Natsu, der sich nicht viel um solcherlei scherte, erkannte, wie wertvoll und außergewöhnlich dieser Kronleuchter war. Der Boden bestand aus blank poliertem Parkett, alt aber sorgsam gepflegt. Obwohl es schon so lange hier war, nahm Natsu daran immer noch den typischen Geruch von magnolischem Holz wahr. Abgesehen von einigen gepolsterten Stühlen und Bänken war der Saal leer, aber Capricorn blieb genau unter dem Kronleuchter stehen und Natsu folgte seinem Beispiel. Als er dem Fingerzeig des Geistes zur nördlichen Stirnseite des Saals folgte, erkannte er das Gemälde einer jungen Frau, überirdisch schön, mit langen, goldenen Haaren, angetan mit einer schweren Rüstung. Ihr Blick hatte etwas Bohrendes, Hartes, Unerschütterliches. „Anna Heartfilia, die Begründerin des Geschlechts und des Landes“, erklärte Capricorn und in seiner Stimme lag Ehrfurcht. „Sie hat die Geister vereint und unter ihren Schutz genommen. Und alle ihre Nachfahren…“ Er machte eine weitschweifige Geste, welche alle Gemälde an den Wänden umfasste, kleine wie große. „… haben dieses Werk fortgeführt. Die Heartfilias gehörten zu den ersten Unterstützern Ihrer Kaiserlichen Majestät und sie haben auch den Marktwert von Lacrima für den Schutz des Fürstentums und seiner Bewohner nutzbar gemacht. Zwei Drittel aller Fürsten dieses Landes sind gewaltsam gestorben, immer im Dienst der Sache. Das ist ein ungeheures Erbe, das Herrin Lucy antreten muss…“ Natsu schwieg, denn er hatte nicht das Gefühl, dass Capricorn eines Kommentars bedurfte. Vielmehr schien der Geist ihm etwas sagen zu wollen. „Die Last dieser Verantwortung drückt bereits seit dem Tod ihrer Mutter auf Herrin Lucys Schultern, ohne dass einer von uns jemals die Gelegenheit gehabt hätte, sie zu erleichtern. Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass ein Geist sie auch immer daran erinnern wird, was für eine Aufgabe sie hat. Ich hege die Hoffnung, dass Ihr und Eure Freunde der Herrin dort helfen könnt, wo wir es nicht vermögen. Insbesondere jetzt, da Herr Jude verstorben ist.“ Natsu runzelte verwirrt die Stirn. „Worauf wollt Ihr hinaus?“ „Loke hat mir erzählt, was Euch alle jeweils nach Malba geführt hat. Ich denke, dass es für Herrin Lucy das Beste wäre, nach Süden zu reisen, um Magistra McGarden bei ihren Studien in Jadestadt zu helfen.“ „Das ist keine gute Idee“, widersprach Natsu unbehaglich. „Laut Sting und Rogue spielen die Basilisken verrückt. Die Reise nach Jadestadt ist zu gefährlich für Lucy und Levy.“ „Gedenken die Drachenreiter denn, sich wieder zu trennen?“ Der Schwertmeister zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich habe angenommen, dass Ihr den Klauen der Wüstenlöwin gemeinsam beistehen würdet.“ Da war etwas dran. Natürlich waren auch die Situationen in den Bergen von Cait Shelter und im Kaiserlichen Meer bedenklich, aber in der Stillen Wüste lauerte eindeutig etwas sehr Starkes und sehr Gefährliches. Es wäre wohl das Klügste, Sting und Rogue zu begleiten, um Sabertooth und Jadestadt zu helfen, auch wenn Natsu noch nicht wusste, was er überhaupt ausrichten konnte. „Ihr wollt, dass wir Lucy mit in die Stille Wüste nehmen, wo sie wahrscheinlich in Lebensgefahr schweben wird?“ „Ich denke, fünf Drachenreiter und mehrere starke Magier und Krieger sollten durchaus in der Lage sein, die Herrin zu beschützen“, erwiderte Capricorn mit der Andeutung einer Verbeugung. Ein wenig perplex erwiderte Natsu die Geste. Er wusste immer noch nicht, ob er wirklich wollte, dass Lucy in ein so gefährliches Gebiet zog, aber andererseits wollte er ihr nur zu gerne nahe bleiben und gleichzeitig aber auch unbedingt Sting und Rogue helfen. Und natürlich hatte Capricorn Recht: Wenn Lucy im Kreise der Drachenreiter nicht sicher war, war sie es wahrscheinlich nirgends. Lieber würde Natsu nie wieder auf Igneel reiten, als zu zulassen, dass Lucy noch einmal so etwas wie in Malba widerfuhr. Meine Güte, dich hat es ja ganz schön erwischt. Igneels Amüsement erfüllte die telepathische Verbindung und Natsu verzog unwillig das Gesicht. Kümmer’ dich um deinen Kram! Habe ich. Wir haben das gesamte Gebiet übergründlich durchkämmt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, woher der magische Impuls kam. Nachdenklich wiegte Natsu den Kopf hin und her. Er war für gewöhnlich nicht paranoid, aber das seltsame Verhalten der Drachenartigen, der magische Impuls und der großflächige Angriff auf Heartfilia durch die eigentlich so schwache Sekte Avatar… Du hast es erfasst, Natsu. Das sind mir auch zu viele Zufälle auf einmal. Die Drachenreiter sollten vorerst zusammen bleiben. Vielleicht kann die kleine Magistra neben ihren eigenen Recherchen auch diese Dinge untersuchen. Ihr solltet ihr folgen. Und was tut ihr? Wir teilen uns auf. Metallicana, Weißlogia und Skiadrum suchen das Meer ab. Grandine und ich fliegen in die Berge. Das war riskant. Auf so große Entfernung war eine Kommunikation über das telepathische Band nur mit intensiver Meditation möglich. Ihr seid stark und erfahren genug, ihr werdet in der Stillen Wüste schon zu Recht kommen, erklärte Igneel zuversichtlich. Außerdem ist auch noch Zirkonis da. Der hat wahrscheinlich noch gar nichts mitgekriegt und schläft irgendwo. Natsu hatte den Jadedrachen nur einmal getroffen, nämlich als er vor zwanzig Jahren in den Kreis der Reiter aufgenommen worden war. Damals hatte Zirkonis sich dazu bequemt, Natsus Vorstellung beizuwohnen, auch wenn er nichts als spöttische Bemerkungen für den fünfjährigen Jungen übrig gehabt hatte. Zirkonis war den Menschen zwar gewogen, aber er hatte noch nie zu den berittenen Drachen gehört. Das war unter Drachen anscheinend eine schwer wiegende Entscheidung, zu der sich nicht jeder durchringen konnte oder wollte. Doch auch ohne einen Reiter hatte Zirkonis sich nach den Bosco-Schluchtenkämpfen bereit erklärt, sich in der Nähe von Jadestadt nieder zu lassen, um immer ein Auge auf das zerrüttete Nachbarland zu haben. Dann weckt ihn, sagte Igneel belustigt. Warn’ die Bewohner von Heartfilia vor, dass wir diese Nacht vor ihrem Nordtor rasten werden. Morgen brechen wir auf. „Herr Natsu?“ Der Feuermagier blinzelte verdutzt und ihm wurde klar, wie seltsam es für Capricorn gewirkt haben musste, als er hier regungslos und mit starrem Blick gestanden hatte. „Ich habe mit Igneel gesprochen“, erklärte er schlicht und das schien dem Tiergeist auch als Erklärung zu genügen. Wie viel er wohl über das magische Band zwischen den Drachen und ihren Reitern wusste? Wenn er am Extalia-Krieg teilgenommen hatte, war er vielleicht auch dabei gewesen, als Cubellios gestorben war. Für einen Moment erwog Natsu, den Schwertmeister danach zu fragen, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Der Extalia-Krieg war ein Massaker gewesen. Da hatte es eigentlich keine Helden gegeben, nur Tote und Krüppel. Natsu hatte schon mit vielen Überlebenden dieses Krieges zu tun gehabt und ausnahmslos jeder hatte damals Schäden davon getragen, die er auch heute noch mit sich herum schleppte. Bei jedem äußerte sich das anders und Natsu wollte nicht an Capricorns Wunden rühren. „Bitte sagt den Wachen auf den Mauern Bescheid, dass die Drachen diese Nacht vor dem Nordtor rasten werden“, sagte Natsu also stattdessen. „Natürlich. Habt Dank, dass Ihr mir zugehört habt.“ Der Geist deutete wieder eine Verbeugung an und verließ dann mit langen Schritten den Saal. Natsu blieb alleine zurück und sah sich weiter um. Sein Blick glitt die Reihe der Bilder entlang bis zum vorletzten, das laut der darunter befindlichen Messingplatte Lucys Mutter Layla darstellte. Lucy war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten mit den goldenen Haaren und den sanften, braunen Augen – oder zumindest war sie es gewesen, als Natsu sie vor wenigen Wochen das erste Mal getroffen hatte… Capricorn glaubte, die Reise nach Jadestadt könnte Lucy gut tun, aber gab es vorher nichts, was Natsu für sie tun konnte…? Und dann kam Natsu ein Geistesblitz und er tastete nach seinem Band mit Igneel. Wann werdet ihr Heartfilia erreichen? Den Mitgliedern der bunt zusammen gewürfelten Reisegruppe waren gemütliche Gästezimmer zur Verfügung gestellt worden. Ob sie aufgrund ihrer Beziehung zu Lucy oder aufgrund ihrer besonderen Stellungen oder einfach aufgrund ihrer Hilfeleistung beim Wiederaufbau diese Geste erhalten hatten, Levy hatte jedenfalls beim ersten gemeinsamen Abendessen überdeutlich betont, was für ein immenser Vertrauensbeweis es war. Anscheinend wurde nur wenigen Gästen jemals gestattet, unbeaufsichtigt in den Gästezimmern von Sternheim Quartier zu beziehen. Das Zimmer von Lyon und Meredy lagt direkt neben Grays. Es war dank der hohen Fenster hell und warm und mit kunstvollen Möbeln aus dem roten Kernholz von Lärchen eingerichtet: Ein großer Kleiderschrank, ein noch größeres Regal mit allerlei Klassikern der fiorianischen Dichtung, eine mit blauem Samt bezogene Sitzecke und ein Himmelbett. An den Wänden hingen Wandteppiche mit Szenen aus der Geschichte der Geister. Nach fiorianischen Maßstäben war dieses Zimmer angemessen für jedweden diplomatischen Besuch, aber Gray fühlte sich hier genauso unwohl wie in den Herbergen in Boscun und Malba. Seit der Bestattung seiner Mutter kam er nirgends mehr richtig zur Ruhe, fand oft nur wenig Schlaf und wachte jedes Mal viel zu früh und mit kaltem Schweiß bedeckt wieder auf. Die Sorge um seine beste Freundin machte das nur noch schlimmer. Die gestrige Bestattungszeremonie hatte ihn trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Fremdartigkeit aufgewühlt und er hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zu gekriegt. Statt mit den Drachenreitern und ihren Begleitern zu frühstücken, war er heute Morgen durch die Stadt gelaufen, ohne ihre trotz der frischen Wunden unübersehbare Schönheit richtig würdigen zu können. Eigentlich hatte Lucy ihm damals bei ihrem Abschied in Crocus versprochen, ihn durch ihre Heimat zu führen. Eigentlich hatte er ihr das Gleiche in Bezug auf seine Heimat versprochen... Es fühlte sich an wie aus einem anderen Leben. Ein Leben, in dem sie Beide noch Heimat und Familien besessen hatten. Obwohl Heartfilia bereits im Wiederaufbau begriffen war, wusste Gray, dass Lucy genau wie er noch immer entwurzelt war. Irgendwann hatten Lyon und Meredy ihn eingesammelt und hierher in ihr Zimmer gebracht. Sie waren mehrfach sicher gegangen, dass niemand ihr Gespräch mit anhören konnte, dann hatte Meredy ihre Unterlagen auf dem kleinen Beistelltisch der Sitzecke ausgebreitet. „Also, wir haben als einzigen Hinweis darauf, dass Avatar etwas mit dem zu tun hat, was in der Heimat passiert ist, die Brosche“, begann Meredy in ihrem geschäftsmäßigen Tonfall und legte das erwähnte Schmuckstück auf den Tisch. „Sting und Rogue haben einen ganz ähnlichen Hinweis in Bezug auf die Vorkommnisse in der Stillen Wüste gefunden. Das lässt darauf schließen, dass Avatar weder mit dem einen noch mit dem anderen Vorfall auch nur das Geringste zu tun hatte.“ „Also waren diese Broschen nur Ablenkungsmanöver“, schlussfolgerte Lyon mit einem Stirnrunzeln. „Und um dieses Ablenkungsmanöver möglichst groß aufzublasen, wurde Avatar mit genug Geld ausgestattet, um Söldner für einen Angriff auf Heartfilia anzuheuern.“ Also waren Lucy und ihre Heimat nur Spielfiguren auf dem Schachbrett derjenigen gewesen, welche die Heimat angegriffen hatten. Gray presste die Lippen zusammen und blickte hasserfüllt auf die kleine, unschuldig wirkende Brosche hinunter. So viel Tod und Elend und Trauer…! „Die Frage ist, ob die Vorfälle in der Stillen Wüste und jenseits der Gletscher miteinander in Verbindung stehen“, murmelte Meredy. „Unsere einzige Möglichkeit, das heraus zu finden, führt in den Süden, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir damit jemandem in die Hände spielen. Wem auch immer.“ „Uns bleibt keine andere Wahl, als der Spur zu folgen und dabei so vorsichtig wie möglich vorzugehen“, seufzte Lyon. „Und wir müssen dabei weiterhin mit äußerster Verschwiegenheit vorgehen“, bestätigte seine Freundin mit ernster Miene. Die Brüder tauschten einen unbehaglichen Blick. In den letzten Tagen hatten sie ihre Freunde wiederholt mit Halbwahrheiten und Lügen abgespeist, um nicht verraten zu müssen, weshalb sie in Malba gewesen waren. Gray fühlte sich damit ganz und gar nicht wohl. Lucy und die Anderen hatten das nicht verdient. Nicht einmal dieser Idiot Natsu. „Ich weiß, dass das schwer ist“, begann Meredy behutsam, „aber dieses Wissen könnte die Anderen sogar in Gefahr bringen. Wir haben es hier immerhin mit jemandem zu tun, der in der Lage war, unbemerkt über den Spaltengletscher zu kommen, das Dorf anzugreifen und alle Eismenschen zu töten oder gefangen zu nehmen – und obendrein auch noch seine Spuren zu verwischen. Und er steht irgendwie mit jemandem im Bunde, der in der Lage ist, Basilisken zu kontrollieren. So jemand ist auch für Drachenreiter eine Gefahr.“ „Und mit so jemandem wollen wir uns ganz alleine anlegen?“, fragte Gray angespannt. „Wir finden heraus, wer er ist und wo er die Eismenschen gefangen hält, dann gehen wir zur Kaiserin. Wenn wir mit der Kaiserlichen Armee aufmarschieren, haben wir eine Chance. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.“ In den Augen der Pinkhaarigen erkannte Gray Unwillen, Sorgen und schmerzhafte Erinnerungen. Das alles musste sie stetig an ihre alte Heimat erinnern. Grays Blick ging zu Lyon, der die Hand seiner Freundin ergriffen hatte. Ob Lyon wusste, was genau Meredy widerfahren war, bevor sie an den Kaiserlichen Hof gekommen war? Auf Gray machte es nicht den Eindruck, als könnte Meredy darüber reden. Doch andererseits kannte er seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er selbst ihm Meredys Geheimnisse vorenthalten würde, wenn es für sie wichtig war. Gray hatte deswegen noch nie Anstalten gemacht, danach zu fragen. Meredys Vergangenheit sollte auch ihre Vergangenheit bleiben, solange sie es so wollte. „Also begleiten wir die Anderen nach Jadestadt, wenn sie aufbrechen“, durchbrach Lyon die unangenehme Stille. „Sie werden denken, dass wir helfen wollen.“ „In gewisser Hinsicht wollen wir das auch“, erklärte Meredy sanft. Gray brummte zustimmend, aber am Schweigen das danach über ihnen hing, merkte er, dass die anderen Beiden die gleichen Gefühle plagten wie ihn: Als würden sie die Anderen hintergehen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)