==> Roxy: Erzähl ein Märchen von Vollmondsekunde ================================================================================ Kapitel 1: Ich versuche mein bestes, aber ich bin nur eine dumme Katze ---------------------------------------------------------------------- Die Welt war klein geworden. Manchmal beängstigend klein. Aus all den Orten, die nach Freiheit und anderen Lebewesen rochen, waren nur noch wenige Räume übrig geblieben – und noch weniger Bewohner. Da draußen war nur noch der Tod. Wie ein Netz überzog er, was einmal die ganze Welt war. Dem Tod fehlte jeder Geruch. Er nahm und nahm und nahm. Sanft und leise tappten vier Pfoten über und zwischen all dem Müll herum, der einen Schreibtisch begrub. Vorsichtig setzte sie eine Pfote vor die andere. Ein Stapel Papier wackelte leicht bei ihrem Auftreten. Doch die Balance gelingt. Wie eine Katze sich bewegt, sagt bereits alles über ihr Wesen aus. Was sie einmal als Ziel hat, wird sie auch erreichen. Vorsichtig und doch zielstrebig. Gerade war ihr Ziel ein Geruch aus Vanille und Schweiß. Der Geruch von Überarbeitung und Einsamkeit in Alkohol ertrunken. Mit einem eleganten Sprung überwand sie den letzten Abstand zwischen sich und der einen anderen Überlebenden. Der Mensch hatte seinen riesigen Schädel auf der Tischplatte platziert. Die Vorderbeine haben sich darunter eingefaltet wie ein Kissen. Ungeschickt. Wie konnten diese Wesen nur so seltsam sein. Nichts im Vergleich zu der Kontrolle, die eine Katze über ihren Körper hat. Nichts von der Eleganz oder Präzision. Die Katze schnupperte. Ja, da war der Geruch von Mensch. Aber er war schon viel zu schwach. Dafür, dass ihre Begleiterin sich nicht oft in der Kunst der Körperhygiene übte, war der Geruch viel zu schwach. Menschen mussten stinken. Ihre kleine Nase zuckte. Kurz wandte sich die Katze um, begutachtete das Zimmer. Das Labor, wie ihre Begleiterin es nannte, war ein Chaos aus Flaschen und seltsamen Geräten. An manchen Stellen aufgeräumt, an anderen verwüstet. Misstrauisch hob die Katze ihre Nase. Nur ihrem Geruchssinn konnte sie wirklich trauen. Säuren, Mensch, Essen und der Geruch von Plastik und technischen Geräten. Schwach. Ein schwacher Geruch von all dem. Das bedeutete nichts Gutes. Der Geruch von Feuer war beinahe ganz verschwunden. Das war ein sehr schlechtes Zeichen. Wenn das weiße Netz sie einkesselte, verschwand der Geruch. Als würde der Tod ihn mit dem Leben zusammen aufsaugen. Die Katze tappte mit einer Pfote sanft auf die Vorderbeine des Menschenmädchens. Keine Reaktion. Ein paar Schritte auf dem weichen Untergrund. Nichts. Langsam wurde die Katze doch ungeduldig. Sie stieß mit ihrem Kopf gegen den des Mädchens. Leises Schnurren. Nur um sicherzugehen, dass das Mädchen dies nicht als Angriff auswertete, selbstverständlich. Vielleicht auch ein bisschen, weil die Katze sie mochte. Sehr sogar. Vielleicht mehr als ihre Gelegentlichen Angriffe und ihr Drang alleine zu sein vermuten ließen. Sie war immer noch eine Katze. Die letzte Katze der Erde, aber noch immer eine Katze. Als solche wäre es ein Verbrechen an ihrer Art, ihre Gefühle offen zuzugeben. Ihre menschliche Begleitung hatte weniger Ehrenkodex der Menschheit zu verteidigen. „Mutie, bitte... Lass mich schlafen.“ Das Mädchen schob ihre Arme der Katze entgegen, wohl in der Absicht, sie vom Tisch zu vertreiben. Mutie allerdings ließ sich davon nicht beirren. Schnell duckte sie sich unter den ausgefahrenen Armen hinweg. Das Menschenmädchen hatte nun keine Deckung mehr vor ihrem Gesicht. Es war fast zu einfach. Mutie durchbrach die schwache Verteidigung mit weiteren Zuneigungsbekenntnissen im fleischig felllosen Gesicht des Menschens. Sie leckte die Wange des Mädchens und kaute an ihren Haaren. Ihr Schnurren wurde nur noch lauter. Das Mädchen hob den Kopf und stöhnte. Aber vor der Katze konnte sie nicht entkommen. Ihre halbherzigen Versuche, zurück zum träumenden Zustand zu gelangen, scheiterten kläglich. „Ich schätze, es ist Zeit fürs Frühstück, was meine Kleine?“ Das Mädchen lächelte und begann die Katze zu streicheln. In ihrem großen Drehsessel wie für einen Kinderschurken drehte sie sich schwungvoll herum. Erst da bemerkte sie, wie nah das weiße Netz an sie herangeschlichen war. „Mutie“, begann das Mädchen leise und kraulte die Katze hinter ihren Ohren. „Du hast mich mal wieder gerade rechtzeitig geweckt. Kluge Katze.“ Ihre Stimme war brüchig, aber der Geruch von Leben kehrte bereits wieder in ihre Glieder zurück. Die Katze verstand nichts von dem, was das Mädchen sagte. Es waren Laute wie alle anderen auch, unberechenbar und verwirrend. Auch wenn die Katze weder den Sinn der Worte oder ihre Bedeutung kannte, so beruhigte es sie doch, ihren Menschen sprechen zu hören. Eine Geste der Zuneigung. Wenn sie doch wenigstens erkennen würde, welche Laute ihr Name waren. Aber Namen sind für Katzen genauso schwer zu begreifen, wie die Schimmelapocalypse. Mutie fehlte die Eigenschaft, die Menschen früher Dummheit nannten. Ihr fehlte selbstverständlich auch die Eigenschaft, die Menschen Intelligenz nannten. Wenn aber auch aus ganz anderen Gründen. Sie war eine Katze, und damit war das einzige, was wirklich von Bedeutung war ihre eigene Einstellung zu sich selbst – und nicht die von irgendwelchen Menschen. Jene Wesen gehörten der Vergangenheit an. Mit zwei kleinen Ausnahmen. Die erste Ausnahme hatte sich mit Feuerlöscher und Feuerzeug bewaffnet und fackelte das weiße Netz ab, wo es wagte in ihren gemeinsamen Lebensraum einzudringen. Mutie sah ihr aus sicherer Entfernung zu. Längst hatte sie gelernt, den Geruch von Feuer mit der Sicherheit vor dem weißen Netz zu verbinden. An ein Leben bevor der scharfe Geruch in ihrer empfindlichen Nase sie nicht beruhigte, erinnerte sie sich nicht. Doch ihre Instinkte trieben sie immer weg von den Flammen. So hatte sie sich auf dem gemütlichen Sessel zusammengerollt und überwachte die ganze Aktion. Hinter ihr gab ein Bildschirm einen leisen Fiepser von sich. Mutie hob den Kopf. Auf dem Bildschirm flackerte ein Bild. Aufgenommen von einer alten Webcam. Der einzig andere Überlebende aus der Gattung der Menschheit. Mutie konnte sein Gesicht nicht von dem ihres Menschenmädchens unterscheiden. Doch er roch nur nach dem Bildschirm und brachte mit seiner flachen Anwesenheit keinen Körper mit. Kein Wunder also, dass ihr gesunder Katzenverstand ihm nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenken wollte. „Mutie, ist Rox irgendwo in der Nähe?“ Ein böser Blick wurde dennoch gegen den Bildschirm geworfen, bevor Mutie sich langsam erhob und streckte. Ihr Verständnis von diesem Menschenspiegel war sehr begrenzt. Aber sie wusste, dass die Laute, die der Computer imitierte, wenn sein Gesicht zu sehen war, ihre Besitzerin sehr glücklich machten. Eigenständig brachte sie Rox Aufmerksamkeit so oft dieser Mensch erschien zu ihm. Wenn sie um seine Worte und deren Bedeutung gewusst hätte, wäre sie seiner Bitte nie nachgekommen. Zu stolz war sie für diese beiden Menschen. „Danke Prinzessin“, rief der Mensch auf dem Bildschirm Mutie nach. Rox war bereit ihre mühselige Arbeit für Schmusezeit zu unterbrechen. Als sie Mutie auf sich zukommen sah, lächelte sie bereits breit und zog die Katze zu sich heran. „Aww, Mutie, was machst du denn hier? Sag bloss du bist auch von diesem Giftpilz im selben Haus eingesperrt worden wie ich?“ Rox lachte über ihren eigenen Scherz. Sie beugte sich vorn über, um Mutie zu streicheln. Diese strich ihr durch die Beine. Als Mutie sich der ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein konnte, ging sie langsam aber zielstrebig zurück. Rox folgte ihr wie erwartet. All die Verspieltheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie gut diese Katze ihren Menschen unter Kontrolle hatte. Als Rox dann endlich des Bildschirms gewahr wurde, schrie sie fast auf vor Glück. „DiStri!“ Ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Über all ihre Liebe zu dem einzig anderen Menschen war es schwer, ihre Aufmerksamkeit zu behalten – zumindest als Katze. Mutie schlenderte mehrmals über den Schreibtisch, bis Rox sich genug beruhigt hatte, um wieder für die wahren Schönheiten der Natur ansprechbar zu sein. Mutie verlangte den Platz auf Rox Schoß und er wurde ihr gewährt. Ihr Mensch brabbelte wieder zusammenhanglose Worte, nur gelegentlich unterbrochen von Zwischenfragen vom Bildschirm. Aber solange die Streicheleien nicht aufhörten, störte das Mutie wenig. Das war, als Rox begann eine Geschichte zu erzählen, wie keiner der drei sie je vergessen würde. Lange bevor es in den USA die ersten Giftschneewolken gab, und lange bevor die letzten Menschen einander nur noch über Videochats sehen konnten, gab es ein Königreich voller Frösche. Sie alle waren verzaubert worden und erinnerten sich nicht mehr, wie sie vorher waren. Alles was sie wussten, war, wie traurig sie mit ihrer Gestalt waren. Nur der König, der war der traurigste von allen, denn er war ein Mensch geblieben und erinnerte sich an mehr, woran er trauern konnte. Jeden Tag sprach der König mit seinen Fröschen. Jeden Tag erinnerte er sie daran, dass sie einmal seine Untertanen gewesen waren, und wie glücklich sie waren, bevor sie zu Fröschen wurden. Er erzählte ihnen von ihrem Leben und wie er sie vermisste. Der König wurde immer trauriger. „Eines Tages kommt eine schöne Prinzessin, und wen sie küsst, der wird wieder zum Menschen.“ Aber der König wusste nicht, ob es je eine Prinzessin geben würde, die einen Frosch küssen wollte. Deswegen ging der König eines Tages los und suchte nach einer guten Fee, die ihm einen Rat geben sollte. Doch alles, was er fand, war ein fetter Kater am Wegesrand. „Kater! Ich bin ein König. Weißt du, wie ich den nächsten Weg zu einer guten Fee finde?“ Doch der Kater drehte sich nur auf die andere Seite. „Woher soll ich wissen, dass ihr wirklich ein König seid?“ Der König stampfte empört mit seinem Fuß auf. „Sieh, Kater! Ich habe einen langen Bart und eine Krone. Meine Stimme mag von Trauer gezeichnet sein, aber sie hat den Befehlston eines Königs! Und nun sage mir, wie ich eine gute Fee finde.“ Der Kater rollte sich wieder herum und sah den König lange an. „Verzeiht Hoheit. Aber die gute Fee, die einst hier lebte, könnt ihr nicht mehr finden. Ich habe sie gegessen.“ Der König war entsetzt. „Ihr– Was?“ „Aber da ich nun eine Fee gegessen habe, ist all ihre Macht und Güte auf mich übergegangen. Wenn ich auch nicht ihre Weisheit besitze, so will ich euch dennoch nach bestem Gewissen helfen. Was ist es, wobei ihr einen Rat braucht?“ Der König war nicht ganz überzeugt, dass der Kater ihm wohlgesonnen war, aber da er keinen anderen Weg wusste, erzählte er dem Kater von seinem Leiden. Von seinem Königreich, das nur noch aus Fröschen bestand, und wie traurig ihn das machte. Und von seiner Sorge, dass eine Prinzessin niemals einen Frosch küssen würde. „Ja, das ist wirklich ein Schicksal von großer Traurigkeit. So lasst mich Rat sprechen: Veranstaltet einen Ball. Ladet alle Prinzessinnen der benachbarten Königreiche ein, und alle Prinzen noch dazu. Bereitet ein großes Fest vor. Denn ich werde einen Zauber sprechen, der die Frösche entzaubern wird, wenn sie nur mit einem Prinzen oder einer Prinzessin tanzen.“ Der Kater streckte seine Glieder und stand auf. Geschickt stellte er sich auf seine Hinterbeine und streckte eine vordere Pfote dem König entgegen. „Schlagt ein und tut, wie ich euch aufgetragen habe. Aber ich muss euch warnen. In einem Jahr werde ich in euer Königreich einkehren und jeden Frosch essen, der übrig blieb.“ Der König überlegte und schlug dann ein. In einem Jahr, so dachte er, würde er genug Bälle veranstalten können, damit ein jeder seiner Untertanen zurück verwandelt werden konnte. Rox stoppte in ihrer Erzählung. Selbst Mutie bemerkte dies. Sie hatte mehr von dieser Geschichte verstanden als von all den anderen Lauten, die die Menschen so von sich gaben. „Alles Okay, Rox?“ Rox schüttelte sich am ganzen Körper. Vielleicht ein frühes Anzeichen für Fieber. „Nein DiStri. Nein es ist nicht alles okay.“ Das Mädchen hatte Tränen in den Augen. Mühselig wischte sie sie fort. „Ich meine, was machen wir hier? Wir sind die letzten Menschen, und alles was wir tun ist das Internet zu durchforsten und von Dosenkonserven zu leben. Wir können uns nicht einmal treffen, weil du im hintersten Hinterland lebst.“ DiStri schüttelte den Kopf. „Rox, selbst wenn ich vor dem Giftpilz nur zwei Straßen weiter gewohnt hätte – glaubst du, wir könnten uns dann sehen? Ich weiß nicht wie es bei deinem Ende aussieht, aber ich habe mein Haus seit Jahren nicht verlassen können. Überall ist dieses weiße Zeugs. Es ist sogar schwer, den eigenen Raum vor ihm zu verteidigen. Es wächst einfach zu schnell.“ Er schwieg kurz. Alles das war nicht neu – sie wussten es ja beide. Aber er sagte trotzdem nicht, was sie beide dachten. Dass es egal war, wie lange es dauern würde – der Pilz würde sie holen, früher oder später. „Ausserdem, diss nicht das Internet. Warte ich hab ein cooles altes Forum gefunden, das noch immer von Spambots bewohnt wird. Du wirst lachen, manche posten jeden Tag etwas. Katzenmemes und so.“ Mutie spürte die Anspannung, die Rox ansammelte. Sanft drückte sie ihren Kopf gegen den Arm des Mädchens, wieder und wieder. Nach einer Weile waren Rox und DiStri wieder bei ihren Scherzen angelangt, sendeten sich Bilder und Videodateien, die sie gefunden und bearbeitet hatten. Es blieb ja auch nicht viel zu tun. Aber Mutie dachte über die Geschichte nach, wie sie nie zuvor über etwas nachgedacht hatte. Mit Worten. Ausgerechnet DiStri war derjenige, der letzendlich den Vorschlag machte. „Wir sollten einen Ball veranstalten.“ Rox war sofort dabei, obwohl sie noch keine Ahnung hatte, was das bedeuten sollte. Es kümmerte sie auch wenig. Allein die Vorstellung, etwas Neues zu tun, füllte sie mit Lebensfreude. Mit Schmetterlingen im Bauch. Mutie roch es. Die Pheromone, die ihr liebster Mensch ausströmte, waren überwältigend. Doch die Bedeutung war ihr nicht ganz klar. Mit ihrem kleinen Katzenverstand übersah sie die Schwierigkeiten, die ein Teenager mit seinen jahrelangen Hormonunterdrückungen zu bewältigen hatte. Alles was Mutie roch war Verliebtheit und Aufregung gemischt mit Angst und dem beruhigend sicheren Geruch von Feuer. „Also, DiStri, was ist der Plan?“ Rox stützte sich mit ihren Ellenbogen so auf den Tisch, dass ihre Webcam ein möglichst gutes Bild von ihrem Dekolleté einfing. Der nicht gerade subtile Flirtversuch wurde von Mutie nur dadurch ruiniert, dass die Katze auf ihre Schultern sprang. Scharfe Krallen bohrten sich in den Laborkittel. Rox verlor augenblicklich das Gleichgewicht und stolperte etwas zur Seite. Auf der anderen Seite des Bildschirms zeigte sich DiStri unbeeindruckt von der ganzen Szene. „Wir könnten Pads einrichten, sodass du mich auf einem Ständer durch die Gegend schieben kannst. Hab neulich einen alten Smoking gereinigt und desinfiziert. Nach meinen bisherigen Testergebnissen ist er sauber. War nur am überlegen, wofür ich ihn verwenden kann.“ Mit Mutie noch immer auf der Schulter, aber inzwischen wesentlich sicherer im Stand, strahlte Rox über das ganze Gesicht. „Das klingt so super! Ich kann ein hübsches kleid tragen – ich habe dutzende gerettet musst du wissen -“ „Ich weiß. Dein ganzer Twitter ist voll mit Selfies.“ „- und du könntest vielleicht ein paar Spambots programmieren, die ermunternde Zurufe und so simulieren.“ Auf dem Bildschirm nickte der Junge. Im Gegensatz zu Rox hatte er seine Emotionen sehr gut im Griff. Aber er war auch zehn Jahre älter. Sein schlechtes Gewissen quälte ihn mehr, als nötig. Aber sie waren die letzten beiden Menschen auf der Welt. Da konnte er seiner besten Freundin auch einen romantischen Ball vorschlagen. Nachdem sie das Wesentliche geplant hatten, begann Rox zur Freude aller, laut zu tagträumen. Wie meistens tat sie dies in Form von einer Märchenstunde. Mutie hatte es sich bereits auf ihrem Lieblingsplatz bequem gemacht. Die Streicheleinheit war an diesem Tag besonders angenehm. Rox erzählte ein altes Märchen. Von einer Prinzessin auf einem Ball. DiStri lachte, aber es war freundlich. Dann fiel ihr wohl ein, dass sie das Märchen von neulich, dem Froschkönig, nicht zu ihrer Zufriedenheit zu Ende erzählt hatte. Dieses Manko musste natürlich beseitigt werden. So begab es sich, dass der König der Frösche in alle Lande Kunde schickte für ein Jahr der Feste. An arme und reiche Königreiche wurde die Botschaft überbracht. Doch die Botschafter waren Frösche und aus keinem der reichen Königreiche kam eine Meldung. Auch aus keinem der nicht ganz so reichen Königreiche kam Meldung. Aus keinem armen Königreich kam Meldung. Aus den Königreichen, die weder besonders arm noch sonderlich reich waren, kehrte nur ein Frosch zurück. Doch was auch immer er erlebt haben sollte, der Frosch schwieg über seine Reise. Der Frosch schwieg auch über all die anderen Fragen, die der König ihm stellte. Vielleicht, so dachte der König, war der Frosch mit einem Fluch belegt worden, einem weiteren. Zusätzlich zu seinem Dasein als Frosch sollte dieser ehrenhafte Bürger also auch noch mit Stummheit geschlagen sein. Der König war höchst traurig über diese Entwicklung. Aber er schwor sich, ein guter König zu sein. Nachdem er die Feste soweit geplant und so weit vorbereitet hatte, wie es denn möglich war, reiste der König in jenes Königreich, aus dem sein stummer Frosch zurückgekehrt war. DiStri unterbrach Rox mit einem lauten Schnauben. Mutie war nicht begeistert und fauchte den Bildschirm stumm an. Ihre scharfen Zähne waren Drohung genug für den Bildschirmmenschen. Und es unterbrach die Geschichte nicht, die so gerne hören wollte. „Rox, kann es sein, dass die Lösung des Märchens ist, dass der König einfach geistesgestört ist? Vielleicht war der stumme Frosch kein Untertan, sondern lediglich ein normaler Frosch, der zufällig vorbeihüpfte.“ Ein hinterhältiges Grinsen stahl sich auf Rox Gesicht, wurde aber von einem Ausdruck gespielter Empörung übernommen. „Wie kannst du es wagen! Meine eigenen Märchen sind nicht von solch ironischer Tiefe durchzogen, nur um dir und deinen Bedürfnissen nach verwirrten Königen nachzukommen.“ Sie legte den Kopf schief. „Obwohl ich dir natürlich versichern muss, dass der König unglaublich heiß ist.“ „Unglaublich heiß?“ „So heiß wie Nicolas Cage in Con Air“, versprach Rox. Mutie drückte ihren Kopf gegen die Brust ihrer Kameradin. Dieses Flirten war ihr nicht geheuer – es stahl all die Aufmerksamkeit und die dringend benötigten seltsamen Laute über ein tragisch verfluchtes Froschkönigreich. Sie verstand mehr von diesem Märchen als einer Katze zustehen sollte. Doch sie spürte mit all ihrem Sein, dass es wichtig war. Spürte es mit dem Zucken ihrer kleinen Katzennase. Rox lächelte. Sie blickte auf die Katze hinab, gab dem Schnurren nach und erzählte weiter. Nach langen und beschwerlichen Reisen fand der König ein kleines Schloss, nicht ungleich seines eigenen. Dort traf er eine wunderschöne Prinzessin, gewandet in hellen blauen Kleidern und einem wunderbaren Lachen. Als er sie sah, verliebte er sich augenblicklich in sie. Er war geblendet von ihrer Schönheit, den hellen Haaren - Rox fuhr fort, sich durch die Haare zu fahren und sich selbst zu beschreiben. Keiner ihrer Kameraden hinderte sie daran. Es war einfacher, wenn sie in ihren Traum aufging. Außerdem war der Geruch noch immer stark. Feuer und Hormone. Die selbsterfüllenden Erzählungen konnten ausschweifen – erst in einigen Stunden würde es wieder notwendig sein, den Lebensraum zurück zu erobern. Die Prinzessin war ihrerseits ganz angetan vom König. „Aber“, so klagte sie, „ich würde nichts lieber tun, als euch in euer Königreich zu den Festen zu begleiten. Für jeden Frosch mit dem ich tanze, schuldet ihr mir einen Tanz, und so lange will ich tanzen, bis all eure Untertanen entzaubert sind. Doch König der Frösche, Herr meines Herzens; ich muss euch auch um etwas bitten.“ Die Prinzessin hatte eine sanfte Art zu sprechen, doch in ihrer Stimme schwang Besorgnis. Leicht röteten sich ihre Wangen, als sie ihre Röcke straffte und gerade genug hoch zog, um ihre Fersen zu entblößen. „Zu meinem Bedauern besitze ich keine Schuhe mehr, die einem solchen Feste angemessen wären.“ An dieser Stelle stoppte Rox das Märchen erneut. Ihre Augen waren glasig und ihre Stimme brach ab. Hastig wischte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Mutie hatte schon so manches traurige Desaster erlebt. Obwohl sie keine so offensichtlichen Spuren zum erinnern trug wie der Laborkittel, war ihre Anwesenheit vielleicht praktischer. Schnurrend und mit sanften Katzenpfoten und Stupsern ihres Kopfes, beruhigte Mutie ihre Freundin. Es dauerte einige Minuten, bis Rox sich beruhigte. Doch das war nicht so wichtig. Wichtig war für Mutie nur die Gesellschaft dieses Mädchens. Die freundliche, traurige Gesellschaft. Der Bildschirm war leer, als Mutie von der gebesserten Laune ihres Menschen überzeugt war. Der Mensch auf dem Bildschirm hatte das Trösten der fähigeren Lebensform überlassen und sich still und heimlich davon geschlichen. Doch Mutie kümmerte es wenig. Als sie keine Tränen mehr roch, sprang sie selbstsicher herunter. Jetzt wieder ihrem eigenen Kopf und Wünschen verpflichtet, beachtete sie gar nicht, was das Mädchen treiben würde. Der Geruch war noch stark. Für diese Zeit war es sicher, Rox alleine zu lassen. Außerdem hatte Mutie nun eine Mission. Sie würde sie wie eine Katze lösen, mit dem scharfen Verstand und der auffassungsgabe eines Jägers. Da konnte sie sich nicht von einem Tier ausserhalb des Beuteschemas ablenken lassen. Pech für die Menschen. Aber Katze bleibt Katze. Der Weltuntergang hat kein Mitspracherecht. Es war ihre Nase, die sie aus dem Zimmer führte. Es waren ihre Pfoten, die diesen Pfad auch bestritten. Neugierig. Vorsichtig. Da lag ein neuer Geruch in der Luft. Ihr Schweif schoss in die Höhe. Dies war eine Schatzsuche, wie Mutie sie schon lang nicht mehr erleben konnte. Es gab genau vier Räume, die den Schimmelpilz überlebt hatten. Der am besten gesicherte Raum, mit den meisten und besten Gerüchen, war ziemlich klein. Er lag im Zentrum ihrer kleinen, noch bewohnbaren Welt. Regale reichten von einer Seite zur anderen und waren vollgestopft mit all der Nahrung, die Menschen seit je her in Dosenform abfüllten. Mutie besuchte ihn nicht oft. Zweimal am Tag stand sie vor der schweren Eisentür und wartete, dass ihr Mensch hinein ging und wieder heraus kam. Doch abgesehen vom Essen gab einem dieser Raum nichts. Er war kalt und herzlos. Viel lieber mochte Mutie den Raum, durch den sie nun schlich. Groß und hell. Eine Wand ist komplett mit Fenstern ausgestattet. Der Blick nach draußen ist schön, aber beängstigend. Genau wie eine Aussicht sein sollte. Überall liegen Kissen und Decken. Für eine Katze und ihr natürliches Bedürfnis viele Nickerchen zu machen, war es perfekt. Der Geruch wurde stärker. Ein süßer, neuer Geruch. Ihre Ohren vermeldeten keine seltsamen Geräusche. Weder neue noch alte Geräusche waren hinzugekommen. Kein Anzeichen für ein neues Lebewesen in ihrer Mitte. Doch der Geruch war eindeutig der eines Lebewesens. Seltsam vertraut. Mutie fehlten Erinnerungen an andere Katzen. Aber ihre Instinkte riefen zu ihr. Dies war der starke Geruch eines Katers. Langsam näherte sich Mutie einem kleinen Belüftungsschacht an der Wand der vielen Fenster. Noch nie hatte sie ihm viel Bedeutung geschenkt – obwohl so klug wie eine Katze sein kann, war ihre Neugier nur auf das Gebiet beschränkt, in dem der sichere Geruch des Feuers vorherrschte. Dem Schacht fehlte dieser sichere Geruch. Mutie blieb davor stehen, unsicher, was sie tun sollte. Doch ihre Nase würde sie nicht verraten. Dort gab es etwas, das roch. Und was riecht ist nicht tod. Zumindest in ihrer kleinen Welt. Vorsichtig kletterte sie hinein. Eine Pfote vor der anderen. Langsam, elegant – mit den Instinkten eines Jägers auf der Suche nach Beute. Zwischen einigen zusammengebrochenen Mauersteinchen fand sie endlich das Objekt ihrer Begierde. Oder eher den Geruch ihrer Neugier. Es waren Schuhe. Ein schönes Paar kitschiger Tanzschuhe. Von all den seltsamen Gedanken, die der Katze in den letzten Tagen gekommen waren, waren die folgenden am seltsamsten. Für eine Katze. Ihre ganze Persönlichkeit war der kalten und präzisen Berechnung geschuldet, wie sie am besten am Leben blieb. Schließlich war das hier die Apocolypse, da hatte man wenig Zeit für Sentimentalitäten. Doch Rox war nicht die einzige einsame Überlebende. Immerhin hatte das Mädchen einen menschlichen Freund – auch wenn er unerreichbar war. Mutie hatte nichts. Unschlüssig stupste die Katze ihre Nase gegen den einen Schuh. Er hatte eine blaue Farbe. Er roch. Unter ihren Pfoten wackelte der Schuh und fiel dann um. Vielleicht. Ja. Mutie öffnete ihr Maul. Ihre Zähne waren hervorragend wie natürlich alles an ihr. Sie biss in den Schuh und zog ihn hinter sich her. „DiStri!!! Stell dir vor, was Mutie hier gefunden hat!“ Rox tanzte mit erhobenen Armen durch das Labor. An diesem Tag trug sie unter dem Laborkittel ein kurzes Kleid in leuchtendem Pink. Ein Verbrechen an der Modewelt. Doch zu ihrem eigenen Glück waren sämtliche Richter über Mode und Stilbewusstsein Teil einer längst untergegangenen Welt. In ihren Händen hielt sie ein Paar Tanzschuhe. Sie waren blau, sie hatten kleine Schleifchen. Sie passten perfekt zu jenem Kleid, das Rox vor sich für den Ball ausgesucht hatte. „Hast du sie desinfiziert? Rox, du musst wesentlich vorsichtiger sein.“ Die Stimme aus den Lautsprechern des Computers klang besorgt. Aber er lachte auch ein wenig. Rox war leicht zu begeistern, und das war gut so. Die Katze hatte einen Platz der Heizung eingenommen. Zusammengerollt und mit sich selbst zufrieden beobachtete Mutie ihr Menschenmädchen. Der Freudentanz war ihr etwas unverständlich. Doch sie tat ihre Pflicht. Nur ihre Pflicht. Die Beobachtung von Verhaltensgestörten Lebensformen. Die Erhaltung eben besagter Lebensform für das eigene Überleben. Es war viel mehr als eine Freundschaft, soviel wusste die Katze. Es war ein Auftrag. Eine Mission. Überleben. Okay und vielleicht ein bisschen Freundschaft. In Momenten wie diesen war Mutie das, was sie seit einigen Jahren an Selbstzweifel aufgebaut hatte, etwas ferner. Die Katzenseite in ihr war zu stolz, um diese Zweifel überhaupt wahrzunehmen. Doch sie war so viel mehr als eine gewöhnliche Katze mit ihren gewöhnlichen Ängsten. Sie war die Katze. Die letzte. Als diese fühlte sie Verantwortung ihrem Menschen gegenüber. Aber würde das reichen? Auf ewig konnte sie Rox nicht beschützen. Nicht für immer. Nur eine Frage der Zeit, bis sie es nicht mehr schaffte. Der Ball war ein voller Erfolg. Nach einigen Sitzungen intensiven Brainstormings und weiteren Tagen der Vorbereitung, hatten sie ihren Ball so gut es eben ging organisiert. Rox hatte Pads und Phones auf Stöcker befestigt und rundherum aufgestellt, als wären sie ein guter Menschenersatz. Was sie ihnen an Klamotten überziehen konnte, hatte sie hervorgeholt und verteilt. Ihre „Gäste“ waren kunterbunt gekleidet, die meisten dem förmlichen Anlass nicht ganz passend gekleidet. Doch das war egal. Auf kleine Rollen oder Rombas gestellt bewegten sie sich sogar. Nur die Attrappe für DiStri war wie Rox festlich gekleidet. Auf dem Bildschirm den er nun einnahm waren seine Augenringe ganz erheblich zu sehen. Er hatte viele Nächte durchgearbeitet, aber es hatte sich letztendlich gelohnt – jeder von Roxs Gästen war mit einer kleinen AI ausgestattet, die sich für einen ausgesprochen guten Tänzer hielt. Manche basierten auf Spambots und lasen Twitternachrichten vor, die vor Jahrzehnten aktuell gewesen waren und sich auf Partys bezogen. Andere gaben Musik zum besten und zeigten Filme oder Bilder von tanzenden Menschen. Alle tot. Aber daran verschwendete Rox nicht zu viele Gedanken. Sie trug ein schönes blaues Kleid und die Schuhe, die Mutie gefunden hatte. Ihre kleine Lieblingskatze schenkte ihr an diesem Tag besonders viel Liebe und Aufmerksamkeit. Oder ihren Schuhen. Rox lachte, wenn Mutie verspielt ihre Beine schmuste. Aber es hielt Rox nicht vom Tanzen ab. Einer der Tanzgäste war sehr besessen davon, Rox den Walzer beizubringen. Die Tatsache, dass er keine Arme besaß, schockierte ihn allerdings. Rox machte das nichts aus. Sie hatte einen guten Abend. Spät. Ein Wort, das wenig Bedeutung hat ohne eine Gesellschaft mit Wertschätzung von Arbeitszeit. Doch auch für eine Katze, die sich zumindest nach der Bedeutung von Morgens und Abends richten konnte, war dies in einer Welt von Neonröhren und wenig natürlichem Licht bedeutungslos. War egal. In letzter Zeit war ihren sonst so scharfen Katzensinnen einiges egal. Die Schuhe rochen noch immer nach einem Kater. Zusammengerollt lag sie bei den Schuhen. Ihr Schwanz zuckte leicht, aber sie war entspannt. Der Geruch von Feuer war stark um sie herum. Es bedeutete Sicherheit. Wenn ihr Menschenmädchen endlich lernte, von sich aus den Schimmel regelmäßig mit den Flammen zurückzukämpfen, war das ein gutes Zeichen. Schließlich konnte Mutie nicht immer bei ihr bleiben. Sie musste den Kater finden. Langsam hob sie ihren Kopf. Der Geruch war stark. Ihre Ohren stellten sich auf. Sie meinte etwas aus den Augenwinkeln zu sehen, doch als sie den Kopf drehte, war da nichts. Kein Grund zur Eile. Er würde kommen. Ihre Nase verriet es ihr. Sie wurde unsanft von lauten Computeralarm geweckt. Erschrocken fuhr sie hoch. Beharrlich laute Geräusche. Verdammte Technik. Müde fuhr Rox durch ihre langen Haare. Sie blinzelte gegen das grelle Licht des Bildschirms. In großer Schrift leuchtete sie eine Nachricht an. ‚Letzte Bekämpfung des Schimmels liegt drei Tage zurück‘. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie die Nachricht verstand. Panisch stand Rox auf. Schmiss dabei ihren Stuhl um und stieß ihren Arm gegen den Tisch. „Verdammt.“ Ihr Blick glitt über ihre Schulter. Der Schimmel hatte die eine Seite des Zimmers bereits fast vollständig eingenommen. Wuchs er schneller? Erst nachdem sie einen guten Teil des Schimmels abgefackelt hatte, fiel ihr die Abwesenheit ihrer Katze auf. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie die Gedanken abzuschütteln, die sie überfielen wie der Schimmel ihren Lebensraum. Erst nach einigen Tagen der mühsamen Arbeit von Schimmelbekämpfung, fand Rox endlich ihre Katze. Sie lag eingerollt zwischen den blauen Schuhen. Es gab keine Anzeichen von Schimmel – aber das war nicht das einzige, was einen hier den Tod bringen konnte. Verhungert. Zumindest war das der Verdacht, den Rox hatte. Sie machte sich Vorwürfe. Ohne es zu wissen, hatten die beiden doch eine Art Vereinbarung gehabt, die andere zu beschützen und am Leben zu halten. Sich gegenseitig vor dem geruchlosen Tod zu schützen. Dem weißen Gauner. Doch keine von beiden hatte ihr Versprechen halten können. Denn der weiße Tod hatte sich angepasst. Rox hob die Katze sanft hoch. Der Körper ihrer Freundin war so leicht. Rox strich Mutie über das weiche Fell und über den Kopf. Aus den Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Anfangs kümmerte sie es nicht. Zog die blauen Schuhe wie in Trance über ihre Füße. Doch sie roch etwas. Erst nicht bewusst, doch der Geruch wurde stärker. Wenn sie in einigen Stunden im Körper der Katze den Schimmel finden würde, würde sie bescheid wissen. Das Rätsel würde sich vor ihren Augen lösen. Die Panik würde sie fertig machen. Schuldbewusstsein und Todesangst. Doch in dem Augenblick, wo der Geruch und die Einsamkeit sie überwältigten, war noch nichts davon eingetreten. Wie Mutie unterlag sie dem Geruch. Die Wahnvorstellungen setzten ein. Im Türrahmen, unsicher und verängstigt, stand ein Junge. Rox lächelte. Ihr Tod kam genauso glücklich wie der ihrer Katze. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)