The Story before... Love von Nea-chan (Das Prequel zu "Love at third sight") ================================================================================ Kapitel 2: Part 2/3 ------------------- Takuro hatte sie zum Umziehen ganz anständig und ohne Bitten alleine gelassen. Es war ihr schon irgendwie peinlich, etwas von einem jungen Mann anzuziehen, den sie im Prinzip kaum kannte, und das er noch dazu kurz vorher selbst noch am Leib getragen hatte. Aber es roch nicht schwitzig, sondern sogar nach einer leichten Note Männerparfüm. Es kitzelte in ihrer Nase und gehörte nicht unbedingt zu ihren Lieblingsdüften, aber im Augenblick konnte Momoko sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Natürlich war das Hemd ihr zu groß, aber nicht sonderlich. Den überschüssigen Stoff stopfte sie unter ihren Rock und wenn sie die obersten zwei Knöpfe offen ließ und die Ärmel etwas umkrempelte, sah es sogar vorzeigbar leger aus. Schüchtern kam sie aus dem Badezimmer heraus, vor dem Takuro Wache hielt. Bei ihrem Anblick fingen seine Augen zu leuchten an. „Das sieht viel besser aus, als ich erwartet hätte.“ „Ja, danke. Damit rettest du mir den Abend.“ Er lächelte zufrieden. „Das Blau schmeichelt deinen Augen sehr.“ Momoko errötete. War das etwa ein Kompliment? Aus der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins kamen Erinnerungen hervor, die sie schon lange verdrängt hatte. Es hatte im ersten Jahr der Mittelschule eine Zeit gegeben, in der Takuro Amano ihr infolge ihrer Freundlichkeit ihm gegenüber mehr als freundschaftliche Zuneigung entgegen gebracht hatte. Darauf hatte sie nie etwas gegeben, irgendwann hatte er schließlich auch damit aufgehört, ihr auf seine ganz eigene, ungeschickte Art nachzustellen. „Danke…“, flüsterte sie kleinlaut. „Ich werde es waschen und dir so schnell wie möglich zurückgeben. Du musst mir nur deine aktuelle Adresse geben.“ „Ach, das hat keine Eile.“, beruhigte er sie abwinkend. Eine weitere halbe Stunde und viele Fotos später, beendete der Gastgeber die Party offiziell und entließ auch Momoko mit einem großen Lob an ihre Professionalität aus seinem Dienst. Er reichte ihr in einem stillen Moment einen Umschlag mit dem Scheck mit der Anzahlung für die Fotos und einem großzügigen Trinkgeld darin, für das sie sich gar nicht genug bedanken konnte. Das Glück über den erfolgreichen Abend ebbte ab, als sie am Fuße des Gebäudes in die eisige Kälte trat. Bibbernd in ihrer dünnen Steppjacke und bepackt mit der ganzen Ausrüstung, spähte Momoko über die einsame Straße. Es war unheimlich spät, sie war todmüde, ausgehungert und am Erfrieren. Ob jetzt noch ein Bus fuhr? „Momoko! Gut, dass ich dich noch erwische!“ Sie drehte sich zu Takuro um, der hinter ihr ganz außer Atem aus der Drehtür kam und joggend auf sie zu lief. Er trug einen sehr schicken, schwarzen Mantel und einen grauen Schal, der unheimlich weich und warm aussah. „Oh ja, stimmt! Ich hab ja noch gar nicht deine Adresse wegen dem Hemd!“, fiel es ihr peinlich berührt ein. Er lachte. „Nein, nein. Deswegen bin ich dir nicht nachgelaufen.“ Sie stutzte. „Nicht?“ Er schüttelte den Kopf unentwegt und schüchtern lächelnd. „Wir sind doch fast gar nicht zum Reden gekommen. Ich wollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen und würde es sehr nett finden, wenn wir zwei mal wieder etwas miteinander plaudern würden. Der alten Zeiten wegen.“ „Oh… okay. Warum nicht. Ich habe aber momentan nicht so viel Zeit, um mich mit Leuten zu verabreden, musst du wissen…“ Takuros Lächeln wich einem enttäuschten Gesichtsausdruck. „Das darfst du nicht falsch verstehen! Ich habe nichts dagegen - es liegt nicht daran, dass ich keine Lust hätte oder so, sondern wirklich nur an der Zeit.“, fügte sie noch schnell hinzu. „Hmh…“, war alles, was er darauf entgegnete. Momoko hatte ein schlechtes Gewissen. Sie vermutete, dass sein Freundeskreis nach wie vor sehr begrenzt war und Ablehnungen zu seinem alltäglichen Privatleben gehörten. Ob er überhaupt manchmal wie ein normaler Schüler seines Alters ausging? Sie überlegte, was sie ihm noch sagen könnte, da tönte ein tiefes Magengrollen unter ihrer Jacke hervor. Wieder lief sie rot an, denn das konnte er nicht überhört haben. „Du musst hungrig sein. Wer holt dich denn ab?“ „Ähm, niemand. Ich gehe alleine nach Hause.“ „Niemand?“, wiederholte er mit entsetzt erhobenen Augenbrauen. „Um diese Uhrzeit fahren die Busse nur noch sehr unregelmäßig. Warum holt dein Vater dich nicht ab? Wieso war er eigentlich heute gar nicht dabei?“ Sie schnappte nach Luft und überlegte hektisch. „Das ist… kompliziert.“ Takuros Blick wurde misstrauischer. „Er ist krank und bettlägerig. Deswegen kann er nicht aus dem Haus.“, ergänzte sie schnell. „Oh, das tut mir leid. Richte ihm doch bitte Genesungswünsche von mir aus, in Ordnung?“ „Ja, natürlich.“ Er hob den Arm, um ein heranfahrendes Taxi herbeizurufen, das auch sofort vor ihnen Halt machte. „Nimm wenigstens ein Taxi, damit du heil Zuhause ankommst.“ Die Rosahaarige schluckte beim Anblick der Autotür, die Takuro ihr wie ein echter Gentleman aufhielt. Der Gedanke an das schöne Trinkgeld, das sie und ihren Vater über die nächsten Tage bringen würde, und das sie nicht für eine Autofahrt durch die halbe Stadt ausgeben wollte, ließ sie zögern. Wieder knurrte ihr Magen laut und deutlich. „Nein danke, ich laufe lieber. Ich mag die kühle Nachtluft.“ Das Zittern ihrer Knie und wie sie den Kopf in den Kragen ihrer Jacke zurückzog, strafte ihre Worte der Lüge. „Steig bitte ein, wir fahren einfach ein Stück zusammen. Ich nehme dich mit.“ Momoko traute sich nicht Takuro noch einen weiteren Korb aufzudrücken, nachdem der den ganzen Abend über mehr als nur aufmerksam ihr gegenüber war. Es schien ihn gar nicht zu interessieren, dass sie eigentlich nie richtig miteinander befreundet gewesen waren. „Na gut, aber wirklich nur ein Stück.“, stimmte sie resignierend zu. Er freute sich ganz offenkundig über ihre Zusage und setzte sich gemeinsam mit ihr auf die Rückbank des Taxis. Als sie erstmal auf den Polstern des beheizten Wagens saß war sie doch ganz froh darüber, nicht den ganzen Weg nach Hause über frieren zu müssen. „Wohin soll’s denn gehen?“, fragte der Taxifahrer salopp nach hinten gewandt. „Bitte fahren Sie uns einfach zur nächst gelegenen Möglichkeit, wo man um diese Uhrzeit noch etwas Warmes zu Essen bekommt.“ Seiner jungen Sitznachbarin klappte der Mund auf. „Alles klar, Mister.“, antwortete der Fahrer grinsend und zog sein Basecap wieder tief in die Stirn, bevor er den Motor aufheulen ließ. „Takuro! Wollten wir nicht nach Hause fahren?“, flüsterte Momoko verunsichert. „Du hast doch Hunger. Oder nicht?“ Ertappt erwiderte sie seinen prüfenden Blick. „Ich kann auch Zuhause etwas essen.“, versuchte sie sich zu erklären. Er schüttelte den Ärmel seines Mantels nach hinten und entblößte eine schöne Armbanduhr mit goldenem Gehäuse und schwarzem Lederband. „Es ist wirklich schon sehr spät und ich denke, du wirst am Morgen wieder in den Unterricht müssen? Wäre es da nicht viel angenehmer, wenn du dich jetzt einfach von mir zu einem kleinen Snack einladen lässt und ich dich danach noch nach Hause bringe? Du kommst so oder so viel zu spät ins Bett.“ Wieder schoss ihr das Blut ins Gesicht. Nahm das an diesem Abend denn gar kein Ende mehr? „Warum machst du das? Das kann ich doch gar nicht annehmen, du bringst mich in Verlegenheit.“ Er hörte einfach nicht auf zu lächeln; selbst jetzt noch war Takuro nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich möchte einfach nett zu dir sein. Du hast einen harten Abend hinter dir und meiner Einschätzung nach etwas Erholung verdient.“ „Aber wir kennen uns doch kaum!“ „Nun, das ist doch die perfekte Gelegenheit, um das zu ändern.“, konterte er mit einem spitzbübigen Lächeln auf den Lippen. Dazu fiel Momoko nichts mehr ein. Wo nahm er nur dieses unverschämte, fast schon dreiste Selbstbewusstsein her? Das Taxi brachte sie keine 15 Minuten später in die Nähe eines kleinen Imbissstandes, an dem es um diese Uhrzeit immerhin noch einfache Burger und Hot Dogs gab. Takuro lehnte dankend ab, sah dafür aber umso faszinierter zu, wie sich Momoko zwei kleine, vegetarische Burger und einen großen Becher heißen Tee schmecken ließ. Es war eine Genugtuung für ihn zu sehen, wie nötig sie diese einfache Mahlzeit tatsächlich gehabt hatte und wie sehr sie sie genoss. Es gab keinen Moment, in dem er die junge Frau nicht von der Seite beobachtete und das spürte sie. „Sag doch was. Es ist mir peinlich, dass du mich einlädst und dann kein Wort mit mir sprichst.“ „Du willst Konversation? Worüber möchtest du denn reden?“, hinterfragte er amüsiert. „Keine Ahnung. Erzähl einfach irgendwas. Von dieser Amerika-Sache zum Beispiel.“ „Na gut, sehr gern. Hinagiku hat es ja anscheinend nie erwähnt, aber ich habe Verwandte in Amerika.“ „Deinen Onkel, richtig?“ „Genau. Er führt dort eine größere Firma, die sich vor allem mit IT und Programmierung beschäftigt. Sie entwickeln und verkaufen Software an andere Firmen auf der ganzen Welt.“ „Wow! Das klingt richtig bedeutend.“ Er lachte schallend über ihre naive Aussage und wischte sich hinter der Brille sogar eine Träne aus dem Augenwinkel. Dass er sie auslachte, machte Momoko nur noch verlegener. „Es ist nicht bedeutend, aber es ist auf jeden Fall eine große Sache und ein Job mit viel Verantwortung und Einfluss.“ „Entschuldige, ich wollte nichts Dummes sagen…“ Takuro bemerkte, dass sie sich auf den Schlips getreten fühlte und ruderte zurück. Diesmal selbst verlegen und unsicher. „Oh nein, das tut mir leid! Ich wollte mich nicht über dich lustig machen! Ich habe nur schon so lange nicht mehr so was… Unwissendes gehört. Ich war das letzte Jahr immer von Insidern und strengen Geschäftmännern umgeben oder von elitären Kommilitonen aus meiner Privatschule. Ich bin gar keine Gespräche mit normalen Menschen mehr gewöhnt… Ich soll irgendwann in naher Zukunft in das Geschäft mit einsteigen, deswegen war ich auch im Ausland. Dort ist wahrscheinlich in mein Feingefühl etwas abgestumpft.“ Das schüchterte seine Gesprächspartnerin nur noch mehr ein. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass hinter dem Takuro Amano, den ich einst kennen gelernt habe, so ein Konzern oder so eine Familiengeschichte steckt. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt sagen soll. Was du erzählst ist einfach… beeindruckend. Da steige ich nicht hinter – ich bin immer noch die ganz durchschnittliche Schülerin von früher.“ Der Schwarzhaarige schob seine Brille wieder hoch und beugte sich auf seine Arme gestützt über den kleinen Imbisstisch, an dem man nur stehend seine Mahlzeiten zu sich nehmen konnte, zu ihr hinüber. „Mal unter uns: Ich habe dich noch nie für durchschnittlich gehalten.“ Momoko verschluckte sich fast am Tee, als sie das kurze, eindeutige Funkeln in seinen Augen wahrnahm. „Ich glaube, ich bin satt. Ich würde jetzt wirklich sehr gerne nach Hause fahren.“ Sich räuspernd klopfte sie ihre Finger ab und vermied dabei Takuros Blick, den sie noch ganz genau auf sich liegen spürte. Das letzte, wonach ihr im Moment der Sinn stand, war ausgerechnet mit ihm zu flirten. Ihre Reaktion versetzte der Selbstsicherheit des jungen Mannes einen gehörigen Dämpfer. Ohne ein Widerwort zahlte er die Rechnung und rief für sie beide per Handy ein neues Taxi herbei. Schweigend und frierend standen sie am Straßenrand und warteten. Die Minuten zogen sich endlos lang und Momoko fing an zu bereuen, dass sie sich von dem Brillenträger hatte überreden lassen, ihn zu begleiten. Es war genau wie damals; sie war aus Höflichkeit und Mitleid nett zu ihm und er fing an aufdringlich zu werden. „Hör mal, es tut mir leid. Ehrlich. Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dass dir unangenehm war, dann möchte ich mich dafür entschuldigen.“ Nicht ganz unbeeindruckt schaute sie von der Seite zu ihm hoch. Takuro sah drein wie ein bedröppelter Pudel. So ein Bedauern konnte unmöglich gespielt sein. „Schon gut. Du hast mir dein Hemd geliehen, mich zum Essen eingeladen und das Taxi bezahlt - da sollte ich mich nicht so anstellen, wenn du mir auch noch Komplimente machst.“ „Das ist dir also aufgefallen?“ Momoko lachte kurz höhnisch auf. „Sollte es das etwa nicht?“ Er kratzte sich verlegen am Hals und versuchte das Rot um seine Nase herum hinter seinem Schal zu verstecken. „Jedenfalls wollte ich nicht plump oder aufdringlich auf dich wirken.“ „Hast du nicht. Alles gut.“ „Du hast auch sicher einen Freund, den es sehr stören würde, wenn dir ein anderer Komplimente macht.“ War das sein Ernst? Fragte er sie gerade durch die Blume über ihren Beziehungsstatus aus? „Takuro... nein, ich habe keinen Freund. Ich bin aber im Moment auch nicht auf der Suche nach einem.“ Trotz ihrer eindeutigen Aussage, gar keinen Bedarf an einem Mann in ihrem Leben zu haben, atmete er erleichtert aus. „Und du hältst mich doch für aufdringlich.“ Sie lachte leise. „Ja, ok. Vielleicht ein kleines bisschen. Ich meine, wir kennen uns doch eigentlich gar nicht. Wir waren nie so was wie enge Freunde und haben uns außerdem fast zwei Jahre nicht gesehen. Dafür bist du in der Tat ein bisschen aufdringlich.“ „Du hast doch selbst gesagt, dass du immer noch dasselbe durchschnittliche Mädchen von früher bist. Und ich mochte die Momoko von damals.“, antwortete er selbstgefällig grinsend. Fassungslos darüber, dass er sie mit ihren eigenen Worten schlug, blieb ihr nichts anders übrig, als ebenfalls zu lächeln. Das Taxi kam und die Fahrt über blieb es ruhig. Im Autoradio dudelten die ersten Weihnachtssongs vor sich her und lullten sie ein. Momoko wäre beinahe eingeschlafen, wären sie nicht kurz davor in ihre Straße eingebogen. „Du wohnst also immer noch hier?“, fragte Takuro sie, als er ihr beim Aussteigen wieder die Tür aufhielt. „Jap, das ist mein Zuhause. Ich danke dir sehr. Für alles heute Abend.“ „Jederzeit wieder gern.“ Sie hob ihren rechten Zeigefinger und bewegte ihn mahnend hin und her, doch er grinste nur stur weiter. »Hartnäckiger Typ.«, dachte Momoko und gab es auf, sich darüber aufzuregen. Takuro steckte ihr eine kleine Karte zu. „Da steht meine Nummer drauf. Ruf mich an oder schreib mir, wenn du Lust hast.“ „Du meinst, wenn ich dir dein Hemd zurückgeben will.“ „Das kannst du von mir aus auch behalten.“ „Lieber nicht, der Schnitt schmeichelt mir nur bedingt.“ Es sah so aus, als würde jeder von ihnen aus diesem kleinen Wortgefecht mit einem Unentschieden hervorgehen. Momoko nahm die Karte entgegen und schulterte dann die große Tasche mit der Fotoausrüstung. „Gute Nacht, Amano-kun.“ „Bis bald, Hanasaki-chan.“ Momoko brauchte nur zwei Tage, um Takuros Hemd zu waschen und zu bügeln. Wobei das Bügeln am längsten dauerte, da sie dafür am wenigsten Hausfrauengeschick besaß. Irgendwann hing es dann aber doch knitterfrei auf einem Bügel und wartete darauf, von seinem eigentlichen Besitzer wieder entgegen genommen zu werden. Bei seinem Anblick dachte sie an den Morgen nach dieser ereignisreichen Nacht. Selten war sie so schlecht aus dem Bett gekommen, wie an diesem Montag. Sie war so müde gewesen, dass sie nicht nur zur spät zum Unterricht erschienen war, sondern auch in den kurzen Pausen hinter einem Schulheft kleine Nickerchen gehalten hatte. Aber es erinnerte sie auch daran, dass es ihr tatsächlich gelungen war, seit vielen Wochen und Monaten zum ersten Mal für ein paar Stunden all ihre Sorgen auszublenden. Es hatte gut getan sich mit Arbeit abzulenken, die ihr Spaß machte, und es hatte sich auch nicht schlecht angefühlt, ausnahmsweise diejenige gewesen zu sein, die von jemanden umsorgt wurde. Beides war etwas, das sie gerne öfter erleben wollte. Shôichirô war gar nicht aufgefallen, dass seine Tochter an jenem Tag bis weit in die Nacht hinein nicht Zuhause gewesen war. Und ihr fehlten die Ambitionen dazu, ihm davon zu erzählen. An den Abenden der letzten Tage war er ohnehin zu betrunken gewesen, um sachdienliche Gespräche mit ihm führen zu können. Momoko beschloss Takuro zu schreiben, damit er sein Hemd wiederbekommen würde. Je eher sie das von ihrer To-do-Liste streichen konnte, desto besser. Er antwortete auch prompt, allerdings ließ er sie zappeln. Sein persönlicher Zeitplan würde es momentan nicht zulassen, dass er spontan bei ihr vorbei schauen konnte, aber er freute sich sehr darüber, dass er nun auch ihre Nummer hatte. Zunächst hatte sie sich nichts dabei gedacht, doch dann wurde es sehr schnell Routine, dass Takuro ihr nachts, wenn sie meistens schon im Bett lag und wieder über die Situation mit ihrem Vater und ihren Finanzen grübelte, ungefragt Nachrichten schrieb. Es waren immer dieselben Fragen: „Wie war dein Tag? Geht es dir gut? Was macht die Schule?“ und fast immer antwortete sie mit eben denselben üblichen Phrasen, die im Prinzip aber nichts mit der Wahrheit zu tun hatten. Takuro blieb trotz ihrer knappen Antworten am Ball und ließ sich nicht entmutigen. Und es kam der Tag, an dem Momoko sich dabei ertappte, regelrecht darauf zu warten, dass er ihr wieder schrieb. Dies tat er zuverlässig und bald schon schrieben sie wirklich über ihren Alltag miteinander. Nur ihren Vater sparte die junge Frau dabei stets geschickt aus. Es tat einfach gut, dass jemand da war, der sich für sie interessierte und sich zehn Minuten jeden Abend Zeit nahm, obwohl sein Alltag voller eigener Verpflichtungen war. Mitte Dezember, als Momoko Dank der vollständigen Vergütung ihrer entwickelten Fotos von der Privatparty glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, trudelte eine Mahnung ein, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Eine Rate für den noch nicht fertig abbezahlten Hauskredit war aus den letzten Monaten noch offen. Um sie und die Mahnzinsen zu begleichen, musste Momoko alles Geld aufwenden, das sie noch hatten, aber dann blieb ihnen kaum noch etwas für den Alltag übrig. An Weihnachten war dabei gar nicht erst zu denken… „Ich brauche einen Job… oder besser zwei.“, stöhnte sie vor sich her, als sie sich beim Lesen der Mahnung kraftlos auf das Sofa sinken ließ. Ihr Vater war schon wieder auf eine seiner Touren gegangen, da war sie noch gar nicht aus der Schule gekommen. Wütend vor Verzweiflung dachte sie daran, wie er Geld, das sie nicht hatten, in Promille umwandelte. Wovon nur bezahlte er seine Zeche? In ihrer Hilflosigkeit rief sie bei der Bank an und erklärte die EC-Karten ihres Vaters für verloren. Sie hatte Glück und man sperrte die Karten sofort, obwohl nicht ihr Vater persönlich angerufen hatte. Ihr lagen ja alle Bankunterlagen in Form eines gut sortierten Ordners vor, persönliche Passwörter und Codes standen ihr also nicht im Weg. »Wenn Papa nicht von alleine zur Vernunft kommt, muss es eben so sein…« Mit Bauchschmerzen dachte sie an das Donnerwetter, dass sie dafür von ihm zu erwarten hatte, falls es ihm in einem seiner selten gewordenen, nüchternen Momente überhaupt auffiel. In nächster Instanz durchwälzte sie die Zeitungen auf der Suche nach einem Nebenjob für Schüler, den sie problemlos nach dem Unterricht ausüben konnte. Die Auswahl war nicht groß, aber eine Anzeige gab es, in der man eine hübsche, weibliche Bedienung für drei Abende in der Woche suchte, die sich für Kostüme begeistern konnte. Was das bedeuten sollte war Momoko zwar vorerst unklar, aber die Vergütung sah gut aus, also rief sie dort an. Ein frisch eröffnetes Maid Café, das gerade jetzt zur Weihnachtszeit händeringend Verstärkung brauchte, versteckte sich letztendlich hinter der Zeitungsanzeige. Schleifchen, Rüschen und kurze Röcke waren aber kein abschreckender Grund, diesen Job nicht anzunehmen, sodass sie sich für ein persönliches Vorstellen am nächsten Tag aufschreiben ließ. „Das hätten wir fürs Erste… aber wie begleiche ich jetzt diese Rechnung?“ Selbst wenn sie den Job bekam, würde sie frühestens nach einer Woche Arbeit etwas Geld ausbezahlt bekommen und das allein würde noch lange nicht reichen, um die überfällige Rate zu bezahlen. Eine kurzfristige Lösung musste her. Ihr Blick fiel wieder auf die aufgeschlagenen Anzeigen; eine von ihnen war dick eingerahmt, damit sie sofort ins Auge fiel. „Pfandleihe.“, las Momoko leise vor. „Wir bewerten Ihre Güter auch bei Ihnen Zuhause.“ Etwas als Pfand gegen Geld einzutauschen, das man später wieder gegen Zinsen zurückkaufen konnte, klang gar nicht schlecht. Nur war ihr klar, dass sie nicht in der Lage sein würde, irgendetwas fristgerecht auslösen zu können. Ihre blauen Augen fielen direkt auf den Fernseher ihr gegenüber. Er war noch gar nicht so alt und hatte recht viel gekostet. Genauso wie die große Musikanlage, die sie nur ein bis zwei Mal im Jahr benutzten. Und dann gab es noch ein paar andere Kleinigkeiten, wie alte Schallplatten und nutzlos herumstehende Porzellanfiguren, aus denen man vielleicht etwas Geld schlagen konnte, wenn sie etwas wert waren. Momoko erschrak vor ihrem eigenen Verhalten – war sie so abgebrüht, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken in der Lage war, Sachen ihres Vaters und vielleicht auch Erinnerungsstücke an ihre Mutter zu verpfänden? Ihre Mutter… eine Frau, die sie nicht kannte, weil sie einfach ohne ein Wort fortgegangen war, als sie gerade drei Jahre alt gewesen war. Neben dem Jobverlust war das auch einer der Gründe, warum ihr Vater in eine Depression gerutscht war. „Nippes macht nicht satt.“, erklärte Momoko sich selbst und rief gleich darauf entschlossen in der Pfandleihe an. Der Pfandleihenbesitzer und ein Mitarbeiter kamen noch am selben Abend vorbei. Es war schon 18 Uhr durch und dunkel draußen, als sie mit einem weißen Transporter vor ihrem Grundstück Halt machten. Nur eine halbe Stunde eher war Momokos Vater nach Hause gekommen und hatte sich müde in sein Zimmer zurückgezogen. „Wow, sie kommen direkt mit einem großen Auto zur Besichtigung?“, merkte die junge Frau an, als sie die zwei Männer ins Haus ließ. „Die meisten Leute lassen uns nach dem Schätzen und Verhandeln die Sachen sofort mitnehmen. Das spart Wege, deswegen ist das Standard bei uns. Aber keine Sorge, wir rauben Sie nicht aus.“, antwortete der Ältere von beiden augenzwinkernd. Er trug eine dunkle Kapuzenjacke zu ausgefransten Jeans, hatte einen kurzen Igelhaarschnitt und Bartstoppeln am Kinn. Außerdem roch er streng nach Zigarette. Nicht unbedingt der seriöseste, erste Eindruck. „Was wollen Sie denn beleihen lassen?“ Momoko zeigte ins Wohnzimmer auf die Wandseite gegenüber vom Sofa. „Die großen Elektrogeräte vor allem, aber Sie können sich auch einfach mal die kleineren Sachen dort in den Regalen anschauen und mir Angebote dafür machen.“ Er nickte nachdenklich. „Okay, aber Sie sind noch nicht volljährig oder? Wenn wir etwas mitnehmen sollen, brauchen wir die Unterschrift von einem Erwachsenen.“ „Oh, ja. Das ist kein Problem, mein Vater ist Zuhause, er schläft nur gerade. Ich regle das schon mit ihm, wenn es so weit ist.“ »Na großartig, auch das noch…« „Das sind schöne Geräte. Wollen Sie die wirklich verpfänden?“ „Wenn es sich denn lohnt. Wir schauen sowieso kaum fern.“ Der Mann fragte nicht weiter nach und zückte ein modernes Smartphone, auf dem er anfing zu recherchieren, was die angebotenen Sachen wert waren. Nach 30 Minuten war er damit fertig und präsentierte Momoko ein Klemmbrett, auf dem er die für ihn interessanten Gegenstände mit einem jeweiligen Angebot dazu notiert hatte. Erleichtert konnte sie feststellen, dass alles zusammen genug für die nötige Hausrate abwarf und außerdem nichts dabei war, von dem sie sich absolut nicht trennen konnte. „Okay, sie können alle Sachen von der Liste mitnehmen.“ „Wirklich? Und sie wollen nicht noch nachverhandeln?“ „Oh, ähm… ist das üblich?“, fragte sie unbeholfen. Er grinste. „Ich kann das auch mit ihrem Vater klären, wenn Sie das überfordert. Er muss ja sowieso noch unterschreiben.“ „Nein, nein! Das mache ich schon. Geben Sie mir einfach den Zettel, auf dem er unterschreiben muss!“ Ob er ihr nervöses Verhalten durchschaute? „Ich sag Ihnen was, ich gebe Ihnen einfach zehn Prozent mehr. So widerstandslos hat sich noch kein Kunde meinem Angebot ergeben. Sehen Sie das als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk, so großzügig bin ich nicht zu jedem.“ Gerührt davon, wie sehr sie der erste Eindruck doch getäuscht hatte, schenkte sie dem Mann ein warmes Lächeln. Er füllte ein Blatt aus und reichte es ihr anschließend. „Während Sie die Unterschrift besorgen, lasse ich meinen Mitarbeiter die kleineren Sachen schon mal einpacken, in Ordnung?“ „Natürlich.“ Bauchschmerzen versteckten sich hinter ihrer Zuversicht. Auf dem Weg die Treppe hoch legte Momoko sich Erklärungen zurecht, mit denen sie ihren Vater davon überzeugen konnte, dass der Weg zur Pfandleihe im Moment ihr einziger Ausweg war. Vielleicht war es ein Argument zu erwähnen, dass sie seine teure Fotografenausrüstung unberührt gelassen hatte? Damit ließ sich schließlich auf anderem Wege noch Geld mit verdienen. Sie klopfte leise an. „Papa? Kann ich reinkommen? Ich muss kurz mit dir reden.“ Ein Grummeln kam als Antwort und Momoko trat ein. Die Vorhänge waren zugezogen und die Kleidung ihres Vaters lag unordentlich vor dem Bett auf dem Fußboden. „Was willst du denn? Mein Kopf dröhnt… ich bin müde.“, nuschelte er unverständlich. Eine Bierfahne stieg seiner Tochter in die Nase. „Ich geh gleich wieder, dann kannst du dich ausruhen, versprochen. Unten sind nur grad ein paar Leute, die uns gern einige Gegenstände abkaufen würden. Mit dem Geld könnten wir eine sehr wichtige Rechnung bezahlen.“ Momoko verschwieg lieber, dass sie einen Pfandleiher ins Haus bestellt hatte. „Was…? Was willst du denn verkaufen? Wieso?“, nuschelte Shôichirô verwirrt und nur halb anwesend. „Wir haben Schulden, Papa… schon wieder vergessen? Ich suche mir noch einen kleinen Nebenjob, aber das wird nicht ausreichen. Wir müssen etwas verkaufen.“ Unwirsch hob er sein zerzaustes Haupt vom Kissen und blinzelte ihr vernebelt entgegen. „Nicht meine Ausrüstung.“, brabbelte er durch seinen Dreitagebart hindurch. „Natürlich nicht! Ich möchte nur Sachen hergeben, die wir nicht vermissen werden.“ Musik und Nachrichten konnte sie schließlich mit ihrem alten Radio in ihrem Zimmer hören, wenn sie wollte. „Du musst nur hier unterschreiben, mehr musst du nicht tun.“ Verkniffen schaute ihr Vater auf das Blatt Papier, auf dem er in diesem Halbdunkel wahrscheinlich kein einziges Wort entziffern konnte. Momoko reichte ihm vorsorglich bereits einen Stift, den er etwas unbeholfen in die Hand nahm. Sie hielt die Luft an, aber dann unterschrieb er endlich an der Stelle, auf die ihr Finger zeigte, gab alles zurück und drehte sich wortlos und schmatzend wieder in seinem Bett um. „Gute Nacht, Papa.“ Keine zehn Minuten später hatten die beiden Männer unten alles zusammengepackt und waren aufbruchbereit. „Wir wären dann so weit. Würden Sie uns vielleicht noch die Tür und das Tor aufhalten?“ „Sicher.“ Momoko ließ sich nicht lange bitten, als sie den Fernseher und die Anlage anhoben und nach draußen wuchten wollten. Draußen kündigte sich wieder eine kalte Nacht an, trotzdem blieb sie anständig in ihrem dünnen Rollkragenpulli und dem knielangen Faltenrock dabei stehen, während die beiden Sachen aufgeladen wurden und der eine Mitarbeiter noch die Kisten mit den Kleinigkeiten aus dem Haus holte. „Guten Abend, Momoko.“ Erschrocken fuhr sie herum zu dem von Laternen beleuchteten Gehweg. „Takuro! Was machst du denn hier?“, piepste sie eine Oktave zu hoch. „Dich besuchen, um mir mein Hemd abzuholen. Komme ich ungelegen?“ Er hob die Hände; in einer hielt er einen wunderhübschen Blumenstrauß aus Rosen, Amaryllis, Gerbera und Koniferengrün; mit Tannenzapfen, Zimtstangen und kleinen Christbaumkugeln dazwischen. In der anderen lag eine kleine Schachtel, in der Momoko auf den ersten Blick Pralinen vermutete. Sein Timing konnte dennoch nicht schlechter sein! „Ziehst du um?“, witzelte er beim Anblick der letzten Kiste, die in den Transporter geladen wurde. „Ach Quatsch, ich muss nur ein paar Sachen in die Reparatur geben…“, log sie in ihrer Not und strich sich dabei ein paar Mal nervös durchs offene Haar. „Fräulein? Wir sind fertig.“, sprach sie der Geschäftsinhaber wieder an. „Sie haben ab heute drei Monate Zeit, die Sachen bei uns wieder auszulösen, ansonsten freut es mich auch so, mit Ihnen Geschäfte gemacht zu haben.“ Damit war ihre Ausrede hinfällig. Wie betäubt schüttelte Momoko dem Mann zum Abschied die Hand und nahm den Scheck entgegen, den er auf den Namen ihres Vaters ausgestellt hatte. Dann fuhr der Transporter mit den kleinen Bruchstücken aus ihrem Leben an Bord davon. Langsam und ahnungslos, wie Takuro sie jetzt ansehen würde, drehte sie sich zu ihm um. „Waren das etwa Leute von einem Pfandleihhaus?“, fragte er sie bestürzt. „Ich weiß… das wirkt bestimmt merkwürdig auf dich, aber es ist nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat.“ Er sah dem Auto hinterher und dann wieder prüfend in ihre verunsicherte Miene. „Darf ich reinkommen?“ Wie bei ihr gefror sein Atem zu weißen Wölkchen. Trotzdem zögerte Momoko auf seine Frage einzugehen, während sie sich die Arme warm rieb. Er ließ die Hände mit den mitgebrachten Präsenten sinken. „Ich bin zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen. Ich hätte vorher anrufen sollen.“, schlussfolgerte er niedergeschlagen. „Ich wollte dich eigentlich nur überraschen.“ Ihre blauen Augen wanderten kurz mitleidig zu den Blumen und der mitgebrachten Schokolade. „Mit Geschenken?“ „Zu viel oder? Ich schieße schon wieder übers Ziel hinaus.“, gab Takuro verlegen zu. Die junge Frau rang sich ein Lächeln ab und streckte ihre Hände nach dem Strauß aus. „Na ja, es wäre wohl Verschwendung, wenn die schönen Blumen hier draußen erfrieren müssten.“ Sie zog das Bouquet an ihr Gesicht heran und atmete tief den Duft von Zimt und Wald ein. Das war also der erste Blumenstrauß ihres Lebens. „Na gut, du kannst kurz reinkommen.“ Ein Strahlen breitete sich über Takuros blasses Gesicht aus. Drinnen suchte Momoko sofort eine Vase, um den Strauß mitten im Wohnzimmer auf dem Couchtisch aufzustellen. Ihr Gast, der unter seinem Mantel auch heute wieder sehr schick gekleidet war, mit einem grau melierten Kaschmir-Pullover und einer dunklen Anzughose, sah sich solange in dem offenen Raum um. Natürlich spähte er zuerst die Regalwand aus, die auffällig leer geräumt war. Die Rosahaarige wurde rot vor Scham darüber und vermied solange es ging, den Blickkontakt mit Takuro. „Die Pralinen sind übrigens für deinen Vater. Du sagtest doch, dass er immer noch krank ist?“ „Wie? Ach… j-ja. Das stimmt.“ „Er ruht sich bestimmt aus, aber sollte ich ihn nicht trotzdem begrüßen gehen? Das gehört sich doch so. Schließlich bin ich keine deiner Freundinnen.“ „Nein!“, unterbrach Momoko ihn etwas zu schroff. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht… aber er schläft gerade.“ Der schwarzhaarige Japaner nickte gedankenversunken und schlich mit den Händen in den Hosentaschen um sie und das Sofa herum. „Möchtest du, dass ich wieder gehe?“, fragte er sie schließlich unvermittelt. „Wie kommst du denn darauf?“, antwortete sie verwirrt. „Du fühlst dich ganz offensichtlich unwohl in meiner Anwesenheit. Draußen wolltest du mich kaum hereinbitten und hier drin schweigst du mich an, meidest meinen Blick und bietest mir nicht mal etwas zu Trinken an.“ Er lächelte ihr trotz seiner Kritik die ganze Zeit über unermüdlich zu. Momoko lief hochrot an; war es so offensichtlich, wie durcheinander und nervös sie war? „Schon gut, du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich bin hier einfach so hereingeplatzt, dabei scheinst du gerade mit Verhältnissen zu kämpfen, die dir sehr unangenehm sind.“ Takuro deutete auf das leere TV-Regal. „Wenn man so viele Sachen verpfändet, dann müssen die Sorgen schon groß sein, die dich beschäftigen.“ Ein Ruck ging durch Momoko hindurch. Er durchschaute sie voll und ganz, sie brauchte gar nicht erst versuchen, es zu leugnen. „Und deinem Schweigen nach zu urteilen möchtest du auch nicht mit mir darüber reden. Das ist ok, du hast schließlich noch Yuri und Hinagiku. Ich werde mich dir nicht aufdrängen.“ Er verbeugte sich knapp und ging dann an ihr vorbei zur Garderobe, um sich seinen Mantel und das Hemd zu nehmen. „Bitte warte!“ Endlich hatte sie sich wieder so weit gefasst, dass sie sprechen konnte. Nachdem Takuro das Offensichtliche angesprochen hatte, wollte ein Teil von ihr nun unbedingt mit jemanden über diese Dinge reden. Und als er sie mit seinen freundlichen Augen ansah, die trotz ihres Verhaltens immer noch Interesse an dem zeigten, was sie zu sagen hatte, wurde ihr klar, dass sie das schon die ganze Zeit über wollte. Jeden Abend, wenn sie miteinander geschrieben hatten, hatte es ihr unter den Nägeln gebrannt, ihm einfach von ihrem Kummer zu berichten. „Wenn du mir zuhören möchtest, dann will ich sehr gerne mit dir darüber reden.“ Seine Augen leuchteten auf. „Wirklich?“ Sie nickte und versuchte sein Lächeln zu erwidern. „Und deine Freundinnen sind dafür nicht besser geeignet als ich?“ Traurig schüttelte Momoko ihren rosafarbenen Haarschopf. „Die beiden haben im Moment ganz andere Dinge um die Ohren.“ Takuro kniff kurz die Augen zusammen, als wollte er für sich erfassen, was sie mit dieser Anspielung meinen konnte. „Möchtest du mit mir irgendwo einen Kaffee oder Tee trinken gehen? Vielleicht fühlst du dich woanders wohler beim Reden als hier.“ „Sehr, sehr gern.“, stimmte sie erleichtert zu. Wieder per Taxi fuhren Takuro und sie in eine Gegend, in der sich das von ihm ausgesuchte Café inmitten eines großen Einkaufscenters befinden sollte. Überall draußen leuchteten grelle Leuchtreklamen und innen erstrahlten die Schaufenster übertrieben festlich geschmückt. Weihnachtsmusik dröhnte aus jeder Ecke des Centers und fast hatte die junge Frau Zweifel daran, dass es dort wirklich einen Ort geben sollte, wo man in Ruhe und ungestört etwas trinken konnte. Doch es gab ihn tatsächlich ganz oben im Gebäude, von wo aus man einen beeindruckenden Ausblick auf die Stadt Dank der Fensterwände ringsherum hatte. Die bunten, aneinander gereihten Lichter auf den Straßen sahen aus wie eine ganz besondere, lebendige Lichterkette. „Mein Gott, ist das schön!“, schwärmte Momoko hingerissen, als sie sich direkt an einen Tisch am Fenster setzten. „Ja, nicht wahr? Dieses kleine Lokal hier ist ein echter Geheimtipp.“ Sie warf einen Blick durch das Café, das wahrscheinlich der Uhrzeit wegen recht leer war. Es hatte einen dunklen, auf Hochglanz polierten Parkettboden, schwarze Metallstühle mit hellen Polstern und Tische mit gläsernen Tischplatten. In der Mitte des Raumes hing ein großer Kristallleuchter, der sein angenehm sanftes Licht durch all die funkelnden Steine in den Saal streute. Kellner arbeiteten ruhig hinter einem halbrunden Tresen aus dunklem Stein. Hinter ihm standen Gläserne Anrichten mit verschiedenen, kunstvoll angerichteten Kuchen darin. „Wollen wir noch schnell etwas bestellen, bevor wir reden? Das nimmt vielleicht etwas Anspannung raus.“ „Au ja!“, frohlockte Momoko bei dem Gedanken an eine heiße Schokolade und vielleicht ein kleines Stück Kuchen dazu. Euphorisch griff sie zu der kleinen Kaffee-Karte, die bereits an ihrem Platz lag, und schlug sie auf. Ihre Begeisterung löste sich jedoch beim Anblick der Preise sogleich wieder in Luft auf. Mit Geheimtipp hatte Takuro wohl eher hochexklusiv gemeint. »Wer baut denn bitteschön ein teures Luxus-Café in ein Einkaufszentrum?!«, schoss es ihr entsetzt durch den Kopf. Doch dann schwante ihr langsam, dass wahrscheinlich das ganze Zentrum darauf ausgelegt war, vor allem gut situierte Kundschaft zu empfangen. In diesem Viertel der Stadt war sie nicht umsonst noch nie shoppen gewesen. Momoko klappte erblasst die Karte wieder zu; im selben Moment erschien auch schon ein Kellner an ihrem Tisch. „Haben die Herrschaften schon gewählt?“ Statt an ihren Bestellwunsch zu denken, fühlte sich die Rosahaarige selbst im Vergleich mit der Bedienung plötzlich furchtbar underdressed, in ihrem billigen Pulli und dem einfachen Rock. Noch dazu völlig fehl am Platz. „Ich nehme Dasselbe wie meine Begleitung“, hörte sie Takuro sagen. Überrumpelt starrte sie zu ihm hinüber. „Schhhh, sag doch so was nicht! Hast du die Preise nicht gesehen?“, flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Speisekarte zu. Sein Grinsen wurde nur breiter. Unbekümmert wand er sich dem Kellner zu. „Bringen Sie uns doch bitte zwei heiße, dunkle Schokoladen mit Sahne und außerdem je ein Stück von ihrem Apfelstrudel. Bitte aufgewärmt und dazu eine Kugel Vanilleeis.“ Momoko blieb der Mund vor Schreck offen stehen. Ihre Augen wurden angesichts seiner ungenierten Sonderwünsche immer größer, doch die männliche Bedienung schien das gar nicht zu stören. Er schrieb sich nur brav alles auf und verschwand dann mit einem höflichen Kopfnicken an seinen Arbeitsplatz hinter dem Tresen. „Du magst doch Eis. Oder?“ Verdattert blinzelte sie nur. „Ja, schon. Ich liebe Eis, aber…“ „Na dann bin ich ja beruhigt.“, sagte er gelassen. „Takuro.“, setzte sie erneut an, diesmal strenger und eindringlicher. „Ich kann mir wahrscheinlich nicht mal die Sahne auf dem Kakao leisten – wie konntest du für mich da auch noch Kuchen bestellen?!“ „Ich meinte mich zu erinnern, dass du früher immer schon gern Süßes mochtest und dann habe ich vorhin zufällig deinen Blick zu den Kuchen hin bemerkt.“, erklärte er seelenruhig und blätterte dabei noch etwas durch die Speisekarte. „Ernsthaft - ich kann mir das nicht leisten.“ Er klappte die Karte zu und legte sie weg, bevor er Momoko dann mit festem Blick in die Augen schaute. „Das macht nichts, denn ich kann es mir leisten.“ „Was? Wie?“ Takuro lachte leise. Hatte sie etwa wieder mal etwas Absurdes gesagt, dass ihn amüsierte? In einer sehr selbstsicheren Pose lehnte er sich nach hinten in seinen Stuhl, über dessen Lehne er lässig einen Arm hängen ließ. „Man könnte es wohl so ausdrücken, dass mein Onkel in mich investiert. Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir erzählt habe, dass ich in sein Unternehmen einsteigen soll? Nun, das habe ich fest vor. Als Belohnung für meine schulischen Anstrengungen und gleichzeitig als Ansporn, unterstützt er mich finanziell. Dabei sind mir so gut wie keine Einschränkungen auferlegt, solange meine Noten nur exzellent bleiben. Ein Kinderspiel für mich, wie du ja schon von früher weißt.“ Momoko zog die Augenbrauen hoch. Einerseits, weil sie erstaunt über seinen unerwarteten Wohlstand war und andererseits, weil sie diese überhebliche, etwas selbstverliebte Seite an ihm gar nicht kannte. Stolz auf seine schulischen Leistungen war er schon immer gewesen, weswegen er oft mit neidischen Mitschülern angeeckt war, aber nie hatte er sich so hochnäsig und großschnäuzig benommen. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Facette seines neuen Selbstbewusstseins mochte. „Wow… du bist also nicht mehr ganz so bodenständig wie damals.“ „Ich bin einfach nicht arm. Anders würde ich das nicht bezeichnen.“ Es grenzte für seine Gesprächspartnerin schon an Hohn, „keine Einschränkungen“ bereits im nächsten Satz als einfach nur „nicht arm“ herunterzuspielen. „Deswegen zerbrich dir bitte nicht den Kopf wegen einem Stück Kuchen. Ich lade dich ein.“ „Warum noch mal tust du das alles für mich?“ Der Schwarzhaarige sah sie durch seine Brille hindurch an, als würde er ihre Frage nicht verstehen. „Ich wollte dir ganz einfach eine Freude machen. Es gefällt dir doch hier?“ „Darum geht es nicht.“, setzte sie abwinkend an. „Ich hätte mich bestimmt auch in einem schlichteren Café ganz wohl gefühlt. Warum betreibst du so einen Aufwand für mich?“ In seinen Augen lag wieder dieser unbestimmte Glanz, von dem ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Takuro streckte seine linke Hand nach ihrer rechten aus, die vor ihr auf dem Tisch lag, und berührte zaghaft ihre Finger. „Weil ich dich immer noch sehr mag, Momoko. Das müsste dir doch aufgefallen sein.“ Sie errötete schlagartig und zog ihre Hand weg. „Ich dachte, du wolltest nicht mehr so aufdringlich sein.“, beschwerte sie sich leise maulend. „Wollte ich auch nicht, aber du hast gefragt.“, entgegnete er selbstgefällig grinsend. „Genieß es einfach. Ich hatte wirklich keinen Hintergedanken, als ich dich hier her brachte, außer mir anzuhören, was du mir erzählen wolltest.“ Sie stutzte. Das hatte sie tatsächlich schon wieder fast vergessen. Im nächsten Augenblick kam aber schon der Kellner zu ihnen zurück und brachte die bestellten Leckereien mit. So überteuert sie der jungen Frau auch vorgekommen waren – allein die heiße Schokolade war eine Sinfonie aus den herrlichsten Kakaoaromen und an Cremigkeit kaum zu übertreffen. Wenn der Apfelstrudel und das Eis nur annähernd das hielten, was sie bereits vom Duft her versprachen, war Momoko im siebten Himmel. Sie aßen ganz in Ruhe schweigend zusammen. Erst als sich die Teller leerten und sie beide sich an ihren warmen Kakaotassen festhielten, überwand Momoko ihre inneren Schamgrenzen und erzählte Takuro von ihrem Kummer. Sie ließ dabei weder aus, dass ihr Vater seinen Job verloren hatte, noch wie ihn kurz darauf die Depression gepackt und in die Arme des Alkohols getrieben hatte. Sie erzählte wie machtlos sie daneben gestanden hatte und nichts ausrichten konnte. Wie sie seit Monaten von Ersparnissen gelebt hatten, die nun zur Neige gegangen waren und einen Berg aufgehäufter Schulden hinterließen. Dass es letztendlich keinen anderen Ausweg gegeben hatte, als ihr eigenes Sparbuch für die Universität anzureißen und selbst das noch nicht genug war, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. „Deswegen also der Pfandleiher.“, schlussfolgerte Takuro konzentriert. „Und dein Vater hat auch gar nicht die Grippe, sondern liegt im Bett, um seinen Rausch auszuschlafen.“ Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. „Genau... Und morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch in einem Maid-Café. Außerdem überlege ich, ob ich an den Wochenenden nicht für Privatleute fotografieren könnte. Das letzte Mal hat mir viel Spaß gemacht.“ „Ist das nicht ein bisschen viel Pensum für eine Schülerin, die kurz vor dem Abschlussjahr steht? Es ist doch nicht deine Aufgabe, für das Einkommen der Familie zu sorgen.“ „Aber was soll ich denn sonst tun? Mein Vater hört mir kaum zu; sobald ich ihn auf unsere Situation anspreche macht er dicht und alles wird nur schlimmer. Ich hoffe immer noch, dass er wieder von selbst auf die Füße kommt. Solange ist es doch meine Pflicht als Tochter, ihn nicht im Stich zu lassen.“ Takuro seufzte. Dann trat ein warmer Ausdruck in seine Augen. „Du bist viel zu gut. Noch immer sorgst du dich um das Wohl anderer und kümmerst dich rührend um Benachteiligte.“ Momoko verstand sehr wohl, dass das eine Anspielung auf ihn selbst war und darauf, wie ihn damals in der Mittelschule sämtliche Schüler seiner streberhaften Art wegen geschnitten und gehänselt hatten. Nur sie hatte sich neben Hinagiku für ihn eingesetzt und verteidigt, wenn andere beleidigend geworden waren. Dabei hatte sie das vielmehr aus Solidarität ihrer Freundin gegenüber und wegen ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit getan, als um Seinetwillen. „Er ist mein Vater. Das ist selbstverständlich für mich.“ Der Schwarzhaarige verschränkte seine Finger miteinander und dachte angestrengt nach. „Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich dir helfen kann?“ Sie lachte hilflos. „Ich wüsste nicht wie… Ein Goldesel wäre vielleicht nicht schlecht. Papa bräuchte sicher eine Therapie, um den Verlust seiner Arbeit und auch den meiner Mutter aufzuarbeiten. Ich denke, dass ihn das tief im Innern noch belastet, aber das kostet alles Geld. Und dazu zwingen kann ich ihn auch nicht.“ „Man könnte ihn sicherlich auch gegen seinen Willen in eine Entzugsklinik einweisen lassen. Es wäre ja zu seinem Besten.“, schlug Takuro vor. Die Rosahaarige verschränkte entsetzt die Arme miteinander. „Auf keinen Fall! Das tue ich ihm nicht an! So schlimm steht es nun auch wieder nicht um ihn… Wir schaffen das schon irgendwie. Ich wollte mir nur alles einfach mal von der Seele reden! Eine Einweisung steht gar nicht zur Debatte… und umsonst wird er auch dort nicht behandelt.“ Sie blickte entrüstet auf den Grund der Tasse in ihren Händen und überlegte, ob es vielleicht doch nicht die richtige Entscheidung gewesen war, Takuro ihr Herz auszuschütten. Er verstand einfach nicht richtig, wie sie sich fühlte. „Ich bin ehrlich enttäuscht darüber, dass Yuri und Hinagiku in dieser schweren Zeit nicht für dich da sind.“, begann er sich zu echauffieren, nachdem sie eine Weile nichts zueinander gesagt hatten. „Ach was… sie haben wirklich viel zu tun im Moment und da wollte ich sie nicht noch zusätzlich belasten.“, verteidigte sie ihre Freundinnen vehement. „Aha. Aber wann haben sie sich das letzte Mal von sich aus bei dir gemeldet?“ Momoko wollte schnell etwas erwidern, doch eine prompte Antwort fiel ihr nicht ein. Es war Ewigkeiten her, dass sie das getan hatten… noch bevor die Probleme mit ihrem Vater angefangen hatten. Die Zeit war so turbulent vergangen, dass ihr das gar nicht so genau aufgefallen war. „Sie leben eben auch noch ihre eigenen Leben. Soll ich ihnen das übel nehmen?“, versuchte sie das vor Takuro halbherzig zu rechtfertigen Er machte einen abschätzigen Gesichtsausdruck und trank seine Tasse in einem Zug leer. „Dafür, dass ihr immer so unzertrennlich wart und sie sich deine besten Freunde nennen, finde ich das ehrlich gesagt etwas armselig.“ Entrüstung und Wut wollten in seinem Gegenüber aufsteigen; denn langsam wurden ihr seine fixen Ideen und Verurteilungen zu viel! Doch der Wutausbruch blieb aus. Stattdessen machte sich unerwartet Frust in ihr breit, je mehr sie seine Worte sacken ließ. Er hatte nicht ganz Unrecht; es war wirklich nicht zu viel von ihren angeblich besten Freundinnen verlangt, sich wenigstens alle paar Wochen bei ihr zu melden. Sie tat es ja auch! Wie lange war es her, dass sie sich gesehen hatten? Sieben oder acht Monate? Vielleicht länger? Überhaupt schon ein Mal in diesem Schuljahr? Und wenn sie dann von sich aus den Telefonhörer in die Hand nahm, wurde sie abgewimmelt. Bis heute hatten weder Hinagiku noch Yuri zurückgerufen. Takuro reichte ihr ein Taschentuch. Erst als sie es verwundert entgegen nahm spürte sie, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. „Muss ich mich entschuldigen? Habe ich dich traurig gemacht?“, fragte er besorgt. Momoko schüttelte verlegen mit dem Kopf und trocknete schnell ihre Wangen. „Nein, mir ist nur gerade klar geworden, dass du vermutlich Recht hast. Sie sind nicht für mich da, ich bin allein.“ Neue Tränen rollten aus ihren Augen. Takuro unternahm erneut den Versuch ihre Hand zu nehmen. Diesmal entzog sie sich ihm nicht. „Wenn du mich lässt, dann könnte ich dir ein Freund sein.“ Seine Berührung war ihr nach wie vor unangenehm, doch ihre Emotionen befanden sich in einer Ausnahmesituation. Das letzte Mal, dass sie getröstet worden war, lag Ewigkeiten zurück. Sie hatte nur ihren Vater und der war gerade der letzte, der jetzt eine Stütze für sie sein konnte. „Okay.“, presste sie mit erstickter Stimme hervor. „Du darfst mein Freund sein.“ Er drückte ihre Hand fester und strich mit der anderen noch zusätzlich über ihren Handrücken. „Mit der offiziellen Erlaubnis, dich hin und wieder zu einer heißen Schokolade einladen zu dürfen?“, scherzte er. Sie lachte zwischen zwei Schluchzern auf. „Ja, ich erlaube dir hiermit ganz offiziell, ruhig übertrieben nett zu mir zu sein, wenn es angebracht ist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)