Wortgebilde von Yosephia ([Zirkel-Aufgaben / OS-Sammlung]) ================================================================================ Kapitel 1: Farbenspiel - Der Tanz der Seelen -------------------------------------------- Unter Grays Schneeschuhen knirschte es bei jedem Schritt. Ein ewig gleiches Geräusch, das in seinem gesamten Körper zu vibrieren schien. Ein Geräusch der Heimat. Ein Geräusch von Heimkehr und Geborgenheit und Vertrautheit. Nirgendwo hörten sich Schritte im Schnee für Gray so an wie hier. Wie ein Willkommensgruß – die Begegnung mit seinem ureigensten Wesen. Obwohl erschöpft vom langen Marsch mit dem ungewohnten Gewicht seines Seelenstabs, fühlte Gray sich behaglich und zufrieden. Nach sechs Sommern im Land der Sonnenmenschen war es eine Wohltat, wieder die belebende Kälte jenseits des Spaltengletschers zu spüren. Die Luft war hier klarer, die Töne deutlicher, die Sicht bar jeder Trübung. Keine verspielten Gebäude, keine seltsame Kleidung, kein Stimmengewirr, keine Enge, keine Förmlichkeiten. In der Eiswüste gab es keinen Platz für die Albernheiten der Sonnenmenschen. Vor sich erkannte Gray den breiten Rücken seines Vaters. Ein Anblick, der ihm wohl vertraut war. Noch immer ragte sein Vater groß und gewaltig über ihm auf, erschien unerreichbar stark. Dabei war Gray nicht mehr der kleine Junge von damals, der mit seinem Bruder nach Crocus aufgebrochen war. Er war jetzt ein Mann, sowohl nach den fiorianischen Maßstäben als auch nach denen der Eismenschen. Den Beweis für letzteres trug er auf dem Rücken. Und doch blieb sein Vater der unbezwingbare Anführer der Heimat in Grays Augen. Ob es auch nur ansatzweise möglich war, seine Fußstapfen auszufüllen, wie jeder in der Heimat es von Gray und Lyon erwartete? Mehr noch: Wie sollten sie jemals eigene Fußstapfen hinterlassen? Wie sich einen Platz in den Überlieferungen verdienen? Verstohlen linste Gray zur Seite, wo sein Bruder durch den Schnee stapfte. Auch Lyon ging leicht gebeugt unter dem Gewicht seines Seelenstabes. Alle paar Schritte fuhr eine seiner Hände zum Tragegurt, der quer über seiner Brust verlief, als wollte er sich vergewissern, dass der Stab noch da war. Sein Blick war starr auf den väterlichen Rücken gerichtet. In seinen Augen lag ein widerspenstiges Funkeln, die Weigerung, sich den Strapazen des Marsches geschlagen zu geben, die Entschlossenheit, mit dem Vater Schritt zu halten. Aus dem Augenwinkel musste Lyon Grays Blick bemerkt haben, denn er wandte den Kopf und grinste herausfordernd. Sofort reckte Gray trotzig das Kinn nach vorn und verlangte seinen müden Beinen größere Schritte ab. Es war ihm völlig egal, dass Lyon eine Schmelze älter als er war, er würde nicht hinter ihm zurück stehen. Jetzt nicht und auch sonst nie! Er konnte hören, wie auch sein Bruder seine Schritte beschleunigte, und nur allzu schnell verfielen sie in den Gleichtakt, der ihnen im Rekrutenlager der Kaiserlichen Armee eingeimpft worden war. Es mochte eine alberne Sonnenmenschenmarotte sein, im Gleichschritt zu marschieren, aber es hatte zur Ausbildung gehört und Gray und Lyon hatten in keiner Hinsicht hinter den anderen Rekruten zurück stehen wollen. Sie hatten sich als Repräsentanten ihres Volkes empfunden und als solche hatten sie sich stets geweigert, klein bei zu geben. Das war nicht die Art der Eismenschen. Das war nicht ihre Art. Als Silver anhielt, blieben die Brüder gleichzeitig stehen. Langsam drehte der Mann sich um, sein Gesicht mit den tiefen Narben, die er sich im Kampf mit einem Eisbären zugezogen hatte, vollkommen unbewegt, als er seine Söhne musterte. Gray hatte das Gefühl, immer weiter zu schrumpfen, aber er drückte stur den Rücken durch und konzentrierte sich krampfhaft darauf, nicht zu blinzeln. „Ihr habt viel gelernt“, durchbrach Silvers tiefe Stimme die Stille schließlich. „Das war unsere Aufgabe“, erwiderte Lyon und unwillkürlich bewunderte Gray ihn dafür, dass er dabei so ruhig klang. „Ist es immer noch.“ Gray horchte auf. „Was soll das heißen? Wir sind jetzt Stabträger! Wir gehören hierher!“ „Ist eure Rekrutenausbildung in der Kaiserlichen Armee abgeschlossen?“, entgegnete Silver streng. „Habt ihr in Crocus nichts mehr zu lernen?“ „Das brauchen wir hier nicht“, protestierte Gray, obwohl eine leise Stimme in seinem Kopf wisperte, dass er es den anderen Rekruten tatsächlich gerne bewiesen hätte, indem er die Ausbildung mit Auszeichnung abschloss, aber er versuchte, diese Stimme zu ignorieren. „Wir sind Eismenschen. Mit Sonnenmenschen haben wir nichts zu schaffen und gelernt haben wir in Crocus bereits genug.“ „Dann wisst ihr also, warum ich euch mit Ur mitgeschickt habe?“ Gray tauschte einen unsicheren Blick mit seinem Bruder. Nein, wenn er ehrlich war, dann wusste er das immer noch nicht. Damals hatte Silver ihnen nur erklärt, dass sie in Crocus lernen sollten, um bessere Eismenschen zu werden. Nun, gelernt hatten sie. Von Ur und seit letztem Jahr auch von den Ausbildern der Kaiserlichen Armee und von einigen älteren Rekruten, insbesondere von Erza Belserion – Erza Scarlet, wie sie sich seit einiger Zeit nannte. Als der Bote ihres Vaters ihnen vor zwei Monden mitgeteilt hatte, dass sie in der Heimat erwartet wurden, hatten sie angenommen, dass ihre Lehrzeit vorüber war. Aber anscheinend hatte Silver da andere Vorstellungen. Doch anstatt es ihnen zu erklären, drehte er sich einfach wieder um und ging weiter. Langsam folgten sie ihm. Gray hatte das Gefühl, seinen Vater enttäuscht zu haben, aber er verstand einfach nicht, womit er ihn enttäuscht haben sollte. Bei ihrer Rückkehr hatten sie sich sogleich für ihre Erste Jagd bereit gemacht. Sie hatten alles ganz genau so gemacht, wie es schon viele Generationen von Eismenschen vor ihnen gemacht hatten. Sie hatten die Sommerstätten der Elche aufgesucht, ihre Bullen ausgewählt, erlegt und ausgenommen. Ganz genau so, wie ihre Mutter es ihnen im elterlichen Eispilz an einem Fuchspelz demonstriert hatte, hatten sie die kostbaren Felle abgezogen und eingepackt. Die Schlitten, mit denen sie ihre Beutetiere schließlich in die Heimat gebracht hatten, hatten sie selbst gebaut. Und in der Heimat angekommen hatten sie sich ganz alleine darum gekümmert, das Fleisch so sorgfältig wie möglich von den Knochen zu schaben, um es zu räuchern. Erst als all das erledigt war, hatten sie sich die längsten Knochen ihrer jeweiligen Beutetiere heraus gesucht, um ihre Seelenstäbe daraus zu fertigen. Das Ergebnis dieser harten Arbeit trugen sie Beide nun auf ihren Rücken. Mika war stolz auf sie Beide gewesen. Mit diesem sanften Lächeln, das nur eine liebende Mutter zustande bringen konnte, hatte sie ihre Söhne fest an sich gedrückt. Die anderen Eismenschen hatten ihnen brummend gratuliert, ihnen anerkennend auf die Schultern geklopft und prüfend gegen ihre Seelenstäbe geschlagen, beeindruckt von ihrer Länge und Dicke und der Stärke ihrer magischen Versiegelung. Der Einzige, der sich überhaupt nichts hatte anmerken lassen, war genau der Mann gewesen, von dem Gray zuallererst gehofft hatte, dass er stolz sein würde. Wortlos hatte Silver beobachtet, wie alle Anderen seine Söhne über alle Gletscher hinaus gelobt hatten. Wortlos hatte er ihre Seelenstäbe an sich genommen, abgetastet und gegen seinen eigenen geschlagen. Wortlos hatte er sie Beide angesehen. Und dann endlich hatte er mit ihnen gesprochen, doch kein Wort des Lobs oder des Tadels war über seine Lippen gekommen, nur die simple Anweisung, dass sie sich fertig machen und ihm in die Eiswüste folgen sollten. Nun waren sie hier, bereits drei Tagesmärsche von der Heimat entfernt. So weit im Norden war Gray noch nie gewesen. Als kleiner Schneeling, der er vor seiner Reise in den Süden gewesen war, hatte er die Heimat sowieso noch nicht alleine verlassen dürfen. Die wenigen Jagden, zu denen sein Vater ihn und Lyon mitgenommen hatte, waren auch nie so weit im Norden gewesen. Im Mond vor ihrer Abreise hatten sie gerade einmal mit den Jägern mit zum Eismeer im Osten ziehen dürfen, um die Robbenjagd zu beobachten und dann beim Fettsammeln zu helfen. Das Gebiet nördlich der Heimat war für die jungen Männer noch ein großes Mysterium. Sie erreichten eine Hügelkette. Als würde er die Steigung gar nicht bemerken, stieg Silver hinauf, ohne auch nur ansatzweise langsamer zu werden. In dem Bemühen, nicht das Gesicht vor seinem Vater zu verlieren, kämpfte Gray sich ab, um dem Beispiel zu folgen. Als sie die erste Hügelkuppe erreichten, zitterten Grays Knie und seine Seiten stachen. Es kostete ihm alle Selbstbeherrschung, sein Keuchen zu unterdrücken. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass auch Lyon es schwer hatte, die Haltung zu wahren. Obwohl ihm die Erschöpfung seiner Söhne nicht entgangen sein konnte, machte Silver keine Pause. Seitlich stieg er den Hügel herab und erklomm dann den nächsten Hügel. Was folgte, war für Gray die reinste Tortur. Selbst der härteste Drill des erbarmungslosesten Ausbilders der Kaiserlichen Armee reichte nicht einmal ansatzweise an das heran, was diese Hügelwanderung ihm abverlangte. Ob er hier nur Stunden oder doch Jahre damit verbrachte, die Hügel hinauf und hinab zu steigen, könnte er gar nicht sagen. Er verlor jegliches Zeitgefühl und er achtete gar nicht mehr auf seine Umgebung. Das Einzige, was er noch registrierte, war sein Bruder. Sie blieben stets dicht beieinander. Wenn einer von ihnen strauchelte, stützte der Andere ihn. Gray war sich nicht sicher, ob er so lange durchgehalten hätte, wenn Lyon nicht bei ihm gewesen wäre. Als sie endlich am Fuß des letzten Hügels ankamen, wartete Silver bereits auf sie. Er hatte eine Stelle vom Schnee befreit, mit dem mitgebrachten Holz ein Feuer entfacht und sogar schon Tee gebrüht. Für einen Moment fragte Gray sich, ob sein Vater irgendeine Abkürzung genommen hatte oder ob er und Lyon zwischendurch irgendwo eingeschlafen waren, denn Silver sah noch genauso frisch aus wie zu Beginn des Marsches. Nun doch hemmungslos schnaufend ließ Gray sich am Feuer nieder und beugte sich mit geschlossenen Augen vornüber, um mehr von der Wärme der Flammen zu erhaschen. Die Wärme sickerte in ihn ein und machte ihn schläfrig… „Ihr habt euch gut gehalten.“ Mühsam öffnete Gray die Augen wieder und blickte zu seinem Vater auf der anderen Seite des Feuers. Das Licht der Flammen warf geheimnisvolle Schatten in das vernarbte Gesicht und die dunklen Augen schienen für einen Moment zu glühen. Es dauerte einige Herzschläge, bis Gray begriff, dass sein Vater lächelte. Kein breites, lustiges Lächeln wie sonst immer in geselliger Runde, kein sanftes, warmes Lächeln wie in den ruhigen Momenten mit Mika, sondern ein stolzes, väterliches Lächeln. Es fügte sich so nahtlos in den ruhigen, gewissenhaften Gesichtsausdruck, dass es Gray zuerst nicht aufgefallen war. Es war das Lächeln eines Mannes, der sich einer Sache voll und ganz sicher war – auch wenn Gray nicht verstand, wie er auf diesen Gedanken kam. „Als mein Vater mit mir diese Reise gemacht hat, bin ich vor dem letzten Hügel zusammen gebrochen. Er musste mich den letzten Rest des Weges bis hierher schleppen.“ „Du warst mit Großvater hier?“, fragte Lyon mit vor Erschöpfung heiserer Stimme. Bedächtig nickte Silver und hob den Blick gen Himmel. „Es ist eine alte Familientradition. Wenn die Kinder ihre Seelenstäbe gefügt haben, werden Männer ziemlich närrisch und lassen sich die verrücktesten Sachen einfallen, um das Ereignis zu feiern. Wie lange unsere Familie das hier schon macht, weiß ich gar nicht.“ „Was ist das hier?“, fragte Gray verständnislos und unterdrückte mühsam ein Gähnen. Anstatt zu antworten, deutete Silver nach oben. Als Gray dem Hinweis folgte, erblickte er nur den tiefschwarzen Himmel mit unzähligen Sternen. Die Milchstraße ließ sich vage erkennen und einige Sternzeichen, die Ur ihnen beigebracht hatte, um sich in der Wildnis orientieren zu können, wenn es mal nötig sein sollte. Aber nichts davon war besonders herausragend. Gray tauschte einen verwirrten Blick mit seinem Bruder, ehe er schon Anstalten machte, seinen Vater noch mal zu fragen – doch genau in diesem Moment begann es: Über ihnen brannten die Seelenlichter, fielen wie ein Schleier über den Himmel und begannen ihren geheimnisvollen Tanz. Grüne Wellen und Schleifen, die sich langsam wölbten wie ein schwerer Vorhang in einer leichten Brise. Ganz allmählich wurde das Grün von Violett und Blau durchwirkt. Der ganze Himmel schien davon erfüllt zu sein, als hätten sich alle Seelen Fiores hier versammelt. Es war nicht das erste Mal, dass Gray die Seelenlichter sah. In der Heimat konnte man sie auch oft beobachten, selbst bei einer Zwischenstation in Boscun hatte Gray sie schon einmal gesehen. Doch hier war es anders. Hier schienen die Seelenlichter viel näher zu sein, leuchteten intensiver. Beinahe glaubte Gray, danach greifen zu können. „Das sind die Seelen der Ahnen“, sagte Silver mit ehrfürchtig gesenkter Stimme. „Meine Eltern sind in diesen Strom eingegangen, irgendwann werde ich es tun und irgendwann – in hoffentlich sehr ferner Zukunft – auch ihr… Dort oben werden wir eins mit unserem Volk und bringen unseren letzten Dienst dar, damit jene, die nach uns folgen, nie vergessen, welche Pflicht wir auf uns genommen haben.“ Gray kannte diese Überlieferung über die Seelenlichter bereits. Schon als kleines Kind hatte er sie von seiner Mutter gehört. Er hatte es nie angezweifelt, auch wenn keiner ihm je einen Beweis für diesen Glauben hätte liefern können, aber hier und jetzt hatte er seinen Beweis. Der Anblick dieser Seelenlichter berührte etwas in ihm, das er nicht fassen, nicht beschreiben konnte, aber tief in seinem Herzen wusste er, dass dort oben seine Vorfahren wachten, selbst im Tod noch ihrer Mission verschrieben – und er verspürte den Drang, sich ihrer würdig zu erweisen. „Vater…“ Gray senkte den Blick, als sein Bruder das Wort erhob. Das Licht des Feuers kam ihm auf einmal kalt und schwach vor, nachdem er so lange zu den Seelenlichtern hinauf geblickt hatte. „Wieso willst du uns zurück nach Crocus schicken? Wir kennen unsere Aufgabe und wir nehmen sie an.“ „Das weiß ich und kein Vater könnte stolzer auf seine Söhne sein, als ich es war, als ihr mit euren Seelenstäben fertig wart“, erwiderte Silver lächelnd. Diese Worte entfachten eine Wärme in Grays Brust, gegen die ihm das Feuer kalt und trostlos vorkam, und seine müden Gesichtszüge zuckten für ein glückliches Grinsen. „Ich weiß ganz genau, dass ihr die Mission unseres Volkes erfüllen werdet und dass ihr große Anführer werdet, aber so fremd sie uns auch sind, die Sonnenmenschen haben uns viel zu bieten. Sie führen kein schlechteres Leben als wir, nur ein anderes. Wir können von ihnen lernen und mit einigen von ihnen können wir vielleicht sogar Freundschaft schließen. Zu wissen, wen ihr jenseits des Spaltengletschers noch beschützt, wenn ihr die Mission erfüllt, wird euch stärker machen, glaubt mir.“ Gray war sich nicht sicher, ob er diese Erklärung verstanden hatte, aber er wollte sie nicht mehr in Zweifel ziehen. Er vertraute seinem Vater. Es war ein ungewöhnlicher Schritt gewesen, zu zulassen, dass Ur eine Sonnenmenschenpflicht annahm, der ihm einiges an Kritik eingehandelt hatte, aber Silver hatte damals nicht gewankt. Er hielt der Unsterblichen Kaiserin die Treue, wie es viele Männer vor ihm getan hatten, seit sein Urahn den Nordfrieden mit ihr geschlossen hatte. Denn Treue war das Fundament der Eisseele. Das hatte Ur während ihrer zahlreichen Lektionen ständig wiederholt. Anstatt also weitere Proteste zu erheben, sah Gray wieder nach oben zu den Seelenlichtern. Noch immer war ihre Hauptfarbe Grün. Die violetten und blauen Streifen kamen und gingen, wirkten wie kurze Strömungen. Unendlich viele Schleifen bahnten sich ihren Weg über den Himmel, überlagerten einander, stießen einander ab, umtanzten einander. „Wir bleiben also weiterhin in Crocus und bringen unsere Ausbildung zu Ende“, stellte Lyon leise fest. Als Gray zu ihm schielte, erkannte er, dass auch sein Bruder wieder hoch zu den Seelenlichtern blickte. Bildete er sich das ein oder sah Lyon tatsächlich erleichtert aus? Das hing nicht zufällig mit einer gewissen Pinkhaarigen zusammen? Für einen Moment erwog Gray, seinen Bruder ein wenig zu ärgern. Immerhin bot der selten so ein gutes Ziel wie bei diesem Thema… Aber dann verwarf Gray den Gedanken wieder. Solche Nichtigkeiten gehörten nicht hierher. Nicht an diesem Ort jenseits jeder Zivilisation. Nicht zu dieser Stunde, da sie ihrem Vater so nahe waren. Nicht unter diesem atemberaubenden Farbenspiel, das ihre Ahnen ihnen boten… Kapitel 2: Trostlosigkeit - Heimsuchung der Vergangenheit --------------------------------------------------------- Der Strand lag verborgen im Nebel. Der unberührte, helle Sand endete im Nirgendwo, das Rauschen der Wellen, die mit einlullender Regelmäßigkeit auf den Strand trafen, war nur gedämpft zu hören, als würde der Nebel nicht nur die Sicht schmälern. Ein unförmiges Stück Treibholz, das vielleicht einmal eine Galionsfigur gewesen war, ragte schemenhaft aus den grauen Schwaden hervor. Die nahen Felsen waren nur vage Schatten, die Klippen, von denen sie herunter gebrochen waren, gar nicht zu erkennen. Nicht ohne einen gehörigen Schuss Selbstironie fiel Erik auf, wie hervorragend dieses Wetter zu seiner Stimmung passte. Er war wehleidig und unfair, das wusste er, dennoch wollte er lieber alleine sein. Hier an diesem winzig kleinen Strandabschnitt, wo ihn keiner seiner alten und neuen Kameraden stören konnte. Meeresrauschen war ihm seit jeher vertraut gewesen. Wer im Dachgeschoss einer der dreckigsten Hafenkaschemmen von Hargeon aufwuchs, hatte das Meeresrauschen immer im Ohr. Es hatte Erik begleitet, als er sich als Halbstarker in den Gassen der Großstadt einen Namen gemacht hatte. Wie eine Hintergrundmelodie hatte es seiner Ausrufung zu Cobra, dem Bandenführer, beigewohnt, hatte das Röcheln seiner Opfer vor unliebsamen Ohren verborgen, hatte ihn in einsamen Nächten nach zu viel Wein in zu jungem Alter beruhigt. Und es war der einzige Zeuge gewesen, als Cobra, der Bandit, von der Hafenwacht gejagt, in die aufgepeitschte See gesprungen war, um als Erik, der Drachenreiter, aus dem Wasser gezogen zu werden. Am wichtigsten Tag seines Lebens war das Meeresrauschen dabei gewesen… Schwermütig nahm Erik einen Schluck Rum und zog seinen Mantel fester um sich. Er war hartgesotten, hatte den Drill in der Kaiserlichen Armee und einen vierjährigen Krieg überstanden, aber seine neue Heimat, die sich nicht wie eine Heimat anfühlte, war kälter, als er es gewohnt war. Doch er wäre nicht Erik, der Giftstachel, wenn er sich davon etwas anmerken lassen würde. Mochten seine Kameraden sich lautstark und stets auf Neue über die Kälte und den Nebel beschweren, Erik ertrug es stoisch und erfüllte seine ungewollten Pflichten. Letztendlich war das hier ein guter Ort für jemanden wie ihn, der nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen hatte. Ein trostloser Ort fernab der lauten und bunten Zivilisation, die weder von Eriks Opfer wusste, noch es würdigte. Tagtäglich zu sehen, wofür er alles verloren hatte, hätte ihn wahrscheinlich wieder zu Cobra gemacht, einen dummen, zerstörerischen Bastard von einer Hafenratte und einer Hure, ohne Ehre, ohne Gewissen und wahrscheinlich schon sehr bald mit einem Strick um den Hals oder einem Dolch im Rücken. Warum seine Kameraden ihm hierher ans Ende der Welt gefolgt waren, um einen Dienst zu tun, den niemand jemals registrieren würde, war ihm schleierhaft. Lediglich bei Macbeth konnte er es sich denken. In der Kaiserlichen Armee war kein Platz für den Sohn eines Vaterlandsverräters, sei er nun von der Unsterblichen Kaiserin höchst selbst von der Schuld seines Vaters und Generals frei gesprochen oder nicht. Macbeth wollte hier einen Neuanfang. Für Erik gab es diese Möglichkeit nicht… „Erik?!“ Nur mit Mühe unterdrückte der Gerufene ein Stöhnen. Stattdessen ließ er sich an dem Felsen, an den er sich gelehnt hatte, tiefer rutschen, die Hacken seiner eisenbeschlagenen Stiefel in den Sand gegraben, die Rumflasche an die Brust gedrückt. Wie hatte der Bengel ihn bloß gefunden? Hier an diesem trostlosen Ort, von dem nie ein Mensch gehört hatte. Und hier an diesem noch trostloseren Strand, den Erik zu seinem Versteck erkoren hatte? Vor allem: Warum? Ein einziges Mal waren sie einander begegnet, er eine vorlaute Rotznase von fünf Sommern und Erik ein frisch gebackener Soldat der Kaiserlichen Armee. Gewiss, damit war Erik mit seinen siebzehn Sommern immer noch näher an ihm dran gewesen als die Anderen und irgendwie hatte er den immerneugierigen Bengel gut leiden können, aber er hatte Verpflichtungen gehabt und die Familie des Jungen war viele Tagesreisen von Hargeon entfernt gewesen. Zehn lange Jahre lang hatten sie einander nicht gesehen und das war Erik nach allem, was er erlebt hatte, nur recht gewesen. Er war nicht mehr der Erik, den der Junge mit Fragen gelöchert und bewundernd angegrinst hatte. Er hatte sogar versucht, den Jungen zu vergessen. Immerhin gehörte er noch zu ihnen. „Endlich habe ich dich gefunden!“ Mit einem arglosen Grinsen ließ der schlaksige Jüngling sich neben Erik in den Sand plumpsen. Seine dunklen Augen leuchteten erfreut, die Gesichtszüge waren noch knabenhaft unschuldig, auch wenn der Babyspeck schon längst daraus verschwunden war. Bereits jetzt hatte der Junge die offensichtlichen Anlagen, um einmal ein großer Krieger zu werden. Seine Oberarme – wieso brauchte dieser Dummkopf eigentlich keinen Mantel? – wiesen sehnige Muskeln auf und die Hände trugen die Schwielen und Schnitte harter Übungen. „Ich bin hierher gekommen, weil ich alleine sein wollte“, knurrte Erik und nahm noch einen Schluck Rum. Zu seiner Befriedigung sah er, wie das Grinsen langsam wich. Gut so. Bevor dieser Tunichtgut vor drei Tagen hier aufgetaucht war, hatte Erik gerade angefangen, sich mit seinem Elend abzufinden, aber während dieser drei Tage waren all die Wunden wieder aufgerissen worden, die er doch zwei Jahre lang geleckt hatte, wohl wissend, dass so oder so hässlichere Narben zurück blieben als die, die er in seinem Gesicht trug. Denn dieser Junge hatte noch all das, was Erik nicht mehr hatte. Er hatte seinen Drachen, er war ein Drachenreiter, er gehörte zur Gemeinschaft. Das alles würde Erik für immer verwehrt bleiben. Zumal es die Gemeinschaft, zu der Erik damals gehört hatte, gar nicht mehr gab. Die stets so entschlossene Lill war elendig an der Seuche verreckt. Der ruhige, immer vernünftige Noru war beim letzten Vorstoß von Pfeilen gespickt worden – was für eine Ironie, wo seine Gefährtin Lill doch die beste Bogenschützin der Kaiserlichen Armee gewesen war. Und die herzensgute Ralja, die wie eine große Schwester über sie alle gewacht hatte, war von einem dummen, seuchenerkrankten Mob, dem sie eigentlich hatte helfen wollen, im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt worden. Es gab jetzt eine neue Gemeinschaft, davon hatte der Bengel erzählt. Der ungesellige Metallicana hatte sich einen Flüchtling aus Bosco auf den Rücken geholt, mitsamt zwei Leidensgefährten. Und Grandine hatte sich wieder mit einem Mädchen aus Cait Shelter verbunden, das auch gleich einen naseweisen Beschützer im Schlepptau gehabt hatte. Alle waren sie viel jünger als Erik und verstanden nichts, rein gar nichts. Deshalb wollte Erik nichts mit ihnen zu tun haben. Er gehörte nicht mehr zu ihnen. Er war kein Drachenreiter mehr. Als der Junge den Blick auf seine leichten Lederstiefel senkte, fühlte Erik sich beinahe schuldig. Eigentlich wollte er ihm nichts missgönnen. Der Junge hatte bereits genug durchgemacht und Ralja, Lill und Noru waren irgendwie auch seine Kameraden gewesen. Erik mochte sich nicht vorstellen, wie es war, hilflos Zuhause zu hocken und von immer neuen Toden zu hören. Aber der Junge hatte bei Ausbruch des Krieges gerade einmal neun Sommer zu verzeichnen gehabt und alle Drachen und Drachenreiter waren sich einig gewesen, dass er daheim bleiben sollte, egal wie sehr er auch gebettelt und schließlich sogar getobt hatte. „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, fragte Erik mit einem Seufzen. „Ich habe die Kaiserin gefragt“, erklärte der Junge und hob trotzig wieder den Blick. Verdutzt ließ Erik seine Rumflasche sinken und starrte seinen ungebetenen Gast an. „Du willst mir doch einen Leviathan aufbinden!“ „Nein, ich habe Laxus überredet, mich mit nach Crocus zu nehmen und dann bin ich zur Kaiserin gegangen und habe sie gefragt, wo du bist.“ „Du kannst doch nicht einfach zur Herrscherin von halb Ishgar marschieren, um nach einem abgeschobenen Kommandanten zu fragen!“ Fassungslos schüttelte Erik den Kopf. Als Drachenreiter hatten sie einen Sonderstatus, den sie dem Drachenpakt verdankten. Wenn sie auserwählt wurden, wurden sie auch mit den Insignien ihres Status’ versehen, die sie vor der Unsterblichen Kaiserin auszeichneten. Allerdings war dieser Status nicht dafür da, um nach alten Freunden zu fragen. „Warum nicht?“ In den dunklen Augen des Jungen funkelte es leidenschaftlich. „Du bist für sie in den Kampf gezogen. Ich werde auch irgendwann für sie in den Kampf ziehen. Sie ist es uns schuldig!“ „Red’ keinen Seetang!“, fauchte Erik und versetzte dem Jungen einen Stoß gegen die Brust, der diesen in den Sand beförderte. „Halt’ dich gefälligst aus solchen Sachen heraus! Keine Kämpfe, verstanden?! Sei lieber froh, dass du damals zu jung warst!“ „Das bin ich aber nicht!“ Der Schrei des Jungen ging Erik durch Mark und Bein. Während der letzten drei Tage hatte er immer versucht, sich von ihm abzuschotten und hatte nur mit wachsendem Ärger das unbekümmerte Grinsen gesehen und das nimmermüde Schwatzen gehört. Aber hier und jetzt gab es kein Grinsen und kein Schwatzen. In den dunklen Augen des Jungen standen Schmerz und Verlust. „Wenn ich nicht auch mit allem kämpfe, was ich habe, dann war Cubellios’ Tod vielleicht umsonst! Und ich werde nicht noch mal tatenlos zusehen, wenn Gajeel oder Wendy in den Kampf ziehen müssen! Ihre Kämpfe sind meine Kämpfe!“ Der Name seines Drachen versetzte Erik einen schmerzhaften Stich. Seit jenem Tag damals, als der Giftdrache die Magie der Feinde mit seinem eigenen Körper aufgehalten hatte, hatte keiner es mehr gewagt, in Eriks Gegenwart diesen Namen auszusprechen. Der Name des Wesens, das aus Erik einen aufrechten, ehrenwerten Menschen gemacht hatte, der einen Platz im Leben und in der Gesellschaft hatte. Diesen Namen jetzt wieder zu hören, trieb Erik beinahe die Tränen in das ihm verbliebene Auge. „Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst“, krächzte er und wandte den Blick von dem Jüngeren ab. „Jeder Drachenreiter hat seine eigenen Angelegenheiten. Wenn Ralja sich nicht eingemischt hätte…“ „Dann wären noch mehr Menschen gestorben!“, wurde er unterbrochen. „Und Lill und Noru auch… Wusstest du, dass Noru Wendys Bruder ausgebildet hat? Oder dass Lill Gildartz gerettet hat? Sie sind tot und ich vermisse sie, aber ich muss da weiter machen, wo sie aufgehört haben!“ „Damit du auch irgendwann Kameraden oder sogar deinen Drachen sterben siehst?“ Erik drehte den Kopf wieder und blickte aufrichtig besorgt auf den Jungen herab. „Erspar’ dir das.“ „Sie werden nicht sterben. Ich werde das nicht zulassen! Dafür übe ich, seit ihr in den Krieg gezogen seid.“ Die wild entschlossene Miene mit den zitternden Lippen und den glühenden Augen rührte etwas in Eriks Brust, das er lange verloren geglaubt hatte. Etwas in ihm wollte dem Jungen einfach vertrauen. Darauf vertrauen, dass er einen Weg fand, jene zu beschützen, die ihm wichtig waren. Darauf vertrauen, dass er den Toden von Cubellios, Ralja, Lill und Noru einen tieferen Sinn gab. „Dummkopf“, nuschelte Erik und hob die Flasche wieder an seine Lippen, um zu verbergen, wie sentimental er auf einmal wurde. „Du hättest lieber ein Tischler werden sollen.“ „Tischler mögen mich nicht.“ Erik verschluckte sich beinahe an seinem Rum vor Erheiterung. Das konnte er sich sogar gut vorstellen. Jemand, der mit Holz arbeitete, würde wohl kaum einen Feuermagier um sich haben wollen. Vor allem nicht einen so ungestümen wie diesen hier. Er setzte die Flasche wieder ab und gab sie dem Jungen. Mit fünfzehn Sommern sollte ein kleiner Schluck ja wohl in Ordnung sein. „Und warum bist du hier? Ich kann nichts mehr beitragen. Für mich sind die Kämpfe vorbei.“ „Aber du bist immer noch mein Freund. Ich wollte dich wieder sehen“, erwiderte der Junge schon wieder trotzig und schnupperte an der Flaschenöffnung, ehe er einen vorsichtigen Schluck nahm. Hustend ließ er die Flasche fallen und Erik fing sie mit einer Hand auf und klopfte mit der anderen auf den schlaksigen Rücken. Fest genug, damit der Junge vornüber gedrückt wurde, denn Erik hätte sich lieber beide Hände abgehackt, als zu zulassen, dass der Junge sah, wie sehr ihn dessen Worte rührten. „Das ist eklig!“, klagte der Junge schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Warum trinkst du so was?“ „Eine dumme Angewohntheit“, murmelte Erik und blickte nachdenklich auf die dickbauchige Flasche in seiner Hand hinunter. Mit dem Rum hatte er erst angefangen, als er hier angekommen war. In seiner Zeit als Cubellios’ Reiter hatte er höchstens einmal im Kreise seiner Kameraden dem Bier gefrönt. Aufgrund seiner Magie machte ihm Alkohol weniger aus als anderen Menschen. Rum war eigentlich der einzige Alkohol, der tatsächlich etwas bei ihm ausrichten konnte. „Wirklich dumm, du solltest lieber Kinanas Essen probieren.“ „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Mit einem Stirnrunzeln blickte Erik den Jungen an. Was sollte er denn mit der Frau zu schaffen haben, mal davon abgesehen, dass er mit ihr in ihrer Funktion als Quartiermeisterin des Stützpunkts zusammen arbeiten musste? „Sie hat nach dir gefragt“, erklärte der Junge mit einem Grinsen. „Sie mag dich.“ „Seegeblubber!“ Schnaufend stand Erik auf und zog den Jungen am Kragen seiner Weste aus dem Sand. Übermütig zerzauste der sich die pinkfarbigen Haare, um den Sand heraus zu kriegen. „Sie hat es aber zugegeben, als Sawyer sie danach gefragt hat!“ Erik verdrehte die Augen. Sein alter Freund aus Hafenrattenzeiten war viel zu geschwätzig. „Gehen wir jetzt etwas essen? Ich verhungere!“ „Du verhungerst immer.“ „Gar nicht wahr!“ Kopf schüttelnd blickte Erik dem Jungen hinterher. Wie auch immer er es angestellt hatte, Erik fühlte sich besser. Jetzt war er sogar froh, dass der Junge ihn heimgesucht hatte. Am Anfang des Pfads, der sich den steilen Abhang hinauf schlängelte, blieb der Bengel stehen und winkte ihm zu. Trotz des Nebels war sein breites Grinsen unübersehbar. „Komm’ schon, alter Mann!“ „Nenn’ mich noch einmal alt und ich werfe dich ins Wasser, Natsu!“ Lachend rannte der Pinkhaarige den Pfad hinauf. Als Erik ihm gemächlicher folgte, musste er grinsen. Hinter ihm lag noch immer der trostlose Strand. Neben dem Felsen eine halbleere Rumflasche im Sand. Vielleicht würde er irgendwann hierher zurück kommen. Die Trauer um Cubellios und die Anderen würde wohl nie wirklich verschwinden. Aber etwas sagte Erik, dass er es nicht mehr so oft tun würde… Kapitel 3: Valentinsgeschenk - Ein besonderer Tag ------------------------------------------------- „Ich habe Leo für nächste Woche Dienstag abzugeben. Höre ich Gebote?“ Verdattert sahen die Freunde reihum. Selbst Gajeel blickte überrascht von seinem Hamburger auf, den er sich für die Pause beim wöchentlichen Basketballmatch besorgt hatte. Es kam immerhin nicht alle Tage vor, dass Natsu Dragneel sein heißgeliebtes Töchterchen feilbot. Für gewöhnlich würde Natsu sich auch lieber eine Hand abhacken, als länger als unbedingt nötig auf seinen kleinen Augenstern zu verzichten, aber an diesem Tag hatte er etwas Besonderes vor, da mussten Opfer nun einmal gebracht werden! „Hey, verschacherst du gerade meine Nichte?!“, empörte sich Sting und bedachte seinen Fast-Schwager mit einem finsteren Blick. „Nur für einen Tag“, wiegelte Natsu ab und sah in die Runde. „Also? Wer will?“ „Ein Baby reicht mir“, seufzte Lyon. Neben ihm schnaubte Gray gehässig. „Was denn, Superdaddy? Bist du etwa überfordert?“ „Darüber macht man keine Witze“, brummte Lyon missmutig. „Koliken sind Scheiße.“ „Okay, damit ist Lyon raus, höre ich weitere Gebote?“ Gray runzelte die Stirn. „Wieso willst du Leonida überhaupt weg geben?“ „Weil halt. Was ist mit dir?“ „Ich habe eine Prüfung an dem Tag.“ „Keine Zeit“, schob Gajeel hinterher und biss wieder in seinen Hamburger, als wäre damit alles gesagt. „Kommt ihr noch mal an, dass ihr Leo halten wollt!“, klagte Natsu und deutete theatralisch auf seine Freunde. „Das ist eine einmalige Gelegenheit, so ein süßes Kind gibt es nur einmal auf der Welt!“ „Ob ich Leo halten darf oder nicht, entscheidet letztendlich Lucy, nicht du“, erwiderte Gray triumphierend. Natsu zog einen Flunsch. Da hatte sein bester Freund leider Recht. Zu dumm aber auch, dass Gray auch gleichzeitig Lucys bester Freund war. Eigentlich war das ja gut, so waren sie sich immerhin sofort einig gewesen, wer der Pate für ihre gemeinsame Tochter sein sollte, aber jetzt gerade untergrub das eindeutig Natsus Autorität! Hilfe suchend wandte Natsu sich an Loke, der jedoch mit einem ahnungsvollen Lächeln den Kopf schüttelte. „Tut mir Leid, aber ich habe an dem Tag schon etwas vor.“ „Dann nehme ich Leonida“, erklärte Sting und bedachte Natsu mit einem dieser Großer-Bruder-Blicke. „Bevor du sie noch auf dem Wochenmarkt versteigerst…“ „Fiese Unterstellung!“ „Du hast sie gerade wie ein Pferd bei einer Auktion angeboten“, mischte Gray ein. „Gar nicht wahr! Da erweise ich euch schon mal so einen Vertrauensbeweis und ihr Banausen…!“ „Ja ja“, mampfte Gajeel und stopfte sich den Rest seines Hamburgers in den noch halbvollen Mund, ehe er aufstand und wieder nach dem Basketball griff. Noch immer schmollend sprang Natsu ebenfalls auf, um sich noch mal aufzulockern. Auch wenn es nur freundschaftliche Drei-gegen-Drei-Spiele waren, die sie während der kalten Jahreszeit in der Uni-Sporthalle abhielten, waren die wöchentlichen Basketballtreffen mit seinen Freunden doch ganz schön fordernd. Genau das, was Natsu als Ausgleich zu seinem eher auf Ruhe und Sorgfalt basierenden Job brauchte, auch wenn er ihn noch so sehr liebte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Loke sich an Sting wandte. „Bist du dir sicher, dass du Leonida an dem Tag zu dir nehmen willst?“ „Klar, warum nicht? Ich kann mir frei nehmen und Rogue wird es auch auf andere Gedanken bringen, der macht sich unnötig Sorgen, wie seine Prüfung ausgegangen ist.“ „Ich meine ja nur…“ Bevor Loke weiter reden und damit alles verderben konnte, luchste Natsu Gajeel den Ball ab und stieß diesen mit einem lauten Ruf in Stings Richtung. Wie es nicht anders zu erwarten war, reagierte der Blonde einwandfrei und fing den harten Pass problemlos auf. „Auf die Art bedankst du dich also bei mir?“, rief Sting und sprang übermütig auf die Beine. „Derjenige, der sich bei mir dafür bedanken muss, dass er auf das hübscheste Baby aller Zeiten aufpassen darf, bist ja wohl du!“, lachte Natsu triumphierend. Zwar sah er noch, wie Loke resigniert den Kopf schüttelte, aber das machte jetzt auch nichts mehr. Er hatte Sting an der Angel und damit war die wichtigste Frage für den nächsten Dienstag geklärt. Jetzt stand seinem Plan nichts mehr im Wege! *~*~*~* „Drei Könige, zwei Damen!“ Mit einem überheblichen Grinsen warf Minerva ihre Karten auf den Tisch und zog dann den Gewinn zu sich, bestehend aus Butterkeksen und Schokopralinen in Herzform, die Yukino gestiftet hatte, weil sie ihr angeblich misslungen seien. Dabei sahen sie in Rogues Augen vollkommen in Ordnung aus, aber dieses Urteil hatte seine langjährige Nachbarin mit einem ungewöhnlich wilden Funkeln in den Augen und den Worten, dass sie perfekt werden mussten, vom Tisch gewischt. Darauf hatte er lieber nichts mehr erwidert. Wer war er, dass er sich mit Yukino über die Form von Schokopralinen stritt? „So viel Glück kann man doch gar nicht haben!“, meckerte Sting, dessen Pott endgültig leer war. Auch Orga und Yukino mussten die Segel streichen und Rogue und Rufus besaßen jeder nur noch ein paar Kekse. Einzig und allein Dobengal war noch gut aufgestellt und tat sich ungerührt an einem Keks gütlich. „Pures Können“, erwiderte Minerva und schob sich eine der Schokopralinen in den Mund. „Angeberin!“ „Schlechter Verlierer.“ „Das wärst du an meiner Stelle auch bei diesem Einsatz!“ „Ich könnte euch ja noch mehr Pralinen geben?“, schlug Yukino friedensstiftend wie eh und je vor. „Meinst du nicht, dass du in den letzten Tagen schon lange genug in der Küche gestanden hast?“, hielt Minerva gedehnt dagegen und verdrehte demonstrativ die Augen. „Dass du den Anblick von Schokolade überhaupt noch ertragen kannst…“ „Es ist nun einmal wichtig!“, begehrte Yukino ungewohnt leidenschaftlich auf. „Hä? Was ist wichtig?“, mischte Sting sich ein und auch Rogue blickte verwirrt zwischen seinen Freundinnen hin und her. Prompt waren sie das Ziel von fünf teils ungläubigen, teils amüsierten Blicken. Yukino sah beinahe so aus, als hätte Sting ein Verbrechen begangen, und Minervas Grinsen wurde immer breiter. „Sagt bloß, ihr habt vergessen, was am Dienstag für ein Tag ist?“, schnaubte Dobengal und verdrehte die Augen. „Seid ihr blind? Das wird doch auf jeder zweiten Werbetafel ausgeschlachtet!“ „Ich verstehe nur Bahnhof“, schmollte Sting und Rogue neben ihm schüttelte verwirrt den Kopf. Wenn er ehrlich war, hatte er in den letzten Tagen sowieso kaum auf seine Umgebung geachtet. Seit er vor zwei Wochen sein Staatsexamen abgelegt hatte, saß er wie auf glühenden Kohlen. Es war ihm ein Rätsel, wie Minerva so entspannt durchs Leben gehen konnte, obwohl sie doch genau wie er fiebrig auf die Ergebnisse warten musste. „Valentinstag!“, rief Yukino und klatschte in die Hände. „Der Tag der Liebe! Der Tag für Romantik und Candle Light Dinner und Herzen! Gerade ihr müsstet doch daran denken!“ „Oh…“, machte Sting neben Rogue und wurde erst rot und dann plötzlich bleich. „OH!“ Nur mit Mühe konnte Rogue sich ein Augenrollen verkneifen – er fürchtete, dass Yukino ihm ansonsten den Kopf abgerissen hätte. Er hatte den Valentinstag noch nie gefeiert. Auch dann nicht, wenn er sich zu dieser Zeit in einer Beziehung befunden hatte. Für ihn war das ein Tag wie jeder andere und dieser allgegenwärtige Zwang, an diesem Tag unbedingt etwas Besonderes zu machen, war ihm vollkommen unverständlich. Ein Freund hatte darüber sogar mit ihm Schluss gemacht. Alberner ging es kaum. „Das ist doch nicht zu fassen!“ Zutiefst empört sprang Yukino auf und deutete anklagend auf Sting und Rogue. „Das ist euer erster Valentinstag als Paar! Wie könnt ihr den nur vergessen?!“ „Sehen die Beiden aus, als würden die sich etwas daraus machen?“, meinte Minerva trocken und zog Yukino zurück auf ihren Stuhl. Orga und Dobengal schnaubten im Chor und Rufus nippte an seiner Bierflasche, um sein Schmunzeln zu verbergen. „Als ob ihr besser wärt!“, schoss Sting gleich zurück. Typisch. Für ihn galt in jeder Lebenslage das Motto Angriff ist die beste Verteidigung. „Ich gehe mit Flare in den Cirque des Titans und für das Abendessen hat sie etwas vorbereitet“, erklärte Dobengal gelassen. „WAS?! DU hast ein Date?!“, rief Sting so laut, dass es in Rogues Ohren klingelte. „Soll vorkommen“, erwiderte Dobengal giftig. Bevor Sting noch etwas Dummes sagen oder tun konnte, gab Rogue ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Sicherlich war Dobengal bisher geradezu das Paradebeispiel für den Ewigen Single gewesen, aber das mit Flare war doch nun wirklich keine große Überraschung. Die rothaarige Friseuse war schon seit einigen Monaten ein Thema bei Dobengal, auch wenn er es nie zugegeben hatte. „Kagura und ich gehen ins Aquarium und danach ins Mermaid Heel, ich habe einen der Logenplätze ergattern können“, warf Rufus ein, um die Wogen zu glätten. „Oha, du lässt dich wirklich nicht lumpen“, stellte Minerva fest. „Mann muss wissen, was ihm Frau wert ist“, erwiderte Rufus galant und Yukino seufzte hingerissen. Die Worte klangen so dahin geworfen, aber Rufus musste es tatsächlich verdammt ernst mit der jungen Schwimmlehrerin meinen, wenn er sich für sie Karten im berühmtesten Wasserballett Fiores leistete. Obendrein auch noch Logenplätze. Garantiert hatte Rufus auch gleich noch die Deluxe-Variante gebucht, bei der im Anschluss an die Vorstellung in derselben Loge ein Fünf-Gänge-Menü kredenzt wurde. Rufus Lore machte keine halben Sachen. „Ich habe ein Blind Date mit einer Freundin von Kagura“, erklärte Orga stolz. „Wir gehen im Fairy Tail essen und tanzen.“ „Das klingt großartig! Du musst uns beim nächsten Pokerabend alles erzählen!“, rief Yukino begeistert und klatschte mit leuchtenden Augen in die Hände. „Sicher. Und was machst du?“, fragte Orga grinsend. „Loke will mir nichts verraten“, seufzte Yukino verträumt. Um zu verbergen, wie wenig ihm der Gedanke gefiel, griff Rogue schnell nach seinem Bier. Loke war wirklich schwer in Ordnung. Er war seit der Sache damals trocken, arbeitete fleißig und machte gleichzeitig seine schulische Ausbildung zum Grafikdesigner. Er hatte sein verkorkstes Leben auf die Reihe gekriegt und zwischen ihm und Yukino lief es bestens. Dennoch wollte Rogue nichts über das Liebesleben der Beiden wissen. Irgendwie kam er nicht darüber hinweg, dass Yukino nicht mehr das kleine Mädchen mit den Latzhosen und den dreckverschmierten Wangen von früher war, das sich nicht die Bohne für Jungs als solche interessierte. Und seit Lector und Frosch sich angewöhnt hatten, Händchen zu halten, war er erst recht nicht gut auf dieses Thema zu sprechen. „Aber du hast doch sicher nichts vor, oder?“, wandte Sting sich hoffnungsvoll an Minerva. „Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Rakheid führt mich ins Pleasure Garden aus“, erwiderte Minerva mit einem anzüglichen Lächeln. Das verschlug sogar Yukino die Sprache. Dass der freischaffende Künstler mit dem zweifelhaften Ruf eines Lebemanns und Herzensbrechers Minerva schon seit einer Weile den Hof machte, war den Freunden ja bekannt, auch wenn keiner von ihnen so recht wusste, was er davon halten sollte. Aber dass Minerva sich ausgerechnet darauf einließ, sich in dieses Edelrestaurant und –hotel einladen zu lassen, war doch eine Überraschung. Rogue wollte lieber gar nicht so genau darüber nachdenken, wie dieser Abend ausklingen würde. „Also seid ihr zwei die Einzigen, die nichts am Valentinstag vorhaben“, stellte Dobengal fest und sofort richtete sich die geballte Aufmerksamkeit wieder auf Sting und Rogue. „Das müsst ihr unbedingt ändern!“, entschied Yukino leidenschaftlich. „Müssen wir?“, seufzte Rogue missmutig. „Ja! Das ist euer erster Valentinstag!“, wiederholte die Weißhaarige sich. „Das ist etwas Besonderes!“ „Das fällt ins Wasser, ich habe Natsu versprochen, auf Leonida aufzupassen“, nuschelte Sting abwesend. „Ich frage mich, was er vor hat…“ Mit großen Augen sah Yukino den Blonden an. „Natsu hat sich den Valentinstag frei geschaufelt?!“ „Das klingt dramatisch“, spöttelte Minerva, wofür Sting ihr einen giftigen Blick zuwarf. Nun doch Augen rollend lehnte Rogue sich zurück. Dass sein Freund am Valentinstag seine Nichte bei sich hatte, störte ihn nicht im Geringsten. Leonida war schon ein paar Mal bei ihnen gewesen und entgegen ihrer elterlichen Anlagen war sie ein ausgesprochen pflegeleichtes Baby mit einem sonnigen, aber ruhigen Gemüt. Rogue konnte die Kleine gut leiden und in seinen Augen gab es definitiv Schlimmeres, als sich am Valentinstag um das Mädchen zu kümmern. Aber wie er Sting kannte, würde er den ganzen Tag darüber nachdenken, was genau sein Fast-Schwager-der-noch-immer-keinen-Termin-für-die-Hochzeit-verkündet-hatte wohl vor hatte. Wie Rogue den gelernten Tischler einschätzte, würde es irgendetwas total Verrücktes werden, an dessen romantischen Gehalt man wohl eher zweifeln konnte. Gut möglich also, dass der Tag damit enden würde, dass Lucy bei Sting aufschlug, um darüber zu klagen, was für einen unromantischen Verlobten sie doch hätte. Wenn das mal keine vorfreudigen Aussichten waren… *~*~*~* Mit einem frustrierten Seufzer ließ Lucy ihre schwere Tasche zu Boden fallen und streifte sich die Winterstiefel von den Füßen. Für gewöhnlich war sie guter Dinge, wenn sie aus der Universitätsbibliothek kam, aber heute hatte sich keine Sau an die Ruheordnung der heiligen Gemäuer halten wollen. Alle Nase lang hatte Lucy in ihrer Umgebung aufgeregtes Getuschel über den Valentinstag gehört und das hatte ihr gehörig die Laune verhagelt. Nachdem sie aufgrund ihrer gezischten Ermahnungen an die Tuschler auch noch von einer Bibliotheksangestellten gebeten worden war, leise zu sein, hatte sie sich ihre Bücher geschnappt und war davon gerauscht. Sollten ihr diese albernen Weiber doch alle mal den Buckel runter rutschen! Nicht dass sie es beispielsweise Juvia missgönnte, nachher mit Gray ins Kino und danach chic essen zu gehen. Die Blauhaarige hatte sich viele Gedanken um das passende Geschenk für ihren Freund gemacht, der ausgerechnet am Valentinstag eine wichtige Prüfung hatte und deshalb wohl völlig die besondere Bedeutung des Datums verschwitzt hatte, und Lucy hatte Juvia gerne geholfen. Auch dass ihr Cousin Loke sie um Rat gefragt hatte, welche Blumen Yukino denn mochte, da er Rosen als einfallslos empfand, hatte sie sehr süß gefunden. Genauso das verlegene Herumdrucksen ihrer besten Freundin Levy, die wohl ihre eigenen Pläne mit Gajeel hatte, hatte sie aufrichtig amüsiert und gefreut. Aber ein ganz kleines bisschen hatte sie die Drei auch beneidet. Sie wusste ja, dass ihr Verlobter nicht zu den romantischsten Männern unter der Sonne zählte, aber dass er heute Morgen so getan hatte, als wäre es ein Tag wie jeder andere, enttäuschte sie dann doch. Man sollte meinen, dass nach einer Verlobung – so spontan und formlos sie auch stattgefunden hatte – und einer gemeinsamen Tochter doch zumindest ein Blumenstrauß oder eine Packung Pralinen oder etwas in der Art drin wäre. Nichts dergleichen! Sicherlich, es hatte ihr Herz erwärmt, Natsu mit Leonida zu beobachten, und bei Natsus Guten-Morgen-Kuss hatte ihr Herz wie ein junger Vogel geflattert, aber doch… es war Valentinstag, verdammt noch mal! Letztes Jahr war Natsu mit ihr chic Essen gegangen und im Jahr davor hatte er ihr eine Dauerkarte für das Historische Museum von Magnolia und eine selbst geschnitzte Drachenfigur geschenkt. Wieso um Himmels Willen hatte er dieses Mal überhaupt gar nichts vorbereitet?! Erst als Lucy ihren Wohnungsschlüssel an den dafür vorgesehenen Haken neben der Tür hängte, fiel ihr auf, wie ungewöhnlich still es in der Wohnung war. Kein Kinderlachen und keine komischen Tierlaute, mit denen Natsu seine Tochter nur allzu gerne unterhielt. Dabei war Leonida um diese Uhrzeit eigentlich immer wach. Nach diesem Kind könnte man die Uhr stellen. Halb im Scherz hatte Natsu mal gesagt, dass Leonida das von Lucy hätte, womit er gar nicht so Unrecht hatte. Lucy legte nun einmal sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. „Natsu? Leonida?“ Keine Antwort. Mit einem Stirnrunzeln fischte Lucy ihre Tasche vom Boden und ging ins Wohnzimmer. Zu ihrer großen Verwirrung war Leonidas heißgeliebte Kuscheldecke, die immer in einer eigens für sie frei geräumten Ecke ausgebreitet war, damit sie darauf spielen konnte, verschwunden. Die Kiste mit Leonidas Spielsachen, die direkt neben der nun leeren Stelle stand, sah auch nicht so voll wie sonst aus. Und der Tragekorb, der sonst immer auf dem Wohnzimmerschrank bereit stand, damit er nicht andauernd im Weg war, war auch verschwunden. „Natsu?!“, rief Lucy und sie schämte sich beinahe, wie schrill ihre Stimme auf einmal war. Es war albern. Wahrscheinlich gab es dutzende mögliche und vollkommen harmlose Erklärungen, warum ein paar von Leonidas Sachen verschwunden waren. Dennoch bekam Lucy es mit der Angst zu tun. Sie hetzte ins Badezimmer. Eine der Windelpackungen fehlte, die sie immer auf Vorrat kauften, eine Dose Babypuder, eine Packung mit Feuchttüchern und die Tasche mit der Wickeldecke, die nie fehlen durfte, wenn sie mit Leonida außerhalb der Wohnung unterwegs waren. „Lucy, was ist denn los?“ Die junge Mutter wirbelte so schnell herum, dass sie auf dem Duschvorleger ausgerutscht wäre, wenn Natsu nicht einen schnellen Schritt nach vorn gemacht und sie aufgefangen hätte. „Wo ist Leo?!“, verlangte Lucy zu wissen und rappelte sich schnell wieder auf. „Bei Sting, er passt heute auf sie auf“, antwortete Natsu so arglos, dass Lucy ihm am liebsten eine saftige Ohrfeige verpasst hätte. Schlimm genug, dass er ihr den Valentinstag versaute, musste er ihr auch noch so einen Schreck einjagen?! „Und wieso erfahre ich das erst jetzt?!“, fauchte sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Meinst du nicht, dass du das mit mir absprechen müsstest?!“ Wie zur Verteidigung hob Natsu die Hände, aber er sah kein bisschen reumütig aus und wagte es sogar, sie übermütig anzugrinsen. „Wenn ich das mit dir abgesprochen hätte, wäre es keine Überraschung mehr.“ „Überraschung?!“ Lucys Stimme schnappte beinahe über. Wollte Natsu sie verschaukeln? Oder wollte er, dass das hier der schlimmste Valentinstag in der Menschheitsgeschichte wurde? Wie konnte man nur so dermaßen dreist sein?! Ehe sie jedoch noch irgendetwas sagen oder tun konnte, trat Natsu näher heran, legte ihr einen Arm in die Kniekehlen und den anderen um den Rücken und hob sie mühelos hoch, um ihr dann einen stürmischen Kuss zu geben. Für einen Moment erwog Lucy, sich frei zu strampeln, einfach um ihren Verlobten zu bestrafen, aber die konsequent zärtlichen Bewegungen auf ihren Lippen ließen ihren Widerstand erlahmen. Ergeben seufzend schloss sie die Augen und schlang die Arme um Natsus Hals, während sie den Kuss erwiderte. Aller Ärger und Frust waren wie fort geblasen. Alles was noch zählte, waren Natsus starke Arme, sein warmer Körper und seine zärtlichen Lippen, die Lucy mehr und mehr zu verschlingen schienen. Immer fordernder und stürmischer wurden die Bewegungen und dann strich seine Zunge über Lucys Lippen. Der Blonden entfuhr ein Keuchen und allein das genügte ihrem Verlobten, um mit seiner Zunge in ihren Mundraum vor zu dringen. So forsch und fordernd war Natsu schon sehr lange nicht mehr geworden. Zwar hatte es nach Leonidas Geburt schon ein paar Gelegenheiten gegeben, wenn sie es gewagt hatten, miteinander zu schlafen, aber das waren meist schnelle Nummern unter der Dusche gewesen, wenn Leonida tief und fest geschlafen hatte. Wenn sie Leonida mal Sting, Gray oder ihren Eltern überantwortet hatten, dann weil sie irgendwelche wichtigen Termine gehabt hatten, aber sicher nicht für so etwas hier. Als Natsu den Kuss schließlich beendete, ging Lucys Atem stoßweise und ihre Wangen brannten. Himmel, wie sehr sie das vermisst hatte! Wenn Natsu so dominant wurde, wurde sie regelrecht zu Wachs in seinen Händen. Zum Glück hielt er sie auf den Armen, denn sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Knien jetzt noch vertrauen könnte. „Du wirst schon sehen, was ich meine“, raunte Natsu ihr zu und seine Augen schienen dabei zu glühen. Lucy war so benommen, dass sie kaum mehr als ein schwaches Nicken zustande brachte, aber das schien Natsu zu genügen. Mit einem verwegenen Grinsen wirbelte er mit ihr herum und trug sie aus dem Badezimmer zurück in den Flur, wo er sie wieder auf ihre eigenen Beine stellte und ihr bedeutete, sich Stiefel und Mantel anzuziehen, ehe er sich selbst für die eisigen Temperaturen draußen wappnete. Mit ihren zitternden Fingern hatte Lucy einige Mühe mit den Knöpfen ihres Mantels. Immer wieder zuckte ihr Blick zu Natsu hinüber, der vor Vorfreude fast zu platzen schien. Hatte er also doch etwas für den Valentinstag vorbereitet? Jetzt fühlte Lucy sich ob ihres vorherigen Unmuts beinahe schuldig. Als Natsu schließlich die Tür wieder aufschloss und ihre Hand ergriff, um sie ins Treppenhaus zu ziehen, spürte Lucy, wie auch sie die Vorfreude packte. Sie war schon so gespannt, was Natsu vor hatte! *~*~*~* Das Baby blubberte munter in seiner Trageschale, als Sting diese vor sich durch die Wohnungstür schob. Über der linken Schulter trug er eine prall gefüllte Tasche mit so ziemlich allem, was ein Baby in einer ganzen Woche bräuchte. Dafür dass er sonst so ein Draufgänger war, war Natsu erstaunlich überkorrekt, wenn es um seine Tochter ging. Ob das einfach so ein Vaterding war? Unwillkürlich fragte Sting sich, wie das wohl bei ihm und Rogue wäre. Nach der Gartenfeier im vergangenen Sommer war das Thema Adoption nie wieder gefallen, aber Sting war der Idee schon damals nicht ganz abgeneigt gewesen, so sehr es ihn auch in Verlegenheit gestürzt hatte, weil er doch erst so kurz mit Rogue zusammen gewesen war. Er hatte Kinder schon immer geliebt und er war sich vollkommen sicher, dass Rogue der richtige Mann dafür war. Mit Rogue konnte Sting sich vorstellen, ein oder zwei Kinder zu adoptieren und groß zu ziehen! Aber natürlich war das in den letzten Monaten kein Thema gewesen. Zu neu war noch alles zwischen ihnen gewesen. Rogue hatte seinem Staatsexamen so sehr entgegen gefiebert, dass Sting sich manchmal ernsthafte Sorgen um ihn gemacht hatte, weil er gar nicht mehr auf sich geachtet hatte. Mehr als einmal hatte er sicher stellen müssen, dass sein Freund nicht die ganze Nacht hindurch irgendwelche Gesetzestexte paukte. Er konnte nur hoffen, dass bald die Prüfungsergebnisse eintrudelten – dass Rogue nicht bestanden haben könnte, kam für Sting überhaupt nicht in Frage, auch wenn er da voreingenommen war, Rogue war schon immer ein Genie gewesen! –, dann würde Rogue hoffentlich wieder besser auf sich achtgeben. Und dann konnten sie auch das Thema Zusammenziehen richtig in Angriff nehmen! Zwar war es Wochen her, dass Rogue das letzte Mal bei seiner Familie übernachtet hatte, aber streng genommen wohnte er noch bei ihnen. Und um Rogue nicht zu stören, hatte Sting es sich bisher verkniffen, für die Sachen seines Freundes Platz zu schaffen, auch wenn es ihm eigentlich schon die ganze Zeit in den Fingern gejuckt hatte, seit sie letztes Jahr an Rogues Geburtstag darüber gesprochen hatten. Als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, hörte er, wie im Wohnzimmer ein Buch zusammen geklappt wurde, und er musste grinsen. In all den Jahren, die er Rogue kannte, hatte sich eines nie geändert: Sobald Rogue alleine war, griff der nach einem Buch und fing an zu lesen. Der Schwarzhaarige war schon immer eine Leseratte gewesen. Deshalb hatte Sting schon sehr früh ein paar Bücher aus Rogues Zimmer stibitzen lassen – ein Hoch auf Frosch! – und so in seinen Regalen platziert, dass sein Freund sie sicher finden konnte. „Ist alles babysicher?“, rief er halblaut, während er schnell aus Jacke und Schuhen schlüpfte, um dann seine Nichte von den Sicherheitsgurten und aus ihrem dicken Schneeanzug zu befreien. „Schon längst“, kam die Antwort. Lächelnd zog Sting die weiße Strickmütze von Leonidas Kopf und strich die pinken Haare glatt, ehe er das Mädchen aus der Trageschale hob. Quietschend klatschte es in die winzigen Händchen und strahlte seinen Onkel mit großen, braunen Augen an. Lucys Augen. Bestimmt würde das Mädchen mal eine genauso großartigen Frau wie seine Mutter werden. Sting platzte jedes Mal vor Stolz, wenn er Leonida sah! Behutsam legte er die Kleine auf der Schwelle zum Wohnzimmer ab. Kurz sah sie sich um, dann stemmte sie sich auf Hände und Knie und krabbelte los. Als sie das das erste Mal gemacht hatte, hatte Sting Panik geschoben, weil seine Nichte dabei gefühlt das Tempo eines Düsenjets an den Tag legte. Wenn Leonida so richtig wach war, krabbelte sie durch die Wohnung, als gelte es, einen Weltrekord aufzustellen. Da kamen wohl Natsus Gene durch, denn Lucy hatte zu der Sorte Babys gehört, die sich nur lustig herum gerollt hatten, das hatte Sting noch gut in Erinnerung, obwohl er damals selbst noch ein Dreikäsehoch gewesen war. Zielstrebig hielt das kleine Energiebündel auf Rogue zu, der von der Couch rutschte und dem Neuankömmling lächelnd entgegen blickte. Leonida mochte Menschen. Wann immer sie ein Gesicht sah, lachte sie glücklich, und Sting bildete sich ein, dass das Mädchen ihn und seinen Freund bereits erkennen konnte, war es doch schon mehrmals hier zu Besuch gewesen. Während Rogue sich mit dem Baby beschäftigte, deponierte Sting die Trageschale neben seiner Kommode und machte sich dann daran, die Krabbeldecke und ein paar Spielsachen auf dem Boden seines Wohnzimmers auszubreiten, den er heute Vormittag extra noch mal abgesaugt hatte, bevor er aufgebrochen war, um seine Nichte von seinem Fast-Schwager in Empfang zu nehmen. Danach ließ er die Tasche aufs Sofa fallen und setzte sich neben Rogue vor das Sofa, um seine Nichte zu beobachten, die vergnügt quietschend durch das gesamte Wohnzimmer zuckelte. Ganz automatisch lehnte er sich gegen die Schulter seines Freundes und als dieser den Arm um seine Taille schlang, um ihn näher zu ziehen, durchfuhr Sting ein wohliger Schauder. „Tut mir Leid, dass ich dich damit so überfallen habe. Ich hatte wirklich total verpeilt, dass heute Valentinstag ist.“ Rogue schnaubte leise. „Hast du mich jemals den Valentinstag feiern sehen?“ „Zählt das eine Mal, als Richard mit dir Schluss gemacht hat und wir einen trinken gegangen sind?“, feixte Sting. Zu seiner Überraschung beugte Rogue sich zu ihm runter und gab ihm einen Kuss, forsch und bestimmend, aber doch zugleich zärtlich und liebkosend. Ein Kuss, wie nur Rogue ihn zustande bringen konnte. Früher hatte Sting an einer Beziehung oft eher nur der Part in der Horizontalen interessiert, Lippengymnastik war immer nur ein kleines Extra gewesen. Aber mit Rogue war alles so anders, so vie besser und erfüllender… „Wenn du noch einmal diesen Lackaffen erwähnst, gehe ich“, drohte Rogue leise, als er den Kuss schließlich beendet hatte. „Warum bist du damals überhaupt mit diesem Lackaffen ins Bett gestiegen?“, erwiderte Sting frech, der genau wusste, dass das eine leere Drohung war. Rogue wollte sicher nicht dabei sein, wenn Lector und Frosch zusammen den Valentinstag begingen, indem sie Plätzchen buken. Schon wieder wurde er überrascht, als sein Freund verlegen vor sich hin nuschelte und seine Aufmerksamkeit wieder auf ihren kleinen Gast richtete, der gerade vor der Balkontür saß und lachend dagegen schlug. Einfach so. Auf dem Balkon war nichts weiter zu sehen. Durch Babyaugen musste die Welt wirklich abenteuerlich aussehen. „Was hast du gesagt?“, fragte Sting nun doch neugierig. „Nichts.“ „So hat sich das eben aber nicht angehört!“ „Lass’ mich.“ „Du kannst doch nicht einfach etwas andeuten und mich dann dumm sterben lassen!“, sagte Sting theatralisch und legte bettelnd den Kopf schief. Mit roten Wangen stützte Rogue das Kinn auf einer Hand ab und hielt den Blick stur auf Leonida gerichtet, während er antwortete: „Du warst damals mit Ron zusammen und das hat mir nicht gepasst.“ Sprachlos starrte Sting seinen Freund an. Richtig, Ron… Den hatte er fast vergessen, dabei war das damals tatsächlich mal etwas Festes gewesen. Zwar doch wieder nur auf Zeit, denn Ron war ein Austauschstudent aus Seven gewesen, aber es hatte doch ziemlichen Spaß mit ihm gemacht. Die Sevener hatten eine flinke Zunge, wie die Gegenprobe mit einem Touri vorletztes Jahr bestätigt hatte. Als Rons Austauschsemester vorbei gewesen war, war ein Teil von Sting aber doch irgendwie froh gewesen. Auf Dauer war es irgendwie anstrengend gewesen, weil Rons Vorlieben doch sehr fordernd gewesen waren. Dass Rogue damals eifersüchtig gewesen war, hatte Sting überhaupt nicht bemerkt. Irgendwie machte das Sting eigentümlich glücklich. Es war lächerlich, wie lange er gebraucht hatte, um so richtig zu begreifen, dass sein bester Freund für ihn noch viel mehr als nur das war, aber gleichzeitig war es aufregend, zu wissen, dass das zwischen ihnen schon lange vor diesem Ausrutscher im Vollrausch im Gange gewesen war. Selig grinsend schob Sting seine Hand in Rogues und verlegte sich darauf, Leonida weiter zu beobachten, die nun vom Fenster abgelassen hatte und in Richtung ihrer Krabbeldecke spurtete, um ihre Plüschmeerjungfrau zu ergreifen und zu herzen. Als Rogues Finger sich fest um seine schlossen, stieß Sting einen zufriedenen Seufzer aus. Auch wenn er das Datum völlig vergessen hatte, war das hier wahrscheinlich dennoch der beste Valentinstag, den er jemals gehabt hatte! *~*~*~* „Natsu, wann sind wir denn endlich da?“ „Bald“, antwortete Natsu abwesend, der sich auf den Verkehr konzentrieren musste. Zwar hatte er sich den Weg vorher extra auf dem Stadtplan und online angesehen, aber diese blöde Baustelle auf halber Strecke hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht und ließ ihn bereuen, dass er das Auto genommen hatte. Wenn er hier noch lange herum kurven musste, um einen Parkplatz zu finden, hätte er genauso gut mit Lucy zu Fuß hierher gelangen können. Ihm doch egal, wenn die Leute doof guckten, nur weil Lucys Augen verbunden waren. Die würden ja wohl kaum annehmen, dass es sich um eine Entführung handelte. Da! Endlich eine freie Parklücke! Es kostete Natsu einiges an Nerven, seinen Wagen dort vernünftig rein zu kriegen, aber schließlich stand das Gefährt. Als Lucy nach dem Tuch über ihren Augen greifen wollte, ergriff er ihre Hände und drückte auf jeden Handrücken einen Kuss. Oh Mann, jetzt auf den letzten Metern wurde er echt nervös! Aber gleichzeitig freute er sich wie verrückt! Und Lucy sah so verführerisch aussah mit den vor Überraschung leicht geöffneten Lippen. Unter ihrem halb aufgeknöpften Mantel erkannte er das Lederband mit dem Drahtring an ihrem Hals. Obwohl er Lucy ein paar Wochen nach dem improvisierten Heiratsantrag noch einen richtigen Verlobungsring an den Finger gesteckt hatte, hatte sie diesen ersten selbstgebastelten Verlobungsring als Glücksbringer behalten und legte ihn auch nie ab. Eine Geste, die Natsu ein ums andere Mal heftiges Herzklopfen bescherte. Was hatte er bloß für ein Glück gehabt, so eine Hammerfrau abzubekommen! „Gleich geschafft“, versprach er seiner Verlobten, stieg aus und beeilte sich, um den Wagen herum zu kommen und Lucy heraus zu helfen. Weil er genau wusste, was für eine Frostbeule sie war, nahm er sich die Zeit, ihren Mantel ordentlich zu schließen, ehe er sie durch die Straßen zog. Natürlich guckten einige Leute blöd, aber die konnten ihn mal kreuzweise! Weil er auf der Suche nach einer Parklücke so weite Kreise hatte ziehen müssen, war es doch ein strammer Fußmarsch von ein paar Minuten, während der Lucy zu quengeln begann. So reif sie sonst auch war, auch sie hatte ihre kindischen Momente – und Natsu liebte diese Momente. Dann zog Lucy immer diese niedliche Schnute und blies die Wangen auf, dass er am liebsten hinein kneifen würde. Am Ziel angekommen, zog er Lucy ins innere des Gebäudes und von der zugigen Tür weg. Im mit Linoleum ausgelegten Treppenhaus roch es stark nach Reinigungsmitteln, aber dafür war es hier halbwegs warm. Dennoch schlang er beide Arme um Lucy und drückte sie an sich. Es war so weit! Endlich! Darauf hatte er so lange gewartet. So oft hatte er sich das hier ausgemalt, hatte Pläne geschmiedet und zig Reden in seinem Kopf zu Recht gelegt. Aber jetzt wollte ihm kein einziges Wort mehr einfallen. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals und er konnte nicht mehr tun, als Lucy weiter fest zu halten. Diese zog sich nach einigem Zögern von selbst das Tuch von den Augen und blinzelte zunächst verwirrt, während ihre Augen sich wieder an das Licht gewöhnen mussten. „Wo sind wir hier?“, fragte sie leise, ohne sich gegen Natsus Umarmung zu wehren. Das Mindeste, was Natsu ihr nach der bisherigen Aktion schuldig war, war wohl eine Antwort, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Ratlos sah Lucy sich weiter um. Als ihr Blick auf die Tafel neben dem Treppenaufgang fiel, schien sie zu begreifen. „Was?! Aber Natsu! Doch nicht so! Wir wollten doch mit unseren Freunden feiern und…“ Fester denn je zog Natsu die Blonde an sich und gab ihr einen stürmischen Kuss, um ihre Widerworte zu ersticken. Ihre Lippen schmeckten wie die Verheißung selbst. Hatten sie schon immer. „Wir können immer noch mit ihnen feiern“, erklärte er heiser, als er den Kuss beendet hatte. „Aber das hier… Das hätten wir schon vor Monaten machen können, aber du wolltest ja noch so viel für die Uni schaffen und dann kam Leo und dann hast du mit deiner Bachelorarbeit angefangen und… na ja, als der Valentinstag nahte…“ Verlegen löste er einen Arm von Lucy, um sich an der Nase zu kratzen, den Blick nun doch zur Seite gerichtet. Eigentlich konnte er mit diesem ganzen Valentinskitsch nichts anfangen. Während seiner vorherigen Beziehungen hatte er den immer vergessen, weshalb es so manches Mal ganz schönen Krach gegeben hatte. Diese krampfhafte Hysterie der Frauen wegen dieses einen Tags war ihm ein Rätsel. An und für sich hatte sich an dieser Meinung auch nichts geändert. All diese rosa Herzen und roten Rosen waren immer noch bescheuert. Aber Lucy war nun einmal eine Romantikerin, wie sie im Buche stand. Das gehörte einfach zu ihr, genauso wie ihr Tick mit den Büchern und ihr Lerneifer und so vieles mehr. Das machte einfach seine geliebte Lucy aus. Die Frau seiner Träume, Mutter seiner perfekten Tochter. Eigentlich glaubte er nicht an Schicksal und solchen Quatsch, aber das mit ihm und Lucy… das war wirklich Schicksal! „Natsu, das ist absolut unromantisch!“, schmollte Lucy, aber in ihren Augen erkannte er keine Enttäuschung, sondern dieses abenteuerlustige Funkeln, das ihn schon immer so angesprochen hatte. „Romantik, was ist das?“, erwiderte er keck, ermuntert von dem verräterischen Zucken ihrer Mundwinkel. „Das, was du nie haben wirst“, stellte Lucy mit einem theatralischen Kopfschütteln fest, aber das Lächeln war jetzt unübersehbar. „Vielleicht wird es so ja besser?“ Natsu ging vor Lucy in die Knie und fummelte aus der Innentasche seiner Jacke ein Samtkästchen hervor, um es seiner Angebeteten empor zu halten. Jetzt wurden Lucys Augen groß wie Unterteller. „Ringe!“, jauchzte sie und fiel Natsu so stürmisch um den Hals, dass er auf den Hintern plumpste und beinahe das Kästchen verloren hätte. „Ist das ein Ja?“ „Nur, wenn du mir versprichst, dass ich dennoch ein weißes Kleid tragen darf mit allem drum und dran!“ „Alles, was du willst“, versprach Natsu feierlich und noch nie war ihm ein Schwur so heilig gewesen wie dieser. Er wollte den Rest seines Lebens damit verbringen, Lucy glücklich zu machen. Er wollte mit ihr Leonida groß ziehen und weitere Kinder haben, am liebsten eine ganze Meute. Es könnte nauch ruhig alles Mädchen sein, er würde sie allesamt auf Händen tragen und ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen! Lucy bei ihrem Studium zu unterstützen, ihr bei der Verwirklichung ihrer Träume helfen, dabei sein, wenn sie sich weiter entwickelte. Sie pflegen, wenn sie krank war, ihr den Rücken stärken, sie trösten, wenn etwas misslang, sie lachen und weinen sehen, mit ihr alt werden... Ja! Ja zu all dem und noch viel mehr! *~*~*~* Als Sting übertrieben vorsichtig auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer schlich, musste Rogue schmunzeln. Wenn es um seine Nichte ging, war der sonst so abenteuerlustige Sting geradezu überfürsorglich. Sollte dieses Mädchen sich irgendwann verlieben, würde der Glückliche nichts zu lachen haben. Allein Sting würde ihm wohl das Leben zur Hölle machen – und dann waren da ja noch ein genauso überfürsorglicher Vater, ein Pate und zwei Großväter. Und wenn Rogue mal ganz ehrlich war, würde die Versuchung, sein Amt zu missbrauchen, um den Burschen zu durchleuchten, nicht gerade gering sein. Wie könnte es ihn auch kalt lassen, wenn das doch irgendwie auch seine Nichte war? Mit dem Babyfon in der Hand setzte Sting sich neben ihn aufs Sofa und zog den blauen Quilt wieder über sich, der groß genug für sie Beide war. Kaum dass er bequem saß und sich an Rogues Schulter gekuschelt hatte, gab Sting ein behagliches Schnurren von sich. Wie eine Katze nach einer Schale Milch. „Sie ist echt süß, wenn sie versucht, wach zu bleiben, obwohl sie eigentlich müde ist“, murmelte Sting. „Du findest sie immer süß“, stellte Rogue amüsiert fest. „Sie ist ja auch immer süß!“ Schon wieder schmunzelnd gab Rogue seinem Freund einen Kuss auf die Stirn. Er würde ihm garantiert nicht widersprechen, denn er hatte absolut Recht. Unter der Zuwendung schnurrte Sting wieder und schmiegte sich noch mehr an Rogue, der ganz automatisch die Arme um seinen Freund schlang. So lagen sie mehr, als dass sie saßen, und sie mussten aufpassen, nicht vom Sofa zu rutschen, aber Rogue würde den Teufel tun, sich jetzt von Sting zu lösen. „Aber ich frage mich ja immer noch, was Natsu eigentlich vor hat“, durchbrach Sting die Stille schließlich. „Einen Heiratsantrag hat er Lucy schon längst gemacht und wenn er einfach nur mit ihr ausgehen würde, müsste er doch nicht so ein Geheimnis darum machen.“ Rogue verkniff es sich, seinen Freund auf das Offensichtliche hin zu weisen, was sich doch geradezu anbot, wenn man eben nicht auf ein Baby Rücksicht nehmen musste. Für gewöhnlich war Sting bei dem Thema sehr viel gelassener als er selbst, aber ob nun verlobt und Mutter oder nicht, die Worte Lucy und Sex in Stings Gegenwart in einem Satz zu gebrauchen, war keine gute Idee. So etwas wagte nur Minerva. „Vielleicht verrät Lucy es dir ja, wenn sie Leonida abholt“, murmelte Rogue und ertappte sich selbst dabei, wie seine Finger einen Weg unter Stings Pullover suchten. Verlegen wollte er seine Hand zurück ziehen, aber schon rollte sich Sting über ihn und küsste ihn. Was konnte dieser Mann küssen! Seine Lippen waren weich und anschmiegsam und boten sich Rogue vollkommen schamlos an. Ganz automatisch schob Rogue eine Hand in den selbst im Winter noch sonnengebräunten Nacken seines Freundes und vertiefte den Kuss. Stings hingerissenes Seufzen ließ ihn erschaudern, aber als er eine Hand an seinem Gürtel spürte, zog er den Kopf zurück, auch wenn Sting deswegen einen protestierenden Laut von sich gab. „Im Nachbarzimmer schläft deine Nichte“, erinnerte er und stellte dabei verlegen fest, dass seine Stimme heiser war. Verdrossen runzelte Sting die Stirn und legte den Kopf von einer Seite auf die andere, nahm seine Hand jedoch noch immer nicht von Rogues Gürtel. „Und wenn wir ganz leise sind?“, schlug er schließlich wispernd vor und in seine Augen trat dieses bestimmte Funkeln, das Rogue jedes Mal ganz nervös machte. „Will ich immer noch nicht Sex haben, wenn wir jederzeit durch ein Baby unterbrochen werden könnten“, erwiderte Rogue und zog Stings Hand von seinem Gürtel, bevor er doch noch in Versuchung geraten konnte. „Sie schläft tief und fest, du kennst sie doch“, winkte Sting ab und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. „Würdest du das auch sagen, wenn unser Kind dort liegen würde?“, platzte es aus Rogue heraus. Es war schwer zu sagen, wer von ihnen Beiden schneller errötete. Himmel, was hatte ihn da bloß geritten? Es war einfach aus ihm heraus gerutscht! „Unser Kind?“, krächzte Sting, das Gesicht tomatenrot, die Augen riesengroß. „Du meinst… du willst…?“ „N-nein… Ich meine ja!“ Am liebsten hätte Rogue sich eines der dicken Bücher geschnappt, die Sting für ihn hier deponiert hatte, um es sich selbst über den Kopf zu ziehen. „Also… noch nicht jetzt, aber… irgendwann?“ Das Lächeln, das daraufhin auf Stings Gesicht erstrahlte, war alle Peinlichkeiten der Welt wert. Es war wie ein Sonnenaufgang, nur tausendmal schöner und wärmer. Rogue konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Vollkommeneres als dieses Lächeln gesehen zu haben. Wenn er vorher noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, dann waren diese hiermit endgültig aus der Welt geschafft. Sting war in jedweder Hinsicht der Richtige. Eines Tages würde Rogue ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Vor allem aber würde er immer mit Sting zusammen sein! „Ich liebe dich!“, hauchte Sting atemlos und gab Rogue einen federleichten Kuss. „Ich liebe dich!“ Noch ein Kuss, auf den Mundwinkel verrutscht, aber nicht minder zärtlich. „Ich liebe dich…“ Um endlich mehr als diese kurzen Berührungen von den innig geliebten Lippen zu erhaschen, ergriff Rogue das Gesicht seines Freundes mit beiden Händen und zog es zu sich runter. „Ich liebe dich auch“, flüsterte er und kostete wieder die weichen Lippen. Dieses Mal hielt der Kuss eine kleine Ewigkeit lang an, war intensiv und prickelnd und doch vollkommen zärtlich. Das hätte vermutlich noch bis in den späten Nachmittag hinein so laufen können, wenn nicht auf einmal Stings Handy geklingelt hätte. Frustriert knurrend zog Sting den Kopf weg und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Ohne nachzusehen, wer da eigentlich im unpassendsten aller unpassenden Momente anrief, nahm er ab und blaffte ein unfreundliches „Was?“. Das Geplapper am anderen Ende der Leitung konnte Rogue nur teilweise verstehen. Zumindest erkannte er Lucys vor Aufregung beinahe hysterische Stimme, die so schnell redete, dass es wohl selbst den besten Stenotypisten der Welt um den Verstand gebracht hätte. Musste die Frau denn gar nicht atmen? „Was ist los, Lucy?“, brummte Sting. „Ich verstehe kein Wort.“ Die nächsten Worte waren auch für Rogue unmissverständlich: Wir haben geheiratet! Vor Schreck rutschte Sting von Rogues Schoß und fiel vom Sofa, wobei er sich halb im Quilt verknotete. Geschockt blickte er auf das Display seines Smartphones und unwillkürlich beugte Rogue sich vor, um ebenfalls einen Blick darauf zu erhaschen, aber auch über Kopf war unmissverständlich Lucys Name darauf zu lesen. „Ihr habt was?!“, rief Sting schließlich und stellte den Lautsprecher an, wahrscheinlich wollte er einen Zeugen haben, weil er befürchtete, dass ihn das niemand jemals glauben würde. „Geheiratet!“, jubelte Lucy. Noch immer klang sie ganz schön überdreht, aber es war doch ganz unverkennbar ihre Stimme. „Natsu hat mich ohne Erklärung zum Standesamt gebracht und da hat er die Eheringe raus geholt und ist sogar auf die Knie gegangen. Ist das nicht romantisch?!“ Sprachlos blickte Sting zu Rogue auf, das Smartphone in seiner Hand. Ein beinahe komisches Bild, aber Rogue war selbst dezent überfordert mit dieser Information. Ein spontaner Heiratsantrag, ja, klar, das war eines dieser albernen Valentinstagsklischees. Aber einfach mal eben so heiraten? So etwas konnten wohl echt nur Natsu und Lucy bringen! „Aber wolltest du nicht eine große Hochzeit in Weiß und mit all dem Kram und so?“, fragte Sting noch immer verdattert. „Ach, das machen wir doch auch noch irgendwann, aber das ist doch nicht so wichtig! Ich bin jetzt endlich Natsus Frau! Ich habe vorhin das allererste Mal mit meinem neuen Namen unterschrieben! Ist das nicht großartig?“ „Ähm… vielleicht?“ Allmählich bekam Rogue richtig Mitleid mit seinem Freund. „Lucy?“, erklang es im Hintergrund der anderen Leitung. „Ich habe Gray nicht erreicht, aber Pa will morgen seine Schwiegertochter umarmen.“ Bei Lucys Jauchzen zuckten Sting und Rogue zusammen. „Richtig! Ich muss ja auch noch Papa anrufen!“, fiel Lucy dann ein. „Sting, kannst du Leo über Nacht da behalten? Wir- Lass’ das, Natsu!“ Das Kichern war eindeutig. Rogue war versucht, sich das Smartphone zu schnappen, um die Verbindung zu unterbrechen, denn sein Freund sah aus, als stünde er kurz vor einem Schlaganfall. „Nicht da! Nein, hör’ auf! Lass’ mich noch kurz zu Ende telefonieren!“, rief Lucy atemlos und im Hintergrund erklang ein enttäuschtes Blubbern. „Also, Sting, wir holen Leo morgen ab, bevor du zur Arbeit musst, versprochen! Danke, du bist der beste Bruder der ganzen Welt!“ Und dann war die Leitung tot. Schnell beugte Rogue sich vor und nahm seinem Freund das Mobiltelefon ab. Der raufte sich mit beiden Händen die Haare und sah dann anklagend zu Rogue auf. „Habe ich ja gesagt?!“ „Ich schätze mal, das hast du, als du zugestimmt hast, auf Leonida aufzupassen“, stellte Rogue mitleidig fest und rutschte ebenfalls vom Sofa, um die Arme um seinen Freund zu schlingen. „Die können doch nicht einfach so heiraten!“, brummelte Sting. „Haben sie aber.“ „Erinnere mich daran, Natsu nie wieder einen Gefallen zu tun!“ Als ob das etwas bringen würde. „Werde ich.“ „Diese Bilder in meinem Kopf!“, jaulte Sting und vergrub das Gesicht in Rogues Pullover. Seufzend tätschelte Rogue den Kopf seines Freundes. Er hatte ja wirklich Mitleid mit seinem Freund, aber wer hatte eigentlich Mitleid mit ihm? Lucys Anruf hatte die Stimmung gründlich verdorben… *~*~*~* Der Ehering bestand aus mattiertem Weißgold mit einem dünnen, glänzenden Strang in der Mitte, in welchen ein winziger, weißer Stein eingelassen war. Edel, aber nicht protzig. Auf der glatten Innenseite war eine Gravur: N&L 14.02.XXX. Als Lucy die Gravur entdeckt hatte, war sie vor Rührung beinahe in Tränen ausgebrochen. Gemeinsam mit dem Verlobungsring – einem schlichten, in sich geflochtenen Silberreif mit einem einzigen sternförmigen Stein – trug Lucy den Ehering an ihrer linken Hand. Jetzt verstand sie auch, wo vor einigen Wochen ihr Verlobungsring abgeblieben war, als sie ihn für eine Dusche abgenommen und danach einen Tag lang nicht gefunden hatte. Natsu musste den Ring stibitzt und zum Juwelier gebracht haben, damit der die Ringgröße ermitteln und den entsprechenden Ehering bestellen konnte. Danach hatte er ihr den Ring wieder gebracht und so getan, als hätte er ihn unterm Waschbecken gefunden. Damals war sie so erleichtert gewesen, dass sie sich gar nicht darüber gewundert hatte, obwohl sie doch als allererstes unter dem Waschbecken nachgesehen hatte. Natsu hatte für den heutigen Tag aber auch wirklich an alles gedacht. Im Standesamt hatten sie sogar direkt einen Termin gehabt und Natsu hatte im Vorfeld alle Unterlagen besorgt. Wie hatte er das alles bloß schaffen können, ohne dass sie es bemerkte? Und auf dem Heimweg hatte Natsu noch am Rune Knight angehalten, um das Essen mitzunehmen, das er bestellt hatte, damit sie es Zuhause zu sich nehmen konnten – bei Kerzenschein. Natsu hatte Kerzen aufgetrieben. Vollkommen egal, dass er sich wie ein Tier über sein Essen her gemacht und die ganze Zeit verrückt gegrinst hatte, er hatte sich unendlich viel Mühe für diesen Tag gegeben, das machte alles wett! Ihre Familien anzurufen, um ihnen die frohe Botschaft zu verkünden, war Natsus Idee gewesen. Lucy hätte es ihren Eltern und ihrem Bruder viel lieber persönlich gesagt, aber als Natsu seinen Vater angerufen hatte, hatte sie mitziehen müssen. Es konnte ja wohl nicht angehen, dass ihre Eltern oder Sting über Dritte davon erfuhren! Zuerst Sting anzurufen, war vielleicht nicht die klügste Wahl gewesen. Irgendwie war Lucy selbst bewusst gewesen, wie hysterisch sie eigentlich klang, aber sie hatte sich einfach nicht mehr zurückhalten können und Sting war nun einmal ihr perfekter großer Bruder, dem sie schon immer alles anvertraut hatte. Sonderlich begeistert hatte er nicht geklungen, aber Natsus Einmischung hatte es Lucy unmöglich gemacht, auch nur ansatzweise zur Ruhe zu kommen. Sting würde es ihr schon verzeihen! Ihre Eltern hatten mit eindeutig gemischten Gefühlen auf die freudige Nachricht reagiert. Während Layla sich gefreut hatte, hatte Jude sehr steif geklungen und von seiner Tochter verlangt, dass sie das Handy an Natsu weiter reichen sollte. So wie sich das angehört hatte, hatte Natsu sich dann erst einmal eine Standpauke darüber anhören müssen, dass man gefälligst vorher den zukünftigen Schwiegervater um die Hand der Tochter bitten müsste und dass man für eine Frau wie Lucy ja wohl ein gewisses Niveau aufrecht zu erhalten hätte und dergleichen mehr. Doch ganz am Ende hatte Jude etwas anderes gesagt, was Lucy nicht verstanden hatte, aber Natsu hatte daraufhin mit feierlichem Ernst genickt und gesagt: „Das werde ich, versprochen!“ Erst danach hatte Jude seiner Tochter mit seltsam belegt klingender Stimme gratuliert, ehe er hastig aufgelegt hatte. Im Nachhinein musste Lucy sich eingestehen, dass es ganz schön unfair gewesen war, ihre Familie derartig zu überfallen. Sie hätte Natsu dazu zwingen sollen, erst einmal Stillschweigen zu bewahren. Eine Familienversammlung wäre für diesen Anlass eindeutig angemessen gewesen. Und ihren Freundinnen musste sie doch auch noch die frohe Botschaft verkünden, aber die waren heute garantiert nicht mehr zu erreichen. Levy hatte ja nur angedeutet, dass sie mit Gajeel weg fahren würde, Juvia sollte ihren Abend mit Gray genießen, Loke und Yukino hatten heute ihren ersten gemeinsamen Valentinstag und Lyon und Meredy waren wohl eher damit beschäftigt, Klein-Nathan durch die Schmerzen der Dreimonatskoliken zu helfen. Als sich muskulöse, warme Arme um sie schlangen, nahm Lucy ihren Blick von dem Ehering an ihrem linken Ringfinger und sah in die dunklen Augen ihres frischgebackenen Ehemannes. Er sah so vollkommen zufrieden und glücklich aus, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Konnte es einen besseren Mann als ihn geben? Wie bedingungslos er sie und Leonida angenommen hatte. Mit welchem Eifer er Leonidas Wiege gezimmert hatte. All seine Aufmerksamkeiten während der Schwangerschaft und auch davor schon. Er hatte ihretwegen sogar Tanzen gelernt! Und selbst das mit dem Drachenhüten war letztendlich seinem ständigen Bestreben geschuldet, immer auf sie und die gemeinsame Tochter aufzupassen. „Hey, was soll das denn?“, fragte Natsu leicht panisch, als Lucy in Tränen ausbrach. Er stützte sich mit einem Arm auf der Matratze ab und strich mit der freien Hand zaghaft die Tränen fort. „Habe ich doch etwas falsch gemacht?“ Hektisch schüttelte Lucy den Kopf, unfähig, klare Worte zu formulieren. Gab es überhaupt Worte für all die Glücksgefühle in ihrem Inneren? Ließ sich überhaupt beschreiben, wie viel es ihr bedeutete, hier mit ihm im gemeinsamen Bett zu liegen und zu wissen, dass sie das auch noch in fünfzig und mehr Jahren tun würden? So jung sie eigentlich noch waren, Lucy war sich vollkommen sicher, dass das mit Natsu für die Ewigkeit halten würde – und das war schlichtweg ein überwältigendes Gefühl! „Es…“ Lucy musste sich räuspern und sie griff hastig nach Natsus großer, starker Hand, um einen Kuss auf die Innenfläche zu drücken. „Es war alles so… so perfekt! Das war das schönste Valentinstagsgeschenk, das ich jemals bekommen habe!“ Erleichtert rutschte Natsu näher an sie heran und schlang seinen Arm um ihren nackten Oberkörper. Der Kuss auf ihren Lippen war hauchzart, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen. „Ich glaube aber nicht, dass ich das nächstes Jahr toppen kann“, gestand er schließlich. Kichernd nahm Lucy sein Gesicht in beide Hände und verteilte lauter Küsse auf seinen Wangen, seiner Stirn, seiner Nase und seinen Mundwinkeln. „Das musst du auch nicht. Bleib’ einfach nur immer weiter mein Natsu“, flüsterte sie zwischen den einzelnen Küssen, die sich immer mehr den halb geöffneten Lippen näherten. „Das werde ich“, murmelte er und legte den Kopf schief, um ihre Lippen mit seinen einzufangen. Die Hand an Lucys Rücken glitt langsam wieder nach unten – und so sehr Lucy ihre Tochter auch liebte, hier und jetzt war sie sehr froh, dass die süßen, unschuldigen Ohren ganz weit weg waren… *~*~*~* An den Türrahmen zur Küche gelehnt beobachtete Sting hingerissen, wie sein Freund Leonida das Fläschchen gab. Nach ihrem nachmittäglichen Schläfchen war die Kleine wieder putzmunter durch die Wohnung gekrabbelt, hatte sich von ihren Onkeln bespaßen lassen und mit lauter Gurrlauten unter Schränke gelinst. Einmal hatte sie Anstalten gemacht, das untere Fach des Bücherregals zu leeren, aber Sting hatte sie schnell wieder eingefangen und mit ihr Hoppe Hoppe Reiter gespielt, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Das funktionierte immer. Während Sting seine Nichte gebadet hatte – für den Fall, dass sie mal bei ihm übernachtete, hatte Sting sich eine faltbare Babywanne besorgt, die konnte er bei Nichtgebrauch einfach in den schmalen Spalt zwischen Badewanne und Dusche schieben, sehr praktisch! –, hatte Rogue das Abendessen zubereitet. Danach hatte Sting seinem Freund die Kleine übergeben, um in seinem Schlafzimmer die Babywiege aufzubauen. Die meisten hatten es belächelt, dass Sting sich so rundum für seine Nichte ausgerüstet hatte, aber das war ihm egal gewesen. Leonida war nun einmal ein Familienmitglied und es sollte ihr an nichts mangeln, wenn sie bei ihm war! Außerdem – das war allerdings ein neuer Gedanke und den würde er nicht so ohne Weiteres mit jemand anderem als Rogue teilen – war es ja nicht so, als müsste er die Sachen später weg werfen. In ein paar Jährchen würde er sie vielleicht für seine eigenen Kinder brauchen! Wenn Sting jetzt so seinen Freund sah, dann konnte er es kaum erwarten, selbst Vater zu werden. Das Lächeln, das Rogue dem kleinen Mädchen schenkte, war atemberaubend. Rogue würde so ein wundervoller Vater werden, ganz bestimmt. Sting könnte ihn vom Fleck weg heiraten, so sehr liebte er ihn! Aber er war ja nicht Lucy, die einfach mal eben so heiratete. Das nahm er seiner kleinen Schwester wirklich übel. Gut, es war Natsus Idee gewesen, aber seit wann ließ Lucy sich denn zu so etwas hinreißen? Sting hätte nie gedacht, dass Lucy ihre Traumhochzeit als nicht so wichtig betiteln und sich mit einem spontanen Gang zum Standesamt zufrieden geben würde. Das musste Natsus Einfluss sein. Sting hatte zwar darauf verzichtet, dem Jüngeren eine Predigt zu halten, weil er ihn von Anfang an so sympathisch gefunden hatte, aber jetzt wünschte er sich, er hätte es doch getan. So eine kleine Andeutung hier und da, dass er angehende Juristen und einen Polizisten in seinem Bekanntenrepertoire hätte und daher fast Narrenfreiheit hätte, wenn Natsu auch nur eine Dummheit machen sollte… Die Chance hatte er sich leider entgehen lassen und jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen. Na ja, wenn es Lucy glücklich machte… „Nun hör’ schon auf, zu schmollen.“ Rogues Ermahnung ließ Sting aufblicken. In Rogues Armen blubberte Leonida schläfrig vor sich hin und rieb sich mit den kleinen Fäusten die Augen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde sie tief und fest schlummern – und da sie erfreulicherweise zu den Langschläfern unter den Babys zählte, hieß das für Sting, dass er den Rest des Abends ganz alleine für sich und Rogue hatte. „Ich schmolle nicht“, brummelte Sting trotzig. Sein Freund hob nur vielsagend die Augenbrauen an und stellte das leere Fläschchen auf dem Tisch ab, ehe er sich langsam erhob, um Leonida ins Schlafzimmer zu bringen. Lautlos folgte Sting ihm und überprüfte noch mal, ob das Babyfon auch eingestellt war. Weil es im Schlafzimmer wärmer war, stand dort die Wiege. Um das Baby nicht zu stören, übernachteten Sting und Rogue im Wohnzimmer auf der ausklappbaren Couch. Ihre Wechselsachen hatten sie bereits aus dem Kleiderschrank geholt. Als sie in die Wiege gelegt wurde, brabbelte Leonida etwas vor sich hin und kräuselte das winzige Näschen, musste aber schon im nächsten Moment herzhaft gähnen. Sorgsam deckte Rogue sie zu und schob ihr die Plüschmeerjungfrau in die Arme, während über ihrem Kopf ein großer, roter Plüschdrache und ein flauschiger Plüschlöwe wachten. Der Drache, der Löwe und die Meerjungfrau waren die Lieblingsplüschtiere des Mädchens, deshalb mussten alle immer unbedingt griffbereit sein. Geduldig warteten Sting und Rogue, bis das Baby eingeschlafen war, dann schlichen sie aus dem Zimmer. Erst als sie im Wohnzimmer waren, wandte Rogue sich wieder an Sting und schnipste diesem gegen die Stirn. „Du schmollst schon, seit Lucy angerufen hat, ich kenne dich doch.“ „Du würdest auch schmollen, wenn Frosch-“ Schnell schloss Sting den Mund, als er erkannte, wie in der Miene seines Freundes Gewitterwolken aufzogen. Er musste sich zusammen reißen, um nicht breit zu grinsen. Natürlich hatte Rogue kein Problem mit Lector – wäre ja noch schöner, wenn er etwas gegen Stings kleinen Bruder hätte! –, aber die unschuldige Romanze zwischen Frosch und Lector schien ihm immer noch nicht so wirklich zu schmecken. „Hör’ auf zu grinsen!“, drohte Rogue finster. „Komm’ schon, Rogue, Frosch wird dieses Jahr siebzehn!“, kicherte Sting, trat jedoch näher an seinen Freund heran und gab ihm einen versöhnlichen Kuss. Er wollte Rogue doch gar nicht ärgern. Zumindest nicht allzu sehr. „Wie wird das erst, wenn wir ein Mädchen adoptieren und das irgendwann mal einen Freund mit nach Hause bringt?“ „Wir schicken sie auf ein Mädcheninternat“, knurrte Rogue. Sting lachte laut auf und schlug sich hastig die Hand auf den Mund. Sein Freund schenkte ihm einen Blick der besonders finsteren Sorte. „Mach’ nur weiter so und ich werfe das Geschenk in den Müll.“ „Geschenk?!“ Sting riss die Augen weit auf. „Du hast ein Geschenk für mich?! Aber du hasst den Valentinstag!“ „Tue ich auch immer noch, aber Yukino hat mich gestern dazu genötigt, dir dennoch ein Geschenk zu besorgen.“ Das konnte Sting sich sogar lebhaft vorstellen. Seit Yukino mit Loke zusammen war, war sie noch viel energischer als früher geworden. Dagegen war kein Kraut gewachsen. „Was ist es denn?“, fragte Sting neugierig. Dass Rogue das Geschenk nur unter Zwang besorgt hatte, störte ihn nicht im Geringsten. Der Valentinstag ging ihm am Allerwertesten vorbei. Geschenke hingegen fand er toll, egal aus welchem Anlass er sie bekam. Den blauen Quilt beispielsweise, den Rogue ihm vergangenes Weihnachten geschenkt hatte, liebte er heiß und innig. „Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es dir jetzt noch geben will“, erklärte Rogue bockig und löste sich von Sting, um in Richtung Küche zu gehen. „Rogue, warte doch! Es tut mir Leid! Ich habe es doch nicht böse gemeint. Du bist nur so unglaublich süß, wenn es um Mädchen geht, die dir wichtig sind“, plapperte Sting und überholte seinen Freund, um ihm den Weg aus dem Wohnzimmer zu versperren. „Ich ärgere dich auch nicht mit Lucys Sexleben.“ Autsch! Das hatte gesessen! Natürlich wusste Sting, dass seine Schwester eine erwachsene Frau war und verantwortungsbewusst und selbständig und alles… aber das hieß noch lange nicht, dass ihm der Gedanke gefiel, was Natsu womöglich jetzt gerade mit Lucy anstellte! „Ist ja gut, ich habe es kapiert und ich werde dich nie wieder ärgern, ich verspreche es hoch und heilig. Zufrieden?“ Ungnädig blickte Rogue auf ihn hinunter und Sting fragte sich schon, ob er den Rest des Abends mit seinem gedankenlosen Spruch versaut hatte, aber dann beugte Rogue sich doch runter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Glaube ich dir ohnehin nicht, dass du nie wieder etwas dazu sagen wirst“, murmelte Rogue und schob sich an ihm vorbei in die Küche. „Hey! Ich habe dir mein Indianerehrenwort gegeben!“ „Wie alt bist du? Fünf?“ Schmollend trottete Sting hinter seinem Freund her und ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen. Dass Rogue ihm nicht glaubte, ärgerte ihn. Klar, er wusste selber, dass er nicht zu den reifsten Menschen unter der Sonne gehörte, aber traute Rogue ihm wirklich zu, dass er ein Versprechen brach? Sting war so in seine Grübeleien vertieft, dass er sich gar nichts dabei dachte, als Rogue nicht den Blumenkohlauflauf aus dem Herd holte, sondern sich streckte, um an die hinterste Ecke des Schranks mit den Konserven zu kommen. Erst als sein Freund ihm ein flaches, in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen unter die Nase hielt, merkte Sting auf. Überrascht blickte er von dem Päckchen zu Rogue auf, an dessen Lippen ein amüsiertes Lächeln zupfte. „Du lässt dich wirklich leicht ärgern, weißt du das?“ „Du!“ Sting schwankte zwischen Empörung und Aufregung. „Das war gemein!“ „Ich weiß.“ Jetzt lächelte Rogue unverhohlen. „Willst du das Geschenk nun haben oder nicht?“ „Was für eine Frage!“ Sting riss seinem Freund das Päckchen aus der Hand und schüttelte es zunächst sachte, ehe er nach einem Ansatzpunkt suchte, um das Geschenkpapier abzureißen. Rogues amüsiertes Grinsen ob seiner Begeisterung für das Geschenk störte ihn nicht. Stattdessen pfriemelte er den Tesafilm ab und förderte schließlich eine flache, graue Packung zutage. Als er den Deckel abnahm, kam ein blaues Halsband zum Vorschein. Mit großen Augen blickte Sting wieder zu seinem Freund auf. „Das ist… ein Hundehalsband?“ Lächelnd nickte Rogue. „Du kannst doch nie an einem Hund vorbei gehen, ohne ihn zu streicheln, wolltest dir aber nie einen anschaffen. Ich dachte mir, wenn wir jetzt zusammen ziehen, könnten wir auch…“ „Ja!“, rief Sting enthusiastisch und beugte sich über den Tisch, um Rogues Gesicht mit beiden Händen zu umfassen und dem Schwarzhaarigen einen stürmischen Kuss zu geben. „Ja! Ein gemeinsamer Hund! Ja, ja, ja!“ Bevor er noch mehr Jubelrufe ausstoßen konnte, verschloss Rogue ihm den Mund mit den Lippen. Glücklich erwiderte Sting den Kuss und versuchte dabei, seinem Freund näher zu kommen, nur war ihnen dummerweise der Tisch im Weg. Schließlich beendete Rogue den Kuss wieder und drückte Sting zurück auf seinen Platz. „Schön, dass du dich freust, aber sei leise dabei, sonst weckst du Leonida auf.“ Trotz seiner strengen Worte lächelte Rogue nachsichtig, während er wieder aufstand, um endlich den Auflauf aus dem Herd zu holen. Doch Sting hatte noch immer das Gefühl, vor Freude zu platzen und verließ den Tisch, um seinen Freund abzufangen und wieder zu küssen. Ohne die Gefahr, gleich auf den Tisch zu fallen, ließ Rogue sich doch dazu hinreißen, den Kuss zu vertiefen und vergrub eine Hand in Stings Haaren. Noch immer mit dem Halsband in der Hand schlang Sting die Arme um die Taille seines Freundes. Schon als kleiner Junge hatte er Hunde geliebt, aber zu seinem großen Bedauern war sein Vater allergisch gegen Hundehaare. Als er von Zuhause ausgezogen war, hatte er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, sich einen Hund anzuschaffen. Die treuen Vierbeiner brauchten viel Aufmerksamkeit, das konnte Sting alleine nicht bieten. Bisher war er noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ja gemeinsam mit Rogue einen Hund haben könnte. Zärtlich lief der Kuss aus und Sting öffnete die Augen wieder, als sein Freund ihn mit der Nase anstupste. „Unter der einen Bedingung, dass du mir versprichst, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit irgendwohin verreisen, wo Yukino uns mit ihrem Valentinswahnsinn nicht in den Ohren liegen kann.“ Lachend gab Sting seinem Freund noch einen Kuss. Das Versprechen war leicht einzuhalten. Ein Urlaub allein mit Rogue – wie könnte er da Nein sagen? Außerdem könnte ohnehin nichts den heutigen Valentinstag toppen! Kapitel 4: Spruch - Ein gefährliches Spiel ------------------------------------------ Das Buch war groß und schwer und alt. So alt, dass das Leder von tiefen Rissen durchzogen wurde und immer wieder krümelte, sobald man es bewegte. Die Papyrusblätter waren teilweise bis zu einem hellen Braun abgedunkelt, die Ecken und Kanten fransig, mitunter sogar leicht eingerissen. Die kleine Goldplakette auf dem Buchdeckel, reich verziert mit Rankenmustern und vier Löwenköpfen in den Ecken, war angelaufen, die Lettern teilweise nur noch vage zu erkennen. Ganz behutsam strich Minerva mit den Fingerspitzen über diese Lettern und las den Titel eher mit ihren Fingern als mit ihren Augen: Die Wüstenenzyklopädie – Von den Wundern des Sandes. Darunter prangte der Name eines ihrer Vorfahren. Myrbus Orland, dem ersten Fürsten von Sabertooth, der bei den Wüstennomaden aufgewachsen war. Es gab Abschriften dieses Werkes in allen namhaften Bibliotheken Fiores, aber dieses uralte Buch hier war das Originalwerk, handgeschrieben von Myrbus Orland höchst persönlich. Die Skizzen und Karten und auch die bis ins kleinste Detail ausgefertigten ganzseitigen Gemälde stammten genauso aus seiner Feder. Für jemanden, der die Lebensweise der Wüstennomaden mit der Muttermilch aufgesogen hatte, war Myrbus ein außergewöhnlicher Gelehrter gewesen. Hätte er nach dem Tod seiner beiden älteren Halbbrüder nicht den Löwenthron bestiegen, wäre er gewiss irgendwann zum Wüstenweisen erwählt worden. Minerva fragte sich, wie anders ihr Leben dann verlaufen wäre. Dann wäre sie bei den Wüstennomaden geboren und aufgewachsen, hätte von Geburt an dem Lied des Sandes gelauscht, hätte vielleicht auch eine ganz andere Profession als die des Basilisken-Reitens gewählt. Womöglich hätte sie dann jetzt schon Kinder, vielleicht sogar einen Partner an ihrer Seite. Die Last des Löwenthrons hätte sie niemals erreicht. Sehr wahrscheinlich hätte sie Sabertooth sogar nie kennen gelernt. Seufzend schüttelte Minerva den Kopf. Dieses Gedankenspiel war unsinnig und das wusste sie auch. Nicht einmal die Unsterbliche Kaiserin könnte den Lauf der Zeit verändern und darüber nachzudenken, wie ihr Leben jetzt aussehen könnte, wenn Myrbus Orland damals den Ruf aus Sabertooth nicht gefolgt wäre, lenkte Minerva nur von ihren Pflichten ab. Vorsichtig schlug Minerva den kostbaren Einband wieder in das weiche Leinentuch in den Farben ihres Hauses ein und trug es dann zu einer schweren Eisentruhe neben dem Regal aus Olivenbaumholz an der Breitseite ihres Arbeitszimmers. Das Regal war gefüllt mit Atlanten, Biografien, Gesetzestexten, historischen Standardwerken, Registern und dergleichen mehr. Als Minerva dieses Arbeitszimmer nach ihrem Amtsantritt bezogen hatte, war alles verstaubt gewesen. In all den Jahren vom Tod ihres Vorgängers und Onkels bis hin zu ihrer Rückkehr in den Sandpalast war dieser Raum ignoriert worden. Vielleicht hatte man den Geist der wahren Herrscher nicht herauf beschwören wollen. Womöglich hatte Minervas Vater sich auch einfach nie darum geschert, was sich hinter der schweren Tamariskenholztür verborgen hielt. Minerva jedoch hatte nach ihrem Sieg über den Usurpator zuallererst diesen Raum aufgesucht, hatte die abgestandene Luft eingeatmet in der Hoffnung darauf, einen Hauch der alten Gerüche zu erhaschen, die sie noch aus ihrer Kindheit mit diesem Raum in Verbindung gebracht hatte. Ihre Finger waren über die Möbel geirrt, hatten den großen Wandteppich mit der Karte der Stillen Wüste gestreichelt, wie sie es schon als kleines Kind immer wieder voller Bewunderung getan hatte. Wie die Namen alter Freunde hatte sie die Titel der Bücher im Regal gemurmelt und dabei versucht, sich an die Stimme ihres Onkels zu erinnern. Schließlich hatte sie nach dem Schlüssel für eben jene Truhe gesucht, die sie nun aufschlug. Jede Schublade, jedes Kästchen, selbst die kostbaren Marmorvasen hatte sie durchsucht, war dabei immer fahriger geworden. Gefunden hatte sie den Schlüssel in dem mit Samt eingelegten Kasten für die elfenbeinernen Figuren des Schachspiels. Einige der Figuren hatten noch auf dem Spielfeld gestanden, Zeugnis ihrer letzten Partie mit ihrem Onkel, die nie ein Ende gefunden hatte, weil sie unterbrochen worden waren. Mit dem schweren Schlüssel war sie vor der Truhe in die Knie gegangen und hatte diese geöffnet, um die darin enthaltenen Kostbarkeiten zu betrachten, die auch heute noch darin ruhten. Neben der Wüstenenzyklopädie ruhte ein unvollendeter Gemäldeteppich, sorgfältig gefaltet, das letzte Werk von Minervas Mutter, an dem sie sogar noch auf dem Totenbett geknüpft hatte. Ein Basiliskenzahn, so lang wie Minervas Unterarm. Ein Löwenschwanz. Statuetten, handgeschnitzt von Minervas Onkel. Einige Portaitskizzen, Ketten aus Leder, eine Federsammlung… Und ein winziger Kinderburnus. Minervas Kinderburnus. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Onkel auch von ihr etwas in seiner Schatzkiste verwahrt hatte. Dieses letzte Liebeszeugnis so viele Jahre nach seinem Tod zu erhalten, hatte Minervas Selbstbeherrschung gesprengt. Nach all den Kämpfen und Opfern hatte sie weinend im Arbeitszimmer ihres Onkels gekauert, ihr Gesicht in ihren alten Burnus gedrückt. Nicht einmal als Yukino sie in den Arm genommen hatte, hatte sie die Tränen wieder zurück kämpfen können. Heute, eine ganzen Zyklus später, entlockte ihr der Anblick des Burnus’ nur ein mattes Lächeln. Sie hatte ihren Frieden mit ihrer Trauer gemacht. Ein zweites Mal. Mehr als zehn Sommer nach dem Tod ihres geliebten Onkels. Minerva verschloss die Truhe wieder und hängte sich den Schlüssel um den Hals, um ihn dann unter ihrer Tunika zu verbergen. Das kalte Metall auf ihrer Haut hatte etwas Beruhigendes, Erdendes, war eine Erinnerung daran, was für ein kostbares Erbe sie angetreten war. Anstatt danach sofort zu ihrem Schreibtisch zurück zu kehren, ging sie zum Fenster und blickte auf den Fürstlichen Garten hinunter. Ob aus Prestigegründen oder warum auch immer, Jiemma hatte den Garten immer pflegen lassen. Die abgestorbenen Äste der alten Pinie waren stets sorgsam abgesägt worden, damit sie nicht eines Tages zu Boden fielen und jemanden verletzten. Das Papyrus am Ufer des künstlichen Kanals wuchs dank der regelmäßigen Ernte gesund und üppig und im Moment standen die Safrankrokusse in voller Blüte – ein kleiner violetter Teppich, aus dem die kostbaren Safranfäden, die bald geerntet werden konnten, rötlich hervor blitzten. Auf einer der Steinbänke auf der mit Sandsteinplatten ausgelegten Terrasse, die nun immer mit weichen Polstern versehen waren, lag Sting, beide Arme nach oben ausgestreckt, um dazwischen eine kleine Kugel aus Licht entstehen zu lassen, die Stirn vor Anstrengung gerunzelt, die Zähne ehrgeizig gefletscht. Ganz in der Nähe saß Rogue, mit dem Rücken an den Obelisken im Zentrum der Terrasse gelehnt und versuchte sich an einer ganz ähnlichen Übung mit seiner Schattenmagie. Schmunzelnd lehnte Minerva sich an den Rahmen des Fensters und beobachtete weiterhin ihre Klauen. Seit die Beiden vom Treffen mit den anderen Drachenreitern und deren Drachen vor einem Mond zurück gekehrt waren, waren sie in jeder freien Minute damit beschäftigt, ihre Magien zu meistern, die bei ihnen erst erwacht waren, als sie vor anderthalb Monden mit ihren Drachen verbunden worden waren. Soweit Minerva es als Nichtmagierin beurteilen konnte, machten sie sich gut, aber Beide waren erstaunlich ehrgeizig. Minerva hatte den Verdacht, dass Orgas Sticheleien einen gewissen Effekt auf Sting hatten, während bei Rogue wohl eher das Pflichtbewusstsein der treibende Faktor war. Vielleicht fühlten sie sich auch von Rufus angestachelt, der seine Windmagie bereits vor Jahren gemeistert hatte, obwohl der Hofmagier sich in der Anwendung seiner Magie stets zurückhielt. Sting ließ seine Lichtkugel verschwinden und schwang seine Beine über den Rand der Bank, um zu Rogue zu gehen und sich vor diesem hin zu hocken. Von ihrer Position aus konnte Minerva nur die Miene des Schattenmagiers sehen, die schwerer zu deuten war als Stings. Allerdings kannte Minerva ihn nun auch schon lange genug und gerade, wenn es um Sting ging, war er für Minerva genauso leicht zu lesen wie eine Fibel. Während er seine Schattenkugel verschwinden ließ, runzelte er unwillig die Stirn und hob den Blick zu seinem Partner an, der irgendetwas zu ihm sagte, was Minerva nicht verstehen konnte. Daran, wie Sting mit den Knien wippte, erkannte sie den Enthusiasmus des Blonden und die Skepsis, die sich schließlich auf Rogues blassen Zügen wieder spiegelte, bestätigte ihre Vermutung, dass Sting irgendetwas Verrücktes vorgeschlagen hatte. Mit einem amüsierten Grinsen sah Minerva zu, wie Rogue wohl versuchte, seinem Partner die verrückte Idee wieder auszureden, und wie dieser sich im Gegenzug immer weiter vor beugte, bis sein Gesicht direkt vor Rogues hing, was es Minerva unmöglich machte, noch etwas aus dessen Miene zu lesen. Als Sting den letzten Abstand überwand, wandte Minerva sich vom Fenster ab und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Es brachte sie weder in Verlegenheit noch bereitete es ihr Schuldgefühle, diesen intimen Moment beobachtet zu haben. Wer bei den Wüstennomaden ausgebildet wurde, kam in mehr als nur einer Hinsicht entjungfert aus der Sache heraus. Und gerade über Stings Eskapaden wusste Minerva mehr als genug. Ihn und Rogue bei einem unschuldigen – oder vielleicht doch nicht ganz so unschuldigen – Kuss zu beobachten, war harmlos. Sollten die Beiden ruhig die friedliche Zeit genießen, Minerva gönnte es ihnen, aber sie selbst musste sich endlich wieder an ihre Arbeit setzen. Anträge zu prüfen und Verträge neu aufzusetzen, war eine lästige Aufgabe, die viele andere Fürsten lieber an Sekretäre abtraten, aber Minerva nahm sich an ihrem Onkel ein Beispiel, der solche Sachen auch immer lieber selbst erledigt hatte. Außerdem hatte sie das Gefühl, immer noch viel lernen zu müssen. Das Leben bei den Wüstennomaden hatte sie auf vieles vorbereitet, aber nicht auf diesen Krieg der Buchstaben und Zahlen. Es war eine leidige Pflicht, aber eine, vor der Minerva sich nicht drücken wollte. Sie hatte ihrem Volk und der Unsterblichen Kaiserin geschworen, für die Verfehlungen ihres Vaters gerade zu stehen und Sabertooth wieder zu einem Reich zu machen, in dem die Menschen ein gutes Leben führen konnten. Das bedeutete Verhandlungen, Ausgleichszahlungen, Gerichtssitzungen, Gesetzesänderungen… Sie tauchte gerade ihren Geierfederkiel ins Tintenfass, als vom Garten her laute Rufe erklangen. Achtlos legte sie die Feder ab und stemmte sich in die Höhe, um zum Fenster zurück zu eilen. Noch ehe sie dieses erreicht hatte, erklang ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt vom Poltern von Steinen und Ächzen von Holz. Als sie aus dem Fenster blickte, befand sich dort, wo Sting und Rogue eben noch gesessen hatten, ein Krater mit einem Durchmesser von mindestens zehn Schrittlängen. Von Obelisk stand nur noch das Fundament und zwei Apfelbäume in der Nähe waren von den Trümmern des Obelisken zerschmettert worden. Die Bänke in der Nähe waren umgekippt und dabei zerbrochen und durch das kleine Feld der Safrankrokusse zogen sich tiefe Furchen. Ein stechender Schmerz in ihrer Brust ließ Minerva die Hand in ihre Tunika krallen, während ihr Blick panisch den Garten nach ihren Klauen absuchte. Sting fand sie zu Füßen einer noch stehenden Steinbank, die gut zehn Mannslängen vom Krater entfernt war. Rogue hatte es in den Garten hinein und gegen den Stamm der Pinie geschleudert. Keiner der Beiden rührte sich. Als sie herum wirbelte und durch die geräumigen, hellen Korridore des Sandpalastes hetzte, klopfte Minerva das Herz bis zum Hals und ihr Atem ging nur stoßweise. Die Angst trieb sie zu Höchstleistungen an, obwohl sie sich auch so keineswegs ihrer Kondition zu schämen bräuchte. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer Sting und Rogue und flehte lautlos darum, dass die Beiden nur bewusstlos waren. Sie waren mehr als nur ihre Klauen, das war nur ein Titel, den sie ihnen verliehen hatte, damit die Grünländer Sting und Rogue als ihre Repräsentanten und Berater anerkannten. Sting und Rogue waren ihre Freunde, ihre Familie. Wie sollte Minerva denn diese Stadt führen ohne Stings immer-sonniges Gemüt und Rogues beständige Ruhe? Was sollte sie machen, wenn die Beiden – oder gar nur einer von ihnen, das wäre sogar noch schlimmer, wie Minerva mit einem weiteren schmerzhaften Stich im Herzen klar wurde – nicht wieder aufwachten…? Keuchend stieß Minerva die locker schwingenden Flügeltüren zum Garten auf und rannte zu Sting, der näher war. Noch während sie ein paar Schritte von ihm entfernt war, krümmte er sich stöhnend zusammen und schlug dann die Augen auf. Nichts desto trotz fiel Minerva vor ihm auf die Knie und zog ihn in eine zitternde Umarmung. Er reagierte mit einem weiteren schmerzerfüllten Stöhnen, aber sie hielt ihn weiter fest, bis sie sicher sein konnte, dass ihr keine Tränen entkommen waren. Erst dann versetzte sie Sting eine Kopfnuss – nicht ganz so hart wie sonst, sie wollte mal nicht so sein – und fauchte ihn an: „Was ist passiert, du Dattelkopf?!“ Stings einzige Antwort war ein schwaches Jammern, während er sich langsam aufrichtete und dabei seinen Körper nach Verletzungen abtastete. An der Art, wie er sich nach links zusammen krümmte, vermutete Minerva mindestens eine gebrochene Rippe und seine linke Schulter war ausgerenkt. „Wo ist Rogue?“, ächzte Sting schließlich leise. Schuldbewusst zuckte Minerva zusammen und wirbelte herum. Noch immer lag Rogue am Fuß der altersschwachen Pinie und rührte sich nicht. Als Sting ihrem Blick folgte und seinen Partner erkannte, entfuhr ihm ein gequälter Laut und er kämpfte sich hektisch auf die Beine. Schnell schob Minerva ihm einen Arm unter die Achseln, um ihn zu stützen und half ihm, die Entfernung bis zur Pinie zu bewältigen. Hinter sich hörte sie die Rufe einiger Bediensteter und schließlich Orgas donnernde Befehle, einen Arzt zu rufen, aber sie kümmerte sich kaum darum und sank mit Sting vor Rogue zu Boden. „Rogue…“, krächzte Sting mit belegter Stimme und streckte die Hand nach dem Gesicht seines Partners aus. Behutsam schob Minerva seine Hand fort und beugte sich vor, um ihr Ohr auf Rogues Brust zu legen. Von dieser Position aus konnte sie Stings angstverzerrte Miene sehen und ihre eigene Angst schraubte sich noch höher. Was sollte nur aus ihnen werden – was sollte bloß aus Sting werden, wenn Rogue nicht… Ihr entfuhr ein ersticktes Keuchen, als sie Rogues Herzschlag hören konnte. Sie zog Sting zu sich herunter und dirigierte sein Ohr zu Rogues Herzen. Auch er brauchte einige Atemzüge, ehe er sich entspannte. Im Gegensatz zu seiner Fürstin gab er sich keine Mühe, seine Tränen zurück zu halten. Er krümmte sich weinend vor Erleichterung über seinem Partner zusammen und klammerte sich an dessen teilweise zerrissene Robe. Seufzend richtete Minerva sich wieder auf und ließ den Blick wieder über das Chaos schweifen, das einmal der Fürstliche Garten gewesen war. Orga und Rufus kamen auf sie zugestapft, in ihrem Schlepptau ein verschreckter Arzt. Minerva begegnete den Blicken ihres Rüstungsmeisters und ihres Hofmagiers und nickte erleichtert, woraufhin Orga sich seufzend über das Gesicht strich, ehe er schnell auf dem Absatz kehrt machte, um mit rauer Stimme nach Tragen zu rufen… „Respekt, der Garten sieht aus, als wäre eine ganze Herde Ochsen hindurch getrieben worden.“ Minerva konnte sehen, wie Rogue die Augen verdrehte, während Sting schmollend die Unterlippe vorschob. Und natürlich konnte Dobengal, der ohne Klopfen und ohne Begrüßung in das Privatzimmer der Klauen gekommen war, diese Reaktionen auf seine trockenen Worte auch sehen. Obwohl erst fünfzehn Sommer alt, schaffte der ehemalige Dieb es immer wieder, die beiden Älteren zu ärgern. Nachdem der Arzt seine Arbeit gemacht hatte, waren nur Orga, Rufus und Minerva bei den beiden Drachenreitern geblieben. Rogue saß nun aufrecht auf dem breiten Bett, einen Verband um den Kopf und immer noch bleicher als sonst, aber insgesamt hatte er sogar mehr Glück als Sting gehabt, der sich tatsächlich vier Rippen gebrochen hatte und die wieder eingerenkte Schulter auch noch einige Tage schonen musste. Der Blondschopf saß auf der Bettkante und ließ den Blick nun missmutig über die Versammelten schweifen. „Wir haben das nicht mit Absicht gemacht“, grummelte Sting. „Wir wollten etwas ausprobieren.“ „Sting wollte ein Spiel spielen, das Natsu und Juvia beim Treffen gespielt haben“, korrigierte Rogue trocken. „Ein Spiel?“, fragte Minerva mit einem finsteren Stirnrunzeln. Noch immer steckte ihr der Schreck in den Knochen, auch wenn sie sich wieder gut im Griff hatte. Dass der Garten gründlich verwüstet worden war, kümmerte sie kaum. Das konnte man alles wieder richten. Wichtig war ihr nur, dass Sting und Rogue keine bleibenden Schäden davon getragen hatten. „Kein einfaches Spiel, eine Übung“, verteidigte Sting sich trotzig. „Wenn wir immer nur für uns üben, werden wir doch nicht besser. Natsu und Juvia drücken Kugeln aus Feuer und Wasser gegeneinander. Ich dachte einfach, wir könnten das mit unseren Magien auch probieren…“ „Aber kaum dass unsere Kugeln einander berührt haben…“, beendete Rogue und lehnte sich seufzend gegen die Wand hinter sich, wobei er aufpasste, mit dem Hinterkopf nicht dagegen zu stoßen. „Eine Abstoßungsreaktion aufgrund der Verschiedenheit eurer magischen Elemente“, mutmaßte Rufus. „Mit Licht und Schatten verhält es sich eindeutig anders als mit Feuer und Wasser.“ „Aber wenn wir genug üben, könnten wir vielleicht-“ „Nein!“ Alle Anwesenden zuckten zusammen und Minerva wurde bewusst, dass ihre Stimme schärfer geklungen hatte, als sie das vor gehabt hatte. Sie wünschte sich, Yukino wäre hier. Die Jüngere hätte den beiden Klauen schon den Kopf gewaschen. Nicht dass Minerva so etwas immer auf ihre Freundin abschieben wollte, aber sie hatte noch immer das Gefühl, sich nicht wieder richtig unter Kontrolle zu haben. Um das zu kaschieren, setzte sie einen besonders finsteren Gesichtsausdruck auf und behielt den scharfen Ton bei. „Dieses Spiel werdet ihr schön bleiben lassen! Keine gemeinsamen Übungen mehr!“ Während Sting in sich zusammen schrumpfte und Rogue unruhig auf dem Bett herum rutschte, bemerkte Minerva aus dem Augenwinkel, wie Orga und Rufus einen Blick tauschten, ehe sie den Raum verließen. Von Dobengal hörte sie noch ein amüsiertes Schnauben, dann verließ auch er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Wir wollten doch wirklich nur üben, um unsere Magien besser kontrollieren zu können“, murmelte Sting kleinlaut. „Tut. Das. Nie. Nie. Wieder. Verdammt noch mal!“, rief Minerva und wunderte sich im nächsten Moment selbst, warum sie auf den Beinen war. Ihre Stimme schwankte und ihre Augen brannten. „Ich dachte im ersten Moment, ihr wärt tot, ihr Sandköpfe! Jagt mir nie wieder so einen Schrecken ein!“ Sting und Rogue tauschten einen unbehaglichen Blick miteinander, ehe Rogue das Wort ergriff. „Werden wir nicht, versprochen. So etwas wird nie wieder passieren.“ „Das will ich euch auch raten!“, fauchte Minerva, wischte sich hastig über die Augen und rauschte dann aus dem Zimmer und durch die Korridore zu ihrem eigenen Privatgemach. Erst als sie dessen Tür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte sie sich, ihrer Erleichterung einfach Luft zu machen. Weinend sackte sie an der Innenseite der Tür zu Boden und dankte den Ahnen, dass ihre leichtsinnigen Klauen zu zäh waren, um wegen eines dummen Spiels zu sterben… Kapitel 5: Kornblume – Weil sie Vier sein müssen ------------------------------------------------ Das glockenhelle Gelächter der Kinder hallte durch den großen Garten, erfüllte ihn mit Leben, verlieh den Farben des Sommers ein starkes, wunderschönes Leuchten. Viel intensiver als der Duft der unzähligen Blüten, das sanfte Rauschen der riesigen Trauerweide, das Summen der Bienen und das Zwitschern der Singvögeln durchdrang dieses Geräusch das Bild. Erst durch dieses Geräusch wurde es vollständig und vollkommen… Mit einem leisen Lächeln lehnte Mavis sich auf ihrem Terrassenstuhl zurück und lauschte dem Lachen ihrer Tochter, die mit ihren zarten drei Jahren wie ein Wirbelwind durch den Garten rannte, um nicht von ihrem Großcousin Lector eingefangen zu werden. Munter und kräftig, wie der Siebenjährige war, hätte er Morgana dennoch mühelos einfangen können, aber er ließ sie jedes Mal in letzter Sekunde entwischen oder sich von ihr einfangen, wenn sie an der Reihe war mit Fangen. Er hatte aller Großmäuligkeit zum Trotz eindeutig das sanfte Wesen seiner Mutter geerbt, insbesondere wenn es um Morgana ging. Gerade als er wieder die Arme um Morgana schlang und schwer atmend mit ihr zum Stehen kam, drehte er sich mit leuchtenden Augen um und suchte die Terrasse ab, der Mund bereits für einen triumphierenden Ruf geöffnet, der ihm jedoch in der Kehle stecken blieb. Mavis konnte regelrecht spüren, wie die Erkenntnis den Jungen aus seiner Euphorie riss und zurück in die grausame Realität. Denn der eine Mensch, mit dem er seine Freude zuallererst teilen wollte, war nicht da. Schwer schluckend drehte er der Terrasse wieder den Rücken zu, stupste Morgana, die nichts gemerkt hatte, an und rannte dann davon, damit sie ihn fangen konnte. Er strebte zum anderen Ende des Gartens, weit weg von der Terrasse und unliebsamen Erinnerungen. Neben Mavis erklang ein schwerer Seufzer und sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Cousin Dobengal. Sein sandbraunes Haar war genauso wirr wie eh und je, aber seine Züge ließen die sonst übliche Ausdruckslosigkeit vermissen, waren gezeichnet von Sorgen und Gram. „Er fragt immer noch nach ihm…“ Seine Stimme offenbarte all die Gefühle, die er nie in Worte zu fassen bereit war. Seine Müdigkeit ob der nun schon Monate langen Suche. Seine schwindende Hoffnung. Seine Resignation. Und doch auch dieser Hauch eines Widerstands, der Weigerung, einfach aufzugeben. Seit Monaten zerriss Dobengal sich regelrecht für diese ewige Suche, aber er hatte nie auch nur angedeutet, dass er damit aufhören wollte. Soweit Mavis es von Flare wusste, hatte Dobengal auch nie versucht, seinem Sohn die täglichen Fragen auszureden. Vielmehr schienen diese Fragen ihn erst recht anzuspornen. Mavis wünschte sich, sie könnte ihre Dankbarkeit nur einmal richtig in Worte fassen, aber der altbekannte Kloß hatte sich in ihrer Kehle festgesetzt und nahm ihr jede Möglichkeit, überhaupt irgendetwas über die Lippen zu bringen. Angestrengt wandte sie den Blick von ihrem Cousin ab und ließ ihn über den Garten gleiten, den ihre Mutter vor so vielen Jahren liebevoll angelegt hatte, als Jude für sie die Villa hatte bauen lassen. Er folgte keinem klaren Muster, wirkte auf dem ersten Blick sogar eher verwildert, aber gerade das machte seinen besonderen Charme aus. Zierblumenbeete wechselten sich mit Hochbeeten für Kürbisse und Zucchini, Beerensträuchern, Kräuterkästen und dergleichen mehr ab. Zwischendrin standen immer wieder Obstbäume, Rankhilfen für Tomatenpflanzen, Sonnenblumen und sogar kleine Beetabschnitte für Wurzelgemüse. Zwischen all diesen Beeten und Kästen schlängelten sich schmale und breite Wege, die aus großen, unregelmäßigen Steinplatten bestanden, zwischen denen das Gras ungehindert wachsen konnte. Vogeltränken und –futterhäuser, Statuen mit Tier- und Fabelwesenmotiven, kleine Springbrunnen und Kunstsäulen verteilten sich im gesamten Garten und im hinteren Bereich gab es einen großen Pavillon mit einer Holzterrasse, die halb über den großzügigen Teich ragte. Dass Morgana in den Teich fiel, stand nicht zu befürchten, Lector würde sie wie seinen Augapfel hüten. Ein kleines, aus echten Steinquadern errichtetes und mit Schiefer abgedecktes Gartenhaus, das die ganzen Utensilien für die Gartenpflege enthielt, stand unweit der Villa im halbmodern-halbaltertümlichen Sandstein-Stil und war über und über mit Efeu bewachsen. An einem dicken Ast der riesigen Trauerweide, die schon lange vor dem Haus gestanden hatte – tatsächlich war sie sogar der Grund gewesen, warum Jude dieses Gelände gekauft hatte –, hing eine schlichte Reifenschaukel. Auf der anderen Seite der Weide, halb verborgen hinter den dort dichter hängenden, üppig wachsenden Zweigen, konnte Mavis ihre jüngere Schwester entdecken. Lucy hatte sich das große Hängemattengestell dorthin gezogen und sich mit einem Quilt, der eigentlich gar nicht ihr gehörte, darauf nieder gelassen. Aus der Entfernung sah es aus, als würde sie schlafen, aber Mavis wusste, dass es nicht so war. Ihre Schwester konnte schon seit langer Zeit nicht mehr richtig schlafen. Natsu hatte Mavis anvertraut, dass er in letzter Zeit immer häufiger mitten in der Nacht eine leere Bettseite neben sich vorfand und dass Lucy dann jedes Mal an ihrem Klavier saß, ohne je auch nur eine Taste anzurühren. Seit vier Monaten hatte Lucy nicht mehr richtig spielen können. Bei der Arbeit hatte man Verständnis für Lucys Zustand, aber das war nicht der Punkt, der Mavis und Natsu Sorgen bereitete. Sie wussten Beide, dass ihnen Lucy langsam aber sicher entglitt. Der Verlust hatte sie einfach zu hart und zu tief getroffen… Wortlos wuchtete Mavis sich in die Höhe und griff nach ihren Handschuhen und der praktischen Gürteltasche, in deren Laschen ihre wichtigsten Gartenwerkzeuge steckten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Zeref von seinem Buch aufblickte. Seine Miene blieb so ruhig wie eh und je, aber in seinen dunklen Augen stand eine Frage, die für Mavis so einfach zu lesen war, als hätte er sie in Worte gefasst. Zur Antwort schüttelte sie unmerklich den Kopf und verließ dann die Terrasse, um zu dem Beet zurück zu kehren, um das sie sich zuletzt gekümmert hatte, ehe Spetto, Haushälterin und gute Seele der Villa, zum Tee gerufen hatte. Es half ihr, sich um die Pflanzen zu kümmern, auch wenn es sie gleichzeitig schmerzlich daran erinnerte, dass sie sich diese Arbeit früher mit Lucy geteilt hatte. Die Begeisterung fürs Gärtnern hatten die Schwestern Beide von ihrer Mutter geerbt. Zu Lebzeiten hatte Layla immer mit ihnen zusammen für die vielen Zier- und Nutzpflanzen gesorgt und nach Laylas Unfalltod hatte es Mavis und Lucy geholfen, diese Tradition aufrecht zu erhalten. Nie im Leben hätte Mavis gedacht, dass es etwas gäbe, das diese Ordnung stören könnte. Es war einfach immer ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen. Nicht dass der Verlust Mavis nicht betreffen würde. Ganz im Gegenteil, er hatte sie schwer erschüttert. Vor allem, da es Wochen lang noch voller Unsicherheiten und Hoffnungen gewesen war. Sie hatte sich in der ersten Zeit fürchterlich verausgabt, hatte Tag und Nacht gesucht und alle möglichen und unmöglichen Leute angerufen und ausgefragt. Mavis hatte das ganze Repertoire ihrer Kontakte angezapft, Gefallen eingefordert, Experten engagiert. Ohne jeden Erfolg. Sie wusste gar nicht mehr, wer es war, der das erste Mal zur Sprache gebracht hatte, dass das ewige Suchen vielleicht vergeblich war. Keiner von ihnen jedenfalls. Jemand von außerhalb. Jemand, der nicht verstand, wie grausam diese Worte waren, wie tief sie ihnen ins Herz schnitten. Und doch hatten seine Worte Samen gesät. Sie waren auf unwirtlichen Boden gefallen, die meisten vertrocknet, bevor sie auch nur keimen konnten. Doch bei ihnen allen waren doch ein paar von ihnen hängen geblieben. Nur langsam hatten sie Wurzeln gefasst, aber diese Wurzeln hatten sie alle durchdrungen und unrettbaren Schaden angerichtet. Am deutlichsten war das bei Lucy. Es war, als wäre aller Lebensmut aus ihr gewichen. Sie hatte die Suche als Erste aufgegeben und hatte darüber Tränen über Tränen vergossen. Mavis wusste gar nicht mehr, wie viele Nächte sie ihre Schwester damals in den Armen gehalten und zu trösten versucht hatte. Sie hatte die Schluchzer der Jüngeren gespürt und gehört und hatte voller Gram gewusst, dass etwas in Lucys Inneren zu zersplittern begann, ohne dass sie irgendetwas dagegen hatte unternehmen können. Nicht einmal Natsu hatte etwas tun können. Sie alle hatten hilflos mit ansehen müssen, wie Lucy aufhörte, die Lucy zu sein, die sie alle so sehr liebten. Sofern es Mavis selbst betraf, hatte sie irgendwann einfach anfangen müssen, Prioritäten zu setzen. Sie suchte immer noch weiter, fragte herum, bemühte weitere Experten, aber sie hatte nebenbei ein millionenschweres Unternehmen zu leiten, hatte mehrere Stiftungen, die ihrer Hilfe bedurften, hatte eine Familie… So bitter diese Einsicht für sie auch gewesen war, irgendwann hatte sie einfach zugeben müssen, dass ihr persönlich bei der Suche die Hände gebunden waren. Also hatte sie sich stattdessen darum bemüht, die Familie zusammen zu halten, insbesondere das, was von Lucy noch übrig war. Als der Eimer voll mit Unkraut war, stand Mavis wieder auf und drückte sich eine Hand ins Kreuz, das Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen gereckt. Es war nicht so brütend heiß, wie man es Anfang August erwarten könnte, aber Mavis war froh darum. So musste sie nicht befürchten, dass Morgana sich zu sehr verausgabte, und die Arbeit im Garten war auch viel angenehmer, wenn nicht das Risiko bestand, sich den Nacken zu verbrennen. Im Grunde wäre es der perfekte Tag. Wenn alles normal wäre, dann würde Lucy jetzt nicht in der Hängematte liegen, sondern am Piano im Wohnzimmer sitzen, die Fenster weit geöffnet, damit die Musik auch im Garten gut zu hören war, begleitet von klaren, gefühlvollen Violinentönen… Seufzend griff Mavis nach dem Eimer und brachte ihn zum Gartenhaus, wo eine schon halbvolle Schubkarre bereitstand. Mit dem leeren Eimer kehrte Mavis zur Terrasse zurück und holte eine große Schüssel, die mit feuchten Tüchern ausgelegt war. Damit bewaffnet begab sie sich zu einer Reihe rankender Pflanzen mit kräftig grünen Erbsenhülsen. Eben diese betastete Mavis bei der ersten Pflanze. Wo sie die Erbsen gut genug spüren konnte, pflückte sie die Hülse, öffnete sie vorsichtig und ließ die Erbsen in die Schüssel fallen, während die Hülse im Eimer landete. Es war eine Fummelarbeit, deren Fortschritt sich nur langsam abzeichnete, aber Mavis fand es entspannend. Nach all dem Stress in der Woche tat es gut, etwas so Schlichtes und doch so Nützliches zu tun… Als ein Schatten auf sie fiel, hob Mavis nicht einmal den Blick. „Ich dachte schon, du kommst heute nicht.“ „Dachte ich auch“, murmelte Rakheid und ging neben ihr in die Hocke, um ihr die nächste Hülse abzunehmen und sie zu öffnen. Flüchtig blickte Mavis von ihrer Arbeit auf und musterte ihren jüngeren Bruder. Äußerlich war ihm nichts von dem qualvollen Druck anzusehen, den er sich selbst auferlegte. Er war immer noch der wahr gewordene Traum vieler Frauen, aber Mavis war sich sicher, dass in den letzten Monaten keine einzige Frau es geschafft hatte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Augenmerk galt nur noch seiner Suche. Während sie Lucy ausgebrannt und Mavis zu Teilen in die Knie gezwungen hatte, hatte sie Rakheid in ihren Bann gezogen. Noch immer wanderte er jeden Tag durch die Stadt, startete Kampagnen, verfolgte jeden der bekannten letzten Schritte des Gesuchten. Mavis war sich sicher, dass ihr Bruder dabei so einige Gesetze gedehnt, wenn nicht sogar überschritten hatte, aber so sehr sie das auch besorgte, gleichzeitig war sie dankbar dafür. Er tat, was sie einfach nicht konnte. Dafür versuchte sie, ihm den Rücken frei zu halten. „Ich habe ein paar Hacker um Rat gefragt“, murmelte Rakheid und nahm immer neue Hülsen entgegen, um sie zu öffnen und die darin befindlichen Erbsen in die Schüssel kullern zu lassen. „Du solltest wirklich vorsichtig sein, worauf du dich da einlässt“, erwiderte Mavis, aber sie wusste selbst, dass ihrer Stimme der Tadel fehlte. Sie konnte nicht einmal einen Tadel aufbringen, als sie den starken Deo-Geruch bei ihrem Bruder registrierte, mit dem er den Gestank von Zigarettenqualm zu übertünchen versuchte. So wenig er auch dazu in der Lage war, dieses dumme Laster wieder abzulegen, er versuchte zumindest, zu verhindern, dass seine Nichte etwas davon mitbekam. Wenn er hierher kam, hatte er die Packung mit den Zigaretten und das Feuerzeug nicht einmal in der Tasche. Mavis würde sich wünschen, dass er überhaupt gar nicht rauchen würde, aber sie wusste, dass Rakheid irgendein Ventil für seine blank liegenden Nerven brauchte, also bedrängte sie ihn nicht deswegen. Er wusste ohnehin, wie sie dazu stand. „Ich habe den Kontakt mehrfach verschlüsselt und über zig Leitungen geschickt. Und selbst wenn sie diese Spur zurück verfolgen können, sie haben keinen Grund dafür. Das sind echte Cracks, die wollen nur den Kick, mal eine Verkehrskamera zu hacken oder etwas Ähnliches“, erklärte Rakheid und fummelte eine verschrumpelte Erbse unter den gesunden hervor. Als wäre sie ein kleines Wunder, betrachtete er sie aufmerksam, während er weiter sprach. „Das funktioniert vielleicht besser als die Suchanzeigen.“ Die edlen Gesichtszüge des jungen Mannes wurden von Gram zerfurcht und Mavis presste die Lippen aufeinander. Mehrmals hatten sie Suchanzeigen ins Internet gestellt. Auf entsprechenden Portalen, aber auch auf einer eigenen Homepage. Es hatte geradezu Hinweise gehagelt und sie hatten Ewigkeiten damit zu tun gehabt, alle durch zu gehen, obwohl sie Beide geahnt hatten, dass all diese Hinweise gefälscht waren – aber die Hoffnung darauf, wenigstens einen hilfreichen Kommentar zu finden, hatte sie bis zum bitteren Ende durchhalten lassen. Der Misserfolg dieser Suchanzeigen hatte Rakheid nur noch mehr angespornt, hatte in ihm regelrecht ein Feuer entfacht. Er war gewissermaßen zum Zugpferd der Familie geworden. Unerschütterlich, unermüdlich und absolut zuverlässig. Manchmal schaffte Mavis es kaum, ihren Bruder anzusehen, weil seine Zielstrebigkeit ihr wie ein Wahn vorkam, doch in Momenten wie jetzt war ihr in Rakheids Nähe wohltuend warm und beruhigend zumute. Es gab ihr das Gefühl, dass alles irgendwann irgendwie wieder ins rechte Lot kommen würde. Die Suche würde ihr Ende finden und Lucy würde wieder sie selbst und sie würden endlich wieder vollständig sein… „Wo ist Natsu heute?“, wechselte Rakheid das Thema, warf die verschrumpelte Erbse in den Eimer und blickte zur Hängematte, in der Lucy noch immer lag. „Sein Pieper ist kaum eine halbe Stunde, nachdem er mit Lucy hier angekommen war, los gegangen“, seufzte Mavis und blickte nun ebenfalls zur Hängematte. „Er hat Lucy dorthin gebracht und dann wollte er eigentlich mit Zeref und mir reden. Er sah wirklich müde aus.“ Mavis ahnte, was ihr Schwager bereden wollte, und wenn sie ehrlich war, hatte sie schon vor Wochen darauf gehofft, dass das Thema zur Sprache kam. Wenn Lucy zurück in die Villa kam, konnten sich mehr Leute um sie kümmern. Vielleicht würde ihr das irgendwie helfen. Allerdings konnte Mavis auch verstehen, warum Natsu eben doch so lange damit gezögert hatte. Ihm musste wie es ein Eingeständnis seines eigenen Unvermögens vorkommen. Dabei hatte er in den letzten vier Monaten wirklich alles für seine Verlobte getan, was man nur tun konnte. Es war nicht seine Schuld, dass Lucy in dieses Loch gefallen war. Rakheid stieß ein leises Brummen aus und warf die letzte Hülse in den Eimer, ehe er sich die Hände abwischte. Ohne eine Erklärung stand er auf und ging gemächlich zu einem nahen Blumenbeet, wo er eine der blauen Blumen mit Lilastich pflückte, um damit zur Hängematte zu gehen. Wortlos beobachtete Mavis, wie Rakheid die Blume in Lucys Haar steckte und sich vorsichtig zu ihr in die Händematte legte. Zuerst verkrampfte Lucy sich, als ihr Bruder sie in eine Umarmung zog, aber schließlich erlahmte ihr schwacher Widerstand und sie drückte ihr Gesicht in seine Brust, um zu weinen. Die zierliche Blüte leuchtete vor dem Hintergrund der goldblonden Haare und zitterte mit den Schluchzern der Trägerin. Obwohl die Blüte eine hellere Farbe hatte, erinnerte sie Mavis an ein Paar intensivblauer Augen mit einem lebenslustigen, warmherzigen Funkeln, gepaart mit dem strahlendsten Lächeln, das Mavis kannte… Wie passend, dass Rakheid ausgerechnet diese Blume ausgewählt hatte, um sie Lucy ins Haar zu stecken. Dabei war Mavis sich sicher, dass er nicht um ihre Bedeutung in der Sprache der Blumen wusste. Die Kornblume, die seit jeher Laylas Lieblingsblume gewesen war und die in jedem noch so perfekten Garten etwas Wildes und Unbezähmbares behielt, eine leuchtende Erinnerung an die Natur und das Leben in Reinform. Sonst hatte Layla sich nie viel aus der Blumensprache gemacht, hatte den Garten keinerlei parktypischen Raster unterworfen, sondern eben dort genau die Pflanzen angesetzt, wo und nach denen ihr gerade zumute gewesen war. Dieser Garten war nie nach einem Plan angelegt worden, seine Pflanzen waren alle mit Liebe und Sorgfalt gepflegt und nie in strikte Formen gezwängt worden. Alles nach dem Vorbild dieser Pflanze, deren Bedeutung Mavis und Lucy von frühster Kindheit an immer wieder ins Ohr geflüstert worden war und die so perfekt zu dem passte, was Rakheid zu vermitteln versuchte: Ich gebe die Hoffnung nicht auf! Kapitel 6: Einmischung - Aller Anfang ist schwer ------------------------------------------------ Das Schloss der Familie Lobster überragte die gesamte Stadt. Auf den unter Seemännern weithin gefürchteten Blutklippen situiert, war es abgeschottet vom Rest Hargeons, nur erreichbar über eine steile Serpentine, die jedoch so perfekt gepflastert war, dass Fuhrwerke ungehindert hinauf gelangen konnten, wenn sie für alle fünf Kontrolltore einen gültigen Passierschein besaßen. Jedes Tor war eine Festung für sich und schloss den Weg gnadenlos ab. Der weiße Putz und die blauen Schindeldächer der Spitztürme zu beiden Seiten jedes Tores verliehen den Wehranlagen einen märchenhaft-unschuldigen Charakter, aber nahm man sie genauer in Augenschein, konnte man die eisenbeschlagenen Tore, die drohenden Spitzen der Fallgitter, die Armbrüste zwischen den Zinnen und die Pechnasen über jedem Tor unmöglich übersehen. Sollte es dennoch gelingen, alle fünf Tore irgendwie zu überwinden, wartete am Ende der Serpentine die Festung. Mit ihrem weißen Putz hob sie sich stechend hell vom dunklen Fels der Blutklippen ab und bei günstigem Sonneneinfall funkelten die blankpolierten blauen Schindeln, die auch hier die Spitzdächer der Türme bedeckten – sowohl die Wehrtürme an den Mauern als auch den wesentlich größeren Wohnturm im Zentrum der Festung. Die übrigen Gebäude waren vom Fuß der Serpentine aus nicht zu sehen. Unübersehbar waren jedoch die Fahnen, die an der Spitze jedes Turms flatterten und das Wappen der Familie Lobster trugen: In rotem Feld eine goldene Waage, links mit einem Fisch belegt, rechts mit einem Schiff. Symbole für die Säulen, auf denen sich der Reichtum der alten Handelsstadt begründete. „Ho, Mäd’, de bistm Weech!“ Meredy schreckte von ihrer eingehenden Betrachtung der Festung auf und erkannte einen grobschlächtigen Soldaten in der rot-goldenen Rüstung des Hauses Lobster, der anscheinend ein Ochsengespann eskortierte, das die gesamte Breite der Straße zum ersten Tor am Fuß der Serpentine ausfüllte. „Wirdsch bal’!“, schnauzte der Mann wieder und blickte abfällig auf den Korb hinunter, welcher an Meredys schlankem Arm hing und zahlreiche Küstenblumen enthielt. „Sowat wird’ier nich jebraucht, verschwin’!“ Beinahe hätte Meredy das Gesicht verzogen. Sie lebte noch nicht lange in Fiore, aber sie konnte mit Fug und Recht behaupten, dass ihr Fiorianisch um Längen besser war als das dieses Grobians. Die Kaiserin hatte sie davor gewarnt, dass der Dialekt der Küstenbewohner selbst für gebürtige Fiorianer äußerst gewöhnungsbedürftig war. Aber Meredy musste sich eingestehen, dass sie nicht für möglich gehalten hatte, wie sehr man diese Sprache verschandeln konnte. Gemäß ihrer Rolle senkte Meredy demütig den Blick und wich nach hinten hin aus. Ganz genau war sie sich ihrer Umgebung bewusst und bewegte sich so, dass sie weder mit einer Wand noch mit einer Person kollidierte. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Immerhin sollte sie hier nur eine stille Beobachterin sein. Die Kaiserin wollte wissen, wie die Dinge um das Fürstengeschlecht der Lobsters standen. Die jüngste Tochter war vor einem Mond im Austausch für Erza Belserion als Geisel an den Hof des Imperators von Alvarez geschickt worden. Erza war schon seit mehr als zehn Zyklen in Crocus und vor zweieinhalb Zyklen der Kaiserlichen Armee beigetreten. Ihr Status als Geisel war also nur eine Formalie. Dennoch hatte es einen neuen Gegenpart für sie in Alvarez gebraucht, nachdem Sawarr Junelle nach Oak zurück gekehrt war, um die Tochter eines ansässigen Kleinadelsgeschlechts zu heiraten. Kaum einer der Fürsten Fiores war dazu bereit, eines seiner Kinder dafür zur Verfügung zu stellen. In heutiger Zeit, da die medizinische Versorgung so viel besser war und da es kaum noch kriegerische Auseinandersetzungen unter den Fürsten gab, neigten die Fürstengeschlechter nicht mehr dazu, so viele Kinder wie möglich in die Welt zu setzen. Großfamilien waren selten geworden. Eigentlich wusste Meredy diesbezüglich nur von der Fürstenfamilie Strauß, die jedoch nie und nimmer einen der Ihren als Geisel bereitstellen würde, selbst wenn deswegen ein Krieg drohen sollte, und von den Lobsters. Letztere hatten sich bereit erklärt, das jüngste von fünf Kindern nach Alvarez zu schicken, um den Frieden mit dem Imperium zu sichern. Zweifelsohne erhofften sie sich davon auch eine Ausweitung ihres Handelsimperiums und womöglich sogar eine gute Partie für das ansonsten schwer zu verheiratende Kind, dem eine bei weitem weniger stattliche Mitgift zur Verfügung gestellt werden konnte als den drei älteren Schwestern. Diese Motivation gefiel der Kaiserin nicht, auch wenn sie das Angebot der Lobsters akzeptiert hatte und den Frieden mit dem Imperator wahren würde, um das Leben der Geisel in Sicherheit zu wissen. Sie wollte die Lobsters im Auge behalten. Es ehrte Meredy, mit solch einer wichtigen Mission betraut worden zu sein, und gleichzeitig war sie aufgeregt. Zweieinhalb Zyklen lang hatte sie immer nur mit den Runenrittern und den Rekruten der Kaiserlichen Armee geübt oder sich in der Kaiserlichen Hofbibliothek oder in der Universitätsbibliothek verschanzt. Das war für eine Weile ausreichend gewesen. Nach allem, was sie in der Zeit vor ihrer Ankunft in Crocus durchgemacht hatte, hatte es gut getan, wieder eine sichere Routine zu haben. Auf etwas hin zu arbeiten. Oder zumindest hatte sie geglaubt, auf etwas hin zu arbeiten… Die Pinkhaarige schüttelte den aufkommenden Gedanken ab und blickte noch einmal nach oben zum Schloss. Sie musste dort oben hin gelangen, um die Familie Lobster näher in Augenschein zu nehmen. Im Idealfall fand sie auch eine Gelegenheit, die Rechnungsbücher des Fürsten zu studieren, wofür sie jedoch in sein Arbeitszimmer musste. Nur… wie sollte sie das Schloss erreichen? Die Kaiserin hatte ihr lediglich gesagt, dass sie diskret bleiben und dass niemand zu Schaden kommen sollte, ansonsten hatte sie Meredy keine weiteren Richtlinien gegeben. Das machte es noch schwerer, sich ein geeignetes Vorgehen zu überlegen. Sollte sie sich so einen Passierschein für die Tore stehlen? Sollte sie einen der Fuhrmänner bestechen, damit er sie in einem Fass mitschmuggelte, wenn er die Serpentine nach oben fuhr? Oder sollte sie versuchen, die Blutklippen hinauf zu klettern? Nachdenklich wandte Meredy sich vom Schloss ab, orientierte sich kurz und schlug dann den Weg zum Hafen ein. Vielleicht sollte sie sich erst einmal ein Bild von den Blutklippen machen. Ursprünglich war Hargeon in einer breiten Bucht angelegt worden. Die Landnasen, welche die Bucht im Norden und Süden einrahmten, schützten den Hafen vor den rauen Gezeiten und hatten so aus einer anfangs wirren Ansammlung von provisorischen Holzstegen nach und nach eine ganze Hafenstadt heranwachsen lassen. Heute war die Hafenanlage mit solidem Stein befestigt und nach einem komplizierten Muster angelegt worden. Die drei Werften waren unermüdlich in Betrieb, Tag und Nacht wurden Schiffe ent- und beladen. Kleinere Boote – Lotsen, Fischer, Frachter – tummelten sich in rauen Mengen innerhalb der Bucht. Unterhalb der südlichen Landnase war sogar ein weiterer Hafen angelegt worden, der langsam aber stetig die Küste weiter entlang wuchs wie ein Geschwür. Und obwohl sie wusste, dass der Hafen das Herz der Großstadt war, kam er Meredy gleichzeitig wie ein Geschwür vor. Riesig groß und unübersichtlich, laut und übel riechend. Wie Ameisen waren die Hafenarbeiter und Matrosen hier unterwegs. Ausgesprochen unkoordinierte Ameisen. Sofern sie nicht eine konkrete Aufgabe hatten, schienen sie sich den Tag damit zu vertun, dumm herum zu laufen und viel zu laute, zotige Sprüche von sich zu geben, die Meredy wünschen ließen, es gäbe in Fiore einen Schulzwang. Wobei ihr ein Waschzwang noch viel wichtiger wäre. Die Gerüche, welche die Männer im Hafen absonderten, waren abartig. Die Hälfte der Männer, die gerade keine Aufgabe zu haben schienen, schien obendrein trotz der Mittagsstunde bereits betrunken zu sein – oder kräftig darauf hin zu arbeiten. Zwischen all den Lagerhallen und Hafenbüros lagen immer wieder Spelunken, eine zwielichtiger als die andere. Je heruntergekommener sie wirkten, desto mehr Gesindel schienen sie anzuziehen. Je näher Meredy jedoch dem nördlichen Abschnitt des Hafens kam, desto ordentlicher wurde das Bild wieder. Hier trauten sich nicht mehr so viele Männer zweifelhaften Charakters hin. Kapitäne, die es sich leisten konnten, ankerten deshalb lieber in diesem Bereich. Denn selbst die noch so verwegene Hafenratte konnte der Anblick der Kaiserlichen Hafenkaserne nicht kalt lassen. Sie machte etwa ein Viertel des gesamten Hafens aus und ähnlich wie in Crocus bildete sie eine eigene Stadt in der Stadt. Die Mauern ragten fünf Mannslängen in die Höhe und ihre gut sichtbaren Armbrüste und die patrouillierenden Soldaten schindeten ordentlich Eindruck. Drei imposante Galeonen ankerten an den Piers der Kaserne, eine davon sogar dreimastig. Dazwischen lagen mehrere deutlich kleinere Karavellen und Karacken. Und im tieferen Wasser des Hafens lag die Kanaloa, eine gewaltige Galeasse mit sechs dicken Masten, zwei Ruderdecks und beängstigenden Waffenaufbauten an Bug und Steuerbord. Das war das gefährlichste Schlachtschiff im gesamten Kaiserlichen Meer. Meredy hatte schon viele Geschichten über die Ruhmestaten der Galeasse gehört – eine fantastischer als die andere – und jetzt war sie bereit, beinahe alle davon zu glauben. Unter dem richtigen Kommando war dieses Schiff uneinnehmbar. Der Tod zu Wasser… Verärgert schüttelte Meredy den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie stehen geblieben war, um die Kanaloa anzustarren. Du bist ein Blumenmädchen aus Hargeon. Du kennst dich hier aus. Diese Schiffe beeindrucken dich überhaupt nicht mehr, rief sie sich selbst in Erinnerung und setzte sich wieder in Bewegung, um die Mauern der Kaserne zu umrunden, immer darauf bedacht, viele Umwege zu nehmen, damit sie den patrouillierenden Soldaten auf den Kasernenmauern nicht zu oft ins Auge fiel. Zwischen die Kaserne und die Blutklippen quetschte sich ein buntes Durcheinander aus Häusern in unterschiedlichen Baustilen und Erhaltungszuständen. Da auf der anderen Seite der nördlichen Landnase ein Gewirr aus Felsen eine Anlandung mit dem Boot unmöglich machte, hatten sich in diesem kleinen Viertel – Klippenviertel wurde es aus naheliegenden Gründen genannt – vorrangig Handwerker nieder gelassen, vielleicht auch einigen Soldatenfamilien. Meredy erkannte die Schilder für diverse Schmiede, Tischler, Radmacher, Sattler, Küfer, Töpfer, Schuster, Schneider und dergleichen mehr. Dazwischen Bäcker und Fleischer, die eine oder andere ordentlichere Taverne, auf einem schmalen, aber lang gestreckten Markt wurden Obst und Gemüse feilgeboten und in einigen Hinterhöfen war das Gackern von Hühnern und Meckern von Ziegen zu hören. Hier war es ruhiger und sauberer als am Hafen. Sehr zu Meredys Erleichterung. Die Versuchung, ihre Fähigkeit, mit dem richtigen Griff zudringliche Finger brechen zu können, unter Beweis zu stellen, wurde am Hafen wirklich größer, je länger man dort war. Langsam, aber zielsicher durchquerte sie das Hafenviertel. Sie war noch nie hier gewesen, hatte während der Reise mit der Postkutsche hierher nur sehr ausgiebig den Stadtplan studiert, aber sie musste sich nur an den Mauern der Kaserne orientieren, um zu wissen, dass sie auf dem richtigen Weg war. Sie erreichte die nördliche Landnase, eine Ansammlung gewaltiger, scharfkantiger Felsen, die gut dreihundert Mannslängen ins Meer ragten und dabei einen leichten Bogen bildeten. Am Ende der Landnase war ein hoher Turm errichtet worden, an dessen Spitze hohe Fenster zu erkennen waren – und dahinter ein großer Lichtlacrima. Der Leuchtturm von Hargeon. Oder vielmehr einer der Leuchttürme. Der zweite Turm befand sich vierhundert Mannslängen weiter am Ende der südlichen Landnase, die im Gegensatz zu ihrem Gegenstück dicht bebaut war. Sie war breit genug, um zwei bis drei Häusern nebeneinander Platz zu bieten, und ragte sogar noch weiter ins Meer. Es war für die weniger vorsichtigen Gesellen naheliegend gewesen, auf dieser Landnase zu siedeln. Für Fischer bedeutete das, deutlich schneller auf dem offenen Meer zu sein. Und für Schmuggler bedeutete es, den wachsamen Augen der Hafenmeister zu entgehen, welche die südliche Landnase sich selbst überließen. Nach jedem größeren Sturm waren mehrere der Häuser und ihre Bewohner fort, aber schon nach kurzer Zeit wurde der leere Platz wieder bebaut. Es gabt dort sogar einige kleinere Tavernen, in denen man höchst wahrscheinlich auch Opium, Hasch und andere Rauschmittel bekommen konnte, zu deren Beschlagnahmung und Vernichtung jeder Hafen- und Zollmeister in Fiore laut den Kaiserlichen Handelsgesetzen verpflichtet war. Die nördliche Landnase war im Vergleich dazu ein unwegsames Ödland. Ihre Steine eine abweisende Zackenreihe, wie eine natürliche Mauer. Meredy stellte ihren Blumenkorb ab und zog sich auf einen stumpfen Felsen, um von dort aus die Blutklippen betrachten zu können. Sie bestanden aus demselben schwarzen Stein wie die nördliche Landnase und funkelten bedrohlich im Licht der Mittagssonne. Selbst Felsenbrüter schienen davon abgeschreckt zu werden. Nur vereinzelt waren weiße Flecken vor dem Hintergrund des dunklen Steins zu sehen, vermutlich Möwen oder Sturmtaucher. Der erste Lobster-Fürst war wagemutig gewesen, die Blutklippen als seinen Sitz zu wählen, bedeutete das doch einen unglaublichen logistischen Aufwand, aber man musste ihm zugute halten, dass die Festung mit der richtigen Versorgung uneinnehmbar war. Die Klippen hatten einen deutlichen Überhang, der es jedem noch so guten Kletterer unmöglich machte, sie zu erklimmen. Und selbst wenn dieses Hindernis irgendwie zu überwinden wäre – am Fuße der Klippen brachen sich die Wellen selbst an einem lauen Tag wie heute mit beängstigender Gewalt. Zwischen den weißen Schaumkronen blitzten weitere Felsenspitzen hervor. Weder mit einem Boot noch schwimmend war der Fuß der Blutklippen zu erreichen. Und selbst wenn man von einem der Hinterhöfe des Klippenviertels aus den Aufstieg wagen wollte – was auch nur nachts zu bewerkstelligen wäre, weil man ansonsten sofort gesehen wurde –, war da wieder der Überhang. Nein, der einzige Weg hoch in die Festung führte durch die fünf Tore. Der Vergrabene Knochen war trotz seines zweifelhaften Namens eine der besseren Tavernen des Hafenviertels. Der Boden bestand nicht nur aus festgestampfter Erde, sondern war mit großen Steinplatten ausgelegt und wurde offensichtlich mindestens einmal am Tag ordentlich ausgefegt. In der Nähe von Meredys Tisch war Sand auf den Boden gestreut worden, um verschüttetes Bier daran zu hindern, sich durch die schmalen Fugen weiter auszubreiten. Meredy hatte sich einen Tisch in der ruhigsten Ecke der Taverne gesucht und sich einer alten Gewohnheit nach mit dem Rücken zur Wand gesetzt, damit ihr nichts von dem entging, was sich im erstaunlich weitläufigen Schankraum abspielte. Hinter der Theke stand ein schlanker Mann mit auffällig spitzer Nase und einem langen, blauen Kopftuch, unter dem schwarze, büschelige Kotletten hervorlugten. Seine Haut war stark gebräunt und seine muskulösen Arme ließen keinen Zweifel daran, dass er Unruhestifter vor die Tür setzen konnte. Er bediente in einem beeindruckenden Tempo das gute Dutzend Gäste, das sich über der gesamten Breite von drei Mannslängen an der Theke aus hochwertigem Holz verteilt hatte, und kümmerte sich gleichzeitig darum, die Bestellungen seines Kollegen zu erfüllen, der ständig mit einem voll beladenen Tablett mit leeren Gefäßen zur Theke kam, dieses abstellte und ein anderes Tablett mit vollen Gefäßen aufnahm, um sich wieder durch den dicht besetzten Schankraum zu schlängeln und die Getränke zu verteilen. Genau wie der Dunkelhaarige war auch dieser Blondschopf erstaunlich muskulös. Seine Haut war ziemlich bleich, womöglich stammte er aus dem Norden, vielleicht aus Borwatt oder Boscun. Sein Haar türmte sich zu zwei widernatürlichen Wellen auf und die beinahe bis zum Kinn reichenden Kotletten und die dicken Augenbrauen verliehen ihm insgesamt etwas sehr Groteskes. Doch auch bei ihm war auffällig, wie geschmeidig er sich durch den Raum bewegte. Trotz seiner schweren Fracht bewegte er sich schnell und sicher, wich mühelos wild gestikulierenden Gästen aus und tauschte leere mit vollen Trinkgefäßen so geschickt aus, dass nie auch nur ein Tropfen verschüttet wurde. Meredy wurde klar, dass diese beiden Männer keine normalen Wirte waren, aber sie konnte nur wenig Interesse dafür aufbringen, was sie noch waren. Sie beobachtete das Treiben und solange nichts geschah, das sie befürchten ließ, ungebetene Tischgesellen zu erhalten, ignorierte sie es, während sie an ihrem Krug mit Starkbier nippte. Der Blonde hatte sie und ihren Korb mit halb verwelkten Blumen mit einem irritierten Stirnrunzeln bedacht, als sie das Gebräu bestellt hatte, aber ansonsten hatte er ihren Wunsch kommentarlos erfüllt und sie ihren frustrierten Grübeleien überlassen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie in die Festung gelangen sollte. Sich in der Nacht hinein zu schleichen, war offensichtlich unmöglich. Dafür waren die Blutklippen zu gefährlich, die Tore auch über Nacht zu gut bewacht. Sollte sie sich also einen Passierschein besorgen? Oder sich in einem Fass hinein schmuggeln lassen? Letzteres behagte ihr ganz und gar nicht. Damit würde sie sich auf Gedeih und Verderb einem der Lieferanten ausliefern – und das rief Erinnerungen wach, die sie lieber schnell wieder vergrub. Mit einem leisen Seufzer setzte sie den Bierkrug an die Lippen und nahm mehrere tiefe Schlucke. Sie fühlte sich furchtbar unzulänglich, weil sie so gnadenlos an dieser doch eigentlich so simplen Mission scheiterte. Die Kaiserin setzte ihr Vertrauen in sie. Sollte sie wirklich mit leeren Händen zu ihr zurückkehren? Allein der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Nach allem, was sie der Unsterblichen schuldete, wollte sie sie um keinen Preis enttäuschen! „Ich hoffe mal für dich, dass du trinkfest bist. Das Zeug hat es in sich.“ Mit einem finsteren Blick senkte Meredy ihren Bierkrug beim Klang der ihr so vertrauten Stimme. Ihr gegenüber saßen auf einmal Jellal und Urtear am Tisch. Beide trugen schlichte Reiseumhänge über ebenso einfachen Tuniken und Lederhosen. Ob sie Waffen trugen, war nicht erkennbar – auch für Meredy nicht, was sie insgeheim ärgerte, auch wenn sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. „Was macht ihr hier?“ „Dich beobachten“, gab Urtear unbeeindruckt von Meredys scharfen Tonfall zurück. Jellal sagte nichts, er blickte seine Schwester einfach nur ernst an. Dieser Blick versetzte Meredy gleich noch mehr in Rage. Sie war kein kleines Kind mehr! „Verschwindet wieder. Ihr stört!“, knurrte Meredy und wollte wieder nach ihrem Bierkrug greifen. Verwirrt blinzelnd stellte sie jedoch fest, dass das Gefäß auf einmal auf der anderen Seite des Tisches vor Jellal stand, der selbigen nun an seine Lippen setzte, um einmal daran zu nippen. Wann hatte Jellal sich über den Tisch gebeugt? Meredy hatte absolut nichts bemerkt. Dabei hatte der Bierkrug direkt vor ihr gestanden! „Ich denke, du hattest für heute genug davon“, erklärte der Blauhaarige ruhig, nachdem er das Gefäß wieder abgesetzt hatte. „Das geht dich gar nichts an!“, erwiderte Meredy aufsässig und ihre Hand schnellte nach vorn, aber Urtear kam ihr zuvor und setzte den Bierkrug nun an die eigenen Lippen, während sie zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand eine der Blumen aus Meredys Korb zwirbelte. Schon wieder verwirrt blickte Meredy zwischen der Blume und ihrem Kopf hin und her, der auf dem Stuhl neben ihr stand. Wie hatte Urtear das gemacht? Sicherlich, Jellal und Urtear waren bereits seit zwei Zyklen als Assassinen aktiv und hatten schon mehrere Missionen für die Unsterbliche Kaiserin ausgeführt, aber Meredy hatte doch auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Sie hatte so viel trainiert, hatte so viele Kampfübungen absolviert, war des Nachts durch Crocus’ Gassen gestreift, hatte Passanten ausgeraubt und ihnen die gestohlenen Börsen wieder untergejubelt, hatte ihre Reflexe geübt, indem sie Ratten und Straßenkatzen gefangen hatte… Die Vorstellung, dass die beiden Älteren ihr immer noch um so vieles überlegen waren, machte Meredy krank vor Wut. Sie wollte nicht schwach sein… „Das ist meine Mission! Die Kaiserin hat sie mir übertragen. Lasst mich gefälligst in Ruhe!“, zischte sie, schnappte sich ihren Korb und stürmte aus der Taverne. Dem blonden Kellner schnippte sie im Vorbeigehen die Jewelmünze zu, die sie ihm schuldig war. Sie war so aufgebracht, dass sie sich nicht einmal darüber wundern konnte, wie beiläufig er das Geld mit der Rechten auffing, ohne dass das Tablett in seiner Linken auch nur ins Wanken geriet. Die Wellen rollten träge gegen die Mauersteine des Hafenbeckens, brachen sich daran und ließen Wasser aufspritzen. Die Blumen wurden von diesem Tanz mitgerissen, schwammen, tauchten unter, wieder auf, schwammen wieder, gerieten in Wirbel, wurden wieder daraus befreit. Ein kleines Durcheinander, das niemanden im abendlichen Hafen interessierte. Niemanden außer Meredy. Sie lehnte mit dem Rücken an einem der dicken Poller einer derzeit unbesetzten Pier und starrte stumpfsinnig auf ihre Blumen hinunter. Auf ihrer Zunge lag noch der Nachgeschmack des Biers und er war bitter und voller Enttäuschung. Die Wut, die sie aus dem Vergrabenen Knochen heraus getrieben hatte, war schon längst wieder verflogen. Sie hatte geglaubt, endlich zu ihrem Bruder aufholen zu können. Er war einer der wenigen Menschen, denen sie noch vertrauen konnte, aber sie wollte nicht auf seine Hilfe angewiesen sein. Sie wollte selbst etwas bewirken können, wollte stark und unabhängig sein. Darauf hatte sie in den letzten Zyklen seit ihrer Ankunft in Crocus hin gearbeitet. Dafür hatte sie ihrem Körper und Geist so viel abverlangt. Unter die Nase gerieben zu bekommen, dass es nicht ausreichte, war… bitter… Als ihr Bruder sich neben ihr nieder ließ, blickte Meredy nicht einmal auf. Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie konnte ihn nicht ansehen. „Du hast dich zu sehr in die Idee verbissen, dass du in das Arbeitszimmer von Fürst Lobster musst“, begann Jellal mit einem nachsichtigen Seufzer. Meredy wunderte sich einen Moment lang, woher von diesem ihren Vorhaben gewusst hatte, aber sie fragte nicht nach. Vielleicht hatte er es einfach erraten. „Seine Papiere muss er jedem Inhaber einer Kaiserlichen Rolle vorweisen oder demjenigen auf Wunsch sogar Eintritt in sein Arbeitszimmer gewähren, deshalb kann man davon ausgehen, dass er selbst in versteckten Fächern seines Arbeitszimmers peinlich genau darauf achtet, dass die Buchführung vollkommen gesetzeskonform ist. Es wäre also vollkommen nutzlos gewesen, sich in sein Arbeitszimmer zu schleichen.“ Langsam schrumpfte Meredy in sich zusammen. Nun, da Jellal es sagte, war es wirklich offensichtlich, wie sinnlos es gewesen wäre, in das Arbeitszimmer des Fürsten einzutreten, aber den ganzen Tag über hatte sie sich regelrecht in eben diese Idee verrannt, weil… weil sie schlicht und einfach noch keine Ahnung hatte. Ein sanfter Stoß gegen ihre Schulter ließ sie zu ihrem Bruder hoch schielen, der ihr sein seltenes Lächeln schenkte. „Manchmal ist die Lösung für unsere Missionen viel unspektakulärer, als jeder sich das vorstellt, wenn er auch nur das Wort Assassine hört. Wenn du etwas über die Handelsvorgänge des Fürsten erfahren willst, ist der Hafen die beste Anlaufstelle. Das hier ist die Halsschlagader von Hargeon. Um Geschäfte mit dem Hafen kommt der Fürst nicht herum, wenn er mehr Profit machen will. Und große Geschäfte hinterlassen vielerlei Spuren. Sobald man weiß, wie sie aussehen, sind sie einfach zu entdecken. Und diese Spuren führen gelegentlich auch zu schmutzigen Geheimnissen.“ „Du sagst das, als wäre das alles selbstverständlich“, murmelte Meredy und senkte den Blick wieder auf die Blumen im Wasser, von denen jedoch nicht mehr viele übrig waren. Die meisten waren wohl schon von einer Strömung fortgetrieben worden. „Ist es nicht“, widersprach Jellal ruhig. „So etwas lehrt einem nur die Erfahrung.“ „Deine erste Mission hast du fehlerlos bewältigt.“ „Nur weil ich Urtears Rückendeckung hatte. Es war für uns Beide Neuland. Wir mussten es auch erst lernen, aber wir haben es gemeinsam gelernt. Deshalb sind wir auch hierher gekommen. Die Leute haben oft ganz verquere Vorstellungen davon, aber in Wahrheit arbeiten Assassinen gemeinsam viel besser als alleine.“ Meredy musste schwer schlucken. Genau das hatte sie doch vermeiden wollen. Sie hatte endlich selbstständig sein wollen. Deshalb hatte sie sich doch dafür entschieden, eine Assassine zu werden, anstatt sich für die Kaiserliche Armee einzuschreiben. „Also habe ich versagt…“ Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie ihr Bruder langsam den Kopf schüttelte. „Nein, du hast einfach nur Erfahrungen gesammelt. Du hast dich zum ersten Mal getarnt in einer dir unbekannten Stadt bewegt und du hast dich ziemlich gut geschlagen. Hargeon ist fast noch unübersichtlicher als Crocus und der Dialekt hier ist furchtbar.“ Bei diesen Worten zuckte ein Lächeln über Meredys Lippen. Sie musste an den Lobster-Soldaten vor der Serpentine denken, den sie kaum verstanden hatte. „Das kannst du laut sagen.“ Obwohl sie den Blick nicht von den Blumen abwandte, hörte sie das Lächeln aus den Worten ihres Bruders heraus. „Lass’ uns in die Herberge gehen. Morgen gehen Urtear und ich mit dir zu den Orten, wo du an die gewünschten Informationen kommen kannst. In Ordnung?“ „Ihr wisst, wo meine Herberge ist?“, brummte Meredy gleich wieder verstimmt. „Und ihr habt mich den ganzen Tag beobachtet?“ „Seit du aus der Postkutsche gestiegen bist“, gestand Jellal und stieß sie wieder mit der Schulter an, ehe er aufstand und ihr eine Hand anbot. „Das hat nichts damit zu tun, dass wir oder die Kaiserin dir nicht vertrauen würden. Ich glaube, Urtear war einfach neugierig, wie du es angehst, und wollte sehen, wie du dich mit dem Dialekt quälst.“ Auch wenn sie eine blutige Anfängerin war, dass ihr Bruder nicht über seine eigenen Motive sprach, fiel Meredy sehr wohl auf. Für einen Moment erwog sie, ihn damit zu konfrontieren, aber dann verdrängte sie den Gedanken, drehte sich herum und ergriff die Hand. Als sie zu Jellal aufblickte, grinste sie listig. „Und du wolltest wohl nicht in Crocus bei einer gewissen Soldatin bleiben, hm?“ Es war nur ein hastiges Blinzeln und ein Zucken seiner Finger, aber diese winzigen Hinweise genügten Meredy. Voller Genugtuung ließ sie sich in die Höhe ziehen und lief neben ihrem schweigenden Bruder durch die Straßen von Hargeon. Sie könnte ihn natürlich noch ein wenig damit aufziehen, wie schwer er sich noch damit tat, dass er mit Erza Belserion eine Beziehung führte, aber so gemein war sie nicht. Sie war ja nicht Urtear. Bevor sie in die Herberge in der Nähe des Postplatzes traten, in welcher Meredy sich ein Zimmer genommen hatte, blickte die Pinkhaarige noch einmal hoch zur Festung auf den Klippen. Ihre Mauern wurden vom Sonnenuntergang blutrot gefärbt. An einigen Stellen wurden bereits die Wachfeuer entfacht. Als eines davon aufflackerte, fühlte Meredy sich aus irgendeinem irrationalen Grund provoziert. Es kam ihr vor, als hätte die Festung ihr ein Schnippchen geschlagen. Eines Tages bin ich eine so gute Assassine, dass ich dem Fürsten den Kopf rasieren kann, während er da oben in seiner Festung liegt, dachte Meredy grimmig, ehe sie durch die Tür schlüpfte, die ihr Bruder ihr aufhielt. Kapitel 7: Ort - Wo das Schicksal lauert ---------------------------------------- Der Bürgermeister von Malba war ein dürrer, grauhäutiger Mann mit weit aufgerissenen Augen und rissigen Lippen. Viel zu alt für ein solches Amt in einer bedeutenden Handelsstadt, mochte sie seit der Großen Epidemie auch noch so sehr herabgesunken sein. Vielleicht war gerade das Malbas Ewiger Fluch, überlegte Jellal, während der Bürgermeister auf ihn einredete. Vielleicht kam Malba nicht mehr um Altersverfall herum – körperlich wie geistig. „Und dann sind die Drachen weiter nach Norden zu unseren Weiden und haben sicher ein Dutzend unserer Rinder gerissen und fast die ganze Herde vertrieben und die Weide mit ihren Klauen aufgewühlt. Unsere Bauern werden deswegen am Hungertuch nagen.“ „Das ist merkwürdig. Als ich von Norden aus zur Stadt geflogen bin, sind mir keine Schäden auf den Weiden aufgefallen“, merkte Charle spitz an und verschränkte die Arme vor der Brust. Jellal unterdrückte ein Seufzen und räusperte sich stattdessen. „Verfasst einen Beschwerdebrief und gebt ihn Kommandant Alors. Er wird das Schreiben mitnehmen, wenn er nach Crocus zurückkehrt. Dort wird man den Fall untersuchen und bei Gelegenheit die Drachen befragen.“ „Aber unsere Bauern brauchen das Geld jetzt!“, klagte der Bürgermeister. „Wie sollen sie ihre Familien über den Winter bringen?“ „Malba hat der Empfehlung der Unsterblichen gewiss Folge geleistet und für solche Fälle eine Kasse mit Rücklagen. Helft damit den Betroffenen. Nach Abschluss der Prüfung werdet Ihr das Geld aus der Kaiserlichen Kasse zurückerhalten.“ Die sauertöpfische Miene des Alten sprach Bände, aber Jellal sagte nichts dazu. Auch wenn er im Moment eine Kaiserliche Rolle trug und somit über die volle Autorität der Unsterblichen Kaiserin verfügen durfte, war es klüger, so etwas nicht bei jeder Gelegenheit auszuspielen. Es genügte, dem Mann mit seinem beinahe schon infantilen Betrugsversuch den ganz normalen Ablauf der Dinge klar zu machen. Die Kopie des Drachenpakts lag allen Fürsten und Bürgermeistern Fiores vor. Sie alle wussten, dass die Drachen sich verpflichtet hatten, die Weiden der Menschen unberührt zu lassen. Klüger wäre es vielleicht gewesen, wenn der Bürgermeister dafür plädiert hätte, Ersatz für die Schäden an der Alten Festung zu erhalten. „Ich danke Euch für Euren gewissenhaften Bericht. Um Euch nicht noch mehr Arbeit zu bereiten, werden sich die kaiserlichen Soldaten der Anhänger der Sekte annehmen und sie in den Kerker von Crocus überführen“, schloss Jellal das Gespräch ab und deutete eine Verneigung an, ehe er Charle bedeutete, ihm zu folgen. Die Exceed riss sich gerade lange genug zusammen, bis sie das Amtszimmer des Bürgermeisters verlassen hatten, ehe sie ihrem Unmut Luft machte. „Dieses Gespräch war vollkommen nutzlos! Der Tattergreis war nicht einmal ein Augenzeuge!“ „Aber er ist der rechtmäßig gewählte Bürgermeister von Malba. Es war notwendig, ihn anzuhören, ansonsten könnte es heißen, die Kaiserin würde seine Autorität missachten“, erklärte Jellal geduldig, während sie das Rathaus verließen. „Rechtmäßig gewählt?“ „Ich habe die Wahlen damals überwacht. Es ist alles ordentlich gelaufen.“ „Dann sind die Bewohner von Malba Dummköpfe“, schnaubte Charle verächtlich. Jellal sah ihr diese Kurzsichtigkeit nach. Sie war noch jung und während ihres friedlichen Lebens in Cait Shelter wahrscheinlich kaum mit Regierungsgeschäften in Berührung gekommen. Außerdem war das System in der Bergstadt in ganz Fiore einzigartig und sie war sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst. Die Lektion über Mündigkeit würde sie schon noch lernen. Im Hof des Rathauses hatten die kaiserlichen Soldaten mittlerweile gut drei Dutzend Männer und Frauen zusammen getrieben. Einige von ihnen trugen dreckige Verbände, sie alle sahen ängstlich und verstört aus. Etwas oder jemand hatte sie schwer traumatisiert. Wenn man einem Drachen im Bösen begegnete, konnte das wohl diesen Effekt haben. Als sie Charle sahen, zuckten viele von ihnen panisch zusammen und eine Frau begann zu kreischen. Erst als Kommandant Max Alors ihr mit dem Knauf seines Rangdolches auf den Hinterkopf schlug, verstummte sie und sackte ohnmächtig zusammen. Auf dem ersten Blick wirkte die Miene des Blonden vollkommen beherrscht, aber der mahlende Kiefer und das Knirschen des Lederhandschuhs, der sich zu fest um den Dolchgriff schloss, verrieten Jellal, wie aufgewühlt der junge Mann war. Elementarer Bestandteil der Ausbildung in der Kaiserlichen Armee war zwar zum einen die Verteidigung gegen Magier, doch zum anderen auch die Zusammenarbeit mit den verbündeten Magiern. Die Passagen des Manifests des Lebens über die Gleichheit von Magiern und Nicht-Magern waren für die Männer und Frauen der Kaiserlichen Armee eine unumstößliche Lebensphilosophie. Magiefeindliche Äußerungen wurden seit jeher mit einem Ausschluss aus dem Soldatenstand geahndet. Das hieß natürlich nicht, dass es keine Schwarzen Schafe innerhalb der Armee gab, aber wenn Erza diesen Mann mit der Leitung einer Kompanie betraute, wusste Jellal, dass es an dessen Gesinnung keinen Zweifel gab. Genauso wenig an seiner Disziplin. Aller Abneigung für die Akolythen und Anhänger der magierfeindlichen Sekte zum Trotz hatte er bei der Fesselung eben jener ein Auge darauf, dass die Soldaten nicht unnötig grob vorgingen. Er rief ihnen zu, dass sie die Gefangenen auf Kutschen laden sollten, dann wandte er sich den Neuankömmlingen zu. „Das Gespräch mit dem Bürgermeister war nicht besonders hilfreich“, begann Jellal, als Kommandant Alors zu ihm und Charle getreten war. Die Exceed schnaubte ungläubig, aber er fuhr unbeirrt fort. „Ich gehe zur Alten Festung und sehe mir an, was Urtear schon herausgefunden hat.“ Der Kommandant nickte knapp. „Seid vorsichtig. Es sind womöglich immer noch ein paar Fanatiker auf freiem Fuß.“ Sein Blick schweifte kurz zu Charle, die sich demonstrativ neben Jellal hielt. Er war klug genug, nicht auf Jellals Narben zu blicken. So auffällig sie normalerweise auch waren, so leicht fiel es Jellal doch, sie durch gezielte Körperhaltung zu verschleiern, wenn seine Missionen Diskretion verlangten. Die Unsterbliche Kaiserin hatte ihn nicht aus reiner Güte zum Anführer ihrer Assassinen ernannt. Auf dem Weg zum alten Kern der Stadt begegnete Jellal einer bedrückenden Stille. Malba war noch nie eine besonders lebhafte Stadt gewesen. Irgendwie hatte hier schon immer eine gewisse Schwermut in der Luft gelegen. Aber jetzt war der Schwermut ein namenloses Grauen hinzu gekommen. Ganz so, als wären nicht nur die Bewohner, sondern sogar die Gemäuer in einer Art Schockstarre. Je näher Jellal und Charle der Alten Festung kamen, desto deutlicher kribbelten die Narben in seinem Gesicht, die alle immer für Tätowierungen hielten. Hier war Magie gewirkt worden. Mehrmals. Starke Magie. Bemerkenswert für den Stützpunkt einer Sekte von Magiefeinden. Am Platz vor der Festung war das Kribbeln am stärksten. Die Leichen, die hier gelegen haben mussten, waren fortgeschafft worden, aber das halb zertrümmerte Podest im Zentrum stand noch. Wie ein Mahnmal. Die Frage nur, wozu es eigentlich ermahnen sollte. Auf dem Pflaster und auf dem Holz des Podests war noch getrocknetes Blut zu erkennen. Verwirrt runzelte Jellal die Stirn. Etwas passte nicht zusammen… Ein leiser Pfiff ließ ihn aufblicken. In schwarze, eng anliegende Lederhosen, geschmeidige Stiefel und einen ebenfalls schwarzen ledernen Brustpanzer gekleidet, kam Urtear auf ihn zu, die Haare geflochten, auf dem Rücken einen Falchion und an mindestens einem Dutzend Stellen am Körper Messer versteckt. In der einen Hand hielt sie einen Stapel Blätter, in der anderen ein dünnes Büchlein. Ihre Miene war grimmiger als sonst. Anscheinend war sie auch auf Ungereimtheiten gestoßen. „Meredy ist hier gewesen“, eröffnete Urtear das Gespräch. Schon wieder zog Jellal die Brauen zusammen, sagte jedoch nichts. Urtear wusste selbst, dass Meredy eigentlich mit Gray und Lyon zum Spaltengletscher aufgebrochen war. Sie hatte sogar noch damit gewitzelt, dass Meredy bei ihrer Rückkehr endlich einen neuen Familiennamen tragen würde. Jetzt allerdings war die Zeit für Witze vorüber. „Was hat sie für Spuren hinterlassen?“, fragte Jellal daher nur. „Keine, das ist es ja. Jemand war hier in der Festung und hat insbesondere das Arbeitszimmer des Priesters untersucht. Derjenige hatte anscheinend nicht viel Zeit, aber er hat das hier gefunden und es danach wohl eilig gehabt.“ Urtear reichte Jellal die Papiere. Sie waren an der rechten unteren Ecke eingedrückt, als hätte derjenige, der sie gehalten hatte, sich für einen Moment nicht im Griff gehabt. „Avatar hatte Unterstützung beim Angriff auf Heartfilia“, stellte Jellal fest, als er mehrere der Bögen überflogen hatte. „Finanzielle und strategische.“ „Meredy hat sich gut im Griff, aber dieses Mal waren Freunde involviert“, schlussfolgerte Urtear. Jellal nickte sachte. Zu seiner Erleichterung hatte seine Schwester sich dank Lyons schier unerschöpflicher Geduld von ihrer anfänglichen Idee, sich von allen Gefühlen der Zuneigung fernzuhalten, wieder gelöst und Freunde gefunden, die ihr etwas bedeuteten. Aber was hatte Meredy hier zu suchen? Sie war doch fast am anderen Ende des Landes gewesen. „Sind die Eismagier dann die Fullbuster-Brüder gewesen?“, sinnierte Charle, die ihre Schwingen ausgebreitet hatte, um über Jellals Schulter hinweg ebenfalls die Papiere des Priesters studieren zu können. „Dafür werden wir wohl keine Beweise finden, solange wir die Drei nicht aufspüren, aber es scheint wohl so“, murmelte Jellal, während er eine Liste der Söldner überflog, die Avatar angeheuert hatte. Einige der Namen kannte er. Jerome war ein geschickter Schwertkämpfer mit zweifelhafter Moral. Jellal war ihm sogar einmal bei einer Mission begegnet. Die Preise, die der Krieger für seine Dienste verlangte, waren beachtlich. Briar war eine überaus geschickte Säbelkämpferin und bekannt für ihre grausamen Launen. „Der Financier wusste auf alle Fälle, was er tat“, fuhr Urtear fort und wedelte mit dem Büchlein. „In seinem Tagebuch ist der Hohepriester von Avatar der festen Überzeugung, sein unbekannter Gönner würde an anderen Stellen von Fiore weitere „reinigende Zellen“ auf die Beine stellen. Der- oder diejenige wusste, wie er den irren Priester beeinflussen konnte.“ „Ein Ablenkungsmanöver also“, murmelte Jellal düster. Ein Ablenkungsmanöver, dem so viele Menschen und Geister zum Opfer gefallen waren. Das verhieß nichts Gutes. „Und keine Hinweise auf den Financier selbst“, brummte Urtear. Mit einem Anflug von Frustration ließ Jellal noch einmal den Blick über den Platz schweifen. In was war seine Schwester nur hinein geraten? Und wieso hatten sich gleich fünf Drachen in die Sache eingemischt? Und vor allem: Wo waren Meredy, die Drachen und ihre Reiter jetzt? „Aber es gibt eine andere Spur, der wir nachgehen können und sollten“, erhob Urtear wieder das Wort. „Die Söldner, die Avatar auf Heartfilia losgelassen hat, hatten Hilfe aus dem Inneren der Stadt. Einen Händler, der einige von ihnen in die Stadt geschleust hat.“ Wieder wedelte Urtear mit dem Tagebuch herum. „Und er ist dumm genug gewesen, dem Priester seinen Namen zu verraten.“ „Dann sollten wir der Fürstin von Heartfilia diesen Namen verraten“, sagte Charle mit zu Schlitzen verengten Augen. „Wir können mehr tun, als Heartfilia nur seinen Namen zu verraten“, widersprach Urtear, die Miene hart und mitleidlos. „Er wird Heartfilia sicher auf den Kaiserlichen Straßen verlassen. Gut möglich, dass er jetzt in der Nähe von Magnolia ist. Wenn wir die Reitkatzen nehmen, können wir ihn abfangen, bevor er sich in Richtung Bosco absetzt oder versucht, seine Spuren in Crocus zu verwischen. Fürst Makarov wird uns gewiss erlauben, den Verräter festzusetzen und nach Heartfilia zu bringen.“ Jellal nickte bedächtig. Ihm war vollkommen klar, welches Schicksal diesen Mann erwartete, wenn sie ihn der Gerichtsbarkeit von Heartfilia auslieferten. Das Land war in vielen Dingen tolerant, doch gewiss nicht bei Verrat. Aber das hatte der Mann sich selbst zu zuschreiben und Jellal würde ihn nicht davon kommen lassen. Gemeinsam mit Urtear und Charle verließ er die Festung wieder. Je weiter sie sich entfernten, desto schwächer wurde wieder das Kribbeln seiner Narben. Doch das Gefühl von Unbehagen blieb. Als würde dort in der Festung etwas lauern. Jellal konnte nur hoffen, dass es nicht seiner Schwester und ihren Freunden auflauerte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)