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Memories

von

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„Wir sind wieder da“, rief Tetsu in Richtung der Küche, während wir die Schuhe auszogen.

„Wie war die Schule?“, fragte uns Frau Sendagaya, Tetsu's Mutter, die mit einem Teller und einem Wischtuch in der Hand in der Küchentür stand.

„Ganz ok“, sagten Tetsu und ich wie aus einem Munde und lachten.

„Das Essen ist in einer halben Stunde fertig“, meinte sie lächelnd und ging wieder zurück in die Küche.

„Kann ich helfen?“, fragte ich vom Flur aus.

„Nein, das brauchst du nicht.“

„Ok“, mit diesen Worten ging ich zu Tetsu, der mir mit einer Handbewegung zeigte, dass ich ihm folgen sollte. Wir gingen ins Wohnzimmer und ich setzte mich, während Tetsu die Fernbedienung suchte, um den Fernseher anzuschalten, da seine Lieblingsmannschaft die Kyoto Sanga, gerade spielten. Er setzte sich neben mich und bis auf ein paar Anfeuerungsrufen Tetsu's, weil die Mannschaft gut spielte, war es still. Nach einer Weile brach er allerdings das Schweigen.

„Sag mal Aiko, erinnerst du dich mittlerweile wieder an irgendetwas aus deiner Vergangenheit?“

„Nein, leider nicht...“, sagte ich etwas deprimiert und sah zu Boden.

Seit einem Monat wohnte ich nun bei Tetsu, nachdem er mich ziellos umherirrend in der Stadt gefunden hat. Das Erste, woran ich mich erinnerte ist, dass es in strömen regnete und ich Angst hatte. Wovor, das weiß ich nicht. Damals sprach Tetsu mich an, ob ich jemanden suchte, was ich verneinte. Er fragte mich, ob ich mich verlaufen habe, worauf ich erwiederte, dass ich es nicht wisse. Daraufhin nahm er mich erst einmal mit zu sich, damit ich mich aufwärmen konnte. Er und seine Eltern fragten mich nach meinen Eltern, wo ich wohnte, auf welche Schule ich ging und so weiter.... aber bis auf meinen Namen und mein Alter wusste ich nichts mehr. Sie fuhren mich daraufhin ins Krankenhaus, wo eine Amnesie bei mir festgestellt wurde. Die Ärzte meinten, dass ich mich irgendwann wieder an alles erinnern würde, aber das das dauern könnte. Zuerst wollte man mich in ein Heim schicken, aber die Sendagaya's waren so freundlich, mich bei sich aufzunehmen. Das einzige, was ich machen müsste, war arbeiten. Damals wie heute war bin ich froh, dass sie mich, ein wildfremdes Mädchen, bei sich aufnahmen, obwohl sie nichts über mich wussten.

„Erde an Aiko. Bist du noch da?“, fragte Tetsu und fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. Ich war wohl so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht gemerkt habe, dass er mich noch etwas gefragt hat.

„Hm?“

„Hast du immer noch diese Träume?“

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich schloss die Augen.

„Ja“, sagte ich leise. „Es sind immer noch dieselben Träume. Zwei Personen stehen vor mir und rufen meinen Namen, aber ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Sie tragen weiße Umhänge und haben Waffen bei sich. Hinter mir steht eine weitere Person mit einem schwarzen Kleid, die ebenfalls meinen Namen ruft. Manchmal ruft aber auch ein schwarzer Wolf meinen Namen. Aber auch von dieser Person sehe ich das Gesicht nicht. Und die Umgebung ich nach wie vor schwarz und es ist kalt. Sehr kalt.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust, da mir mit einmal eiskalt war. Als ich die Augen wieder öffnete war mir schwindelig und ich hatte Kopfschmerzen.

„Alles ok?“, fragt Tetsu besorgt und setzt sich vor mich.

„J-ja, alles bestens“, stotterte ich und versuchte nicht rot zu werden. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und diese Nähe war mir bei Tetsu nun doch etwas unangenehm.

„Wirklich?“, fragte er erneut und legte seine Hand auf meine Stirn. „Dein Gesicht ist so rot. Hast du Fieber?“

Ich merkte, wie mein Gesicht noch einen Tick roter wurde und sprang auf, bevor er merkte, dass es wegen ihm war.

„I-ich frag mal, ob ich den Tisch decken kann!“, sagte ich und floh regelrecht aus dem Wohnzimmer.

Auf dem Weg in die Küche fuhr ich mir mit der Hand durch meine kurzen grünen Haare. Sie sind lang geworden wenn man bedenkt, dass ich sie vor einem Monat von Brustlang auf vier Zentimeter schneiden ließ.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte mich Tetsu's Mutter, die gerade dabei war den Reis umzurühren.

Ich nickte eifrig und holte alles aus den Schränken, was ich brauchte, um den Tisch zu decken.
 

Eine dreiviertel Stunde später saß ich in meinem Zimmer am Schreibtisch und versuchte verzweifelt die Hausaufgaben in Mathematik zu lösen. Wie ich Geometrie hasste. Wann werde ich in meinem Leben je wieder das Volumen oder die Masse eines Zylinders berechnen müssen? Oder wann werde ich den Satz des Pythagoras anwenden müssen, wenn ich später Ärztin bin? Ja, Ärztin, das ist mein Traumberuf. Dann könnte ich den Menschen helfen. Oder ich finde heraus, wie man innerhalb kurzer Zeit seine Erinnerungen wieder erlangte, wenn man unter einer Amnesie leidete. Ich fing an auf meinem Bleistift herum zu kauen. Ob meine Eltern wohl nach mir suchen? Ob sie mich vermissten? Bestimmt. Ich fasste mir an die Kette um meinen Hals. Es war eine einfache silberne Kette, die eine schwarze Fledermaus als Anhänger hatte. Immer wenn ich den Anhänger in der Hand hielt hatte ich das Gefühl mich an etwas zu erinnern. Aber sobald ich mich näher darauf konzentrierte war es weg und diese elende Unwissenheit machte sich wieder in mir breit. Wie lange es wohl noch dauern wird, bis ich mich wieder an etwas erinnerte? Ich seufzte und streckte mich. Ich werde Tetsu nachher mal fragen, ob er mir in Mathematik weiter helfen kann. Ich glaubte zwar nicht wirklich daran, aber einen Versuch war es wert.

Ich sah aus dem Fenster. Der Himmel färbte sich bereits rötlich und in mir zog sich etwas zusammen. Bald wird es dunkel sein.

„Aiko-chan?“, rief mich Frau Sendagaya und ich stand auf und ging zu ihr. Sie kochte gerade Abendessen für die Gäste der heißen Quelle.

„Kannst du bitte noch einkaufen gehen? Mein Mann und Tetsu sind unterwegs, ansonsten würde ich einen der beiden los schicken. Vor allem weil ich weiß, dass du Angst im dunkeln hast.“

Ich lächelte, auch wenn mein Herz in meiner Brust so schnell schlug, dass ich das Gefühl hatte, dass es gleich zerspringt.

„Ach, so große Angst habe ich nun auch wieder nicht.“

Sie sah mich besorgt an, hielt mir aber letztendlich den Einkaufszettel und Geld hin, was ich beides sogleich einsteckte. Ich nahm nur eine kleine Tasche mit, da es nicht so viel war, was ich einkaufen musste. Während ich mir die Schuhe anzog, ging ich in Gedanken noch einmal die Einkaufsliste durch. Butter, Reis, Fisch, Paprika, Tomaten und Soja Sauce.

„Bis gleich“, rief ich und schloss die Tür hinter mir. Die Straßenlaternen erleuchteten bereits den Weg und das strahlende blau war mittlerweile einem orange rotem Abendhimmel gewichen. Wenn ich mich beeilte, dann wäre ich vielleicht wieder zurück, bevor es dunkel wurde. Ich lief los zum nächsten Markt und hielt den ganzen Weg über die Tasche fest in der Hand. Beim kleinsten Geräusch zuckte ich bereits zusammen, auch wenn es nur zwei streitende Katzen waren. Auf der halben Strecke blieb ich einmal kurz stehen um tief Luft zu holen. Ich darf mich nicht so verrückt machen. Was kann schon passieren? Wenn mir irgendjemand zu nahe kommt, dann lauf ich einfach weg, schließlich habe ich nicht umsonst die Eins im Sprint bekommen. Nachdem ich meine Nerven ein wenig beruhigt hatte, ging ich weiter. Mein Herz klopfte zwar immer noch wie wild, aber ich ging trotzdem in einem normalen Tempo weiter. Ich war froh, als ich endlich am Supermarkt angekommen war und kaufte fix alles ein, was ich kaufen sollte. Nachdem ich bezahlt und alles eingepackt hatte ging ich vor die Tür und stellte zu meinem entsetzen fest, dass es bereits dunkel war. Ich schluckte und ich merkte, wie sich meine Hand an der Tasche festkralle. So ein Mist. Ich fing an zu zittern und biss mir auf die Lippe. Irgendwann musste es passieren.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mutig genug war, los zu gehen. Ich versuchte meine Angst zu ignorieren, schließlich war ich 14 Jahre alt und kein kleines Kind mehr, dass sich davor fürchtete, dass hinter jeder Ecke ein Monster lauerte, wie beispielsweise Vampire. Bei dem Gedanken schlich sich sogar ein Lächeln auf mein Gesicht. Vampire. Wesen in der Gestalt eines Menschen, die nur nachts hervor kommen um das Blut von Menschen zu trinken. Wie lächerlich. So etwas gibt es nicht.

„Entschuuuuuuldiiiiigen Siiiiiie?“, sprach mich jemand von einer dunklen Gasse aus an und riss mich aus meinen Gedanken. Es war ein Mann mit kurzen rosa Haaren und roten Augen. Er trug einen weißen Zylinder, sowie einen weißen Anzug und sah alles in allem aus wie ein Straßenkünstler.

„Kann ich ihnen helfen?“, fragte ich freundlich, auch wenn mir dieser Mann mehr als seltsam vorkam, nicht nur seines Aussehens wegen.

„Jaaaaaaaa, daaaas könneeeen Siiiiiie. Wiiiiiiiie kooommeee ich zuuuuu dem Straaaaaaßenfeeest?“

„Sie müssen diese Straße entlang gehen, dann dort vorne rechts und dann kommt ein kleiner Park. Wenn Sie durch ihn hindurch gehen, dann sind sie schon dort“, antwortete ich und gestikulierte dabei stark mit den Händen. Das sollte ich mir wirklich mal abgewöhnen.

„Können Siiiiie miiiich vielleicht doooort hiiiin briiingeeeen?“

Ich sah mich um. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Und dieser Mann fixierte mich mit seinen Augen. Aber da war noch etwas anderes in seinen Augen zu sehen, was genau es war, wusste ich allerdings nicht. War das vielleicht... Gier?

„Ehm... ich würde ja gerne, aber ich muss los. Fragen Sie doch jemand anderen“, versuchte ich ihn abzuwimmeln und wollte gerade weiter gehen, als er mich am Handgelenk fest hielt.

„Aber daaas geht doch niiicht. Siiie können mich doch niiicht so eiiinfach hiiiier stehen lassen.“

Er zog mich näher an sich heran und ich merkte, wie die Panik in mir hoch stieg.

„Lassen Sie mich los!“ Er lachte.

„Neiiin. Für diiiiieses unhöfliiiiiche Verhalteeeen, muss iiiich diiiiiich bestrafen!“

Er zog mich noch näher an sich heran und sein Mund näherte sich meinem Hals. Ich versuchte ihn zu schlagen, zu treten, zu beißen... aber ich traf ihn nicht.

„NEIN!“, rief ich ängstlich und ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Er lachte nur und sein Atem an meinem Hals ließ mir einen kalten Schauer den Rücken herunter laufen. Was hatte er vor? Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedachte, spürte ich ein pieksen an meinem Hals und erstarrte. Ein Vampir. Er ist ein VAMPIR!

„AUFHÖREN!“, rief ich verzweifelt und schlug ihm mit der Hand gegen den Bauch. Und tatsächlich, er ließ von mir ab und taumelte nach hinten.

„Urg... Duuu...“

Ich drehte mich um. In seinem Bauch steckte ein schwarzes Schwert, worum sich sein Anzug bereits rot verfärbt hatte. Wie ist das möglich?

„Verdammtes C3... Ich hätte niiiicht gedacht, dass sogar eure Kiiiinder schon so früh miiiiit Magiiiiie umgehen können“, sagte er leise und ging in die Knie.

Ich lief los und machte erst wieder halt, als ich in der Nähe der heißen Quelle war. C3? Magie? Wovon redet der?

Zitternd schloss ich die Wohnungstür auf und zog die Schuhe aus. Aus dem Wohnzimmer hörte ich den Sportsprecher, vermutlich war Tetsu wieder da. Ich ging wortlos in die Küche, stellte die Tasche ab und ging auf mein Zimmer. Zu meinem Glück war Tetsu's Mutter gerade nicht in der Küche und ich konnte mich in Ruhe auf mein Zimmer zurück ziehen. Ich war mich auf mein Bett, vergrub mein Gesicht im Kissen und schrie los. Was zur Hölle war passiert? Ein Vampir? Hier? Aber das sind doch alles nur Märchen! Ich tastete mit meinen Finger an die Stelle, wo der Mann mich gebissen hatte. Zu meinem entsetzen spürte ich dort zwei kleine Löcher und automatisch wanderte meine Hand zu dem Anhänger. Es gibt sie also wirklich? Vampire? Ich schüttelte mit dem Kopf. Aber wo kam das Schwert her? Ich besitze noch nicht einmal eins. War das Magie? Und wer oder was ist C3? Zitternd setzte ich mich auf und sah meine Hand an. Sie sah normal aus. Ich schloss meine Augen und stellte mir gedanklich ein Schwert vor. Als ich sie wieder öffnete rutschte ich erschrocken zurück. Tatsächlich lag vor mir ein schwarzes Schwert. Aber wo kam das her? Mir war unglaublich schwindelig und ich ließ mich auf mein Kissen fallen. Nur kurz, nur ganz kurz will ich die Augen zu machen.
 

Als ich meine Augen wieder öffnete war es, anders als sonst, nicht dunkel. Ich lag in einem hellen Raum in einem Bett und auch wenn ich den Raum zum ersten mal sah, kam mir alles sehr vertraut vor.

„Aiko, mein Schatz, komm mal her“, sagt eine freundliche Frauenstimme zu mir.

Ich setzte mich auf und sah mich um. Es war dieselbe Stimme, wie in meinen anderen Träumen. Ich ging auf die Frau zu und umarmte sie.

„Aiko, ich hab hier etwas für dich.“

Sie hielt mir meine Kette vor die Nase, die ich fasziniert ansah.

„Ist die schön“, sagte ich begeistert.

„Sie wird dich beschützen, wenn wir nicht bei dir sind.“

„Wovor?“

„Vor Vampiren.“

„Vampire?“

„Ja. Aber das erkläre ich dir ein anderes mal. Los, wir müssen gehen. Papa wartet schon.“

Sie nahm mich an der Hand und gemeinsam gingen wir durch einen langen Flur. Den ganzen Weg lang sah ich sie an und versuchte ihr Gesicht zu erkennen. Oder besser gesagt mich an ihr Gesicht zu erinnern. Aber obwohl ich nicht wusste, wie diese Frau aussah, fühlte ich mich wohl, geborgen und sicher. Wir traten durch eine Tür und mit einmal war alles anders. Es war kalt und ich hätte Angst. Die Frau stand nicht mehr neben mir, sondern mit einem Mann schützend vor mir.

„HAHAHAHAHAHA“, lachte jemand. „Glaubt ihr wirklich, dass IHR mich aufhalten könnt?“

„Wir werden nicht zulassen, dass du hier weiter wütest, Tsubaki!“, sagte der Mann wütend.

„Das werden wir ja sehen...“, säuselte jemand und vor mir stand mit einmal ein weiterer Mann. Er trug einen schwarzen Kimono, Getas und hatte eine schwarze dreieckige Brille auf. Außerdem hatte er schwarze Haare und rote Augen. Ich wich ein paar Schritte zurück und fiel zu Boden. Ängstlich sah ich den Mann an. Aus dem nichts hatte er ein Schwert hervor geholt und stand mit diesem vor mir. Jemand mit kurzen braunen Haaren hob mich hoch.

„Jun'ichiro, bring sie hier weg!“, ruft der Mann, den ich bereits aus meinen anderen Träumen kannte.

„Nein! Ich will hier bleiben!“

„Das kannst du nicht, Aiko“, sagte der Mann, der mich trug und lief los. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. Ich wollte hier bleiben Ich wollte ihre Gesichter sehen. Ich wollte wissen was passiert ist. Kurz bevor wir aus der Tür raus sind drehten sich die beiden noch einmal um. Diesmal konnte ich ihre Gesichter erkennen und Tränen liefen mir das Gesicht herunter.

„NEIN! MAMA! PAPA!“

Kapitel 2

Ich schreckte hoch. Tränen stiegen mir in die Augen und ich vergrub mein Gesicht in meinem Kissen.

„Mama. Papa“, wimmerte ich und fing an zu weinen. Ich erinnerte mich wieder. Nachdem der Mann mich aus den unterirdischen Gängen heraus gebracht hatte, war ich nach draußen gelaufen. Zu dem Zeitpunkt hatte es noch nicht geregnet und ich lief in den Park und kletterte auf das Klettergerüst des Spielplatzes. Dort setzte ich mich in eine Ecke, schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Als ich meine Augen wieder geöffnet hatte wusste ich nichts mehr und lief ziellos durch die Gegend, bevor ich auf Tetsu traf. Aber trotzdem fühlte es sich danach an, als würde noch etwas fehlen. Etwas Wichtiges, an das ich mich erinnern müsste. Ich umschlang meine Beine und lehnte meinen Kopf gegen die Knie. Sind meine Eltern tot? Oder leben sie noch? Und wer ist dieser Tsubaki? Und was ist das für ein Ort in meinen Träumen? Meine Gedanken drehten sich im Kreis, aber bei einer Sache war ich mir mehr als sicher. Der Schlüssel zu meinen Erinnerungen war dieser Mann namens Tsubaki.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es an meiner Tür.

„Aiko, das Essen ist fertig.“

Tetsu öffnete die Tür und ich wischte mir schnell die Tränen weg. Mir fiel das Schwert wieder ein, aber es war verschwunden.

„Warum sitzt du hier im Dunkeln? Ist alles in Ordnung?“

Er schaltete das Licht an und ich musste mehrmals blinzeln, ehe ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Ich sah zu Tetsu, der nach wie vor in der Tür stand und mich besorgt beobachtete.

„Hast du dich wieder an etwas erinnert?“, fragte er und kam näher.

Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte mein Gesicht mit Hilfe meiner Haare zu verstecken. Solange ich nicht wusste, was vor meinen Erinnerungen geschehen war, konnte ich ihm nichts davon erzählen. Von den Vampiren ganz zu schweigen. Als würde er mir glauben, dass diese Blutsauger überhaupt existieren.

„Alles bestens“, antwortete ich mit einer erstaunlich festen Stimme und hob den Kopf ein wenig. Ich strich mir meine kurzen dunkelgrünen Strähnen hinters Ohr und zwang mich zu lächeln. Er sah mich weiterhin besorgt an, fragte aber nicht weiter.

„Das Essen ist fertig“, meinte er nur, drehte sich um und verließ mein Zimmer wieder.

Ich sah ihm noch kurz nach, bevor ich mir noch einmal mit der Hand über die Augen fuhr und ihm nachging.
 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich müde und schlapp. Ich hatte die Nacht kaum ein Auge zugemacht, da ich diesen Traum nicht mehr aus dem Kopf bekam. Ich wusste jetzt, was ich machen würde, allerdings müsste ich vorerst diese Kopfschmerzen loswerden, die ich nach meiner schlaflosen Nacht hatte. Mit brummenden Kopf stand ich auf und ging in die Küche, in der Tetsu's Mutter bereits am Kochen war.

„Guten Morgen“, grummelte ich und setzte mich an den bereits gedeckten Tisch.

„Guten Morgen, Morgenmuffel“, sagte sie gut gelaunt und wirbelte dabei durch die Gegend, auf der Suche nach Zutaten für die Pfannkuchen.

Ich legte meinen Kopf auf die Tischplatte, neben meine Essstäbchen, und schloss die Augen. Wie schön kühl sie war...

„Morgen“, rief Tetsu gut gelaunt, als er die Küche betrat. Innerlich stöhnte ich auf. Wie konnte er an einem Freitagmorgen nur so munter sein? Sein Schritte näherten sich dem Tisch und im Vorbeigehen legte er seine Hand auf meinem Kopf.

„Alles in Ordnung?“

„Jaja, alles bestens. Sie ist nur ein Morgenmuffel“, sagte seine Mutter und stellte mir eine Schüssel auf den Kopf, ehe ich ihm antworten konnte.

Ich hob meinen Kopf wieder und streckte mich. Von wegen Morgenmuffel. Normalerweise war ich um diese Uhrzeit topfit. Außer ich hatte – wie heute – eine furchtbare Nacht hinter mir. Sie stellte die Schüssel vor mich und stellte Tetsu ebenfalls eine hin, als er sich gegenüber von mir an den Tisch setzte. Wirklich Hunger hatte ich nicht, aber trotzdem zwang ich mich, wenigstens etwas zu essen. Es gab mein Lieblingsessen, Reis mit Fisch, und es tat mir richtig Leid, dass ich nur die Hälfte davon essen konnte. Ich schob die Schüssel von mir weg und stand auf, um ins Bad zu gehen und mich für die Schule fertig zu machen.

„Aiko? Ist alles in Ordnung?“, fragte mich nun auch Tetsus Mutter besorgt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ich sonst immer nach Nachschlag fragte.

„Jaja, alles bestens“, rief ich und schloss die Badezimmertür hinter mir. Ich ging zu dem Waschbecken und sah in den Spiegel. Meine hellblauen Augen waren leicht gerötet und man konnte Schatten unter den Augen erkennen. Außerdem war ich blasser als sonst und auch meine Wangen hatten keinerlei Farbe. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und blieb nach wenigen Zentimetern bereits hängen. Das sie auch immer so leicht verknoteten.... Ich nahm die Bürste von der Ablage links neben dem Spiegel und fing an meine hüftlangen Haare zu kämmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich endlich mit allem fertig und ging zurück in mein Zimmer um mich umzuziehen, da ich immer noch die Sachen von gestern anhatte. Ich nahm meine Schuluniform vom Stuhl und zog sie einig an. Dann sah ich in den Spiegel und überprüfte, ob alles richtig saß. Hier und da zupfte ich noch ein wenig an der Uniform herum, bis ich zufrieden war.

„Beeil dich, Aiko, wir müssen los“, rief Tetsu vom Flur aus.

Ich schnappte meine Tasche und ging eilig in den Flur, um mir meine Schuhe anzuziehen. Tetsu wartete bereits auf mich und hielt mir mein Bento hin, das ich lächelnd annahm, als ich mir die Schuhe fertig gebunden hatte.

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Schule, wo uns ein elend langer Schultag erwartete.
 

Erschöpft legte ich meinen Kopf auf die Tischplatte, als endlich der erlösende Gong zum Schulende läutete. Noch länger hätte ich den Mathematikunterricht von Herrn Yamamoto nicht ertragen. Vor allem nicht, weil ich mich nicht einmal auf den Unterricht konzentrieren konnte...

„Gehen wir dann, Aiko?“, fragte Tetsu.

Ich sah auf. Er lehnte sich gegen die Fensterbank und wartete auf eine Antwort.

„Geh du schon mal vor. Ich komme gleich nach“, sagte ich und lächelte.

An Tetsus besorgten Blick konnte ich allerdings erkennen, dass er mir das Lächeln nicht abkaufte.

„Aiko, sei mal ehrlich“, sagte er und stützte sich an meinem Tisch ab. Ich sah mich in der Klasse um, so nah, wie Tetsu mir gerade war, konnte man das leicht falsch verstehen.

„Du kannst dich doch an irgendetwas erinnern oder? Seit gestern Abend verhältst du dich anders. Und du scheinst nicht ganz bei der Sache zu sein. In Mathe weißt du eigentlich immer die Antwort, aber heute konntest du noch nicht mal die einfachsten Fragen beantworten. Du bist total durch den Wind.“

Ich sah auf den Tisch und konnte spüren, wie Tetsu mich mit seinem Blick durchbohrte.

Sofort fing ich an zu zittern und nach einer kurzen Zeit des Schweigens hielt ich es nicht mehr aus. Ich schmiss meine Sachen in die Tasche, sprang auf und ging zur Tür, wo ich mich noch einmal kurz zu Tetsu drehte.

„Weißt du was, Tetsu? Kümmere dich einfach um deinen eigenen Kram und lass mich gefälligst in Ruhe!“

Mit diesen Worten drehte ich mich um und lief los. Ich lief weg von der Schule, von Tetsu... Ich wollte einfach nur weg. Meine Gedanken drehten sich während des Laufens um den Traum und Tränen stiegen mir in die Augen. Nach einer Weile blieb ich stehen und wischte mir mit meinem Ärmel die Tränen aus den Augen. Warum kann ich mich nicht einfach an alles erinnern? Warum kann ich mich nur daran erinnern, dass sie gekämpft haben? Warum kann ich mich nicht an mehr erinnern? Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr musste ich weinen. Ich ließ mich an einer naheliegenden Wand herunterrutschen und vergrub mein Gesicht hinter den Händen.

Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt habe, sah ich auf und sah mich in der Umgebung ein wenig um.

Ich lehnte an einem alten Fabrikgebäude, das anscheinend schon vor Ewigkeiten geschlossen worden war. Links und rechts von mir lag nur die Straße, die in Richtung Innenstadt führte. Vor mir lag ein großes Stück Wiese, das zum Fluss herunter führte. Ich stand auf und taumelte etwas. Meine Beine waren wohl eingeschlafen. Auf dem Weg zum Flussufer drehte ich mich einmal kurz um. Ich war mir sehr sicher, dass ich in dem letzten Monat nicht einmal hier gewesen bin, aber trotzdem kam mir das Fabrikgebäude sehr bekannt vor. Wahrscheinlich hatte ich es einmal in der Zeitung gesehen. Ich ging weiter und setzte mich auf die Wiese ans Flussufer. Der Wind blies hier etwas stärker als in der Stadt, aber da die Sonne schien, war es angenehm. Ich ließ mich ins Gras fallen und beobachtete die Wolken, wie sie langsam vor sich hin trieben. Ob Tetsu jetzt sauer war? Ich meine, er hatte es schließlich nur gut gemeint und machte sich Sorgen um mich. Ich hatte keinen Grund, ihn so anzuzicken. Ich griff nach meiner Tasche, die rechts neben mir stand, und legte sie unter meinen Kopf. So war es gleich viel angenehmer.

Ich seufzte. Lange würde ich nicht mehr hier bleiben, denn so lange wollte ich Tetsu nun auch nicht auf eine Entschuldigung warten lassen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Wärme der Sonne. Es war warm und entspannend. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, das alle Last von mir abfiel und der Traum wirklich nur ein Traum war, nicht mehr und nicht weniger. Zumindest hatte ich dieses Gefühl, bis mich eine Stimme aus meinen Gedanken riss.

„He, du da! Was machst du hier?“, rief eine männliche Stimme und ich höre, wie Schritte sich näherten.

Ich schreckte hoch und klopfte mir Erde von meiner Uniform, bevor ich mich zu demjenigen umdrehte, der gerufen hatte. Er hatte kurze braune Haare und eine Brille. Dazu trug er einen weiß-schwarzen Umhang und schwarze Stiefel. Der Fremde stand vor der geschlossenen Fabrik und hatte einen Karton dabei. Weit und breit war kein anderer Ort zu sehen, zu dem er gehen könnte. Was wollte er mit einem Karton in einer leeren Fabrik? Versteckte er etwas? Oder... schmuggelte er etwas? Der Braunhaarige stellte den Karton ab und kam auf mich zu. Als er nur noch wenige Meter von mir entfernt war, blieb er stehen und musterte mich misstrauisch. Nach kurzer Zeit verwandelte sich sein misstrauischer Blick jedoch in einen ungläubigen Blick.

„Aiko?“, fragte er überrascht und lächelte.

Ich wich ein wenig zurück. „Wer sind Sie? Und woher kennen Sie meinen Namen?“

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und nachdenklich sah er mich an.

„Du hast also dein Gedächtnis verloren... Das erklärt einiges“, sagt er leise. „Aiko... ich weiß, du erinnerst dich nicht an mich, aber bitte, komm mit mir mit. Ich habe eine Idee, wie du deine Erinnerungen zurück bekommen könntest.“ Der Fremde kam ein paar Schritte auf mich zu und hielt mir seine Hand hin. Ich nahm meine Tasche und ging ein paar Schritte zurück.

„Aiko...bitte. Ich will dir helfen. Wir machen uns Sorgen um dich. Wir alle.“

„Alle?“, fragte ich verwirrt und ein Lächeln schlich sich auf die Lippen meines Gegenübers.

„Ja, alle“, sagte er und fing an wild zu gestikulieren, „Yumikage, Tsuguri, Tsurugi, Shuhei und ich. Wir alle haben uns riesige Sorgen um dich gemacht.“

Er machte eine kurze Pause und sah mich abwartend an. Alle Namen, die er aufgezählt hatte sagten mir etwas, allerdings konnte ich kein Gesicht und auch keine Eigenschaft einer der Personen zuordnen. Als er merkte, dass ich nicht reagierte, fing er wieder an zu reden.

„Als du noch jünger warst und ich noch nicht lange bei der C3 war, haben Akari und Hayato mich immer damit beauftragt, auf dich aufzupassen oder mit dir zu spielen. Wir waren oft Eis essen. Ich habe dir auch oft aus Märchenbüchern vorgelesen. Wenn ich es mal nicht tat, bist du oft beleidigt gewesen“, sagte er und lachte.

Ein Bild tauchte vor meinen Augen auf. Ich war etwa zehn Jahre alt und lag im Bett. Der Braunhaarige saß auf der Bettkante und las mir aus einem Buch vor.

„Jun'ichiro....“, sagte ich leise und Tränen stiegen mir in die Augen.

„Aiko, komm mit mir mit.“

Für einen kurzen Augenblick war ich wie in Trance und wollte nach seiner Hand greifen, bis ein lauter Knall ertönte.

Ich drehte mich panisch um und rannte los. Ich wollte einfach nur noch weg hier. Weg von der Fabrik. Und weg von demjenigen, der mir so unglaublich vertraut, aber auch so fremd war.

„Aiko! Warte!“, rief er mir hinterher, aber ich rannte nur noch und ignorierte ihn.

Ich wurde erst langsamer, als ich in der Nähe der Pension war. Ich holte einmal tief Luft und versuchte mich wieder etwas zu beruhigen. Mein Herz schlug wie verrückt und ich konnte kaum noch atmen. War das gerade wirklich passiert? Oder war das nur ein Traum? Oder träume ich immer noch? Ich zwickte mich einmal in die Wange um zu überprüfen, ob ich träumte. Es tat weh. Ich kniff mich ein weiteres Mal, diesmal jedoch in den Arm. Es tat immer noch weh. Wie konnte das aber sein? Gestern erst hatte ich einen Traum über meine Vergangenheit gehabt und heute traf ich zufällig jemanden aus meiner Vergangenheit? Solche Zufälle kann es doch gar nicht geben. Die Welt war klein, ja, aber so klein nun auch wieder nicht.

Ich merkte, dass ich mich langsam wieder beruhigte und ging auf die Pension zu. Jetzt brauchte ich nur noch eine Ausrede, wo ich so lange gesteckt hatte. Allerdings war es schwer sich eine Ausrede einfallen zu lassen, wenn ich die Begegnung von eben nicht aus dem Kopf bekam. Ich ging in Richtung der Küche und erwartete bereits großen Ärger, weil ich erst so spät kam, allerdings war es totenstill.

„Ich bin wieder da“, rief ich etwas unsicher und sah mich um. Aber niemand war weit und breit zu sehen. Als nächstes ging ich in das Wohnzimmer und ins Arbeitszimmer, aber auch hier war niemand. Ich sah mich noch einmal genauer um, vielleicht hatten sie einen Zettel geschrieben, auf dem stand, wo sie waren, aber auch von so einem Zettel war weit und breit nichts zu sehen. Ich seufzte und ging zum Küchenfenster. Es war dämmerte bereits. Eine Weile stand ich da und beobachtete, wie das Rot des Abendhimmels dem Schwarz der Nacht wich, bis ich auf die Uhr sah und erschrocken feststellte, dass wir bereits nach sechs hatten. Schnell holte ich alles herbei und fing an das Abendessen zurechtzumachen. Nicht, dass sich die Gäste beschweren.

Nach kurzer Zeit hatte ich alles geschnitten und soweit fertig gemacht, dass es im Kochtopf fröhlich vor sich hin köchelte. Jetzt fehlt nur noch der Reis. Ich setzte Wasser auf und nahm mir einen Stuhl, damit ich an den Reis kam, der - warum auch immer - ziemlich weit oben im Regal platziert wurde. Ich wollte gerade die Schranktür schließen, als jemand „Was machst du da?“ sagte und ich ins Schwanken geriet und nach hinten fiel. Ich schloss die Augen und erwartete den harten Aufprall auf dem Boden, doch als ich die Augen wieder öffnete, fand ich mich in den Armen von Tetsu wieder.

„Alles ok?“, fragte er mich und ich lief rot an.

Schnell sprang ich aus seinen Armen. „A-alles bestens“, sagte ich und nahm die Packung Reis, die neben mir auf dem Boden lag.

Das Wasser kochte bereits und ich machte den Reis soweit fertig, dass er nur noch ziehen musste. Ich räumte noch etwas auf und die ganze Zeit über ließ Tetsu mich nicht aus den Augen.

„Was ist?“, fragte ich ihn irgendwann genervt und sah ihn an. Hatte er nichts Besseres zu tun als mich zu beobachten?

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich. Du verhältst dich seltsam.“

„Dann bin ich halt seltsam!“, fauchte ich ihn an. „Lass mich einfach in Ruhe!“

Er sah mich mit großen Augen an.

„Aiko, warum weinst du?“, fragte er mich und kam näher.

„Eh?“ Ich wischte mir mit der Hand über die Augen.

Tatsächlich. Aber wieso hatte ich das nicht bemerkt? Ich musste wieder an das Gespräch von eben denken. Der Mann, er kannte mich. Und ich kannte ihn. Zumindest kannte ich ihn aus einer weit entfernten Erinnerung. Ich sank zu Boden. Dieser Mann und ich hatten anscheinend eine engere Bindung zueinander gehabt, so wie er sich mir gegenüber verhalten hatte. Und er kannte meine Eltern. Ich biss mir auf die Lippen. Wieso war das alles bloß passiert? Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und mir stiegen immer mehr Tränen in die Augen.

„Das ist nicht fair“, schluchzte ich. „Wieso kann sich jeder erinnern, nur ich nicht?“

Ich spürte, wie Tetsu mich an sich ran zog. Das ich ausgerechnet vor ihm in Tränen ausbrechen musste....

Nach einer Weile hatte ich mich wieder etwas beruhigt und ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Gott, war mir das peinlich.

„Geht es wieder?“

„Mhm.“ Mehr brachte ich gerade nicht zustande. Zumindest nicht, ohne gleich wieder loszuheulen.

Wir standen auf und Tetsu machte sich am Kühlschrank zu schaffen. Ich hingegen ging in mein Zimmer und zog mir meine Joggingsachen an. Danach ging ich in die Küche zurück, aber Tetsu war verschwunden. Auch die Herdplatten waren ausgestellt worden.

„Kommst du?“

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Hinter mir stand Tetsu, an den Türrahmen gelehnt, und sah mich abwartend an. Ich nickte und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo sich ein Lächeln auf mein Gesicht schlich, als wir es betraten. Auf dem Tisch stand etwas zu Essen und eine schwarze Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit darin, die ich momentan noch nicht zuordnen konnte. Im Fernsehen lief Noragami und an der Decke hing Tetsus Haustier, eine schwarze Fledermaus. Ich setzte mich im Schneidersitz auf die Couch und sah das Essen an. Wie auf Kommando begann mein Magen zu knurren und ich lachte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig ich eigentlich war.

„So, und jetzt erzähl mir mal alles“, sagte er und hielt mir die Tasse hin, die ich dankend annahm. Mein Herz klopfte wie wild. Ich seufzte. Wie sollte ich ihm das alles erklären? Ich nippte an dem Getränk. Es war Kakao.

„Danke“, sagte ich freudig und lächelte Tetsu an.

Er erwiederte mein Lächeln und für einen kurzen Moment herrschte Stille.

Ich holte einmal tief Luft, dann drehte ich mich zu ihm und sah ihn ernst an.

„Also“, begann ich. Sollte ich ihm sagen, dass ich angegriffen wurde? „Gestern hatte ich einen Traum. Einen Traum, der mir eine Szene aus meiner Vergangenheit zeigte.“ Ich schloss kurz die Augen und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich daran dachte. „Ich war an einem hellen Ort. Vermutlich war es der Ort, an dem ich lebte. Jedenfalls waren dort auch meine Eltern. Und ein Mann namens Tsubaki.“ Als ich den Namen aussprach, weiteten sich Tetsus Augen und seine Fledermaus stieß einen kurzen Laut aus. Ich sah ihn fragend an, aber als er nichts sagte, fuhr ich einfach fort. „Sie beschützten mich vor ihm und ich wurde von einem Mann weggebracht... Einem Mann, dem ich heute an einem alten Fabrikgelände begegnet bin. Er kannte mich und wollte, dass ich mit ihm komme, aber ich bin weggerannt.“ Ich machte eine Pause und sah in die Tasse. Sollte ich ihm noch von dem anderen Vorfall erzählen? Ob er mir glauben wird, wenn ich ihm sage, dass es Vampire gibt? Und das ich ein Schwert heraufbeschwören kann?

„Aiko, erzähl mir alles, so merkwürdig es auch war“, sagte Tetsu und sah mich ernst an.

„Naja“, fuhr ich unsicher fort. „Eine Sache gibt es da noch. Aber....“

„Nichts aber. Egal wie unnatürlich es auch war, ich glaube dir.“

„In Ordnung“, sagte ich unsicher. Ob er mir wirklich glauben würde? „Also... Ich war gestern Abend noch einkaufen und wurde angegriffen. Und ich weiß nicht warum, aber ich glaube, es war ein Vampir.“ Ich sah ihn unsicher an und konnte an seinen Augen erkennen, dass er unruhig wurde.

„Und weiter? Was ist dann passiert?“

„Ich...ich hatte mit einmal ein Schwert in der Hand, als er mich festgehalten hat...Ich hab einfach nur zugeschlagen und bin weggerannt. Er faselte noch irgendetwas von C3 und -“

„Du bist also eine Magierin, sehr interessant“, ertönte auf einmal eine kindliche Stimme. „Was machst du dann hier? Sollst du uns ausspionieren? Oder uns gefangen nehmen?“

Die Fledermaus flog zu uns und als sie über Tetsus Schoß war, verwandelte sie sich ein kleines Kind, das einen schwarzen Umhang umgebunden hatte, unter dem es einen Anzug trug. Außerdem hatte es noch einen schwarzen Zylinder und ein Monokel an.

Ungläubig sah ich das Kind an. Das ist doch jetzt ein Traum, oder?

„Ich frage dich jetzt zum ersten und einzigen Mal. Wer bist du wirklich?“

Kapitel 3

„Aiko Takeshima“, antwortete ich immer noch verwirrt.

Der Junge setzte sich auf Tetsu's Schoß und beobachtete mich misstrauisch.

„Das wissen wir. Aber wer bist du genau? Bist du ein Freund oder Feind?“

„Ich verstehe die Frage nicht“, sagte ich nun noch verwirrter als vorher. „Warum sollte ich ein Feind sein?“

Hyu seufzte genervt. „Du brauchst dich nicht als Unwissende hinstellen. Du kennst Tsubaki und da du eine Magierin bist, musst du auch C3 kennen. Wenn du uns nicht sagst, was du weißt“, er stand wieder auf und zog aus seinem Mantel einen Stock, den er mir vor die Nase hielt, „dann müssen wir andere Maßnahmen ergreifen.“

„Hyu, das reicht“, sagte Tetsu und nahm dem Kleinen den Stock, trotz seiner Proteste, ab. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aiko ein Feind ist. Nenn mir einen Grund, warum sie so lange bleiben sollte, wenn sie zu C3 gehört. Möglichkeiten uns anzugreifen hatte sie mehr als genug.“

„Hmpf“, kam es von dem Jungen in schwarz. Er sprang von der Couch auf einen kleinen Tisch neben dieser und wand uns den Rücken zu. „Sleepy Ash und die anderen kommen noch vorbei oder? Wir warten einfach auf sie und entscheiden dann, wie wir weiter vorgehen. Sie kann uns immerhin noch als Geißel dienen.“

Als er den Satz beendet hatte, sah er kurz zu mir und grinste mich an. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich, eine Geißel? Aber warum? Und wer ist Sleepy Ash? Wer sollen die anderen sein? Und die Frage, die mich am Meisten beschäftigte: Wer oder was ist Hyu? Ist er auch... ein Vampir?

„Meinetwegen können wir auf die anderen warten“, sagt Tetsu leicht genervt. „Aber sollten wir ihr nicht wenigstens erklären, was du bist, wenn sie wirklich nichts weiß?“

Hyu zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst. Aber du musst es ihr erklären.“ Mit diesen Worten sprang er vom Tisch und verließ den Raum.

Tetsu seufzte genervt und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Hyu ist ein... Vampir.“

Ungläubig sah ich ihn an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein?

„Was?“

„Hyu ist ein Vampir. Aber nicht irgendein Vampir. Sondern einer von sieben Urvampiren, den sogenannten Servamps.“

Ich schüttelte mit dem Kopf.

„Tetsu, ich... ich kann dir das alles nicht glauben.“

„Aber du hast doch eben selbst gesagt, dass du glaubst, dass du von einem Vampir angegriffen wurdest?“

„Ja, aber... ich bin mir nicht mehr sicher. Es war dunkel und du weißt genau, wie viel Angst ich vor der Dunkelheit habe. Außerdem kann es einfach keine Vampire geben. Das ergibt einfach keinen Sinn.“

„Du willst es einfach nur nicht glauben, oder?“

Ich antwortete nicht. Er hatte recht. Ich wollte es nicht glauben, weil ich zu große Angst vor der Wahrheit hatte. Vampire sind etwas, wovor ich mich, abgesehen vor der Dunkelheit am Meisten fürchtete.

„Soll ich ihn mein Blut trinken lassen? Dann bist du wenigstens gezwungen mir zu glauben.“

„Nein, es ist schon in Ordnung“, sagte ich und stand auf. „Ich mach besser das Abendessen fertig, ansonsten wird es zu spät.“ Mit diesen Worten ging ich zur Tür, öffnete diese und lief gegen einen braunhaarigen Jungen, der gerade ins Wohnzimmer gehen wollte.

„T-Tut mir Leid“, sagte ich und verbeugte mich.

„Mahiro, glaubst du, dass Tetsu schon was gekocht hat?“, fragte jemand verschlafen und ich hörte ein Glöckchen klingen, während diese Person sprach. Ich sah auf und mein Blick blieb an der Katze kleben. Hat sie etwa gerade...?

„Ach, kein Problem. Ich hätte auch einfach besser aufpassen können“, sagte der Junge freundlich.

Ich lächelte und ging eilig an ihm vorbei. Hinter ihm stand ein lilahaariger Junge, auf dessen Schulter ein schwarz-rosaner Schmetterling saß, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er mich beobachtete.

Sie gingen an mir vorbei und kaum hatten sie die Tür geschlossen fingen sie auch schon an, sich lauthals miteinander zu unterhalten. Ich seufzte leicht genervt. Können die nicht etwas leiser sein?

„Warum bist du nicht bei Tetsu und den anderen? Dann würdest du auch interessante Informationen bekommen, die du weitergeben kannst“, sagte Hyu mit seiner kindlichen Stimme hinter mir und ich drehte mich um. Er stand in der Küchentür und hielt eine Schwarze Tasse, auf der weiße Fledermäuse abgebildet waren, in der Hand. Es fiel mir schwer, ihn bei diesem Anblick nicht einfach auszulachen.

„Ich bin KEINE Spionin“, sagte ich genervt. „Und wer oder was ist dieses C3 überhaupt?“

Bevor er mir auf meine Frage antworten konnte, kam ein junger Mann auf uns zu. Er hatte lange blonde Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

„Entschuldigung, aber ich bin zum ersten Mal in dieser Pension und wollte fragen, wann es denn Essen gibt?“

Ich sah auf die Uhr. „In einer halben Stunde ist es fertig“, sagte ich mit einem Lächeln.

„Vielen Dank“, sagte er und musterte mich.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Es war mir unangenehm so von einem Fremden beäugt zu werden.

„Entschuldigung. Ich dachte nur, ich kenne Sie irgendwoher.“

„Nicht das ich wüsste“, entgegnete ich. Dieser Mann war mir unheimlich. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss noch etwas erledigen.“

Ich verbeugte mich und ging in die Küche, wo ich feststellte, dass der sogenannte „Urvampir“ verschwunden war. Wahrscheinlich ist er wieder zu den anderen gegangen. Ich krempelte die Ärmel meiner Jacke hoch, stellte den Herd wieder an und kümmerte mich wieder um das Abendessen.
 

Ich streckte mich und sah aus dem Fenster. Abgesehen von dem Licht der Straßenlaternen, die den Weg zu Pension erleuchteten, war es dunkel draußen. Ich seufzte und legte meine Schulhefte beiseite. Ich war seit eineinhalb Stunden am lernen und brauchte erst einmal eine Pause. Ich ging in die Küche und machte mir einen Kakao. Aus dem Wohnzimmer waren immer noch Stimmen zu vernehmen und ich seufzte. Was sie sich wohl zu erzählen hatten, dass sie so lange miteinander redeten? Ich wusste, dass es falsch war, aber ich konnte meine Neugier nicht unterdrücken und schlich zum Wohnzimmer.

„Wir müssen uns endlich einigen“, sagte jemand genervt. „Langsam müssen wir etwas gegen Tsubaki unternehmen.“

Tsubaki? Ich wurde hellhörig.

„Ich bin dafür, dass wir seinen nächsten Schritt abwarten“, sagte der Junge, in den ich vorhin rein gerannt war.

„Ich schließe mich der Mehrheit an“, sagte Tetsu und ich musste lächeln. Das war mal wieder typisch für ihn.

„Das ist alles so anstrengend“, sagte eine andere Stimme und ein Glöckchen erklingte.

„Wir sollten es für heute lassen. Es ist schon spät“, sagte eine Männerstimme freundlich.

„Lilly, wenn wir uns heute nicht einigen, dann...“, sagte jemand und kurz darauf hörte ich, wie jemand umfiel.

„Misono?“, fragte Tetsu verwirrt.

„Es ist neun Uhr“, sagte die Männerstimme. „Das ist seine Schlafenszeit.“

„Wenn ihr wollt, dann könnt ihr alle hier übernachten.“

„Wir wollen keine Umstände machen“, sagte der Junge von vorhin wieder.

„Das macht keine Umstände. Ich hole kurz ein paar Futon.“ Ich hörte wie er aufstand und ging wieder in die Küche. Die Shoji-Wand wurde beiseite geschoben und ich tat so, als würde ich etwas im Schrank suchen.

„Was suchst du?“, fragte er mich.

„Eine Tasse.“

„Hier auf dem Tisch steht doch eine.“

„Die hab ich wohl übersehen“, sagte ich etwas nervös und versuchte zu lächeln. Ich holte den Kakao aus dem Schrank und die Milch aus dem Kühlschrank und machte meinen Kakao fertig. Ich drehte mich um und wollte wieder in mein Zimmer gehen, aber Tetsu versperrte mir den Weg.

„Kann ich bitte durch? Ich muss weiter lernen.“

„Du hast gelauscht, nicht wahr?“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Er bekommt mehr mit, als ich dachte.

„Du brauchst es nicht abstreiten. Hyu hat dich gesehen.“

Ich starrte in meine Tasse und er seufzte.

„Warum hast du dich nicht einfach zu uns gesetzt?“

„Ich wollte euch nicht stören“, antwortete ich und versuchte mich an ihm vorbei zu quetschen. Erfolglos.

„Du hättest nicht gestört.“

„Bist du dir da sicher?“

„Vollkommen sicher.“

„Tetsu, kann ich dir helfen?“, fragte jemand und der braunhaarige Junge trat aus dem Wohnzimmer heraus. „Störe ich?“

„Nein“, antworteten Tetsu und ich gleichzeitig.

Der Junge musterte mich kurz, kam auf mich zu und hielt mir seine Hand hin. „Ich habe mich vorhin gar nicht vorgestellt. Ich heiße Mahiru Shirota.“

„Aiko Takeshima“, stellte ich mich vor und gab ihm die Hand.

„Aiko, hilfst du uns kurz?“, fragte Tetsu und ich nickte.

Gemeinsamen gingen wir zu dem Lager und holten vier Futon, von denen Tetsu zwei nahm. Mahiru und ich folgten ihm in eines der Gästezimmer, in dem es sich die anderen bereits gemütlich gemacht hatten.

Wir legten die Futon ab und während Tetsu und Mahiru es sich zu Aufgabe gemacht hatten, die Futon auszurollen, kam ein blonder Mann zu mir.

Er lächelte und es sah so aus, als würde er etwas sagen wollen. Doch bevor er etwas sagte, fing er an, sein Oberteil auszuziehen.

„Lilly!“, rief Mahiru wütend und im nächsten Moment wurde eine schwarze Katze nach ihm geworfen, die ihn nur knapp verfehlte.

„Ey, Mahiru. Wie kannst du nur eine arme Katze werfen? Ich könnte dabei sterben“, sagte das schwarze Fellknäul müde. Sieht so aus, als hätte ich mich vorhin nicht verhört.

„Du kannst nicht sterben Kuro“, antwortete Mahiru genervt.

Darauf antwortet die Katze nichts mehr, sondern rollte sich wieder zusammen und schlief weiter.

„Was zum...?“, sagte ich leise.

„Entschuldige“, sagte Mahiru lachend. Er ging zu der Katze und nahm sie auf den Arm, allerdings nicht ohne Beschwerden von seitens der Katze, da diese kurz vorm einschlafen war. „Das ist Kuro, der Servamp der Trägheit, wie du sehen kannst“, sagte er und fing an mit seiner Hand über das weiche Katzenfell zu streichen.

„Und das da“, er zeigte auf den blonden Perversling, „ist der Servamp der Wollust. Sein Name ist Snow Lilly, aber wir nennen ihn nur Lilly.“

Der Mann verbeugte sich und verwandelte sich in den schwarz-rosanen Schmetterling von vorhin. Er flog zu dem schlafenden Jungen und setzte sich auf den Kopf von diesem.

„Das hier ist mein Eve, Misono Alisuin.“

„Alisuin“, murmelte ich. Der Name kam mir bekannt vor.

„Hm?“, Tetsu sah mich fragend an.

„Ach nichts“, antwortete ich und winkte ab. „Ich geh jetzt auch ins Bett. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, antworteten sie im Chor und ich drehte mich um und ging wieder auf mein Zimmer. Ich zog meine Strümpfe aus und ließ mich auf mein Bett fallen. Vampire. Es gibt sie also wirklich. Und Servamps sind die Urvampire. Aber gibt es nur diese drei? Oder gibt es noch mehr? Wollust, Trägheit, Hochmut.... drei von sieben Todsünden. Rein theoretisch müsste es noch vier weiter Todsünden geben. „Vier“, sagte eine Stimme in mir. „Es gibt noch vier weitere Todsünden.“ Ich dachte nach. Wollust, Trägheit, Hochmut, Neid, Völlerei, Zorn und Habgier. Das sind die sieben Todsünden. Aber wie sollte die achte Todsünde heißen?

„Ich bin der achte Servamp. Meine Todsünde ist die Schwermut“ , sagte ein fremde Stimme in meinen Gedanken.

„Wie heißt du?“

Auf diese Frage erhielt ich keine Antwort. Ich seufzte. Vielleicht schlief ich? Das würde einiges erklären, denn mittlerweile kam mir das alles vollkommen absurd vor. Vampire und Magier, Servamps und C3. Das konnte es alles nicht geben. Ich schloss meine Augen und ich hatte die Hoffnung, dass sich herausstellt, dass alles nur ein Traum war und es weder Magie noch Vampire gab. Hyu ist weiterhin nur eine Fledermaus und kein kleines Kind. Und die anderen, die waren nicht mehr da und Tetsu hatte sie nie kennengelernt. Ich merkte, wie ich langsam in die Welt der Träume abdriftete. Wenn ich morgen wieder aufwachte, dann war alles wieder normal.

Bei diesem Gedanken lachte die fremde Stimme und im nächsten Moment war ich eingeschlafen.
 

Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte mehrmals. Ich war wieder an dem hellen Ort, von dem ich letztes mal geträumt hatte. Nur war ich diesmal nicht allein. Vor mir stand ein kleines Mädchen mit Schulterlangen grünen Haare, die durch eine Glasscheibe in den dahinterliegenden Raum starrte. Der Raum vor mir war dunkel, weswegen es etwas dauerte, bis ich etwas erkennen konnte. In dem Raum saß jemand in einem Kimono, der allem Anschein nach an mehrere Geräte angeschlossen war. Ich ging ein paar Schritte auf die Scheibe zu, um besser erkennen zu können, was da war und das Licht in dem Raum ging an. Die Person auf dem Stuhl war ein Mann und trug einen weiß roten Kimono. Er hatte kurze schwarze Haare und über seine Augen war etwas ringförmiges gelegt worden, das mit einer Maschine, die ununterbrochen piepste, verbunden war.

„Hallo“, sagte das kleine Mädchen schüchtern und ich sah, dass sie über eine Sprechanlage mit ihm kommunizierte. Sie erhielt keine Antwort und nervös spielte sie mit einer Haarsträhne.

„Wie heißt du?“, fragte sie nun etwas mutiger.

Die Person auf der anderen Seite brach in schallendes Gelächter aus.

„Niemand kennt mich...“, sagte sie traurig.

„Dann sag mir wie du heißt. Dann kenne ich dich.“

„Mein Name ist Tsubaki“,antwortete er mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.

„Was machst du hier?“

„Ich wurde gefangen genommen.“

„Warum? Warst du böse?“

„Nein. Ich habe nichts unrechtes getan.“

„Aber irgendetwas musst du getan haben. Ansonsten hätten Yumi, Jun, und Tsuguri dich nicht gefangen.“

„Ich habe nichts gemacht.“

„Warum bist du dann hier?“

„Weil diese Menschen hier böse sind.“

„Sind sie nicht.“

„Sind sie doch.“

Für eine kurze Zeit herrschte Stille.

„Kann ich dir helfen?“

Der Mann blickte auf.

„Du kannst mir nicht helfen. Du würdest Ärger bekommen Aiko-chan.“

Ich hielt die Luft an und sah das Mädchen an. Das bin ich? Das Mädchen sah zu mir herüber.

„Du musst ihm helfen. Bitte. Er kann nicht böse sein. Ich spüre es.“

„Das ist leider unmöglich“, sagte eine tiefe Männerstimme neben mir und erschrocken drehte ich mich um. Neben mir stand ein Mann in einem Anzug und sah das Mädchen ungeduldig an. „Wir müssen gehen Aiko.“

„Aber...“

Bevor sie – oder besser gesagt ich - etwas erwidern konnte, nahm er mich an der Hand und verschwand mit meinem jüngeren ich durch die Tür. Ich sah ihnen kurz nach, wartete darauf, dass ich laut dagegen protestieren würde, aber es blieb - bis auf das piepen der Maschine – still.

Ich sah wieder zu dem Mann. Er rührte sich nicht und auch sonst schien er keinerlei Anstalten zu machen sich zu befreien. Ich drehte mich um und wollte sehen, wohin die Tür führte, aber anstatt der weißen Wände und der Tür, sah ich vor mir eine Lichtung. Ich drehte mich um, aber dort war alles schwarz und von dem Mann war keine Spur zu sehen. Ich ging auf die Lichtung zu und nach wenigen Schritten tauchte ein zweischwänziger Fuchs auf.

„Erinnerst du dich wieder?“, fragte er sanft. „Langsam müssten deine Erinnerungen zurückkommen, Aiko-chan.“

„Wer bist du?“, fragte ich misstrauisch.

„Wer ich bin?“, er lachte. „Diese Frage hast du mir vor vier Jahren schon einmal gestellt. Erinnerst du dich?“

Ich schluckte. „Tsubaki?“

Der Fuchs kam langsam auf mich zu und verwandelte sich im Gehen wieder in den jungen Mann, der eben noch eingesperrt war.

„Es ist schön zu sehen, dass es dir gut geht.“

Ich sah ihn verwirrt an und er lächelte.

„Ich bin der Servamp der Schwermut, schon vergessen?“

Er stand nur wenige Zentimeter von mir entfernt und streichte mir sanft über die Wange.

„Sag Aiko-chan... Willst du deine Erinnerungen wieder haben?“

„Ja!“, sagte ich schnell und er lachte leise.

„Dann komm zu mir.“

„Wo bist du?“

„Du wirst mich finden“, sagte er lachend und verwandelte sich wieder in einen Fuchs, nur um kurz darauf zu verschwinden.

„Warte! Geh nicht!“, rief ich verzweifelt. Kurz darauf wurde alles um mich herum schwarz und eine angenehme Wärme umhüllte mich.
 

„Aiko? Hey Aiko, aufwachen“, sagte Tetsu und schüttelte mich am Arm.

„Nur noch fünf Minuten“, grummelte ich, zog mit die Decke über den Kopf und drehte mich weg.

Er seufzte. „Es gibt Schokolade.“

ich öffnete die Augen und in Null Komma nichts, saß ich aufrecht im Bett. „Schokolade? Ich bin dabei!“

Tetsu lachte und schüttelte mit dem Kopf. „Das klappt wirklich jedes mal.“

„Idiot!“, sagte ich beleidigt und warf das Kissen nach ihm.

Er fing es auf und warf es mir ins Gesicht. Ich sah ihn empört an, doch bevor ich etwas erwiedern konnte, drehte er sich um.

„Steh endlich auf, wir müssen noch einkaufen gehen.“ Mit diesen Worten ließ er mich zurück und ungläubig sah ich ihm nach. Das gab Rache...

Ich schloss die Tür meines Zimmers und holte aus meinem Schrank ein schwarzes T-Shirt, eine kurze Jeanshose, weiße Strümpfe und Unterwäsche heraus, die ich auch sofort anzog. Ich ging in die Küche, in der Tetsu und die Jungen von gestern Abend bereits am Essen waren. Ich verzog mein Gesicht etwas. Anscheinend war es wohl doch kein Traum gewesen und Vampire waren real, genauso wie Magie. Ich murmelte ein „Guten Morgen“, setzte mich zu ihnen an den Tisch und fing an zu frühstücken. Sie unterhielten sich wieder über diesen Tsubaki, aber ich hörte ihnen nicht zu. Ich dachte wieder an den Traum. Er sagte, dass er mir meine Erinnerungen wiedergeben könnte. Aber ob das stimmte? Aber einen Versuch wäre es Wert.

„Aber irgendetwas musst du getan haben. Ansonsten hätten Yumi, Jun und Tsuguri dich nicht gefangen“, sagte mein jüngeres Ich wieder. Yumi, Jun, Tsuguri... hatte der Mann, den ich am Fluss getroffen hatte nicht etwas davon erzählt, dass Yumi und Tsuguri sich Sorgen um mich machten? Und hatte ich ihn nicht Jun genannt?

Ich fing an mir die Schläfen zu massieren. Wenn ich an den Traum dachte, bekam ich furchtbare Kopfschmerzen. Aber was war an Tsubaki so schlimm, dass sie gegen ihn kämpfen mussten? Ich war so in Gedanken versunken, dass ich zu spät realisierte, dass ich laut gedachte hatte und die Jungs mich ungläubig ansahen. Anscheinend hatte ich laut gedacht und nervös biss ich auf meiner Lippe herum.

„Was an Tsubaki so schlimm ist?“, fragte Misono mich wütend. „Er tötet grundlos die Abkömmlinge der Servamps. Er ist ein blutrünstiges Monster!“, er sprang auf und ich konnte den Hass in seinen Augen sehen. Ich duchte mich weg aus Angst, dass er seine Wut an mir ausließ.

„Misono, sie kann nichts dafür“, sagte Lilly ruhig und stand nun ebenfalls auf. „Setz dich wieder.“

Murrend hörte er auf seinen Servamp, sah aber nicht einmal mehr von seiner Schüssel auf.

Das restliche Frühstück verlief bis zum abräumen ruhig. Keiner sagte mehr etwas, sondern hing seinen eigenen Gedanken nach, wobei ich mir gewünscht hätte, dass wir über etwas anderes als Vampire geredet hätten, damit ich den Traum endlich aus dem Kopf bekam.

„Aiko und ich gehen noch einkaufen. Sollen wir was mitbringen?“, fragte Tetsu, während wir den Tisch abräumten.

Sie verneinten und ich holte den Einkaufszettel, den Tetsu's Eltern geschrieben hatten.

Gemeinsam verließen wir das Gasthaus und gingen schweigend in Richtung Stadtzentrum.

„Was ist los?“, fragte Tetsu mich nach einer Weile des Schweigens.

Ich seufzte. „Ich... ich hatte nur schon wieder einen dieser Träume.“

„Schieß los.“

„Ich war wieder in einem hellen Raum. Einen Raum nebenan war Tsubaki und ich – oder besser gesagt mein jüngeres ich – hat sich mit ihm unterhalten. Ich fühlte mich mit ihm... verbunden. So als würde er mich verstehen, egal was ich tue. Er sagte mir, dass er mir dabei helfen könnte, meine Erinnerungen wiederzuerlangen. Dafür bräuchte ich nur zu ihm zu kommen. Und ich...“

Der Blonde blieb abrupt stehen und sah mich ungläubig an. „Du bist nicht wirklich am überlegen, ob du zu ihm gehen sollst?“

„Naja....“, sagte ich vorsichtig.

„Bist du verrückt geworden? Das ist gefährlich!“

Erschrocken sah ich ihn an. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Aber ich dachte... du willst, dass ich alles versuche, um meine Erinnerungen wieder zu erlangen?“

„Ja, aber nicht, indem du dich in die Höhle des Löwens begibst!“

Er funkelte mich wütend an und ich sah zu Boden. „Entschuldige... ich wollte nicht, dass...“

„Schon gut“, sagte er nun wieder in seiner normalen Tonlage und ich sah ihn an. Er sah verlegen zur Seite und ich musste anfangen zu lachen.

„Was ist so lustig?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dir so große Sorgen um mich machst.“

„Ehm... ich...“, er wurde etwas rot und ging schnell an mir vorbei und ich seufzte.

Seit dem Gespräch wechselten wir nicht ein Wort und ich sah, dass Tetsu meinem Blick auswich.

Auf dem Rückweg nahmen wir den Weg durch den Park. Tetsu trug zwei schwerere Einkaufstüten, ich hingegen trug nur eine, die dazu noch nicht einmal viel wog. Wie ich es hasste, wenn er immer die schweren Sachen allein tragen wollte. Schweigend gingen wir nebeneinander her und ich wurde das gefühl nicht los, dass wir verfolgt wurden.

Als wir durch den ruhigeren Teil des Parkes gingen, blieb er einfach stehen. Ich sah ihn verwirrt an.

„Aiko“, sagte er schon fast schüchtern. „Ich muss dir etwas sagen. Ich bin... Ich bin -“

„Haaaaaab iiiiich diiiich eeeendliiiiich gefuuuundeeeen, Aiiiikooo-chaaaaan“, rief jemand laut und ich zuckte erschrocken zusammen.

Auch Tetsu schien beunruhig zu sein und wir sahen uns um. Auf einem der Äste entdeckte ich den rosahaarigen Mann, der mich vor ein paar Tagen angegriffen hatte und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

„Tsubaki-kyun haaaat miiiich damiiit beauftraaagt diiiich zu aaaaabzuhoooooleeeen.“

Tetsu ließ die Tüten fallen und stellte sich vor mich.

„Das werde ich nicht zulassen“, knurrte er.

„Naaaa daaann, werdeeen, wiiiir wooohl noch etwaaas spiiiiiiiielen“, sagte der Vampir lachend und ließ sich vom Baum fallen.

Er nahm seinen Zylinder ab und zog ein Schwert heraus, das das Sonnenlicht reflektierte.

Ich hatte den Drang wegzulaufen, aber Tetsu hier allein zu lassen hielt mich davon ab.

Der Mann setzte den Zylinder wieder auf und rannte auf Tetsu zu, der keinerlei anstalten machte sich weg zu bewegen. Als das Schwert nur noch wenige Meter von Tetsu entfernt war, hörte ich einen Schuss , der den Vampir in den Arm traf.

„Waaaas zuuum?“, fragte er und hielt sich seinen blutenden Arm.

„Guter Schuss, Yumi“, sagte jemand lachend und ich drehte mich um. Vor mir standen drei Männer. Einer von ihnen hatte kurze braune Haare, der andere hatte lange blonde Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und der dritte hatte kurze schwarze Haare. Alle drei trugen einen langen weißen Mantel mit ebenso weißer Kleidung. Nur der Mantel des Schwarzhaarigen war geschlossen un erinnerte mich an die Jacke, die man in einer Psychatrie trug. Zwei von ihnen hatte ich bereits getroffen, nur der dritte war mir vollkommen fremd.

„Aiko-chan, bist du in Ordnung?“, fragte der Braunhaarige besorgt.

„Sieht so aus“, sagte der Blonde.

„Wir nehmen dich wieder mit nach Hause, Aiko-chan“, sagte der Schwarzhaarige freudig.

„Aber vorher müssen wir uns um die Witzfigur kümmern“, sagte der Braunhaarige und ging mit einem Stab bewaffnet auf den Vampir zu. Die anderen Beiden taten es ihnen gleich.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich spürte Panik in mir aufkommen. Ich zitterte am ganzen Körper und letztendlich konnte ich mich nicht mehr gegen die Angst wehren. Ich ließ die Tüte fallen und lief los, raus aus dem Park, weg von Tetsu und den drei Männern, die mich anscheinend kannten. Ich hörte, dass Tetsu mir hinterherlief und meinen Namen rief, aber ich ignorierte ihn. Ich wollte einfach nur noch weg. Weg von ihm, weg von den Vampiren, die eigentlich nicht existieren dürfte.

Erst als ich in der Stadt war wurde ich langsamer und drehte mich um. Keiner von den Personen aus dem Park war zu sehen und ich bog in eine Gasse ein. Nachdem ich eine Weile gegangen bin, ließ ich mich an der Wand herabgleiten und legte meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie. Es drehte sich alles und die Kopfschmerzen waren wieder da. Nur waren sie schlimmer als die, die ich bisher hatte. Es fühlte sich beinahe so an, als würde jemand ununterbrochen mit einem Hammer dagegen schlagen.

„Da bist du ja, Aiko-chan“



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