Mit Sand und Blut von Yosephia ([Prequel zu Schwarzer Komet]) ================================================================================ Kapitel 6: Das misstrauische Wesen ---------------------------------- Die Höhle lag in einem gut versteckten Teil der Felsinsel. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis sie sie gefunden hatten – nicht jedoch das Mädchen. Und sie war winzig, kaum mehr als eine der Schlafkuhlen, die Sting aus der Kinderhöhle kannte – aber sie war offensichtlich jemandes Zuhause. Getrocknete Gräser, löchrige Felle von Kleintieren und Sand bildeten ein unordentliches Schlaflager. Daneben waren Wasserknollen zu einer Pyramide aufgeschichtet worden. In sorgsam gereinigten Tierschädeln wurden Nüsse, Oliven und Datteln aufbewahrt. In die Wände waren Figuren geritzt worden: seltsame Bauten mit Flügeln auf dem Wasser, Menschen, Vögel und etwas, das vielleicht Basilisken sein sollten. Auf einer großen Basiliskenschuppe neben der Schlafstätte war ein Mühlespielplan geritzt worden, auf dem noch einige Nussschalen und Steine als Spielfiguren lagen. „Das ist eine Überraschung“, murmelte Adrim und ging in die Hocke, um in die Höhle hinein zu gelangen und nach einem Wüstenfuchsfell zu greifen. Beim Abschaben des Fleisches war die Haut in Mitleidenschaft gezogen worden und der Rest der Haut war runzlig, was darauf schließen ließ, dass es keine Möglichkeit gegeben hatte, das Fell zum Trocknen straff aufzuspannen. Über seine Schulter blickte der Reiter zurück zu Sting und Minerva. „Und sie war ganz sicher jünger als ihr?“ „So sah es zumindest aus“, erwiderte Minerva. „Erstaunlich…“ „Unmöglich trifft es eher“, meldete Elias sich zu Wort und deutete auf die Tierschädel. „Die nächsten Oasen mit Datteln sind selbst mit einem Basilisken oder Sandschlitten zwei bis drei Tagesreisen von hier entfernt, von Oliven- und Nusshainen ganz zu schweigen. Unvorstellbar, dass dieses Kind alleine diese Entfernungen zurücklegen kann.“ „Sie hat es offensichtlich dennoch geschafft“, merkte Minerva spitz an, wofür Elias ihr einen entnervten Blick zuwarf. „Wahrscheinlich wird sie hier versteckt gehalten und von Erwachsenen versorgt. Vielleicht eine Grünländer-Angelegenheit. Wir sollten einfach aufbrechen, sobald der Sturm endgültig vorbei ist.“ „Was soll das für eine Angelegenheit sein? Wir sind hier viel zu weit von Sabertooth oder Jadestadt entfernt. Sogar die Zuflucht ist zu weit weg“, argumentierte Minerva. „Sie ist ganz alleine hier. Wir sollten ihr Hilfe anbieten.“ „Sie ist keine von uns.“ „Sie ist ein Kind, Elias…“ „Wie oft will man dieses Argument eigentlich noch verwenden? Wir haben deswegen sogar schon Dämonen in der Zuflucht!“ „Mummy hat die Verantwortung dafür übernommen.“ „Was nützt uns das, wenn diese Kinder irgendwann ihrer wahren Natur folgen?“ Normalerweise war das eine Diskussion, bei der Sting sich lautstark einmischte. Auch wenn er genau wie alle anderen Kinder aus der Debatte vor drei Monden ausgeschlossen worden war, hatte er doch mitbekommen, dass viele dagegen gewesen waren, die Säuglinge aufzunehmen. Schon oft hatte er nach dem Grund dafür gefragt, aber hier und jetzt wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt. Er ließ die Anderen einfach stehen und folgte mit seiner Öllampe einer Wand, auf der sich weitere Bilder befanden. Immer wieder tauchte dieses merkwürdige Gefährt im Wasser auf. Darauf waren Menschen und Vögel flogen drum herum. Anscheinend hatte das Mädchen mit der Zeit mehr Übung bekommen, denn die Bilder wurden besser, je weiter Sting kam. Sie zeigten Details, mit denen er nichts anfangen konnte, Stangenkonstruktionen, die das Segel hielten – ja, es war ein Segel, die Ähnlichkeit zu den Sandschlitten war irgendwann gut genug zu erkennen. Aber welcher Sandschlitten wäre jemals auf dem Wasser gefahren? Und wo gab es überhaupt so viel Wasser? Schließlich kam ein Bild, auf dem das Gefährt kaputt zu sein schien. Die Stangen mit dem Segel lagen im Wasser und um das Gefährt herum waren Menschen im Wasser, das Wellen schlug, die höher als das Gefährt aufragten. Im hinteren Teil des Wasserschlittens, wie Sting ihn in Ermangelung eines passenden Wortes nannte, gab es ein winziges Rad, an dem eine weitere Menschengestalt stand, bei der lange Haare angedeutet waren. Während um sie herum die Menschen ins Wasser sprangen oder fielen, blieb sie dort stehen. Obwohl er die Details nicht verstand, wurde Sting doch flau im Magen. Als er weiter ging, änderte sich die Szenerie. Zuerst sah es für Sting nach einer normalen Karawane aus. Davon hatte er bereits Abbildungen in der Lerngrotte gesehen. So hatten die Wüstennomaden auch mal angefangen, als sie sich noch nicht der Gefahr durch die Basilisken und Golems bewusst gewesen waren. Doch als Sting genauer hin sah, wunderte er sich, warum die Gestalten, die nicht auf den vereinfacht dargestellten Kamelen saßen, aneinander gekettet waren… Was auch immer es damit auf sich haben mochte, die Karawane wurde in der nächsten Darstellung von einem Basilisken angegriffen. Obwohl das Mädchen kein Geschick bei der Darstellung von Menschen und Kamelen hatte, war es beim Basilisken umso besser. Angefangen bei der gegabelten Schwanzspitze über den zackigen Rückenkamm bis hin zu dem riesigen Maul mit den unregelmäßigen Zähnen und dem Gift spritzenden Rachen – es spiegelte die überwältigende Macht der Sandschlange nur allzu deutlich wieder. Im nächsten Bild stand eine winzige Menschengestalt alleine auf einer Düne. Ganz und gar alleine… Unwillkürlich blickte Sting zurück zu Minerva, die mit finsterer Miene zwischen den beiden ausgebildeten Reitern stand und deren anhaltendem Disput lauschte. Er musste daran denken, wie sie in ihrer ersten Zeit bei den Wüstennomaden immer irgendwo alleine gesessen hatte. So alleine wie dieses Mädchen. Ausgesetzt inmitten einer fremden Welt… Abrupt wandte Sting sich von den Anderen ab und folgte mit erhobener Öllampe dem engen Tunnel. Ihm fiel auf, dass nach dem Bild von dem Menschen in der Wüste nichts mehr kam. Als hätte das Mädchen nach diesem Bild nichts mehr zu erzählen gehabt. Als wäre das Bild vom Mädchen alleine in der Wüste das Ende der Geschichte. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn erschrocken herum fahren. Er verschüttete Öl auf dem Stein, aber zum Glück fiel ihm die Lampe nicht herunter. Vor ihm stand Minerva, ihr Blick aufmerksam und verständnisvoll. Im Hintergrund diskutierten Adrim und Elias immer noch ungewöhnlich hitzig. „Was willst du tun?“, fragte Minerva mit gedämpfter Stimme und deutete den Tunnel entlang, welchem Sting gefolgt war. „Willst du sie suchen?“ Wollte er? Sting versuchte, richtig darüber nachzudenken. Er kannte dieses Mädchen nicht, wusste nicht, was hinter den Bildern steckte, hatte keine Ahnung, ob das Kind überhaupt seine Sprache verstand. Es war ein Fremdling und misstrauisch noch dazu – und es kam offensichtlich erstaunlich gut alleine in der Wüste zurecht. Dennoch… „Sie ist alleine“, murmelte Sting und blickte Minerva fest in die Augen. Zu seiner Freude fand er keine Ablehnung in ihren olivgrünen Augen. Im Gegenteil. Wieder drückte sie seine Schulter. „Dann lass’ sie uns suchen. Wenn Adrim und Elias irgendwann aufhören mit diskutieren, müssen sie sich erst einmal miteinander versöhnen. Die Zeit sollten wir nutzen.“ Ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf Stings Gesicht aus, als er sich wieder herum drehte und nun gemeinsam mit seiner Freundin weiter dem Tunnel folgte. Es war für ihn genauso unerklärlich wie seine damalige Faszination für Minerva, aber er spürte tief in sich drin, dass er diesem Mädchen helfen wollte, das ihm mit einer Wasserknolle eine Beule beschert hatte. Er hatte Minerva damals nicht alleine gelassen und dieses Mädchen würde er auch nicht alleine lassen! Müde kauerte das Mädchen sich in einem viel zu engen Spalt zusammen, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, die Stirn gegen die Knie gedrückt. Es hatte Hunger und Durst, aber es traute sich nicht, eine der Wasserknollen anzuschneiden, um das kostbare Nass aus dem Fruchtfleisch heraus zu nuckeln. Es musste aufpassen. Die Menschen hatten die Höhle gefunden. Vielleicht würden sie die Felle und Vorräte mitnehmen. Vage erinnerte das Mädchen sich, dass es Namen dafür gab, wenn Menschen so etwas taten. Diebstahl oder Raub oder Plünderung. Jemand hatte mal davon erzählt, wie schlecht solch ein Verhalten war. Es gab sogar Regeln, die das verboten – wer auch immer sie gemacht hatte. Aber das Mädchen hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich das Leben nicht an Regeln hielt. Es bedeutete nichts. Mittlerweile wusste das Mädchen, wie man das Fleisch am besten von den Fellen bekam. Es kannte die nächstgelegenen Oasen, es fand Wasserknollen schneller, es konnte besser jagen. Ja, es würde die Verluste schnell ausgleichen können, sobald es sich ein neues Versteck gesucht hatte. Es gab andere Steininseln, die geeignet waren. Diese hier bedeutete nichts weiter. Nichts hier bedeutete irgendetwas. Wichtig war nur, dass das Mädchen seine Freiheit behielt… „Hallo?!“ Der Ruf hallte unangenehm laut durch das brüchige Höhlensystem, das lange Zeit stumm geblieben war. Schritte näherten sich, tappten ungeschickt herum und stießen dabei immer wieder gegen lose Steine. „Bist du hier?“ Es war der Junge, erkannte das Mädchen. Der, dem es eine seiner kostbaren Wasserknollen gegen den Kopf geworfen hatte. Seine Stimme schwankte merkwürdig, war mal hoch und dann wieder tiefer, knirschte und kratzte zuweilen vor Heiserkeit. Ungeachtet dessen sprach der Junge weiter: „Du versteckst dich hier irgendwo, nicht wahr? Es tut uns Leid, dass wir dich erschreckt haben. Das wollten wir nicht. Komm’ doch raus. Wir haben Wasser für dich.“ Zitternd zog das Mädchen sich noch tiefer in den Spalt zurück, als sich ihm Licht näherte. Feuer! Wann hatte es das letzte Mal Feuer gesehen? Es hatte keine Ahnung, wie man Feuer machte. Es hatte lernen müssen, ohne auszukommen. Der Schein der Lampe genügte nicht, um den Spalt auszuleuchten, dennoch hatte das Kind furchtbare Angst, als der Junge nicht einmal drei Schrittlängen entfernt wieder stehen blieb. Er hatte die Stirn gerunzelt, während seine Augen die Umgebung absuchten. Seine Augen wirkten beim unsteten Licht der Lampe einfach nur dunkel, aber deutlich zu erkennen war die Farbe seiner Haare. Sie erinnerten an die Sonne, strahlend hell. Aus irgendeinem Grund passte das sehr gut zu dem Jungen. „Sting, hast du etwas gefunden?“ Die zweite Stimme ließ das versteckte Mädchen zusammen zucken. Es hatte sich so sehr auf den Jungen konzentriert, dass es das zweite Schrittpaar nicht gehört hatte. Jetzt trat ein Mädchen zu dem Jungen. Es überragte ihn um ein oder zwei Fingerbreiten und hatte pechschwarze Haare, die zu einem langen Zopf geflochten waren. Es wirkte schroffer, grober, erinnerte das Kind an jemanden aus der Vergangenheit, an dem es schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte. „Noch nicht. Streiten Elias und Adrim immer noch?“ „Ich glaube schon, auch wenn sie’s jetzt auf andere Art tun. Sie reden nicht mehr miteinander. Elias hat sich in eine andere Höhle zurück gezogen.“ „Die machen es sich ganz schön kompliziert“, schnaufte der Junge. Zur Antwort zuckte seine Begleiterin mit den schlaksigen Schultern. „Die werden sich schon wieder vertragen. Die sind wie ein altes Ehepaar.“ „Das verstehe ich immer noch nicht“, murmelte der Junge. „Wozu soll die Ehe gut sein?“ „Nicht jeder will jede Nacht mit einem anderen Partner verbringen. Siehst du doch bei den Beiden. Adrim hat sogar Selim abgewiesen und du weißt, wie beliebt der ist.“ „Dabei wäre es doch nur ein bisschen Spaß gewesen.“ Das Mädchen schnaubte abfällig. „Als ob du so viel Ahnung davon hättest.“ Beleidigt schob der Junge die Lippen vor, sagte jedoch nichts weiter, sondern verlegte sich wieder darauf, seine Umgebung abzusuchen. In seinem Versteck fragte das Mädchen sich, wovon die Beiden gesprochen hatten. Es lebte schon so lange alleine, dass es nichts mehr davon verstand, wie Menschen miteinander interagierten. Die Worte der Schwarzhaarigen hatten jedenfalls sehr bösartig geklungen, aber irgendwie auch wieder nicht. Sie grinste den Jungen frech an und auch wenn der so tat, als wäre er beleidigt, entfernte er sich nicht von ihr. Ganz im Gegenteil, sie standen vertrauensvoll dicht nebeneinander. Vertrauen. Wann hatte das Mädchen zuletzt einem Menschen vertraut? Wenn es an Menschen dachte, kamen ihm immer zuerst seine jüngsten Erfahrungen mit Menschen in Erinnerung. Und selbst diese lagen so lange zurück… „Sting, ich denke, wir sollten aufhören.“ „Was?! Aber-“ Bevor der Junge richtig aufbrausen konnte, schlug seine Freundin ihm auf den Hinterkopf. „Ich sage nicht, dass wir aufgeben sollen, du Dattelkopf. Denk’ nach: Sie kennt sich hier viel besser aus als wir und du trampelst wie ein Ochse durch die Höhlen.“ „Gar nicht wahr“, schmollte der Junge. „Du weißt doch nicht einmal, was ein Ochse ist.“ „Wenn du schon so fies davon sprichst, ist es garantiert nichts Gutes.“ Zur Antwort grinste die Schwarzhaarige fies, ehe ihre Miene wieder ernst wurde. „Lass’ uns bei der Schlafhöhle warten. Vielleicht kommt sie zu uns, wenn wir ihr nicht das Gefühl geben, sie zu jagen.“ „Und wenn sie einfach weg geht? Der Sturm ist fast vorbei.“ Nachdenklich legte die Schwarzhaarige den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. „Ich glaube, sie wird uns eine Chance geben.“ Verwirrt runzelte der Junge die Stirn. „Wie meinst du das?“ Ratlos zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Nur so ein Gefühl.“ Aus irgendeinem Grund schien diese Erklärung dem Jungen zu genügen. Er nahm ein kleines Säckchen von seinem Gürtel und legte es auf den Boden, dann folgte er seiner Freundin den Tunnel zurück. Als er über einen Stein stolperte, fluchte er leise, während das Mädchen gehässig kicherte. Daraufhin stieß er sie mit dem Ellenbogen an. Sie stieß zurück. Er wich aus. Danach waren sie nicht mehr zu sehen. So leise, wie es nur konnte, kroch das Mädchen aus seinem Versteck und lauschte dabei den Plänkeleien der beiden Kinder, die sich immer weiter entfernten. Zigfach vergewisserte es sich, dass es tatsächlich alleine war, dann glitt es durch den Spalt und ging davor in die Hocke. Zögerlich streckte es die Finger nach dem Säckchen aus, eine Hand auf das Messer gelegt, welches es an dem Strick trug, der seine zerlumpten Hosen festhielt. Erst in der Sicherheit seines Verstecks traute es sich, in das Säckchen hinein zu fassen. Ein dezenter süßer Geruch schlug ihm entgegen und er zog einen lederartigen, platten Ring hervor. Es dauerte einige Herzschläge, bis dem Mädchen der Name dafür einfiel. Apfelringe. Eine seltene Nascherei aus alten Tagen… Zaghaft führte das Mädchen das getrocknete Obststück zum Mund und nahm einen winzigen Bissen. Der Geschmack erinnerte es an seine Mutter, an zärtliche Gesten, an Umarmungen und Wärme und an… Vertrauen. Leise schniefend wischte es sich übers Gesicht und steckte sich den gesamten Apfelring in den Mund, ehe es gleich den nächsten aus dem Säckchen heraus holte. Ein unsanfter Rippenstoß riss Sting aus seinen Dämmerzustand und ließ ihn den Kopf von Minervas Schulter nehmen. Wann hatte er eigentlich seinen Kopf gegen ihre Schulter gelehnt? Wie lange saßen sie hier eigentlich schon neben der winzigen Wohnhöhle und warteten? Er wollte sich bei Minerva über ihre Weckmethode beschweren, aber sie hielt ihm den Mund zu und ruckte dann mit dem Kopf in die Richtung des breiteren Tunnels, der zu der Höhle führte. Da das Öl der Lampe fast aufgebraucht war, hatte Minerva den Docht gekürzt, was zur Folge hatte, dass nur noch ein Umkreis von vielleicht zwei Schrittlängen beschienen wurde. Jenseits dessen konnte Sting nichts weiter erkennen, weshalb er den Kopf schräg legte und lauschte. Schließlich konnte er ein ganz leises Tappen hören. Viel zu leise, als dass es von Adrim oder Elias stammen könnte, zumal keiner der Beiden einen Grund hatte, jetzt schon hierher zu kommen. Draußen hatte der Sturm vor einer Weile auf einmal wieder an Kraft gewonnen. An einen Aufbruch war noch lange nicht zu denken. Neben sich spürte Sting Minervas Anspannung und ganz unwillkürlich beugte er sich selbst etwas weiter vor und versuchte angestrengt, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Dennoch kam es für ihn völlig überraschend, als das Mädchen knapp außerhalb des Lichtscheins auftauchte. Aus der Nähe sah es noch schlimmer aus. Es war kaum mehr als Haut und Knochen, seine dreckigen Haare waren unordentlich gestutzt worden – nicht dass Sting glaubte, er könnte sich selbst die Haare besser schneiden. Die Tunika und die Hose waren unzumutbare Lumpen. Zum wiederholten Mal fragte Sting sich, wie dieses Mädchen es geschafft hatte, so lange alleine zu überleben – denn dass es schon länger als nur ein paar Mondumläufe in der Wüste lebte, stand wohl außer Frage. Stings Blick fiel auf ein Messer, welches das Mädchen an der Hüfte trug. Die Schneide war unregelmäßig abgehauen worden, teilweise schartig und sogar brüchig, ganz offensichtlich nicht die Arbeit eines kundigen Waffenherstellers – und dennoch eine respekteinflößende Waffe. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass es aus einem Basilikenzahn bestand. Selbst für Reiter mit vielen Zyklen Erfahrungen war es so gut wie unmöglich, an einen intakten Basiliskenzahn heran zu kommen. Einem lebenden Basilisken konnte man die Zähne nicht entfernen, nicht einmal einem Schlüpfling. Die Giftkonzentration im Speichel, der auch die Zähne tränkte, war zu gefährlich, ätzte sich selbst durch dicke Lederhandschuhe. Immerhin konnten schon winzige Tropfen Basiliskengift fürchterliche Narben hinterlassen. Die Zähne toter Basilisken waren durch eben jenes Gift meist schon zu porös, weil Basilisken aus einem Instinkt heraus mit ihrem letzten Atemzug noch mal eine besonders hohe Dosis Gift in ihrem Rachen sammelten. Die einzige Gelegenheit war im Grund der regelmäßige Zahnwechsel der Sandschlangen, aber die meisten dieser Zähne wurden von den Drachenartigen selbst verschluckt und die wenigen, die ausgespuckt wurden, wurden nur allzu schnell vom Wüstensand vergraben. Solch einen Zahn zu finden, war der reinste Glücksfall. Als das Mädchen ein Krächzen ausstieß, richtete Sting seine Aufmerksamkeit wieder auf das schmale, hohlwangige Gesicht. Die braunen Augen huschten hin und her und die ausgetrockneten Lippen zitterten. Mehrere Herzschläge lang schien das Kind um Worte zu ringen, dann riss es die rechte Hand hoch, in der es das Säckchen mit den Apfelringen hielt, und würgte ein kaum verständliches Danke hervor. Hastig beugte es sich vor und ließ das Geschenk vor Stings und Minervas Füßen zu Boden fallen, ehe es sich wieder in sicherem Abstand hinkauerte. Angesichts des schlankeren Inhalts stand außer Frage, dass das Mädchen sich tatsächlich an den Apfelringen bedient hatte. Ein strahlendes Lächeln bereitete sich auf Stings Gesicht aus und er beugte sich aufgeregt nach vorn. „Dafür brauchst du nicht zu danken! Freut mich, dass sie dir geschmeckt haben!“ Das Mädchen zuckte wieder zurück und Sting brauchte nicht Minervas Rippenstoß, um zu begreifen, dass er zu laut gesprochen hatte. Dennoch knurrte er unwillig, als Minerva ihn zurück an die Wand zog, ehe sie das Wort ergriff. „Tut mir Leid, dieser Dattelkopf hat dich wahrscheinlich erschreckt, oder? Das ist seine Spezialität, aber er ist harmlos, versprochen.“ Obwohl die Worte alles andere als schmeichelhaft für seine eigene Person waren, staunte Sting doch eher über Minervas Tonfall. Er war es gewohnt, dass sie sehr brüsk mit ihrer Meinung umging. Selbst gegenüber Erwachsenen bemühte sie sich selten um einen respektvollen Tonfall. Ihr Stolz verlangte wohl von ihr, so auf die Leute zu reagieren, wie sie sich ihr gegenüber verhielten. Aber hier und jetzt klang sie sehr sanft und ruhig, beinahe schon schwesterlich. Dass Minerva zu derartigen Zügen in der Lage war, wusste Sting, er hatte die feinen, kleinen Anzeichen zu erkennen gelernt. Doch es überraschte ihn, dass sie diese Seite ausgerechnet gegenüber einer Fremden so bloßlegte. Vielleicht lag es daran, weil dieses Mädchen keine Fremde war. Nicht für Minerva und auch nicht für Sting. Zumindest fühlte es sich nicht so für den Jungen an. „Ich bin Minerva“, fuhr sie leise fort und streckte vorsichtig eine Hand aus, die leere Handfläche demonstrativ nach oben gerichtet. „Und ich bin Sting“, flüsterte Sting und legte seine Hand mit nach oben gerichteter Handfläche auf Minervas. Das Mädchen streckte beinahe sofort eine Hand aus, zog sie jedoch fast genauso schnell wieder zurück, als wäre es über seine eigene Waghalsigkeit erschrocken. Unruhig verlagerte es sein Gewicht von einem nackten Fuß auf den anderen, während sein Blick zwischen den beiden älteren Kindern hin und her huschte und seine Hände sich immer wieder zu Fäusten schlossen und dann wieder öffneten. Schließlich kroch es eine Fußlänge nach vorn, streckte wieder die Hand aus, zog sie wieder zurück. Sting zwang sich, ruhig zu bleiben und einfach nur in die Augen des Mädchens zu blicken, sobald das mal möglich war. Als sich schließlich eine winzige, zitternde Hand in seine legte, machte sein Herz einen freudigen Hüpfer. Neben ihm bewegte Minerva ganz behutsam ihre Hand, bis sie die des Mädchens abdeckte. So als würden sie und Sting die Jüngere umhüllen und beschützen. Selten zuvor hatte sich ein Gedanke für Sting so richtig angefühlt wie dieser. Und mit jedem Herzschlag ließ das Zittern der mageren Finger nach und das Mädchen traute sich endlich, richtigen Blickkontakt herzustellen. Dann öffnete es die Lippen und krächzte ein einziges Wort. Es schien ihm schwer von der Zunge zu gehen – wer wusste, wie lange es schon nicht mehr gesprochen hatte? – und war beim ersten Mal vollkommen unverständlich. Unzufrieden mit diesem Misserfolg kaute es sich auf der Unterlippe herum. Sting spürte mehr, als dass er es sah, wie Minervas Finger sich ganz zwar um die des Mädchens schlossen, und er imitierte die Geste. Das schien der Jüngeren genug Mut einzuflößen, es ein zweites Mal zu versuchen. Es war immer noch ein heiseres Krächzen, aber dieses Mal war für Sting vollkommen klar, dass es der Name seiner neuen Freundin war: „Yukino.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)