Memphis von Teilzeit_Otaku (against humanity) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 1. Kapitel Leise stieg Bo in seine Jeans und schloss den Hosenknopf, abermals wanderte sein Blick zu seinem Gastgeber, welcher friedlich in seinem Bett schlummerte. Bemüht geräuschlos sammelte er zwei Socken vom Boden auf und stülpte sie sich über die Füße, obwohl er nicht genau sagen konnte, um wessen Socken es sich dabei handelte, geschweige, ob er nicht gänzlich zwei verschiedene anzog. Er bat inständig, es handelte sich um seine eigenen Socken, denn obwohl er mit Kyle bereits ganz andere Dinge teilte, so widerte ihn die Vorstellung von Kyles getragenen Socken durchaus an.   Fluchend wendete Bo sich in dem dunklen Zimmer hin und her, wo hatte er in der vergangenen Nacht sein Oberteil hin verfrachtet? Er sollte dringend die Einstellung überdenken seine Kleidung wild durch fremde Leute Schlafzimmer zu werfen - zumindest wenn er sich bei Tagesanbruch herausschleichen wollte. Missmutig gab er sich geschlagen und klaubte sich einen Pullover vom Ende des Bettes, fester Überzeugung Kyle würde dieses Oberteil so schnell schon nicht vermissen.   Rasch sammelte der junge Mann seine Boots vom Boden auf und setzte sich auf die Bettkante um Hineinschlüpfen, denn der Geräuschpegel stieg vermutlich um einiges, sollte Bo versuchen wie ein schwerfälliger Affe auf einem Bein sein Gleichgewicht zu halten.   Triumphierend verknotete er bereits die Schnürsenkel des zweiten Schuhs, als ihn das Rascheln von Bettwäsche in seinem Tun unterbrach. Ganz nach dem Motto 'Wenn ich dich nicht sehe, dann siehst du mich auch nicht', schloss der Brünette seine Augen und lauschte in die Dunkelheit. Eine quälende Stille lag in der Luft, doch gleichzeitig ließ sie in Bo auch Hoffnung aufkommen: Vielleicht hatte sich Kyle lediglich im Schlaf herumgewälzt, der Brocken schlief in der Regel sowieso sehr unruhig. Eigentlich war ihm im Moment alles lieber als ein munterer Kyle der ihn nur wieder verhöhnte.   Gerade als sich Bo wieder seinem Schuh zuwenden wollte, strichen ihm fremde Finger die Haare aus dem Nacken, gefolgt von Küssen, die beinahe zärtlich seine Haut bedeckten. Die Hoffnung, Kyle schlummerte brav im Land der Träume, floss dahin.   „Guten Morgen …“, brummte Bo leise, kaum hörbar und verfluchte sich selbst, hätte er doch einfach ein paar Sachen zusammengesammelt und sich draußen angezogen. „Versuchst du dich wiederholt klammheimlich aus meinem Schlafzimmer zu schleichen?“, ertönte die schlaftrunkene Stimme seines Gastgebers, während dessen Lippen weiterhin vereinzelte Küsse auf seinem Hals verteilten. Bos Finger verkrampften sich in dem Stoff seiner Jeans, am liebsten hätte er Kyle von sich gestoßen und ihm seine Grenzen ein für alle Mal verdeutlicht.   „Heimlich?“, murmelte Bo bemüht entspannt, „Heimlich ist solch ein negativ belastetes Wort, mir lag lediglich etwas daran, dass du ausschlafen kannst. Ich weiß doch, wie früh du immer in die Fabrik musst …“.   Ein Arm legte sich um Bos Mitte und Kyle zog ihn weiter auf das Bett, dichter an ihn heran. Sobald Kyle schlief, begann sein Körper eine beinah unangenehme Hitze auszustoßen, eine aufdringliche Wärme, welche Bo nicht sonderlich zusagte. „Lügen ist ganz und gar nicht nett, Bo …“, Bo fühlte, wie sich Kyles Brustkorb gegen seinen Rücken drückte und eine Hand über seinen Oberschenkel strich, „Willst du denn wirklich schon gehen?“ Die fremde Hand wanderte weiter in Richtung Lendengegend, was Bo ein wütendes Schnauben entlockte. Hastig befreite sich der junge Mann aus den Armen seines Gastgebers und stieg aus dem Bett: “Wir sind durch für eine Nacht, außer du willst mir die doppelte Menge an Memphis geben, dann steige ich bereitwillig zurück auf die Matratze“.   Die Antwort ließ auf sich warten. Stöhnend warf sich Kyle zurück in die Kissen und vergrub sein Gesicht in den Händen, rieb sich über die Augen „Warum musst du aus der schönsten Nebensache der Welt, solch ein billiges Arrangement machen?“ Eventuell da es exakt solch ein billiges Arrangement war, dachte sich Bo. Kyle besorgte das nötige Memphis und als Gegenleistung versüßte Bo ihm die kalten Nächte – ein fairer Handel fand der Brünette. Zumindest wenn man darüber nachdachte, wie enorm die Preise für hochwertiges Memphis derzeitig stiegen. Bo bezeichnete sich gerne als Realist, er könnte dieses Zeug niemals mit Geld bezahlen, zumindest nicht in dieser Qualität.  „Du weißt, ich gebe dir das Memphis aus ohne deine äußerst nette Gegenleistung“, Kyle klang gönnerhaft und überheblich, eine Mischung, die in Bo eine ungeahnte Abneigung schürte. „… “, Bo verzog das Gesicht und schüttelte deine braune Haarmähne, „Ich brauche keinen gutmütigen Samariter, mir liegt auch nichts daran in deiner Schuld zu stehen, denn es wird dich überraschen, aber ich bin durchaus in der Lage für meinen Bedarf selbst aufzukommen“.   „Könntest du für das Memphis ‚selbst aufkommen‘, dann würdest du deinen Arsch nicht regelmäßig in mein Bett drängen …“, Kyle nahm seine Hände aus dem Gesicht und richtete sich erneut mit dem Oberkörper auf. Egal wie vehement Bo es abstritt, Kyle konnte man durchaus als ansehnlich bezeichnen: Hochgewachsen, definierte Muskeln, breites Kreuz, sonnengebräunte Haut und ungewöhnlich blaue Augen – auch wenn ihm das kurz geschorene schwarze Haar etwas Militärisches gab. Ehrlich gesagt widerte Kyle den jungen Bo überhaupt nicht an, vielmehr ekelte Bo sich vor sich selbst. Wie tief musste man sinken, um seinen eigenen Körper für ein paar Drogen zu verkaufen, zumindest wenn das billige Memphis reichte, doch hierbei ging es nicht allein um Bo.   „Fick dich, Kyle“, entkam es Bo und er wendete sich zum Gehen ab, sollte Kyle doch denken, was er wollte. Der Brünette stand gewiss über diesen Sticheleien, zumindest versuchte er es akribisch. „Kein Bedarf, ich warte lieber, bis du wiederkommst, Bo ...", der Schwarzhaarige klang amüsiert, „Und so wie ich dich kenn, kann ich alles sagen was mir in den Sinn kommt, du wirst dennoch in einer Woche an meiner Türschwelle stehen“. Wetternd riss Bo die Schlafzimmertür auf „Fick dich! Fick dich! Fick dich!". Wie konnte ich mir gerade solch einen Vollidioten aussuchen, überlegte Bo eindringlich. Wütend schmiss er die Tür hinter sich ins Schloss und lief durch den kleinen Wohnbereich bis zur Kommode vor der Ausgangstür, griff nach seiner ausgefransten Umhängetasche. Kyle war nicht mehr als ein überheblicher Bastard mit einem viel zu großen Ego. Für wen hielt der Spinner sich, dachte er fluchend. Kaum schulterte Bo die Tasche, riss er das oberste Fach der Kommode auf, mittlerweile wusste er, wo Kyle das Memphis für ihn lagerte – dachte er zumindest: „Kyle! Du mieser Kleiner …“. Bo hielt nicht mehr an sich und schrie durch die Wohnung: „Kyle, du Mistkerl, wo ist das Memphis?“. Die Schlafzimmertür ging auf und nur wenige Schritte später stand Bos Stammdealer in Jogginghose vor ihm. Er schien sich über Bos Wutausbruch köstlich zu amüsieren, eine Tatsache, die den Brünetten nur noch wütender machte. „Wenn du weiter schreist, dann weiß bald die gesamte Nachbarschaft, dass ich mit Memphis deale …“, er wirkte kein bisschen besorgt, lehnte sich nur lässig gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, „Wo liegt das Problem, Bo?“   „Du fragst mich ehrlich, wo das Problem liegt?“, Bo fragte sich ernsthaft, ob Kyle ihn auf den Arm nahm. Am liebsten hätte er ihm die Finger um den kräftigen Hals geschlungen und solange gedrückt, bis Kyle das Atmen aufgab. „Wo ist das verfickte Memphis?“, forderte Bo zu wissen und deutete energisch auf die leere Schublade. „Ich schwöre dir, wenn du versuchst mich über den Tisch zu ziehen, dann …“, bemüht bedrohlich ging Bo auf Kyle zu und tippte mit dem Zeigefinger auf dessen Brustkorb, „Wir haben einen Deal und du scheinst dich nicht daran zu halten. Das ist Vertragsbruch!“ „Was für ein Vertrag?" „Kyle!"   „Durchatmen, Bo. Ich wollte dich lediglich daran hindern, ohne einen Abschiedskuss zu verschwinden", er stieß sich von der Wand ab und ergriff Bos Hand, mit welcher dieser ihn zuvor stocherte, „Ich fühle mich immer so benutzt, wenn du einfach so gehst“. Bo gelang es nicht seine Mimik zu kontrollieren und er rollte mit den Augen, Kyle war mit Abstand der schlechteste Schauspieler, den Bo kannte.   „Wie heißt die wichtigste Regel unserer Vereinbarung?“, fragte Bo, doch vermutlich musste er nicht erwähnen, dass diese Frage rhetorischer Natur war. „So wie jeden anderen Prostituierten, darf ich auch dich nicht küssen ...", seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und schmeckte nach einer ordentlichen Portion Hohn sowie Spott. Ohne Bos Reaktion abzuwarten, verließ Kyle den Raum und lief zurück ins Schlafzimmer. Wenige Sekunden später tauchte er mit einer kleinen Plastiktüte wieder auf: „Zehn Spritzen feinstes Memphis – frisch aus der Fabrik – zur Unterdrückung von Kräften, nur für dich“. Schnaufend riss Bo ihm die Tüte aus der Hand und verstaute diese sofort in seiner Tasche „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich hasse …“. Noch ehe Bo reagieren konnte, umfassten Kyles Hände seine Schultern und dirigierte ihn mit dem Rücken gegen die Tür „Und ich weiß, dass du es nicht tust …“ Der Brünette knirschte mit den Zähnen, würde er selbst kein Memphis konsumieren, dann könnte Kyle nicht so mit ihm umspringen. Eine Hand wanderte empor und legte sich in Bos Nacken, die andere strich begierig seinen Brustkorb hinab „Ich meine es ernst, ich will einen Kuss …“   „Fick dich, Kyle …“   „Bist du diesen Spruch nicht langsam leid?“   „Ich bekomme kaum genug davon“, erklärte sich Bo und versuchte Kyle von sich zu drücken, was allerdings nur bezweckte, dass dieser näher rückte, „Ich meine es ernst Kyle, geh weg und lass mich los!“ Der Griff in Bo seinem Nacken verstärkte sich beinahe schmerzhaft. „Ich bin wirklich erstaunt, was ein Mensch für ein wenig Memphis alles mit sich machen lässt“, murmelte Kyle und Bo konnte den warmen Atem seines Gegenübers fühlen, ebenso wie den Dreitagebart der leicht über seine Wange kratzte. „Aber leider weiß ich auch …“, begann Kyle, „Wir haben nur so guten Sex, da du weißt, dass ich niemals gegen deinen Willen handle.“ Er wirkte beinahe zerknirscht, als er die Hände von Bo nahm und somit für einen gewissen Abstand sorgte. Erleichtert atmete Bo auf, ließ Kyle allerdings keine Sekunde aus den Augen „Ich kann also davon ausgehen, dass du fertig bist?“   „Dir steht es frei zu gehen“.   „Wie gütig …“, am liebsten hätte Bo seinem Dealer vor die Füße gespuckt, in ihm wütete eine Mischung aus Wut und Verachtung, „Du bist so ein Drecksack.“  Eilig und mit klopfendem Herzen verließ Bo die Wohnung, folgte den schmalen Treppen bis zur Ausgangstür des Wohnhauses und trat einen herumstehenden Pappkarton beiseite, welcher ihn fast zum Stolpern brachte.  Überall Dreck, Ratten und Kakerlaken, dachte der Brünette und versuchte sich damit abzulenken, hoffte auf Gedanken die Kyle aus seinem Kopf drängten. Müde schloss er seine Augen und lehnte die Stirn gegen die morsche Holztür, die Klinke fest umschlossen. Aufdringliches Verhalten war für Kyle nicht untypisch, doch seit wann benahm er sich so beharrlich? Seit wann störte es ihn, dass sie sich nicht küssten? Immerhin pflegten sie eine Geschäftsbeziehung und waren gewiss kein Liebespaar. Er wendete sich um und ließ sich mit dem Rücken an der Tür herabgleiten, wischte herumliegendes Zeitungspapier wirsch beiseite und schreckte damit eine Ratte aus ihrem Versteck, welche sofort hektisch die Treppen erklomm und im Erdgeschoss verschwand „ …“.   Noch eine Weile sah Bo dem Nager nach, den Hinterkopf gegen die Tür gelehnt und die Arme entspannt auf den angewinkelten Knien positioniert. Worüber wollte sich Bo schon groß beklagen, so falsch lag Kyle doch gar nicht. Es war durchaus erstaunlich, was Menschen für ein bisschen Memphis taten, vermutlich würde Bo dafür sogar seine Seele verkaufen. Was für ein lächerlicher Vergleich: Seine Seele zu verkaufen empfand Bo als vertretbar, doch bei einem Kuss führte er sich auf wie ein kleines Mädchen – und es wunderte ihn noch, dass Kyle ihn nicht für voll nahm? Bo schnaubte und schüttelte seinen Kopf, sein eigenes Verhalten betrübte ihn, doch war es so verwerflich eine Grenze zwischen ihm und Kyle zuziehen? Konnte Kyle es ihm tatsächlich verübeln? War es so falsch und könnte Bo es nicht einfacher haben indem sofort alles gab was sich dieser wünschte?   Müde erhob sich Bo von dem dreckigen Fußboden und klopfte sich den Staub von der Hose. „Hör auf in Selbstmitleid zu baden, Bo“, tadelte er sich selbst, er kannte Kyle bereits so lange und weigerte sich weiter über ihn nachzudenken, besonders da die wenigen Sonnenstrahlen, welche durch die verstaubten Fenster brachen, einen neuen Tag ankündigten. Wie meinte seine ältere Schwester einmal zu ihm: Schleppe deine Sorgen niemals länger als einen Tag mit dir herum. Kapitel 2: ----------- Kapitel Zwei Bo trat hinaus auf die Straße, Nebel lag über den schmalen Gassen, verschlang alles in Reichweite und versteckte das umliegende Geschehen vor neugierigen Blicken. Der Morgen graute bereits und tauchte den Nebel in ein sattes Rot, ein durchaus schöner Anblick, doch ebenso gewöhnlich. Die einzelnen Straßen waren schmal, höchstens vier Leute passten zur selben Zeit aneinander vorbei, ein Haus reite direkt um nächsten, hoch, schlank und selten ganz aus Beton. Häufig waren die Häuser aus Metallresten erbaut, welche man auf dem Sperrmüll der High-Class fand. In den Slums von Last York lernten die Menschen rasch, dass man kreativ sein musste, um zu überleben, hier fiel einem nichts in den Schoss, doch dafür passten die Menschen aufeinander auf. Die Stromleitungen hingen kreuz und quer von Haus zu Haus, dazwischen unzählige Wäscheleinen. Seine Füße trugen ihn weiter die Straße hinab, ein paar Abbiegungen entlang und eine Handvoll Treppen hinab, wer sich in den Slums nicht auskannte und die Marktstraße verließ, konnte schnell die Orientierung verlieren. Als Bo den Schutz der engen Gassen verließ und auf den Marktplatz trat, streckte er sich ausgiebig. Der rote Marktplatz war einer der wenigen freien Plätze in den Slums, insgesamt gab es vier – einen für jede Himmelsrichtung. Hier würde sich in wenigen Stunden das Leben der Anwohner abspielen. Bereits jetzt sah man die Menschen ihre Läden vorbereiten und die Stände aufbauen, ein tägliches und immer wiederkehrendes Ritual. Ein Schmunzeln schlich sich auf Bo seine Lippen, als er den blassroten Pflastersteinen folgte und eine Frau vor dem einzigen Blumenladen weit und breit entdeckte. „Iris!“ rief er und winkte der Frau zu, welche sich verwundert von ihren Blumen abwandte. Iris Dots, eine hochgewachsene, recht drahtige Frau mit blondem Haar, welches langsam ergraute. Sie war bekannt für ihre gutmütige Art und das herzliche Lächeln – Eigenschaften mit denen sie Menschen, wie Bo, stets anlockte. Vor nicht allzu vielen Jahren sammelte sie Bo auf der Straße auf und nahm ihn mit in ihr Haus. Er erinnerte sich noch als wäre es gestern gewesen: Sie kochte ihm einen Tee und einen Eintopf, den nur seine eigene Mutter hätte besser gekocht. Ihr Mann scherzte damals, sie sollte nicht immer jeden Streuner aufsammeln, den sie sah. So skurril es klang, dieser Tag zählte zu Bo seinen schönsten Erinnerungen, vermutlich bemühte er sich daher um eine gute Beziehung zu Iris und ihrer Familie – es waren immerhin herzensgute Menschen und er verdankte ihnen eine Menge. „Oh, mein Lieber“, kaum erreichte der junge Mann die Ladenbesitzerin, legte diese ihre Arme um Bo und zog ihn in eine feste Umarmung, „Schön dich zu sehen, wie ist es dir ergangen?“ Fast schon beschämt schlug Bo seine Augenlider herab „Wir haben uns doch erst vor einer Woche gesehen …“ So liebenswürdig Iris war, ihre mütterliche Art verunsicherte Bo jedes Mal aufs Neue, dennoch erwiderte er die Umarmung und schloss für einen Moment seine Augen – diese Art von Nähe tat ihm ausgesprochen gut. Iris streckte sich ein wenig, um Bo einen Kuss auf die Wange zu hauchen: “Und wie oft bitte ich dich darum, uns öfters zu besuchen? Du weißt, wir haben dich gerne hier, mein Lieber.“ Sie löste die Umarmung und Bo unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen, am liebsten hätte er sich sofort die nächste Umarmung abgeholt. Iris stupste dem Brünetten gegen die Nase, wendete sich von ihm ab und deutete Bo mit einem Handzeichen an ihr zu folgen „Schau nicht wie ein ausgesetzter Welpe, komm rein, der Tee müsste noch warm sein". „Ich habe aber nicht viel Zeit, ich möchte noch zu meiner Wohnung, bevor ich zur Arbeit muss ...", rasch folgte er ihr in den kleinen Laden, welcher noch unbeleuchtet war und lief wie gewohnt durch die Tür am anderen Ende, direkt hinter der Kasse. Wie beinahe alle Bauten in den Slums konnte man auch Iris ihr Haus nicht unbedingt als groß bezeichnen. Es kam nicht selten vor, dass sich große Familien nicht mehr als zwei bis drei Räume teilten und diese waren üblicherweise auch nicht sonderlich weitläufig. Bei Iris sah es ähnlich aus: Die Küche stellte den Dreh- und Angelpunkt des Hauses dar. Sie war verhältnismäßig groß und besaß sogar eine Sitzecke aus abgenutzten Polstermöbeln, vermutlich vom Sperrmüll. Den meisten Platz nahm der große Esstisch ein, welcher mitten im Raum thronte, umrandet von jeweils unterschiedlichen Stühlen. Dahinter gab es eine Treppe ohne Geländer, die gewiss aus besseren Zeiten stammte. Der angenehme Geruch von aufgebrühtem Kräutertee wanderte durch die Räumlichkeiten und Bo atmete den Duft genießerisch ein. „Ah, bevor ich es vergesse …“, rasch öffnete Bo seine Tasche und kramte die Tüte mit den Spritzen hervor. Sorgfältig zählte er acht Spritzen ab und legte sie auf den Esstisch. Seit dem Tod von Iris ihrem Mann übernahm Bo freiwillig die Aufgabe Iris und ihre Familie mit Memphis zu versorgen – seine Art sich für all die Dinge erkenntlich zu zeigen, zumal er erleichtert war, dass Iris niemals fragte, wie er das Memphis finanzierte. Die Ladenbesitzerin machte sich daran eine Tasse mit Tee zu füllen und nickte dankbar in Bo seine Richtung. „Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne deine Hilfe tun würde …“, lächelnd reichte sie ihm die Tasse, strich ihm fürsorglich über die Wange, „Du bist ein wahrer Segen für unsere Familie, besonders jetzt wo Marten …“ Sie musste nicht weitersprechen, Bo wusste bereits, was sie bedrückte. Vor einigen Wochen fiel ihm das Aufblühen ihres jüngsten Kindes selbst auf. Wie auch nicht, wenn er mir einer leblosen Maus das Haus betrat und dieses Tier wenige Sekunden danach munter herumsprang. Bereits Kathy, Iris Tochter, zeigte vor einigen Jahren ein Aufblühen und nun traf es ebenso den jungen Marten. Aus diesem Grund gab Bo über die Hälfte seines Memphis an Iris ab, sie benötigte es dringender als er selbst. Umso älter man wurde, desto seltener musste man Memphis zu sich nehmen, um die eigenen Fähigkeiten zu unterdrücken. Doch Kinder brauchten die Droge in einer höheren Dosis. Obwohl Droge das falsche Wort war, eigentlich handelte es sich lediglich um ein illegales Medikament. Blass und mit verzweifelter Miene setzte sich Iris auf einen der Stühle „Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn sie es herausfinden. Sie werden mir die Kleinen wegnehmen und sie in eine dieser fürchterlichen Einrichtungen sperren ...". Abgesehen davon, dass sie in diesem Fall Iris ihre Kinder nahmen, sorgte Bo sich eher um Iris ihr Leben. Keiner von ihnen wurde je beim Staat gelistet, damit galten sie als Kriminelle und hier griff weiterhin die Todesstrafe. Sie würden diese Frau noch vor den Augen ihrer Kinder hinrichten - ein Exempel statuieren. Bo stellte die Tasse beiseite und ging auf Iris zu, legte ihr aufmunternd seine Hand auf die Schulter „Mach dir keine Sorgen, ich habe Novus versprochen, mich um euch zu kümmern. Sorge einfach dafür, dass Kathy und Marten regelmäßig das Memphis nehmen, alles andere ist nebensächlich …“. Unter dem Einfluss des Memphis waren sie kaum bis gar nicht in der Lage ihre Fähigkeiten einzusetzen, zusätzlich erschwerte es die Möglichkeiten die Mutation mit einfachen ärztlichen Tests im menschlichen Organismus nachzuweisen – allerdings nur bei regelmäßiger Anwendung. Bo verließ das Haus noch bevor Kathy und Marten aufstanden, er liebte die beiden, doch zwei Kinder am frühen Morgen waren ihm einfach zu viel – besonders nach solch einer durchzechten Nacht. Bei dem Gedanken an Kyle verzog Bo sein Gesicht zu einer Grimasse, er wollte nicht über diesen Idioten nachdenken und dennoch spukte das ungewöhnliche Verhalten des Älteren in Bos Kopf herum, setzte sich fest wie Kleister. Das vergangene Jahr schienen die Grenzen und Regeln zwischen ihnen immer klar. Kyle hielt sie ein und forderte niemals mehr, bis heute. Doch was hatte sich in dem Dealer geänderte, was führte ihn dazu nun mehr zu verlangen? „Bo?“, ertönte eine Stimme in der Ferne. In Gedanken vertieft hatten seine Beine den Weg zu seiner Wohnung wie von selbst gefunden, kein Wunder also, dass nicht weit entfernt seine Nachbarin auf ihn wartet. „Da kann ich ja lange klopfen“, amüsierte sich die ältere Dame, „Ich war gerade bei Don und habe mir ein paar seiner Spezialitäten geholt, dir habe ich natürlich auch etwas mitgebracht!“ Sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein, als sie in ihren Beutel griff und Bo eine Glasflasche hinhielt. Bo brauchte nicht lange um den weißen Inhalt der Flasche zu erkennen. „Milch?“, fragte Bo verwundert nach und nahm dankend die Glasflasche entgegen. Milch war eine Rarität in den Slums, denn für eine Viehzucht fehlten den Anwohnern einfach die nötigen Mittel und vor allem Flächen. Man konnte gerade einmal so viel anbauen, um die Bewohner sattzubekommen, wie sollte man dann noch Nahrung für die Tiere anbauen. „Don hat einen neuen Job vor der Mauer und wir kennen ihn doch mittlerweile, das Schlitzohr nutzt alles zu seinem Vorteil – hat mich auch ganz schön was gekostet …“, erklärte sie freudestrahlend und kicherte verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand, „Zudem hast du mir letztens so sehnsüchtig von diesem Zeug erzählt, wie konnte ich dir da keine mitbringen? Ich muss dich immerhin hegen und pflegen, es gibt nur wenige Mieter, die ihre Mieten auch bezahlten!“ Da konnte Bo ihr nicht einmal widersprechen, auch wenn er wusste, dass die wenigsten Mietrückstände mutwilliger Herkunft waren. Wenn eine Familie sich zwischen Nahrung und Miete entscheiden musste, dann fiel die Entscheidung wohl meist nicht schwer. Mit einer Vermieterin wie Amanda Bricks hatte man allerdings wirklich ein Glückslos gezogen, sie war eher eine Auffangstelle für Bedürftige, als eine strenge Vermieterin. „Woah, ich weiß gar nicht was ich sagen soll … danke, wirklich“, ungläubig drehte Bo das kühle Glas in seinen Händen umher, wann hatte er zuletzt Milch getrunken? Vermutlich vor seiner Zeit innerhalb der Mauer. „Papperlapapp“, Amanda machte eine Handbewegung, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben, „Du bist ein guter Junge, arbeitest immer so hart, und wenn du dich nicht mal etwas verwöhnst, dann tue ich es halt!“ „Aber …“, startete Bo den kläglichen Versuch ihr zu widersprechen, obwohl er die Flasche bereits schützend gegen seine Brust drückte. Doch Amanda machte keine anstanden die Milch zurückzunehmen: „Jetzt hör auf mit mir zu diskutieren und nimm das Gesöff einfach an. Ich bringe dir immerhin nicht jeden Tag irgendwelche Geschenke vorbei!“ „Ehrlich, Dankeschön …“, am liebsten hätte er Amanda aus Dankbarkeit gedrückt, „Danke“. Amanda gab sich damit zufrieden und verschwand in ihrer Wohnung, ließ Bo auf der engen Straße zurück. Beinahe liebevoll begutachtete er die Glasflasche, Milch erinnerte ihn an seine Heimat, an seine Familie. Diese ruhigen Momente, die sie zusammen am Frühstückstisch verbrachten und Müsli aßen, in welches ihre Mutter liebevoll frisches Obst hineinschnitt. Eine Zeit, in der es alles gab und man nicht für etwas Alltägliches wie Milch zum Schwarzmarkt musste. Eine Welt ohne Sorgen, komplett anders als innerhalb der Mauer. Gähnend lief Bo die rostigen Metallstufen hinauf und öffnete die Tür zu seinem Zimmer, ein Türschloss gab es nicht, man vertraute eher darauf, dass die wertvollen Gegenstände gut genug versteckt waren oder gar nicht erst jemand auf die Idee kam, andere Leute Wohnungen zu betreten. Seine Wohnung war übersichtlich, denn sie bestand lediglich aus einem Raum mit vier Fenstern und einer Haustür. Auf den wenigen Quadratmetern gab es eine Küchenzeile, einen kleinen Tisch mit vier Stühlen, ein Bett und einen mit Vorhängen abgegrenzten Teil, hinter dem sich eine Badewanne und die Toilette befanden. Nicht unbedingt luxuriös, doch es ließ sich darin wohnen, solange die Gäste nicht auf eine ungestörte Toilettensitzung bestanden. Bo verstaute die Milch im Kühlschrank und warf einen Blick auf seine Wanduhr. Um sich noch einmal aufs Ohr zu hauen, fehlte ihm die Zeit, doch für ein kurzes Bad sollte es womöglich reichen. Das klang in seinen Ohren glatt nach einem Plan, ein warmes Bad und eine kalte Milch – beinahe wie im Paradies. Kapitel 3: ----------- 3. Kapitel "Bo, die alte Zippe wartet auf ihre Bestellung. Geht das nicht nen bisschen flotter?", brüllte Bos Chef durch den Laden und sorgte bei Bo für einen leisen Schrei der Frustration. „Wenn du noch jemanden einstellst, dann könnte es eventuell auch schneller gehen!“, konterte er schlecht gelaunt und schmiss den Bagel lieblos auf das Tablett, „Aber solange ich noch nicht gelernt habe mich zu klonen, musst du mit dem gegebenen Tempo vorlieb nehmen!“ Fluchend griff Bo nach einer Tasse und der Kanne mit dem frisch gekochten Kaffee, obwohl er gewiss nicht seine Hand dafür ins Feuer legte, dass es sich bei der dickflüssigen Brühe wirklich um Kaffee handelte. In den Slums musste man eben kreativ werden und Kaffee stand aus diesem Grund nicht auf seiner Liste der Lieblingsgetränke. „Ich kann dich auch kündigen und mir jemanden einstell‘n, der doppelt so schnell seine Arbeit erledigt. Was hältst du davon?“, rief der alte Mann während er versuchte an der Theke das Radio zu reparieren. Seine Worte lösten bei Bo lediglich ein belustigtes Schnauben aus: „Für den Hungerlohn? Träum weiter, Clyde.“ Bos Vorgesetzter beklagte sich gänzlich über alles und jeden, dennoch schlummerte tief in ihm ein weicher Kerl – zumindest suchte Bo diesen seit Jahren mit einer niemals brechenden Überzeugung. Lächelnd brachte Bo der sogenannten ‚alten Zippe‘ ihre Bestellung: „Ein Kaffee und ein Bagel, wie gewünscht, werte Muris …“ Bo lebte größten Teils von seinem Trinkgeld und gewiss nicht von seinem Gehalt, daher legte er viel Wert darauf, jeden seiner Gäste und deren Vorlieben zu kennen. Muris war eine alte Dame, die zum Leidwesen aller Anwohner ein Herz für die größte Plage der Stadt besaß: Ratten. Diese Zuneigung ging so weit, dass sie die kleinen Plagegeister sogar fütterte. Als würden sie auf der Straße nicht bereits genug Reste finden, dachte sich Bo und stöhnte innerlich. Schon allein der Gedanke an diese kleinen Biester ließ ihn erschaudern, beim Einzug in seine Wohnung besaßen diese Nager definitiv die Vorherrschaft, es hatte lange gedauert, bis er sie gänzlich los war. Nicht umsonst fütterte Bo die Straßenkatzen an seiner Türschwelle durch. „Danke, das ist lieb von dir, Junge“, bedankte sich die alte Dame und kramte der Tasche ihres ausgefransten Blasers herum. Warum schienen ihn eigentlich alle Anwohner des Slums mit Kosenamen wie ‚Kleiner‘ oder ‚Junge‘ zu betiteln, immerhin war Bo bereits lange volljährig und an seiner Körpergröße konnte es nun auch nicht liegen. „Bitte. Für dich mein Kleiner, mit Zucker erträgt man Clyde Tabern gleich viel besser …“, in ihrer Hand lag ein kleines grünes Bonbon, der sicherlich schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, dennoch nahm Bo die Süßigkeit an und bedankte sich höflich. Wie viele dieser Geschenke lagen bereits in einer Schüssel hinten im Pausenraum? Er hatte bereits das Zählen aufgegeben. Kaum trat Bo mit dem Tablett in der Hand hinter die Theke zurück, winkte ihn Clyde heran. Belustigt deutete er auf das Bonbon: „Willst du der alten Zippe nicht bald mal sagen, dass sie den Mist behalten kann?“ „Wenn du mir mehr zahlst und ich nicht mehr auf ihr Trinkgeld angewiesen bin“, erklärte Bo gereizt und stellte das Tablett ab, ließ seinen Blick durch die Räumlichkeiten wandern, heute war es ausgesprochen leer - ungewöhnlich. „Pff“, kam es von Clyde, der mit dem Schraubenschlüssel erneut am Radio herumwerkelte, „Als hätt‘ die Zippe dir jemals Trinkgeld gegeben, die zahlt doch selbst ihr Essen nur in diesen Drecksbonbons!“ „Hör auf dich zu beschweren, sonst bezahlt sie uns zukünftig mit Rattenkot, davon hat sie immerhin genug. Und sag mal, wann gibst du es eigentlich auf hilflos in dem Teil herumzuschrauben, besorg dir auf dem Schwarzmarkt doch endlich ein Neues, das kann ja keiner mehr mit ansehen!“, Bo griff nach der Kaffeekanne und goss die Tasse neben seinem Chef voll. Bereits das siebte Mal diesen Monat versuchte Clyde das Radio zu reparieren, selbst er musste doch irgendwann einsehen, dass bei diesem Ding Hopfen und Malz verloren war. Manchmal sollte man sich von Altem trennen. „Werd‘ bloß nicht frech, Bursche. Hast nicht mal Haare im Gesicht und willst mir die Welt erklären. Pah, soweit kommt’s noch!“ Beinahe empört griff sich Bo an die Wange, er besaß sehr wohl einen Bartwuchs, nur nicht sonderlich ausgeprägt. Bo schnaubte: „Beschwere dich nicht, wenn dir Juan heute Abend dieselbe Frage stellt. Dieses Radio hat seine besten Zeiten halt einfach hinter sich!“ Außerdem, wen interessierten die Nachrichten, die Werbung und die Musik von der Welt hinter dieser Mauer? Ganz abgesehen davon, dass Bos Chef mit diesem Radio gegen die Auflagen der High-Class verstieß. Sie Sender von außerhalb durften nicht empfangen werden. „Juan?“, hakte Clyde nach und schüttelte den Kopf, „Der Knirps ist doch ebenso grün hinter den Ohren, werdet erst mal erwachs’n, dann könnt ihr gern eure Meinung herausposaun' …“ Bo hielt sich mit 22 Jahren für erwachsen genug, um über ein kaputtes Radio zu diskutieren, doch scheinbar gingen ihre Meinungen bei diesem Thema sehr weit auseinander. Missmutig gab sich Bo geschlagen und machte sich daran das Geschirr in die Spüle zu räumen „Elender Griesgram …“ „Ich kann dich hören …“, brummte Clyde und strich sich nachdenklich über seinen Bart, eine Geste die Bo häufig an ihm beobachtete. Der junge Mann verstand einfach nicht, warum sein Vorgesetzter so arg an diesem Radio hing. Es stets zu reparieren schien ihm ein zu großer Arbeitsaufwand für ein einfaches Radio. Bos Blick wanderte zur Fensterfront hinaus auf die Straße, kurz darauf begann er zu fluchen und befreite sich hastig von der Schürze, welche um seine Hüfte thronte: „Clyde, kannst du kurz übernehmen?“ „Was? Wo willst du hin, Junge?“, rief ihm sein Chef nach, doch der Brünette ließ sich nicht aufhalten und eilte aus dem Geschäft. Auf die Predigt über seine Arbeitseinstellung, sobald er zurückkam, freute er sich jetzt schon. „Kathy?“, rief Bo und lief dem jungen Mädchen hinterher, „Kathy, bleib stehen! Verflucht, Kathy!“ Bo griff nach dem Arm des Mädchens und zwang sie in ihrer Bewegung zu stoppen. Kathy fühlte sich ertappt, so viel verrieten ihre Augen, doch auch die Rötung entging dem Kellner nicht - sie hatte geweint. „Was machst du hier? Warum bist du nicht in der Schule?“, fragte Bo die Blondine, welche schuldbewusst den Blick senkte und von einem Fuß auf den anderen trat, offensichtlich hatte Katharina nicht damit gerechnet von jemanden beim Schwänzen erwischt zu werden. Eigentlich ziemlich blauäugig, immerhin kannte in diesem Viertel jeder jeden. Irgendwer hätte Kathy schon gesehen und diese Information an Iris weitergegeben. „Kathy?“, wiederholte Bo ihren Namen eindringlich und dachte gar nicht daran ihren Arm loszulassen, „Alles in Ordnung bei dir?“ Es dauerte einen Augenblick bis Kathy leise antwortete: „Verpetzte mich bitte nicht bei Mama …“ Als würde ich sie bei Iris verpfeifen ohne einen triftigen Grund, dachte sich Bo und seufzte leise. „Wirklich?“, Kathy hob ihren Kopf und schien jede kleinste Regung in Bos Gesicht genauestens zu beobachten. Beinahe vergaß Bo, dass Katharina seine Gedanken las und er somit kaum etwas vor ihr verbergen konnte. Ruhig schüttelte er den Kopf und ließ das junge Mädchen los: „Habe ich dich denn jemals belogen?“ Nun war Kathy an der Reihe ihre blonde Lockenmähne herumzuwirbeln. „Wo willst du überhaupt hin, du müsstest meines Wissens nach nämlich eigentlich die Schulbank drücken …“ Iris arbeitete schließlich hart um die Schulgebühren für ihre Kinder zu finanzieren, denn nur die schulische Grundausbildung war kostenfrei, für die weiterführende Ausbildung mussten die Kinder eine Schule an der Grenze zur High-Class besuchen und für diese musste man eine ordentliche Schulgebühr zahlen. Iris verfolgte das Ziel ihren Kindern irgendwann ein besseres Leben zu ermöglich, vielleicht sogar ein Leben in der High-Class oder außerhalb der Mauer. „Es war mir dort heute einfach zu laut …“, begann Kathy mit gesenkter Stimme, „Einfach zu viele Menschen.“ Bo vermutete, dass sie nicht wirklich von den Stimmen der Mitschüler sprach, vielmehr von deren Gedanken. Gedanken, die stets ohne Pause auf Kathy einprallten. „Hast du …“, Bo schaute sich um, niemand schien nah genug um ihr Gespräch mitzuhören, „Hast du das Memphis nicht genommen?“ Erneut senkte Kathy ihren Blick und Bo legte seine Stirn in Falten, natürlich hatte sie es nicht getan. Er verspürte das Bedürfnis die Tochter seiner Ziehmutter an den Schultern zu packen und solange zu schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Warum verstand Kathy nicht, wie wichtig das Memphis für sie war, besonders für die Sicherheit ihrer Familie. Erst vor ungefähr zwei Jahren gab es in den Slums den Übergriff auf die Familie Dorten. Mikael Dorten, der Vater, besaß die Fähigkeit einfache Krankheiten und Verletzungen zu heilen. Seine Arztpraxis eröffnete er bereits in jungen Jahren auf der Marten-Edda-Street und man konnte sie durchaus als gut besucht bezeichnen. Bo war als Kind selbst oft dort. Vor zwei Jahren sickerte die Nachricht über den Wunderheiler der Slums bis zu den roten Wächtern durch, sie kamen in Massen hereingeströmt und in nur wenigen Stunden hatten Sie die Dortens festgenommen: Mikael, Veronica und ihren neunjährigen Sohn Luca. Sie wurden auf dem blauen Marktplatz auf die Knie gezwungen, niemand traute sich auch nur einen Finger zu rühren, um etwas zu unternehmen. Man richtete die beiden Erwachsenen vor allen Augen hin, während sie den Jungen mitnahmen und vermutlich in einen der Einrichtungen brachten. Noch heute erinnerte sich Bo an die flehenden Worte Veronicas, wie sie beteuerte, dass niemand in ihrer Familie jemals etwas Schlimmes tat, man doch nur helfen wollte. Ebenso wie der ohrenbetäubende Schuss und das Blut, welches sich auf dem Blassbauen Kopfsteinpflaster ergoss. Eine Woche durften die Leichen als Mahnung nicht weggeschafft werden, eine nie endende Woche, welche die Angst in jedem Übernatürlichen nur weiter schürte. „Ich weiß, dass es nicht richtig ist …“, riss Katharinas leise Stimme den jungen Mann aus seinen Erinnerungen, „Doch mir wird immer so fürchterlich schlecht davon, es fühlt sich an als würde sich dieses Zeug direkt in meine Venen brennen, um sich danach schmerzhaft kühl seinen Weg durch meinen Körper zu bahnen. Es fühlt sich nicht richtig an …“ Und es wird sich auch niemals richtig anfühlen, dachte sich Bo und schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, wovon Kathy sprach und konnte Ihre Gefühle durchaus nachvollziehen, doch wie sollte er ihr bei diesem Problem helfen? Brüderlich legte Bo dem jungen Mädchen seinen Arm um die Schulter „Komm am besten erst einmal mit zu mir …“ „Und was ist mit Clyde?“ „Vergiss den alten Mann, egal wann ich zurückgehe, er wird mir sowieso den Kopf abreißen …“, es graute Bo bereits davor, doch wusste er auch, dass Clyde Verständnis für ‚Familienangelegenheiten‘ hatte. „Warum ist es hier so verflucht dreckig …“, kam es leise von Kathy, als sie sich angewidert umblickte und Bo die Treppen hinauf in sein Zimmer folgte. Das alte Geländer knarrte bedrohlich und schon oft stellte sich Bo vor, wie schmerzhaft es wohl wäre, hinab in die Tiefe zu stürzen. „Es kann halt nicht jeder direkt am Markt wohnen“, erklärte Bo, doch nahm er Katharina ihre Aussage nicht übel, ganz im Gegenteil, immerhin waren es auch seine ersten Gedanken, nachdem er von Iris wegzog. Umso weiter man vom Marktplatz entfernt wohnte, desto schlimmer wurden die Hygienebedingungen. Immerhin gab es nicht einmal eine anständige Kanalisation, beziehungsweise kaum jemand der sich darum kümmerte. Einige Wohnungen besaßen zudem keine Toiletten, daher sah man nicht selten, wie jemand sein Geschäft notdürftig in einer Seitengasse vollrichtete. „Man gewöhnt sich an alles, den Geruch nimmt man irgendwann nicht einmal mehr wahr …“, Bo schämte sich nicht dafür in diesem Viertel zu wohnen, viel zu stolz war er darauf, sein Zimmer ganz selbstständig zu finanzieren. „Vielleicht sollte ich öfters vorbeikommen, dann stört es mich irgendwann ebenfalls nicht mehr …“, Kathy betrat das Zimmer und lief zielstrebig auf Bos Bett zu um sich und ihre Schultasche darauf fallen zu lassen, „Ist vermutlich keine so schlechte Idee, immerhin lässt du dich in letzter Zeit so selten Blicken, dass es uns mittlerweile echt schwerfällt, dich auf die Straße wiederzuerkennen …“ Der mahnende Unterton in Kathys Stimme entging dem jungen Mann nicht. Schnaufend öffnete Bo seine Schublade und holte eine kleine Sprite, gefüllt mit einer violetten Flüssigkeit, heraus. Er wendete sich zu der Blondine um und warf ihr das Memphis zu: „Werde ja nicht frech, Fräulein.“ „Hättest du mir gesagt, dass ich den ganzen Weg laufe nur, um hier dieses schreckliche Zeug in die Hand gedrückt zu bekommen, dann wäre dort geblieben …“, mürrisch betrachtete das junge Mädchen die Spritze. Missmutig betrachtete Kathy das kleine Gerät in ihren Händen, rollte es hin und her. „Damals waren es noch richtige Spritzen und keine Pens, das fand ich um einiges furchtbarer als ich in deinem Alter war …“, versuchte Bo das Mädchen aufzumuntern, doch scheinbar eher mit minderer Wirkung. „Und als du so alt wie mein Bruder warst, hast du noch überhaupt nicht in der Mauer gelebt …“, kam es verstimmt von Kathy. Bo lehnte sich mit der Hüfte an seine Küchenzeile und musterte Kathy eindringlich. Anfangs fand er den Gedanken sich ein unbekanntes Mittel injizieren zu sollen sehr befremdlich, doch Bo lernte schnell, wie wichtig es war seine Fähigkeiten zu verbergen. Vermutlich missfiel es ihm daher so sehr, dass sich Kathy starrköpfig dagegen wehrte. „Ich gebe mich halt nicht so einfach mit meinem Schicksal zufrieden, wie du es tust …“, antwortete Kathy pampig auf Bos Gedanken, was dem älteren ein wütendes Schnaufen entlockte. „Jetzt pass mal auf, Fräulein …“, Bo stieß sich von der Küchenzeile ab und lief einige Schritte auf Katharina zu, „Klar, du hast deinen Vater verloren, bist mit der Fähigkeit des Gedankenlesens ‚bestraft‘ und musst Memphis zu dir nehmen, aber ist das wirklich ein Grund sich so aufzuführen als wärst du mit deinem Leben absolut gezeichnet?“ Bo wollte Kathy gegenüber nicht ungerecht wirken, doch es fiel ihm schwer, seine Stimme zu kontrollieren. Hatte er sich bisher jemals mit ihr gestritten? Er erinnerte sich zumindest nicht daran. „Wenigstens hast du noch eine Familie die dich umsorgt, darfst eine Schule besuchen und hast Freunde, ein geregeltes Leben. Dennoch spielst du dich auf wie eine verzogene Prinzessin und setzt mit deinem Dickkopf das Leben deiner gesamten Familie aufs Spiel“, er ballte seine Hände zu Fäusten. „Verdammt, selbst Marten nimmt das Zeug ohne so einen Aufstand zu machen und er ist gerade einmal zehn!“, Bo konnte ihre Abneigung doch durchaus nachvollziehen, doch nicht diese Leichtfertigkeit mit der sie alles aufs Spiel setzte. „Ach und dein Leben ist so viel schlechter als meines? Du arme gequälte Seele?“, spottete Kathy und stand nun ebenfalls auf, „Woher willst du bitteschön wissen, ob ich ein schönes Leben habe? Du bist doch nie für uns da! Du grenzt dich von uns ab seitdem ich denken kann und tust so als wüsstest du einfach alles! Wir bekommen dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht!“ Bos Hände entspannten sich, er rang nach Worten: „Kathy …“. „Nein! Nicht Kathy! Was soll dein doofer Satz von wegen ‚Wenigstens hast du noch eine Familie die dich umsorgt‘?“, Kathy schrie schon fast, „Du hast auch eine Familie! Du hast uns! Wir sorgen uns um dich, Bo! Doch du lässt uns gar keine Chance es dir mitzuteilen. Du tust viel lieber so als kennst du uns nicht.“ Die Blondine war außer sich vor Wut, ihre Wangen färbten sich Rot und ihre Augen glitzerten verräterisch. Iris und ihre Kinder waren alles was Bo noch hatte, doch was war wenn er jemals wegen dem Erwerb von Memphis festgenommen würde? Zu wem würden Sie sofort gehen, wenn sie herausfanden, dass Bo nicht nur für sich Memphis besorge? Er wollte Iris und die anderen lediglich beschützen. Er würde es sich niemals verzeihen sie in Schwierigkeiten zubringen. „Kathy …“, Bo ließ den Kopf sinken. Kathy sagte nichts, schaute Bo nur an und für einen Bruchteil der Sekunde dachte Bo darüber nach einfach zu gehen, Kathy in seiner Wohnung zurückzulassen. Er wollte nicht mit ihr streiten, nicht deshalb. „Ich habe dich doch auch lieb, Bo …“, flüsterte Kathy und griff nach Bo seinem Oberteil, hielt es mit einer Hand festumklammert, „Und ob du willst oder nicht, du gehörst zu unserer Familie …“ Sie kam einen Schritt näher und legte Bo ihre Stirn gegen den Schulter „Und wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich das Memphis ohne weitere Diskussionen nehmen …“. Zögerlich legte Bo ihr seine Hände auf den Rücken, drückte die sechzehn Jährige an sich. Vielleicht war dieser kleine Wutausbruch seitens Kathy wirklich einmal nötig gewesen. Ein solch junges Mädchen sollte nicht alles in sich hineinfressen. Er strich ihr durchs Haar und schloss für einen Moment seine Augen: „Danke …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)