»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil acht: »Agape« ------------------- Fahles Licht und abstruse Geräusche waberten durch das Zimmer. Stimmen unverständlich, Töne in unnatürliche Längen gezogen. Watte umhüllte ihn und verschluckte fast alle Empfindungen, außer die vagen Bewegungen in seiner Nähe. Sie berührten sich nicht, aber seine Gegenwart reichte aus, um das flaue Gefühl in seinem Magen zu dämpfen. Neben ihm am Bettpfosten lehnend starrte er auf den Fernseher, doch seine Sicht verschwamm regelmäßig im Karussell seines Deliriums. Als schließlich leise Schatten ihre Arme nach ihm ausstreckten, nahm er sie dankbar bei der Hand und ließ sich von ihnen entführen.   Ein dumpfes Pochen holte ihn zurück. Der schwache Schein des Sonnenaufganges bohrte sich durch seine Augen und ließ ihn leise aufstöhnen. Diese Form von Schmerz kannte er noch nicht – eine neue Art, die er definitiv nicht vermissen würde. Yuri hätte nicht vermutet, dass selbst schwaches Licht so unangenehm sein konnte, deswegen vergrub er schutzsuchend das Gesicht in der Schulter, auf die er seinen Kopf gebettet hatte. Von Sekt würde er in Zukunft definitiv seine Finger lassen. Wenige Sekunden verharrte er, genoss die wiedergewonnene Dunkelheit und den vertrauten herben Geruch in seiner Nase -  um dann ruckartig seine Augen wieder aufzureißen. Das Gefühl in ein Vakuum gezogen zu werden breitete sich in ihm aus und quetschte seine Lungen zusammen. Die Umgebung um ihn herum vibrierte. Sein bis eben noch friedliches Herz donnerte gegen seine Brust. Das Hotelzimmer ruhte still im Zwielicht des Tagesanbruchs. Der Fernseher war ausgeschaltet. Nur schemenhaft konnte Yuri die Umrisse von sich und Otabek erkennen, beide mit ausgestreckten Gliedern das Bett einnehmend. Yuris Bein schlang sich um Otabeks Unterschenkel. Ihre Füße berührten sich, genauer gesagt vereinnahmte Yuri Otabeks gesamte rechte Seite. Yuris Position ließ keinen Blick in sein Gesicht zu. Unter seinem Ohr spürte er seinen Herzschlag, emsig und gesund. Sein Atem ging schwer und tief. Ein beruhigendes Lied, dass nicht nur Wärme, sondern auch Anziehung verströmte. Yuri fühlte sich wie in einem surrealen Traum gefangen und gleichzeitig war dies sein wachster Moment seit langer Zeit. Unter größter Mühe zwang er sich zur ruhiger Atmung. Er wusste nicht, was gerade vorging, jedoch nahm das Gefühl, dass es etwas zu bedeuten hatte, all seine Sinne ein. Vor Aufregung bewegungsunfähig blieb er an Ort und Stelle, wagte es nicht von Otabek abzurücken und ihn damit eventuell zu wecken … falls er überhaupt schlief. Wie konnte er sich da sicher sein? Lieber performte er einen Paarlauf mit JJ, als den Kopf zu heben und es herauszufinden. Stattdessen verharrte er und lauschte den tiefen Atemzügen unter ihm, spürte das vertraute Kribbeln seiner Finger. Otabeks Herzschlag rauschte durch seinen Körper und sprang auf sein eigenes über, bis sie im Gleichschritt gingen. Yuris Lider flatterten. Langsam kam er wieder zur Ruhe. Gerade so konnte er ein zufriedenes Seufzen unterdrücken. Wie spät mochte es sein? Die aufkeimende Helligkeit verdrängte die Schatten. In wenigen Stunden startete Yuris Flieger zurück nach Sankt Petersburg. Zurück in den Alltag, der in der jetzigen Situation wie eine Illusion erschien. Sein Kopf schmerzte noch immer und zwang ihn dazu die Augen wieder zu schließen. Otabek bewegte sich kurz. Yuri hielt den Atem an. Nichts geschah, er schlief einfach weiter. Auch Yuri spürte die eigene Müdigkeit schwer auf seinen Schultern, doch seine Gedanken rasten und verhinderten jegliches Abdriften. Da war dieses Gefühl in seiner Brust, stärker als jemals zuvor. Es bäumte sich auf. Otabeks Wärme verbrannte sein Inneres. Es fühlte sich falsch an und doch so richtig. Wie das Bereuen nach einer viel zu großen Portion eines Lieblingsessens, die man sich trotzdem hereinzwang. Doch Yuri war nicht satt. Im Gegenteil, er glaubte verhungern zu müssen.   Er fragte sich, wie sich Otabeks Haar anfühlen würde, wie warm seine Hände waren und wie fest seine Umarmung. Wie würde er auf seine Berührungen reagieren? Wenn er nur die Hand ausstreckte, wie weich würde seine Haut sein? Entsetzt riss er die Augen wieder auf. Bunte Muster tanzten vor ihm in der Morgensonne. Hitze wallte empor und trat als kleine Schweißperlen aus seiner Stirn. Das war nicht richtig so. Wohin auch immer diese Gedanken ihn führen wollten, ihre Reise war hier und jetzt zu Ende. Augenblicklich wandten sie sich um und rasten in eine andere Richtung. Otabek war sein Freund. Sein bester Freund. Man kochte und zockte zusammen, hörte sich die Lieblingsmusik des anderen an. Man beschenkte sich zum Geburtstag. Man feuerte sich zur Kür an, gönnte sich gegenseitig den Erfolg. Der eine passte auf den anderen auf, wenn der unwissend zu viel getrunken hatte. Man schlief zusammen auf der Couch … oder in einem Bett. Völlig normal, so wie es all die anderen besten Freunde der restlichen Welt auch taten. Nichts, worüber man sich weiter - Die Stille holte ihn zurück ins hier und jetzt, zurück in das Hotelzimmer, zurück zu der warmen Haut unter ihm. Mittlerweile schien die Sonne hell durch das Fenster. Yuri konnte die Wärme spüren, die zart über ihre Füße kroch. Sein Körper schlug Alarm und sein Hirn drängte ihn zum Aufstehen, doch er konnte nicht. Nicht einen Millimeter konnte er sich rühren. Otabek blieb weiterhin unbewegt. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, jedoch nicht mehr tief und entspannt, sondern flach. Es war zu still. Zu angespannt, zu regelmäßig, zu bemüht. Die unausweichliche Tatsache, dass er wach war, schlug prasselnd wie ein Wolkenbruch auf Yuri nieder. Sämtliches Blut trat nun den endgültigen Rückzug in sein Hirn an, während er das Gefühl hatte, dass ihm alle Gliedmaßen in verschiedene Richtungen davonliefen. In völliger Abwesenheit hatte er seinen Gedanken nachgehangen und die letzte Chance verpasst, dieser unangenehmen Situation auszuweichen. Wenn er doch nur aufgestanden wäre! Wie sehr bereute er es nun, dass seine plötzlich erwachte Sehnsucht nach Nähe stärker gewesen war, als sein Wille. Wie dumm und verblendet er sich fühlte. Niemals würde er das erklären können. »Fuck.« Ein simples, einfaches Wort, das Yuri beinahe zusammenzucken ließ. Das erste Fluchen, dass er von Otabek vernahm und Trotz des groben Ausdrucks behielt seine Stimme trotzdem dieses ruhige, warme Timbre. Ein lautes Ausatmen folgte. Noch wacher konnte man nicht sein. Yuri spannte sich an und presste die Zähne aufeinander. Nichts passierte. Kein verwirrtes Abrücken, kein empörtes Aufspringen, kein Rütteln an seiner Schulter. Otabek blieb wo er war und ließ die Minuten verstreichen. Es kam Yuri wie ein ganzes Leben vor. Erst, als leise Töne eines Weckers erklangen, spürte er, wie Otabek seinen freien Arm ausstreckte, dessen Hand das Geräusch augenblicklich vertilgte. Keine zwei Sekunden später streiften warme Finger Yuris Ohrmuschel. Das Zögern in dieser Bewegung dröhnte unter seinem Zwerchfell. Zart und kaum spürbar strich er ihm einige wirre Haare hinters Ohr, zwirbelte das Ende der Strähne zwischen den Kuppen. Es verging so schnell, dass Yuri nicht reagieren konnte. War es vielleicht doch nur Einbildung gewesen? Aber woher kam dann das Beben, das seinen Körper durchfuhr, die Gänsehaut auf seinen Armen? Woher das Gefühl der Leere, als Otabek sanft und leise von ihm abrückte? Woher die unterschwellige Enttäuschung, als Otabek mit Engelsgeduld seinen Arm unter Yuris Kopf hervorzog, vorsichtig und zart, offenbar hoffnungsvoll ihn nicht zu wecken? Jetzt, wo dieser Moment endete, wünschte sich Yuri von ganzem Herzen, wirklich noch geschlafen und nichts von alledem mitbekommen zu haben. Sanfte Hände griffen in seinen Nacken und betteten seinen Kopf vorsichtig auf das Kissen. Die Bewegungen waren eher routiniert als liebevoll, nicht mehr so, wie gerade eben. Einen Augenblick lang stand Otabek nur da. Yuri konnte seinen Blick auf sich spüren, bis er sich mit leisen Schritten in Richtung Badezimmer entfernte. Die Tür wurde zugezogen, das Schloss knackte. Yuri stieß den angehaltenen Atem aus. Keuchend richtete er sich auf, massierte sich die rechte Gesichtshälfte. »Fuck! Fuck, fuck, fuck, was soll diese Scheiße, häh?« Obwohl er leise sprach, stach ihm seine Stimme unangenehm durch die Schädeldecke. Was war in diesem Scheißsekt drin gewesen? Napalm? Und wieviel hatte Otabek bitte davon gebechert? Ihn einfach so anzufassen, wie konnte er es wagen? Waren sie hier im Streichelzoo? Yuri versuchte wütend darüber zu sein. Wut kannte er. Wut war besser, als dieses andere Gefühl. Mit Wut konnte er etwas anfangen, umgehen. Vor allem mit Wut die sich gegen Andere richtete … Nicht aber mit jener, die fluchtartig das Weite suchte, als sich die Badezimmertür öffnete und Otabek heraustrat. Sie blinzelten sich an und alles, worüber er sich aufregen hätte können, strömte aus ihm heraus. »Hey.« Bemüht, möglichst überrascht zu tun, richtete er sich auf. »Oh. Ich dachte du bist schon weg.« Otabek schüttelte den Kopf. »Bin wohl eingeschlafen.« »Mhm.« Ihr Schweigen hing unangenehm in der Luft. Zum ersten Mal beschlich Yuri das Gefühl etwas sagen zu müssen, damit es nicht noch schlimmer wurde. »Ich hab‘ den Kater des Todes, Alter.« Zur Untermalung rieb er sich die Schläfe. »Schwer vorstellbar, bei deiner Trinkfestigkeit.« Yuri biss sich auf die Lippe. »Ja, wow. Vielen Dank.« Gerade verspürte er nicht die geringste Lust auf so eine Unterhaltung. Ganz nebenbei machte sich auch der Zeitdruck bemerkbar. Sein Koffer musste dringend gepackt werden. Die Anderen waren mit Sicherheit schon fertig. Ihm blieb vielleicht noch eine halbe Stunde, bis er im Taxi sitzen musste. Stöhnend rappelte er sich hoch. »Ich muss mich umziehen und dann los.« Otabek nickte nur. »Ich besorg dir ein Aspirin und checke für dich aus.« Und schon war Yuri allein im Hotelzimmer. »Blöder Idiot!« Schnaufend schälte er sich aus seinem Anzug, den er noch immer trug. Seine klebrige Haut fühlte sich eklig an, doch für eine Dusche blieb keine Zeit mehr. Ein bisschen würde er die vergoldete Badewanne wohl doch vermissen. Unmotiviert stieg er in seine letzten frischen Klamotten, stopfte Anzug, Hygieneartikel und alles was er spontan zu Greifen bekam einfach in den Koffer hinein. Fluchend kroch er halb unters Bett, um auch noch an die letzte Unterhose zu kommen, die er vor wenigen Tagen mit Fußtritten aus Otabeks Sichtweite befördert hatte. Da er nicht wusste wohin mit dem Helm, befestigte er ihn einfach am Riemen seines Rucksacks. Ein letzter abcheckender Blick durchs Hotelzimmer. Gut, er schien alles zu haben, schloss den Koffer und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. Die Tür sprang auf, bevor er die Klinke berührte. Da der Sekt ihm mit Sicherheit keine telekinetischen Kräfte verliehen hatte, konnte es nur Otabek sein. In einer Hand hielt er ein Glas Wasser, während er die andere nach ihm ausstreckte und eine Brausetablette offenbarte. »Das sollte dir wieder Leben einhauchen.« Er sagte es mit Schalk in der Stimme und erneut spürte Yuri, dass er ihm einfach nicht böse sein konnte. »Danke.« Er nahm beides entgegen und sah zu, wie die Tablette Unterwasser sprudelnd in ihre Einzelteile zerfiel. Wie gestern Abend den Sekt kippte er sich die Medizin runter. Das Zeug sollte nach Orange schmecken, aber es erinnerte eher an etwas, das offenbar schon einmal verdaut worden war. Er verzog das Gesicht, blieb aber tapfer und trank das Glas leer. »… widerlich.« »Widerlich aber hilfreich. Ich habe deine Leute unten in der Lobby gesehen.« Während er sprach, griff Otabek nach dem Koffer. Ein Gutes hatte es schon, dass er selbst kein Hotelgast war. »Gehen wir.« Mit schweren Schritten folgte Yuri ihm, nachdem er das Glas bemüht höflich auf einer Anrichte im Hotelzimmer gelassen hatte. Der Fahrstuhl landete mit einem leisen Pling in der Lobby. Die Türen öffneten sich quietschend. Am liebsten hätte Yuri sich die Ohren zugehalten. Da saßen sie in den gemütlichen Sesseln und blickten zu ihnen, als hätten sie gewusst, dass sie mit diesem Fahrstuhl ankamen. Während Yuri sich wie ein wandelnder Untoter fühlte, sahen alle Anderen – einschließlich Otabek – wie das blühende Leben aus. Für einen Moment hasste er sie alle. »Yuriooo!« Und Viktor hasste er am leidenschaftlichsten. Missmutig stampfte er zu der feinen Gesellschaft. Um ihre Blicke und die Helligkeit abzuschirmen, zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Yakov erhob sich. »Wir müssen los.« Seine Stimme barg einen säuerlichen Unterton, doch Yuri war es egal. Wie auf Stichwort kam Bewegung auf, als auch die Anderen aufstanden und begannen ihre Koffer zur Tür zu ziehen. Otabek und er waren die letzten. Almatys kalte Luft erfasste ihn. Es tat gut. Nur nebenbei registrierte er, dass Otabek half seinen Koffer ins Taxi zu laden, sich beiläufig schon von Yuris Begleitung verabschiedend. Erst, als alle in dem riesigen Fahrzeug verschwunden waren, wandte er sich ihm zu. In seinem Blick schwamm etwas, was Yuri nicht deuten konnte. Kein einziges Wort verließ seine Lippen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Musste er wirklich gehen? »Yuri.« Sein Kopf ruckte nach oben und strafte ihn mit Schmerz. Doch es tat nicht nur dort weh. Otabeks mildes Lächeln verschlimmerte es nur. Das Taxi hupte und erweckte ihn aus seiner Starre. Einem plötzlichen Impuls folgend drückte er Otabek an sich und wie bitter stieg Traurigkeit ihn ihm auf, als Otabek die Geste erwiderte. »Ich muss los.« »Ich weiß.« Yuri vergrub das Gesicht in seiner Schulter und rang das Gefühl des Déjà-vus von heute Morgen nieder. Ein letztes Mal schloss er die Augen und sog seinen Geruch ein. »Hat echt Spaß gemacht.« Unmerklich wurde ihre Umarmung fester. »Ja.« Otabeks Atem traf sein Ohr und der kalte Wind war vergessen. Eigentlich war nun die Zeit gekommen sich voneinander zu lösen, doch niemand tat es. Es kostete Yuri Überwindung, doch er drückte ihn schließlich mit sanfter Gewalt von sich, beendete diesen Moment, der schon viel zu lange andauerte. Sein Magen rutschte ihn in die Knie. Was war nur los? Yuri wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, als befürchtete er mehr in seinem Blick zu erkennen, als für ihn bestimmt war. Dinge, die ihn anzogen und gleichzeitig verängstigten. Lieber betrachtete er Otabeks Schuhe, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Unausgesprochene Worte ballten sich auf seiner Zunge, doch er schluckte sie hinunter. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« Otabeks Stimme wärmte ihn von innen. Es war wie damals nach dem Grand Prix. Er musste hier weg. Schnell. Beinahe ruckartig ließ er komplett von ihm ab. »Ja, man. Mach ich ja! Und coole Schuhe hast du an!« Spätestens jetzt war die Schonfrist seiner Verlegenheit vorbei. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Du laberst so einen Bullshit, du peinlicher Idiot! Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich um und kroch beinahe fluchtartig ins Taxi. Bevor er die Tür zuzog, siegte die Neugierde doch. Otabek stand noch immer an Ort und Stelle. Was hätte Yuri nicht alles für eine kurze Offenbarung seiner Gedanken gegeben. Als sich ihre Blicke ein letztes Mal trafen, reckte er einen Daumen nach oben. Yuri tat es ihm gleich, bevor er sich endgültig abwandte. Das Taxi fuhr brausend los, doch er glaubte einen großen Teil von sich zurück zu lassen. Die kühle Scheibe linderte den Schmerz hinter seiner Stirn, bewahrte ihn aber nicht vor der Aufmerksamkeit seiner Begleiter. »So, Yurio.« Victor beugte sich zu ihm herüber. »Otabek hat also bei dir übernachtet, ja?« Die Neugierde in seinem Blick krabbelte wie Ameisen über seine Arme. Aus dem Augenwinkel erkannte er schon die Hände vom Katsudon an seinen Schultern, ein trauriger Versuch seine Sensationslust zu dämpfen. Yakov und Lilia sahen bemüht nach vorn, doch Yuri hätte alle seine Goldmedaillen darauf verwettet, dass sie genau zuhörten. »Victor, hör auf. Das geht uns nichts an!« Wow. Zum ersten Mal ging er mit dem Schweinchen konform. Dass er das noch erleben durfte. »Geh mir aus der Sonne!« Er schlug die Hand weg, die ihm die Wange tätscheln wollte. Augenblicklich drückte der Taxifahrer das Gaspedal durch. Yuri erkannte ihn als den Fahrer wieder, der ihn vor wenigen Tagen vom Flughafen ins Hotel kutschiert hatte. Die Ironie, die diese Situation barg, wäre in anderen Momenten wahrscheinlich lustig gewesen. Gott sei Dank verschonten sie ihn für den Rest der Fahrt. Yuri sprang aus dem Taxi, noch bevor es richtig zum Stehen kam, zerrte seinen Koffer hervor und stampfte zum Flughafen. Sie waren spät dran und in Eile. Er freute sich über jede Ablenkung, egal wie kurz, griff nach sämtlichen Strohhalmen, die ihn an etwas anderes denken ließen, als an Otabek. An seine Schultern, seine tiefen Atemzüge, die Wärme seiner Brust. »Yuri, verdammt!« Yakovs Bellen riss ihn zurück ins Hier und Jetzt. Der Ärger in seiner Stimme war nicht mehr zu überhören. Weil Yuri im Hotel getrödelt hatte, mussten sie jetzt alle rennen, um das Flugzeug nicht zu verpassen. Sie konnten wohl froh sein, dass es auch der Taxifahrer eilig mit ihnen gehabt hatte. Wahrscheinlich rettete genau das ihren Flug. Doch Yuri war keine Erholung vergönnt. Zwar lichteten sich seine Kopfschmerzen schleichend, jedoch fand er sich versunken in Selbstreflektion, kaum dass die Maschine gestartet war und sie scheinbar federleicht über das Land schwebten. Chaos übermannte seine Gedanken, es flutete seinen Verstand, wie gestern die Musik. Nur jetzt befreite dieses Gefühl ihn nicht, es engte ihn ein und lähmte ihn, ließ seinen Magen anschwellen. Seine Füße kribbelten unangenehm. Warum war er, jetzt wo sein Kurzurlaub bei Otabek endete, noch viel nervöser, als in den letzten Tagen und Momenten davor? Müsste er nicht eigentlich zufrieden sein, unbeschwert, gesättigt und ein bisschen traurig, weil die Zeit schon wieder rum war?  Stattdessen fühlte er sich träge, müde. Wie durch Zufall fiel sein Blick auf den Helm, der immer noch am Riemen seines Rucksackes hing, den er als Handgepäck mitgenommen hatte. Der Tiger auf dem Motorrad grinste ihn an und setzte seine Augen in Flammen. Es brannte. Ja, er war traurig. Er wollte nicht zurück nach Sankt Petersburg, aber gleichzeitig auch so weit weg von Otabek wie möglich. Seine Hand wanderte zu seinem Ohr, strich eine wilde Strähne beiseite, zwirbelte sie zwischen den Fingerkuppen. Bewusst imitierte er die Zärtlichkeit von Otabek, schloss die Augen und erschauderte. Die Erkenntnis wühlte sich durch seine Rippen. Es stimmte nicht. Er wollte keinen Abstand. Er wollte Motorrad fahren, auf der Couch schlafen, sein Duschgel benutzen, Musik durch das gleiche Paar Kopfhörer genießen, das Gesicht in seiner Schulter vergraben. Er wollte es wieder erleben. Wieder und wieder und noch viel intensiver. Sein Smartphone vibrierte. Mit zitternden Händen holte er es hervor und wusste schon, bevor er den Sperrbildschirm entriegelte, von wem die Nachricht war.   Otabek Altin – 05.03 13:21 »Ganz schön ruhig in meiner Wohnung.«   Simple Worte, nicht mehr als eine nette Geste, vielleicht sogar bedeutungslos - doch sie setzten etwas in Bewegung, das er nicht kontrollieren konnte. Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken. Unangenehme Hitze staute sich unter seiner Jacke und ließ seine Hände schwitzen. Er stand vor einer emotionalen Klippe. Ein falscher Schritt und er würde fallen und in den Wogen von Gefühlen umkommen, die er niemals zulassen durfte. Die Brandung griff bereits nach ihm. Er spürte ihre kalten Finger an seinen Fußgelenken. Konnte er noch umkehren, oder rissen die Felsen unter ihm bereits?  »… Fuck ...« Das Display seines Smartphones wurde schwarz. Er ließ es in die Tasche gleiten, ohne eine Antwort zu schreiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)