Daemon 3 von yazumi-chan (Akte Chase) ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Blue hatte kaum vor der Bar gehalten, da sprang ich schon aus dem noch rollenden Wagen und preschte durch die Eingangstür. Drinnen war es warm. Eine kleine Menschentraube hatte sich vor der Küche zusammengeschlossen. „Lasst mich durch!“ Ich schob mich an den anderen Huntern vorbei und trat in die große Küche. Einige geschälte Kartoffeln lagen auf der Anrichte verteilt und im Ofen kokelte ein Blech Kekse vor sich hin. Rock stand mit hilflos erhobenen Armen mitten im Raum und redete auf seine Frau ein. Mein Blick glitt zu Mary. Sie stand in die Ecke gedrängt an der Wand, vor sich ein glänzendes Küchenmesser mit beiden Händen umklammert. Tränen strömten über ihre Wangen, während sie hysterisch lachte und das Messer abwechselnd auf Rock und auf mich richtete. „Mary, bitte lass das Messer fallen“, flehte Rock. „Alles wird gut. Lass uns dir helfen.“ „Sie hört dich nicht“, sagte ich und trat an ihm vorbei. Der gelbe Schein, der von ihr abstrahlte, war Diagnose genug. „Sie ist besessen.“ Rock sah zu mir. Er wirkte um Jahre gealtert, die Augen dunkel unterlaufen, die Wangen eingefallen. „Sie lässt uns nicht an sie heran. Als wir versucht haben, den Daemon zu exzidieren, hat sie begonnen, sich selbst zu verletzen. Sie wiederholt nur immer wieder deinen Namen.“ Vorsichtig machte ich einen Schritt auf die wahnsinnige Mary zu, die bei meinem Anblick ruhiger wurde. Ihr Messer ließ sie jedoch nicht sinken, stattdessen presste sie es fest gegen ihre Kehle. Ihre Hände bluteten aus zahlreichen Schnitten und ihre Augen waren soweit in ihren Höhlen nach oben gerollt, dass nur das Weiße zu sehen war. Unendlich langsam senkte sie ihr Kinn und fixierte ihre Augen auf mich. Dass sie sich dabei in den Hals schnitt, schien sie nicht zu kümmern. „Raccoon Thynlee“, flüsterte Mary in einer heiseren Stimme. „Nachricht. Gib Raccoon Thynlee Nachricht.“ „Ich höre“, sagte ich und ignorierte Rock, der flehend auf mich einredete. Statt zu antworten, nickte Mary in Richtung des gigantischen Kühlschranks am anderen Ende der Küche. Immer noch in Zeitlupe drehte ich mich um. Auf dem schimmernden Metall war in Marys Blut etwas gemalt worden.   Dd1-d4 Lc8xd4 0-0 D†: Dd8-g5+   Ich verstand überhaupt nichts mehr. „Was soll das bedeuten?“, fragte ich Mary. „Was willst du von mir?“ „Überbring Nachricht, Frau und Kind leben.“ >Coon. Erleichterung wusch durch mich hindurch, als ich Ida entdeckte, die an meiner Seite auftauchte. Zusammen würden wir diese Situation schon in den Griff kriegen. „Versuch, den Daemon aus Mary zu verdrängen“, murmelte ich in ihre Richtung, dann sagte ich lauter, „Und wem soll ich die Nachricht überbringen? Wo kann ich ihn oder sie finden?“ Mary ließ das Messer sinken. „Ödland. Wirst erkennen. Wird dich finden.“ Ich starrte ihn an. Das Ödland? Der Daemon wollte mich in den sicheren Tod schicken. Nie im Leben würde ich dort heil wieder herauskommen. „Warum überbringst du die Nachricht nicht selbst, wenn sie so wichtig ist? Weshalb muss ich gehen? „Fragen, Fragen.“ Mary lachte heiser. „Wirst erfahren. Später.“ Frustriert ballte ich die Fäuste. „Ida, jetzt!“ Bevor Mary Zeit hatte, das Messer erneut an ihre Kehle zu pressen, schoss Ida als schneeweißer Blitz auf sie zu, wechselte direkt über ihr zu pechschwarz und verschwand in Marys überrascht offenstehendem Mund. „Relictus!“, schrie ich, Hände flach überlagert, sodass ich Mary durch das dreieckige Loch dazwischen sehen konnte. Ein Schaudern durchfuhr Rocks Frau, doch der Daemon klammerte sich an seinem Wirt fest und ließ nicht locker. Ich konnte das Flackern des gelben Scheins erkennen, den schwarzen Rauch, der aus ihrem Rachen aufstieg und im nächsten Moment wieder zurückgesogen wurde. Einige Sekunden lang wand Mary sich, während Ida und der Daemon um die Kontrolle in ihrem Körper rangen. Plötzlich schnappte Mary nach Luft und klammerte sich an der Anrichte fest, um nicht zu stürzen. Rock war sofort an ihrer Seite. „Ida“, keuchte sie. „Rosie! Rosie! Mein Baby, mach es weg, mach es weg!“ „Mary, Liebling, alles ist gut“, sagte Rock und strich ihr über den Kopf, doch Mary rappelte sich schon auf und fuhr panisch mit den Händen über ihren gewölbten Bauch. „Gott, nein, bitte nicht. ROSIE!“ „Relictus“, wiederholte ich meinen Austreibungsschlüssel. Marys Kopf sank in ihren Nacken. Ida schwebte als dunkle Wolke aus ihrem Mund und verdichtete sich wieder zu ihrer Dae-Form. Sie sah mich aus geweiteten Augen an. >Der Daemon … er ist in Marys Baby. „Was?“, fragte ich. „Aber wie … wie kann das sein?“ Ida sah schmerzlich zu Mary zurück, die noch immer ihren Bauch festhielt und auf ihr ungeborenes Mädchen einredete. >Er ist tiefer gegangen, um vor mir zu fliehen. „Ich wusste nicht mal, dass das möglich ist“, flüsterte ich. „Coon, du musst sie retten!“ Rock kam auf mich zu, griff meine Hände. „Was, wenn er Rosie bleibenden Schaden zufügt? Wir müssen ihn austreiben!“ „Rock, ich weiß nicht, wie“, sagte ich matt. „Ich habe keine Ahnung, wie er über Mary in einen anderen Menschen gelangen konnte. Was, wenn ich ihn austreibe und er sich in ihrem Bauch materialisiert? Sie würden beide sterben. Ich kann das Risiko nicht eingehen!“ „Dann tu, was er gesagt hat“, flehte Mary. „Bring diese Nachricht ins Ödland. Wenn Rosie etwas geschieht, wenn sie stirbt, werde ich mir das niemals verzeihen.“ Ich schluckte schwer. „Daemon?“, rief ich, doch er antwortete nicht. Er hatte sich in Marys Baby eingenistet und würde nicht von dort verschwinden, bis ich seine Forderung erfüllt hatte. „Coon, das ist lebensmüde“, sagte Sam leise an meiner Seite. Das Tuscheln der Hunter wurde lauter, als sie über meine Aufgabe diskutierten. Niemand war je allein in das Ödland gegangen und zurückgekehrt. Es wimmelte dort von Daemonen, Rotten und Daemonenkönigen, die nur durch die gigantische Grenzmauer zurückgehalten wurden, so wie durch die Grenz-Hunter, die dort Tag und Nacht patrouillierten. „Ich muss es trotzdem tun, Sam“, erwiderte ich. „Mary und ihr Baby sind in Gefahr. Wie kann ich da zuhause bleiben und Däumchen drehen?“ Sam seufzte leise. „Lass mich wenigstens mitkommen. Oder jemand anderes. Ich will nicht, dass du dich schon wieder alleine in Gefahr begibst.“ Mary erhob sich abrupt und kam auf mich zu, ihre blutigen Hände zu beiden Seiten ausgestreckt, die Augen in den Hinterkopf gedreht. >Er ist wieder da! „Daemon“, sagte ich. „Ich werde die Nachricht überbringen. Wirst du Mary und ihr Baby verlassen, wenn ich zurückgekehrt bin?“ Mary lächelte träge. „Überbring Nachricht, Frau und Kind leben.“ „Wer hat dich geschickt?“, fragte ich. Ein kratzendes Lachen entwich Marys Kehle. „Willst wirklich wissen?“ „Ich würde sonst nicht fragen, oder?“, entgegnete ich bissig. Mary lehnte sich vor, bis ihre Lippen meine Ohrmuschel streiften. Eine Gänsehaut jagte über meinen Rücken. „Der mich schickt“, flüsterte der Daemon leise, „ist Vater. Dein Vater.“     Ich erinnerte mich kaum an das, was nach der Offenbarung des Daemons um mich herum geschah. Das hysterische Lachen des Daemons erstarb, als Mary wieder zu sich kam, und irgendjemand, vermutlich Sam, hielt mich aufrecht, als meine Knie unter mir nachgaben und ich halb zu Boden sank. Ida redete leise auf mich ein. Irgendwann später fand ich mich auf meinem Bett wieder, mit einer dampfenden Tasse Kaffee in beiden Händen. Mein Vater. Es musste eine Lüge sein. Es konnte nur eine Lüge sein. Mein Vater war tot. Meine Mutter war tot. Ich hatte nie erfahren, was den beiden geschehen war, und im Gegensatz zu vielen anderen Kindern im Waisenhaus war es mir nie ein Bedürfnis gewesen, mehr über sie zu erfahren. Ich kannte ihre Vornamen, Amanda und Brian. Das war alles. Sie waren vor ihrem Tod nicht dazu gekommen, mir offiziell einen Namen zu geben und so war ich im Waisenhaus als namenlos eingetragen und nummeriert worden, bis Sunny mir schließlich den Namen Raccoon gegeben hatte. Thynlee kam von meinen Zieheltern Annie und John, bei denen ich nur zwei Jahre gelebt hatte, bevor sich die Rotte in unserem Wohnhaus eingenistet und alle Bewohner abgeschlachtet hatte. Aber bis gestern hätte ich auch geschworen, dass Sunny tot war, und trotzdem war ich ihm heute begegnet. War es möglich, dass mein Vater lebte und aus irgendeinem Grund mit den Daemonen paktierte? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Die heiße Kaffeetasse brannte in meinen Händen, aber ich drückte nur fester zu. Ich konnte nicht zwei solche Offenbarungen an einem Tag ertragen. Aber was blieb mir anderes übrig? Vorsichtig stand ich auf und trank meinen Kaffee, während ich rastlos durch meine Wohnung lief. Küche, Bad, Flur, Schlafzimmer, Flur, Bad, Küche, Bad … Vor dem Spiegel blieb ich stehen. Ich sah so mitgenommen aus, wie ich mich fühlte. Mein langer Flechtzopf hatte sich aufgelöst und einzelne Strähnen hingen mir ins Gesicht. Meine Augen wirkten glasig, unfokussiert. Vielleicht musste ich anfangen, die Motive der Daemonen zu hinterfragen. Der Daemon, der Mary besessen hatte, war zum Ende hin erstaunlich sprachgewandt gewesen, aber nicht davor. War er der Drahtzieher? Oder arbeitete er für einen anderen, noch intelligenteren Daemon? Wer war der Wirt im Rathaus? Und was wollte der Chief von mir? Allmählich wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Nur eines war klar. Wenn ich Antworten wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mitzuspielen und die mysteriöse Nachricht an den genauso mysteriösen Empfänger im Ödland zu überbringen. Und zu hoffen, dass ich bei dem Vorhaben nicht draufging.       Finsternis füllte mein Schlafzimmer, bevor ich mich dazu aufraffen konnte, die quietschenden Treppen hinunter in den Hauptraum der Bar zu nehmen. Rock hatte die meisten Hunter nach Hause geschickt, stattdessen saßen um die zusammengeschobenen Tische verteilt Samantha, Charles, Kady, Blue und Mary, die in eine dicke Wolldecke eingewickelt war und trotzdem am ganzen Leib zitterte. Der Stoff wölbte sich über ihren Bauch, wo vermutlich ihre Hände schützend über ihrer ungeborenen Tochter lagen. Ich ging zu ihr hinüber und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich kümmere mich darum“, sagte ich und sah ihr in die Augen, die glücklicherweise nicht länger gelb leuchteten. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich jedoch den gelben Schein um ihren Bauch herum wahrnehmen. Der Daemon hielt sich still, aber ich durfte keine Sekunde vergessen, dass er da war. Mary nickte stoisch. Ihre Augen waren rot umrändert und sie war aschfahl, aber sie hatte wieder ihre Kämpfermiene aufgesetzt. Kady hatte ihren Rollstuhl ein Stück entfernt abgestellt und Rock selbst stand mit verschränkten Armen an die Bar gelehnt. „Coon“, begrüßte er mich, nachdem ich mich von Mary entfernt hatte. Erleichterung machte sich bei seiner ruhigen Stimmlage in mir breit. Er schien sich in den letzten Stunden gefangen zu haben. „Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ „Das sollte ich sagen“, murmelte ich und sah mich um. „Wo ist Ida?“ >Hier. Ich drehte mich um. Ida schwebte milchweiß durch die Tür herein und rieb sich die Arme, so als könnte sie den Frost von draußen abschütteln, den sie nicht mal spürte. Mit Ida an meiner Seite fühlte ich mich gleich viel eher in der Lage, der Versammlung entgegen zu treten. >Wie geht es dir, Coon? „Ich komme klar“, versicherte ich ihr, auch wenn mir immer noch flau im Magen war. Aber ich musste mich jetzt zusammenreißen, um Marys und Rosies Willen. Meine eigene emotionale Krise war nichts im Vergleich zu dem, was Mary vermutlich gerade durchmachte. „Blue hat uns bereits von seinen Eindrücken im Rathaus berichtet“, brachte Kady mich auf den neusten Stand. „Jetzt bist du dran. Ist dort ein Daemon zu Gange oder nicht?“ „Es ist ein Daemon, kein Zweifel“, stimmte ich zu. „Die Fußspuren sind teilweise alt, aber es sind auch einige frische dabei, die meisten im Büro des Chiefs und seines Sekretärs, vereinzelt auch in den Fluren der anderen Geschosse.“ „Aber du konntest nicht erkennen, wer der Wirt ist?“, fragte Charles. „Entweder sein Einfluss ist so gering, dass er nicht nach außen dringt, oder der Daemon wusste, dass ich nach ihm Ausschau halte und hat sich während meines Aufenthalts entsprechend versteckt. Wir haben es auf jeden Fall mit einem intelligenten Daemon zu tun. Und die Sache mit Mary … ich bin mir sicher, dass beide Vorfälle zusammenhängen.“ „Das leuchtet ein“, stimmte Kady zu. „Das Timing ist zu perfekt. Blue sagte, du hättest nach eurem Besuch noch einmal mit jemandem telefoniert?“ „Mit dem Sekretär, Mr. Hill“, stimmte ich zu und fasste den Inhalt der Unterhaltung knapp zusammen. „Und nun diese Erpressung“, murmelte Kady nachdenklich. „Die Sache spitzt sich zu.“ „Diese Nachricht gibt mir Rätsel auf“, sagte ich. „Hat irgendjemand eine Ahnung, was sie bedeutet? Ich jedenfalls nicht.“ Kady schüttelte den Kopf, Rock zuckte die Achseln. Charles jedoch betrachtete einen zerknitterten Zettel in seiner Hand, auf dem er scheinbar die Nachricht notiert hatte. „Ich bin nicht sicher“, sagte er schließlich, „aber ich glaube, das ist eine Schreibweise aus dem Schach.“ „Schach?“, fragte ich. „Warum Schach?“ „Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, die Nachricht beschriebt Züge. Ich kann in Erfahrung bringen, welche.“ Ich nickte dankbar. Kady wandte sich zu mir. „Wann wirst du aufbrechen?“ Seufzend fuhr ich mir durchs Haar. „Morgen früh, denke ich. Wenn ich mich schon ins Kreuzfeuer begebe, dann lieber bei Tageslicht.“ „Ich komme mit dir.“ Sam verschränkte die Arme und sah mich herausfordernd an. „Das ist eine Falle, und du weißt es genau. Warum bestehst du trotzdem darauf, alleine zu gehen?“ Ich verzog das Gesicht. „Weil ich erstens nicht alleine bin“, konterte ich und nickte Richtung Ida, die stolz das Kinn hob, „und zweitens genau weil es eine Falle ist. Wie soll ich Henny jemals wieder in die Augen sehen, wenn du wegen mir bei so einer Aktion draufgehst?“ „Dein Leben ist also nichts wert, weil du nicht verlobt bist?“ Sam starrte mich an. „Das ist das Dümmste, was du je von dir gegeben hast, und da gab es einige andere Rivalen, glaub mir.“ „Fein!“ Ich warf die Arme hoch. „Ich kann dich ja ohnehin nicht abhalten. Komm halt mit. Noch jemand, der sich anschließen möchte?“ Blue hob die Hand. „Oh nein“, sagte ich und stapfte auf den Tisch zu, wo ich mich mit beiden Händen abstützte und vorbeugte, bis er mir in die Augen sehen musste. „Damit fangen wir jetzt nicht an. Du bleibst hier.“ Plötzlich fiel mir etwas ein. Misstrauisch sah ich mich zu Rock um. „Kommt dir Blue eigentlich bekannt vor?“, fragte ich gedehnt. Rock stand in Sekundenschnelle der Schweiß auf der Stirn. „Nicht wirklich“, sagte er und kratzte sich am Kinn. „Ich kann mich, eh, nicht entsinnen. Wem ähnelt er denn deiner Meinung nach?“ „Sunny“, sagte ich. „Aus dem Waisenhaus. Von dem ich dachte, dass er tot ist. Klingelt da was?“ „Hör auf, ihn in die Mangel zu nehmen“, murmelte Blue auf der anderen Seite des Tisches. „Er erkennt mich. Ich habe ihn vor Jahren kontaktiert.“ Der eiskalte Stich des Verrats sank tief in meine Brust. Ich konnte den Blick nicht von Rock abwenden, der zur Seite sah und sich weigerte, den Augenkontakt zu erwidern. „All die Jahre“, flüsterte ich, „hast du gewusst, dass er lebt, und es mir nicht gesagt?“ „Er hatte mich darum gebeten, es vor dir geheim zu halten“, sagte Rock und drehte nun endlich den Kopf in meine Richtung. „Er wollte nur wissen, ob du wirklich bei mir arbeitest. Wie es dir geht.“ Zitternd vor Wut fuhr ich zu Blue herum. „Du dachtest also, es ist okay, mir hinter meinem Rücken nachzuspionieren und dich zu vergewissern, dass es mir gut geht, während ich jeden Scheißtag daran gedacht habe, dass du mit dreizehn viel zu früh gestorben bist, dass ich dich nicht beschützen konnte, wie sehr ich dein verdammtes Lächeln vermisse? Nur weil du zu feige warst, mir Bescheid zu sagen? Und du!“ Ich deutete mit einem Finger auf Rock. „Du kanntest ihn. Du wusstest, wie nah wir uns standen. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ein einfaches Sunny lebt mir die Welt bedeutet hätte? Wenn er wirklich nicht mit mir reden wollte, hättest du seine Kontaktdaten geheimlassen können, aber wenigstens diese eine Information hättest du mir verdammt nochmal geben können. Scheiße!“ „Raccoon …“ „Nenn mich nicht so!“, fuhr ich Blue an. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte den Anblick seiner blauen Augen nicht mehr ertragen, die vollen Lippen, die nur zusammengekniffen waren, die weichen Locken. „Du wolltest einen Neuanfang zwischen Raccoon und Blue? Hier hast du ihn. Verschwinde! Ich will dich hier nicht mehr sehen, hörst du? RAUS!“ Meinem Gefühlsausbruch folgte absolute Stille. Ida legte vorsichtig ihre kühle Hand in meine, der einzige Körperkontakt, den ich in diesem Moment dulden konnte. Blue erhob sich langsam von seinem Stuhl und ging zur Tür. Bevor er hinaus in die Kälte verschwand, sah er sich ein letztes Mal nach mir um. In seinem Blick lagen Bedauern und Schuldgefühl. „Es tut mir leid“, sagte er und zog die bunte Glastür hinter sich zu. Erleichtert atmete ich durch. Mit wackligen Schritten ging ich hinter die Bar und füllte mir ein Glas mit Wodka ein, das ich in einem Schwung austrank, bevor ich es nachfüllte und mich an den runden Tisch zu dem immer noch schockiert schweigenden Grüppchen setzte. Sam war die erste, die es wagte, mich anzusprechen. „Das war Sunny?“, fragte sie ungläubig. „Und er hat dich all diese Jahre nicht angerufen?“ Ich zuckte mit den Achseln und trank einen zu großen Schluck Wodka, der meine Kehle hinunter brannte und mich husten ließ. Mary streckte eine Hand aus. Kurz glaubte ich, sie würde meinen Arm tätscheln, aber ich hätte Mary besser einschätzen sollen. Sie schnappte mir das Glas weg und reichte es Rock, der es ohne ein Wort wegbrachte. „Das letzte, was du morgen gebrauchen kannst, ist ein Kater“, informierte sie mich trocken. „Auch wenn du dich jetzt gerade sicher gerne zulaufen lassen willst, musst du damit bis später warten.“ Frustriert fixierte ich sie, aber in dem Moment, da meine Augen ihre trafen, fielen mir die Worte des Daemons ein, die er mit ihrem Gesicht, ihrem Mund geflüstert hatte. Erschöpft rieb ich mir über die Augen. Warum musste alles auf einmal passieren? Konnten diese Enthüllung mir nicht wenigstens ein paar Tage Zeit zum Verdauen geben, bevor sie mich heimsuchten? „Es gibt da noch etwas“, sagte ich und sah dabei auf meine Hände. „Als Mary sich zu mir gelehnt hat, hat der Daemon meine Frage beantwortet, wer ihn geschickt hat.“ „Und das fällt dir erst jetzt ein?“, fragte Charles entrüstet. „Das ist die wichtigste Information dieses ganzen Gesprächs!“ „Sie wird euch nicht viel nützen“, entgegnete ich. „Mein Vater ist nämlich tot.“ „Dein Vater?“, fragte Kady ungläubig. „Aber dein Name ist doch ein …“ „Es ist ein Nimbus“, bestätigte ich. „Ich weiß auch nicht, was er damit meinte. Oder mit der Nachricht, wo wir schon einmal dabei sind. Ich wollte euch nur Bescheid sagen. Vermutlich war es nur ein Trick, um mich dazu zu bringen, diese Nachricht auch wirklich zu überbringen.“ „Diese ganze Geschichte wird mir zu konfus“, sagte Rock. „Erst diese Legislationen, jetzt wird Mary von einem Daemon besessen und Coon soll ins Ödland gehen.“ „Mit mir“, betonte Sam und grinste gehässig, als ich nur seufzend nickte. Ida sah nachdenklich in die Runde. >Was, wenn der Daemon die Wahrheit gesagt hat? „Mein Vater ist noch vor meiner Geburt gestorben“, erklärte ich ihr. „Meine Mutter kurz danach. Ich glaube kaum, dass er von den Toten auferstanden ist.“ >Weißt du, wie er gestorben ist? Ich schüttelte den Kopf. „Es gibt bestimmt irgendwo Dokumente, aber ich hatte nie das Bedürfnis, mehr herauszufinden. Ich kannte ihn ja nie.“ „Henny kann das in Erfahrung bringen“, sagte Sam. „Sie weiß, wo man solche Infos bekommt. Deine Eltern hießen Amanda und Bruno, oder?“ „Brian.“ „Einerlei.“ Sie streckte gähnend die Arme aus und erhob sich. „So gemütlich diese Runde auch war, ich verabschiede mich. Coon, wehe du reist morgen ohne mich ab. Ich würde das als Kündigung unserer Freundschaft werten.“ „Ich hab es verstanden, Gott!“, murrte ich und ließ mich von ihr in eine grobe Umarmung ziehen. „Wir treffen uns um neun Uhr am Westtor, okay?“ „Einverstanden. Wenn ich Glück habe, hat Henny bis dahin die Infos über deine Eltern.“ Und mit diesen Worten verschwand Sam aus der Bar wie ein blonder Wirbelwind. „Wir verabschieden uns ebenfalls“, verkündete Kady und reichte mir die Hand. „Danke für deine Arbeit, das Geld wird dir morgen überwiesen. Viel Glück bei der Überbringung der Nachricht. Sobald du zurück bist, musst du uns alles im Detail berichten.“ Ich nickte, verabschiedete mich von Charles und sah den beiden nach, wie sie die Bar verließen. „Nette Leute“, sagte ich. „Von der Art, wie sie reden, könnte man denken, ich unternehme morgen einen Tagestrip in den Streichelzoo, statt mich durch eine mit Daemonen verseuchte Einöde zu schlagen.“ „Du kannst ja die Daemonen streicheln“, schlug Mary trocken vor. „Vielleicht rollen sie sich auf den Rücken und lassen dich einfach passieren.“ „All die Jahre des Kämpfens“, murmelte ich und schnappte mir nun doch erneut die Wodkaflasche, „und wir hätten sie einfach nur kraulen müssen.“     Das Westtor lag am anderen Ende des Distrikts, einige Kilometer von der Stadt entfernt. Mit vom Schlafentzug kleinen Augen spähte ich in die Höhe. Die Grenzmauer war hier gute zehn Meter hoch, aus massivem Beton und mit Stahlgerüsten verstärkt. Das Tor selbst bestand aus einer einfachen Stahltür, die innerhalb eines kleinen Wachturms lag und Tag und Nacht bewacht wurde. Charles war derjenige, der die Patrouillen auf der Mauer organisierte. Ida schwebte an meiner Seite, während wir uns dem Wachturm näherten. Über meinen Schultern hing ein vollgepackter Rucksack mit Proviant und Wasser für drei Tage, einem Schlafsack und warmer Kleidung, falls wir von einem Schneesturm überrascht wurden. In meiner Jackentasche steckte die geheimnisvolle Nachricht. Die Buchstaben- und Zahlenkombinationen standen tatsächlich für Züge in einer Schachpartie, deren Übersetzung Charles mir noch letzte Nacht hatte zukommen lassen.       Dd1-d4                              Dame auf d1 zieht auf d4 Lc8xd4                              Läufer auf c8 zieht auf d4 und schlägt die Dame           0-0                                     Kleine Rochade des Königs D†: Dd8-g5+                     Tod der Dame (?): Dame auf d8 zieht nach g5 und setzt den gegnerischen König matt.   Die Erklärung ergab meiner Meinung nach genauso wenig Sinn wie Nachricht selbst, aber vermutlich handelte es sich um eine Art Code oder Verschlüsselung, mit der nur der Empfänger etwas anfangen konnte. Ich würde es früh genug erfahren. Meine schwarzen Boots und das Ende meines Gehstocks schrammten über die Asphaltstraße, der kalte Novemberwind brannte in der Nase. So weit außerhalb war wenig los; es gab keinen Grund, mit dem Auto herzufahren und so blieben die Straßen leer und die Häuserblöcke verlassen und kahl. „COON!“ Bei dem Klang von Sams Stimme drehte ich mich um. Sie kam die Straße herab gesprintet, mit einem ebenfalls fetten Rucksack bewaffnet und einige lose Papiere durch die Luft schwenkend. Keuchend kam sie vor Ida und mir zum Stehen und stützte sich auf ihren Knien ab, ein Wirrwarr verknoteter Locken in ihrem Gesicht. >Warum rennst du so? „Weil, liebste Ida“, verkündete Sam und sah mich zwischen ihrem blonden Haarschopf hindurch verschlagen an, „ich es Coon völlig zutraue, mich im letzten Moment doch noch sitzen zu lassen. Sie hat nicht zufällig Schlaftabletten dabei, die sie mir unterjubeln will, um mich loszuwerden?“ Ida zog misstrauisch die Stirn kraus. >Ich glaube, sie hat welche dabei, aber— „Sei nicht so paranoid, Sam“, sagte ich, belustigt und genervt zugleich. „Ich füge mich meinem Schicksal. Bei meinem Glück würdest du durch schiere Willenskraft zur Schlafwandlerin werden und mir doch noch folgen.“ Sam grinste. „Verdammt richtig.“ „Da habe ich dich lieber wach dabei. Also, was hat Henny rausgefunden.“ Ich deutete auf die Papiere. „Ich nehme an, das sind irgendwelche großen Neuigkeiten?“ Sams Gesichtsausdruck wurde augenblicklich ernst. „Wir sollten uns kurz irgendwo hinsetzen“, sagte sie. Mein Herz wurde schwer. „So schlimm?“, fragte ich. Sam seufzte. „Ja. Nein. Ich weiß nicht.“ Sie schielte zu mir. „Es ist so schwer, das einzuschätzen, Coon. Es sind deine Eltern, aber du hast sie nie gekannt. Du könntest einen Nervenzusammenbruch kriegen oder mit den Schultern zucken und es geht dir am Arsch vorbei.“ „Finden wir es heraus.“ Getreu ihres Wortes sagte Sam nichts, bis wir eine windgeschützte Ecke am Bordstein ergattert und uns dort niedergelassen hatten. Ida hielt sich dicht bei mir, allem Anschein nach noch neugieriger als ich. „Henny hat ein wenig rumtelefoniert und alte Polizeiakten ausgekramt.“ Sam wedelte erneut mit den Papieren. „Es ist alles in Bürokratensprache verfasst, ich fasse also zusammen. Deine Eltern waren Brian und Amanda Chase. Etwa fünf Monate, nachdem Amanda mit dir schwanger wurde, ist Brian auf dem Heimweg nach der Arbeit von einem Daemon angefallen und gebissen worden. Passanten haben ihn einige Stunden später tot aufgefunden.“ Ich holte tief Luft. „Und meine Mutter?“ „Sie hat dich zu Hause ausgetragen, weil sie sich geweigert hat, ins Krankenhaus zu gehen. Sie hat dich aber nie offiziell im Bürgerregister angemeldet, und fast nie das Haus verlassen. Einige Wochen später ist sie einfach an Organversagen gestorben, vorher hat sie jedoch einen Notruf bei der Polizei hinterlassen, sodass du rechtzeitig gefunden und in ein Heim gebracht werden konntest.“ Meine Augen fühlten sich trocken an. Da war es. Das große Geheimnis meiner Vergangenheit. Mein Vater war von einem Daemon getötet worden, meine Mutter hatte vermutlich über den Kummer ihres Verlustes ihren Körper vernachlässigt und war schließlich an Erschöpfung gestorben. Zumindest war ich ihr wichtig genug gewesen, dass sie mich nicht mit ins Verderben gezogen hatte. Brüsk stand ich auf. „Sollen wir dann losgehen?“, fragte ich. Sam erhob sich ebenfalls, jedoch wesentlich langsamer. „Coon, ist alles okay? Möchtest du darüber reden?“ „Worüber?“ Ich wandte mich ab. „Meine Eltern sind definitiv tot, das ist alles, was ich wissen wollte.“ >Nicht ganz. Überrascht sah ich zu Ida. Sie beobachtete mich wachsam. >Dein Vater wurde von einem Daemon gebissen. Was, wenn er zu einem Dae wurde, genau wie ich? Was, wenn er noch da draußen ist und nach dir sucht?     Idas Worte ließen mir keine Ruhe, auch nicht, als wir bereits im Wachturm standen und dem Hunter dort erklärten, weshalb wir gekommen waren. Zu meiner großen Überraschung war er bereits informiert. „Gestern Abend kam ein Anruf vom Sekretär des Chiefs rein“, erklärte er, als Sam ihn darum bat. „Der Chief wolle mich darüber informieren, dass morgen Raccoon Thynlee einer wichtigen Mission im Ödland nachkommt und jede Unterstützung erhalten soll, die sie verlangt.“ „Hat er gesagt, dass ich alleine kommen soll?“, fragte ich. Der Hunter stockte. Er war rosig im Gesicht und sah nicht älter als zwanzig aus. „Nicht direkt“, sagte er und schielte zu Ida, die in der Ecke schwebte und den kleinen quadratischen Raum mit schiefgelegtem Kopf musterte. „Aber er betonte, dass eine kleine Gruppe schneller agieren würde.“ „Drei ist klein genug“, verkündete Sam sofort. „Also, was ist, lässt du uns durch oder sollen wir hier im warmen, sicheren Distrikt versauern?“ „Viel Glück dort draußen“, sagte der Hunter und öffnete die große Stahltür mit zwei unterschiedlichen Schlüsseln und einem Passwort, dass er in einem kleinen Tastenfeld eintippte. „Wir haben draußen Kameras installiert. Wenn ihr zurückkommt, müsst ihr einige Tests absolvieren, damit wir uns versichern können, dass ihr keine Daemonen mit reinschleppt.“ „Geht klar“, sagte ich und zurrte meinen Rucksack zurecht. „Sam, Ida, auf ins Getümmel.“ „Wetten wir darum, wer die meisten Daemonen exzidieren kann?“ „Wette du, ich bleibe lieber am Leben.“ „Spielverderber.“ „Kleinkind.“ >Hey! Sam kicherte und auch ich konnte ein Lachen bei Idas pausbäckigem Schmollen nicht unterdrücken. Verdammt, wie sehr ich die beiden lieb hatte. Bei dem Gedanken, das im Ödland der Tod auf uns lauern könnte, wurde mein Mund augenblicklich trocken. Sam mit ihrer Augenklappe hatte ein eingeschränktes Sichtfeld und ich würde spätestens heute Nachmittag zu humpeln beginnen. Aber wir hatten keine Wahl. Wir mussten herausfinden, was vor sich ging, und wir mussten Mary und ihr ungeborenes Kind beschützen. Meine verräterischen Gedanken schossen zu meiner Mutter zurück. Ich stellte mir vor, in welchem mentalen Zustand sie gewesen sein musste, um sich selbst nach meiner Geburt in den Tod zu treiben. Als spürte Ida, dass meine Gedanken in weite Ferne schweiften, schwebte sie an meine Seite und nahm meine Hand in ihre eigene. Sam legte eine behandschuhte Hand auf meine Schulter. Gemeinsam betraten wir das Ödland. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)