Daemon 3 von yazumi-chan (Akte Chase) ================================================================================ Kapitel 7: Kapitel 7 -------------------- Wir erreichten Rocks Bar eine halbe Stunde später. Meine Augen brannten von dem vielen Weinen und mein Kopf schmerzte, aber es ging mir etwas besser. Ich musste noch immer gegen den Schmerz ihrer Abwesenheit ankämpfen, erwischte mich dabei, nach ihrer kleinen, weißen Gestalt Ausschau zu halten. Aber ich hatte wieder ein Ziel vor Augen. Die graue Leere in meinem Inneren war eiserner Entschlossenheit gewichen. Egal was passierte, egal wer sich mir in den Weg stellte, ich würde Ida finden, und sei es nur, um Abschied zu nehmen. Im Inneren der Bar war es warm. Mary war nirgends zu sehen, dafür stand Rock hinter dem Tresen und wischte einige Gläser, kam jedoch sofort auf mich zu, als er uns bemerkte. „Coon!“ Er nahm mich in seine breiten Gorillaarme und drückte mich fest, Kinn auf mein Haar gepresst. „Es tut mir so unendlich leid, was mit Ida geschehen ist.“ Sein massiger Körper gab mir ein geerdetes Gefühl, wie nur er es konnte. Ich löste mich sanft von ihm. „Zuerst musst du Kady informieren. Der Daemon, den wir suchen, ist nicht der Chief, sondern sein Sekretär. Er hat alles von langer Hand geplant, wir dürfen ihn unter keinen Umständen unterschätzen. Er will—“ Ich stockte. Robert hatte seine Bedingungen für Idas Wohlbefinden klar gemacht. Wenn ich meinen Freunden sagte, was er vorhatte, wenn ich seinen Plan durchkreuzte, wusste ich nicht, ob ich Ida je wiedersehen würde. Aber genauso wenig konnte ich einen ganzen Distrikt ins Verderben stürzen, um sie zu retten. Ich musste einen anderen Weg finden, Ida ausfindig zu machen. Alles andere würde sie mir niemals verzeihen. „Coon?“ Rock beäugte mich besorgt. „Alles okay? Was wolltest du eben sagen?“ Mein Herz brach, aber ich zwang mich, weiterzusprechen. „In zwei Tagen findet eine Daemoneninvasion statt. Ich soll ihre Armee hineinschleusen, wenn ich Ida wiedersehen will.“ „Das wirst du doch nicht tun!“ „Nein.“ Ich atmete tief durch. Vergib mir, Ida. „Aber das heißt nicht, dass er es nicht doch schafft, jemand anderen dazu zu bringen. Er will mich, aber ich bin nicht seine einzige Marionette. Setzen wir uns. Und ruf Kady an!“ „Bin schon dabei.“ Er verschwand um die Ecke, bereits fieberhaft in sein Handy tippend. Ich ließ mich mit Sunny an dem Tisch nieder. In dem Moment tauchten Sam und Henny aus einem der Hinterzimmer auf. Als Sam mich sah, fiel sie mir in die Arme und drückte mich so fest sie konnte. Über ihre wallende Lockenmähne hinweg konnte ich Hennys mitfühlendes Gesicht sehen. Wir nickten einander kurz zu. „Wie geht es dir?“, fragte Sam und nahm mich bei den Schultern. Sie untersuchte mein tränenverschmiertes Gesicht und biss sich auf die Lippen. Ich schnaubte. „Beschissen. Aber ich habe keine andere Wahl, als jetzt durchzuhalten.“ „Hör zu … ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich dich in Distrikt 15 einfach zurückgelassen hatte. Wäre ich dageblieben, hätte sich Ida nicht von dir trennen müssen, dann wäre all das nicht passiert.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich fühle mich so scheußlich, Coon!“  Ich rang mir ein Lächeln ab und umarmte sie erneut. „Wenn du mitgekommen wärst, hätten die Daemonen dich umgebracht. Wir hatten nie eine andere Chance, als uns zu trennen. Ich halte dir nichts vor, also fühl dich nicht schuldig, okay?“ Sam schniefte, nickte aber und trat zurück. Sie wischte die Tränen weg. „Tut mir leid. Ich sollte diejenige sein, die dich tröstet, nicht andersherum.“ „Ist schon in Ordnung. Wie geht es Mary?“ „Kurz nachdem wir dich am Rathaus abgesetzt hatten, hat Rock angerufen“, erklärte Sam mit gedämpfter Stimme, um Rock bei seinem Telefonat nicht zu stören. „Sie und Rosie sind immer noch besessen, aber immerhin hat der Daemon vorerst aufgehört, sie zu kontrollieren. Wir hoffen, dass er sie irgendwann von alleine verlässt, aber viel können wir nicht tun.“ „Mary schläft oben“, fuhr Henny fort. „Sie ist völlig erschöpft.“ „Kann ich ihr nicht verübeln“, gestand ich und rieb mir die Augen. Der pulsierende Schmerz in meiner Bisswunde war abgeflaut, aber das dumpfe Gefühl fraß sich weiterhin durch meine Schulter und meinen Hals hinauf in meinen Hinterkopf. Obwohl William mich zum Schlafen gezwungen hatte, fühlte ich mich, als wäre ich seit dreißig Stunden auf den Beinen. Ich schielte zu Rock hinüber, der gerade aufgelegt hatte, und sich nun den Hinterkopf rieb, während er sich an unseren Tisch gesellte. „Es gibt da etwas, dass ich euch erzählen muss.“ Grob fasste ich mein Gespräch mit Elias zusammen. Abschließend deutete ich auf meine Augen. „Fällt jemandem etwas auf?“, fragte ich. Sam blinzelte und lehnte sich vor. „Sie sehen komisch aus“, gestand sie. „Ein bisschen grün.“ „Ich glaube, dass sie allmählich gelb werden“, sagte ich und schob meinen Pulli und Schal beiseite, damit meine Freunde die Bisswunde sehen konnten. „Noch einen Daemonenbiss?“, fragte Rock sofort, doch Henny unterbrach ihn. „So nah am Herzen hätte sie einen Biss nicht überlebt. Das ist also der Biss von dem Dae, der dich hereingelegt hat?“ Ich nickte. „Elias sagte, dass sich meine Sicht jetzt weiter der eines Daemons annähern wird. Ich kann schon eine Menge sehen, das mir vorher nie möglich war.“ Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich die Seelenfarbe von jedem meiner Freunde erkennen. Hennys war ein milchiges Weiß, während Sam ein hellgrauer Schimmer umspannte. Rocks war düster wie angelaufenes Silber. Sunnys Farbe war von schwarz, als er auf dem Parkplatz auf mich gewartet hatte, zu einem mausgrau geworden. „Was soll das heißen?“, fragte Sam. „Dass du jetzt zum Teil ein Daemon bist oder was?“ „Anscheinend sind das alle mit natürlicher Sicht“, erklärte ich. „Du auch. Ich nur ein bisschen mehr.“ „Lass mich zusammenfassen“, sagte Rock. „William ist ein sehr mächtiger, inzwischen wahnsinniger Dae, der Dinge anfassen kann und seine Tochter beschützen will, eine übermächtige Daemonenkönigin, die mit einem Gefolge aus ebenfalls gefährlichen Daemonen in zwei Tagen versuchen wird, Distrikt 16 in ein neues Gebiet des Ödlands zu verwandeln. Und du sollst das ermöglichen, um Ida wiederzusehen.“ Ich nickte. „In Ordnung.“ Er runzelte die Stirn und stand auf. „Sam, Henrietta, Sunny, ihr fahrt am besten nach Hause. Ich melde mich morgen wegen des weiteren Vorgehens bei euch. Coon, du siehst halbtot aus. Leg dich hin und schlaf. Ich kümmere mich um Kady und Charles, wenn sie eintreffen.“ „Danke“, sagte ich und stand auf wackligen Beinen vom Tisch auf. „Gute Nacht, Leute. Und Sunny?“ Er sah überrascht zu mir auf, einen Arm bereits in der Winterjacke steckend. „Danke, dass du zurückgekommen bist. Und für das, was du mir im Auto gesagt hast. Das war genau das, was ich hören musste.“ Er lächelte. Und endlich, endlich, war es Sunnys Lächeln.     Mein alter Freund Schlaf fand mich leicht, auch ohne Schlaftabletten. Die Veränderungen, die Williams Biss in meinem Körper verursacht hatte, mussten ihre Folgen mit sich gezogen haben. Aber das hieß nicht, dass ich gut schlief. Albträume plagten mich. Ida, wie sie alleine und verloren durch das Ödland wandelte und nach mir rief. Ida, wie sie Isaacs Platz einnahm und Tom den Arm abriss. Ida, wie sie mich dafür verurteilte, dass ich sie aufgegeben hatte, dass sie mir das Opfer nicht wert war. Ich erwachte schweißgebadet, mit Tränen in den Augen und zu dem Anblick der verrotteten Nabelschnur, die dick und wulstig auf meiner Brust lag und sich nicht rührte, selbst als ich angewidert mit der Hand darüberfuhr, um sie wegzuschieben. Ida war mutiert. Ihre Verbindung zu mir war gebrochen. Weshalb war unser totes Band noch da? Meine Gliedmaßen fühlten sich geschwollen und schwer an. Ich wollte nicht aufstehen. Aber wenn die Dunkelheit in meiner Wohnung irgendein Anhaltspunkt war, hatte ich den ganzen Tag verschlafen. Durch mein Dachlukenfenster konnte ich einige versprengte Sterne ausmachen. Immer noch müde setzte ich mich auf, schlug die Bettdecke zur Seite und massierte mein rechtes Bein. Die dünne, dunkle Linie, das Überbleibsel von meinem Daemonenbiss in Distrikt 18, war in den letzten Monaten langsam verblasst. Meine nackten Füße trafen auf die kalten Dielen. Ich stand auf, streckte mich und zog mich an. Auf der Anrichte in meiner Küche fand ich ein Tablett mit Kürbissuppe zum Aufwärmen und einen Zettel von Rock, in dem er mir sagte, dass mit Kady und Charles alles besprochen war. Ich musste mich um nichts mehr kümmern. Schnaubend schob ich die Suppe in die Mikrowelle. Was glaubte er, dass ich jetzt einfach alles den anderen Gründern überließ? Ich wollte Rache. Rache für das Leben, das Elias mir zu Hölle gemacht hatte, für die Menschen, die er mir genommen hatte. Für meine treueste Gefährtin. Nie im Leben würde ich mich jetzt unter der Decke verkriechen. Mit vollem Magen schnappte ich meinen Mantel, zog meine Schuhe an und ging zur Tür, um herauszufinden, ob Rock noch wach war und mir von seiner Unterhaltung mit Kady und den gemachten Plänen berichten konnte. Die Tür klemmte. Ich runzelte die Stirn, drückte die Klinge noch einmal hinunter, diesmal mit meinem ganzen Gewicht. Sie öffnete sich nicht. „So eine Scheiße“, murmelte ich und suchte in den Tiefen meiner Taschen nach meinem Hausschlüssel. War sie ins Schloss gefallen, als Rock mir die Suppe gebracht hatte? Ich fand mein Handy, eine angebrochene Packung Kaugummi und ein wenig Münzgeld. Keinen Schlüsselbund. Verwirrt durchsuchte ich als nächstes meine Hosentaschen, meinen Rucksack, die Schubladen in meiner Kommode und meinem Nachttisch. Nichts. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich. Mit der Faust klopfte ich von innen gegen meine Tür. „Rock? Rock, bist du noch wach?“ Ich horchte angestrengt. Keine Antwort. „Das kann jetzt echt nicht wahr sein“, murmelte ich und schlug heftiger gegen das Holz. „ROCK!“ Einige Sekunden vergingen, bis ich endlich Schritte auf der quietschenden Treppe vernehmen konnte. „Was zur Hölle ist hier los?“, fragte ich wütend. „Warum bin ich in meiner Wohnung eingesperrt? Wo sind meine verdammten Schlüssel?“ Draußen klimperte es. „Ich habe sie. Tut mir leid, Coon.“ „Fuck, Rock, was soll das?“ „Ich wünschte, es wäre nicht notwendig. Aber ich weiß, wie viel Ida dir bedeutet. Du sagst zwar, dass du Elias‘ Forderungen nicht nachkommen wirst, aber ich kann mich dieses Mal nicht auf dein Wort verlassen. Ich weiß nicht, zu was du fähig wärst, um Ida zu retten, und wir können nicht riskieren, es herauszufinden. Kady und Charles stimmen mir zu.“ „Das ist nicht dein Ernst“, flüsterte ich, jedoch laut genug, dass ich sicher war, dass Rock mich hören konnte. „Hältst du mich für ein Monster? Vertraust du mir überhaupt nicht mehr?“ „Ich vertraue dir Coon, wirklich. Aber nicht genug, um das Leben tausender Menschen zu riskieren. Wir haben alles unter Kontrolle. Sieh das hier als den Urlaub, den du schon so lange willst. Lies deine Krimis, nimm ein ausgiebiges Bad. In zwei Tagen ist alles vorbei und wir lassen dich wieder raus.“ „Fick dich, Rock!“, schrie ich ihm hinterher, als er die Treppen hinunterstieg. „Wie würdest du dich fühlen, wenn es Rosie oder Mary dort draußen im Ödland wäre? Würdest du auch gerne Urlaub machen, während andere sich um das Problem kümmern?!“ Das Quietschen verstummte. Zuerst glaubte ich, er wäre schon fort. Frustriert ließ ich die Stirn gegen das Holz fallen. „Glaub mir, ich habe mir genau diese Situation vorgestellt“, erklang Rocks gedämpfte Stimme. „Es ist keine Schande, jemanden zu lieben, Coon. Aber wir dürfen die Liebe nicht zerstörerisch werden lassen. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft hätte, mich den Forderungen zu widersetzen, wenn es um meine eigene Familie ging. Und deshalb bin ich nicht sicher, ob du es kannst. Mary bringt dir morgen Frühstück.“ Rock verschwand die Treppen hinunter. Einen Moment stand ich reglos da, dann riss ich brüllend die gesamte Dekoration meines Wandschranks zu Boden. Das gerahmte Bild von Rock, Mary und mir versprang auf dem Fußboden, ein Packen Briefe und Notizzettel verteilte sich im Raum. Als nächstes nahm ich mir die Küche vor. Teller zerschellten, mein Wasserkrug zersprang in tausend Scherben, Wasser platschte über meine Boots. Mit einem erstickten Geräusch sank ich inmitten der Verwüstung an der Wand hinunter und krallte die Finger in mein Haar. Ich zog, bis der Schmerz mich zurückholte und mir erlaubte, wieder klar zu denken. Hatte Rock Recht? War ich ein zu großes Risiko? Wenn es hart auf hart kam, würde ich meinen Entschluss ändern und den Distrikt doch opfern? Plötzlich wusste ich selbst nicht mehr, was ich wollte. Konnte ich mir wirklich selbst vertrauen? Ich presste die Lippen zusammen. Vielleicht nicht. Aber ich würde einen Teufel tun und in meinem Zimmer verrotten, während Elias noch frei herumlief. Er musste damit gerechnet haben, dass ich Rock von seiner Identität erzählen würde und war wahrscheinlich inzwischen untergetaucht. Nie im Leben würde ihn jetzt noch jemand ausfindig machen. Mein Blick fiel zu dem Dachlukenfenster. Niemand außer mir.     Wie in berühmten Filmen mithilfe einiger zusammengebundener Laken aus meiner Wohnung zu klettern, hatte ich mir wesentlich einfacher vorgestellt. Das erste Problem war, ein geeignetes Objekt zu finden, an dem ich mein improvisiertes Seil befestigen konnte. Letztlich hatte ich mich für den Wasserhahn an der gegenüberliegenden Wand entschieden, der mir von allen Optionen noch am stabilsten vorkam. Trotzdem reichte das Laken nicht die ganze Hausfassade hinab und das Dachlukenfenster schien seit meinem gefassten Entschluss um die Hälfte geschrumpft zu sein. Ich zwängte mich hindurch, erst mit einem Bein, dann mit dem Oberkörper und zuletzt mit dem anderen Bein, Hände um das Laken geklammert. Mit den Füßen stieß ich mich von den Ziegelsteinen ab, während ich ganz langsam hinunterkletterte. Als ich zwei Meter über dem Boden war, holte ich tief Luft und ließ los. Der Aufprall durchfuhr meinen ganzen Körper wie ein betäubender Blitz und ich humpelte für einige Sekunden auf und ab, bis der Schmerz nachließ. Mein rechtes Bein zog sich in einem beginnenden Krampf zusammen und ich massierte und dehnte meine Wade, bis ich wieder darauf stehen konnte. Außer meinem Gehstock, den ich vor meiner Kletterpartie hinuntergeworfen hatte, nahm ich nichts mit. Wildentschlossen kam ich hinter den großen Müllcontainern hervor, die etwas abseits an der Hausfassade standen und machte mich auf den Weg. Ungeachtet der späten Uhrzeit wählte ich Sams Nummer. Schlaftrunken nahm sie nach dem fünften Klingeln ab. „Hi, Coon“ Sie klang erschöpft und ein wenig betrunken. „Warum rufst du an? Es ist mitten in der Nacht, Henny schläft schon.“ „Hat Rock dir etwas von seinem Gespräch gesagt?“, fragte ich, ohne Zeit zu verlieren, den Blick in den Himmel gerichtet. Außer den Sternen und vereinzelten Wolkenstreifen konnte ich noch nichts erkennen, aber hier standen die Häuser ohnehin zu dicht. Ich brauchte mehr Platz. „Er hat nur kurz durchgeklingelt, dass wir morgen den Distrikt durchkämmen und überall Patrouillen stationieren. Warum?“ „Was hat er über mich gesagt?“ „Nichts, warum? Du kommst vermutlich mit. Hast du nicht mit ihm gesprochen?“ „Doch. Nachdem er mich in meiner Wohnung eingesperrt hat. War sehr informativ.“ Sam sog hörbar die Luft ein. „Das ist nicht sein Ernst, oder?“ „Habe ich auch gesagt.“ Ich fuhr mir durch die Haare, sah mich um, nahm eine Straßenkreuzung, von der ich wusste, dass sie in weniger besiedeltes Gebiet führte. Mein Blick huschte über den Himmel. „Er will verhindern, dass ich Elias' Forderungen nachkomme, um Ida zu finden.“ Ein kurzes Zögern. „Und willst du?“ „Natürlich nicht! Ich —“ Ich verstummte, setzte neu an. „Ich wollte. Als ich zu ihm gegangen bin, als ich noch dachte, dass der Chief der Daemon ist, war ich entschlossen, alles zu tun, um Ida zurückzuholen. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er den gesamten Distrikt als Geisel nehmen würde. Ida würde mir niemals verzeihen, in ihrem Namen tausende Menschen zu gefährden, und ich mir auch nicht. Aber ich bin derzeit die Einzige, die Elias finden kann, und ich sterbe lieber, als dass dieser Psychopath mir durch die Lappen geht.“ „Du wirst ja richtig rachsüchtig auf deine alten Tage“, sagte Sam. „Verlass dich drauf“, murmelte ich und sah wieder in den Nachthimmel, der durch die Beleuchtung der Stadt einen rötlichen Grauton angenommen hatte. Da. Ein blauer Faden, kaum gegen die Dunkelheit zu erkennen, der sich über einige mehrstöckige Häuser hinwegspannte. Ich lief weiter, der Aufprall meines Gehstocks auf dem Pflaster ein lautes Klonk Klonk in der Nacht. Einige Autos mit grellen Scheinwerfern fuhren mir entgegen, Windböen fraßen sich in meine Wangen. Ich hatte meinen Schal vergessen. „Sam“, fuhr ich fort, als sie schwieg, „ich werde Elias finden. Und ich werde Ida finden, egal wie, aber ich werde sie finden.“ „Brauchst du Hilfe?“, fragte sie. „Soll ich dich irgendwo abholen? Wir können das Arschloch zusammen jagen.“ „Erst muss ich ihn ausfindig machen“, entgegnete ich. „Nein, du musst mir Rückendeckung geben. Ruf bei Rock an, sag ihm, ich habe mich bei dir über ihn ausgekotzt und dass ich niemanden sehen will. Mach ihn zur Schnecke, damit er keinen Verdacht schöpft. Das sollte mir ein paar zusätzliche Stunden verschaffen. Ansonsten mach ganz normal deine Patrouillen. Wenn ich einen Chauffeur brauche, schnappe ich mir Sunny.“ „Okay. Aber sei vorsichtig, Coon. Dieser Daemon ist gewieft. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Ida zu verlieren ist eine Sache, aber wenn du auch noch verschwindest oder … oder stirbst, dann gehe ich kaputt.“ „Ich passe auf. Versprochen. Du hast noch viele Jahre meines Dramas vor dir.“ „Gut. Sonst kann nämlich niemand meine Trautzeugin sein. Aber genug jetzt. Hast du nicht einen Daemon zu überführen? Na los, auf in den Kampf!“ „Geht klar, Boss.“ Wir legten auf. Meine Hand, die das Handy hielt, war vom eiskalten Wind steifgefroren. Mit neuem Elan stapfte ich los, der blauen Lichtlinie folgend. Bislang war es nur eine. Aber ich hatte das Netzwerk gesehen, das von ihm ausging. Wenn ich genug Linien fand, würde er sich in ihrem Zentrum befinden. Und dann konnte ihn nichts mehr vor mir retten.     Der Morgen graute bereits, als ich mir sicher war, dass ich Elias' Aufenthaltsort kannte. Stundenlang hatte ich mich durch die Kälte geschlagen, einen heftigen Regenschauer unter dem Blechdach einer Bushaltestelle ausgesessen, um mir nicht den Tod zu holen, und fast die gesamte Stadt durchquert. Elias war ganz nah an der Grenze zum Ödland. Vielleicht ahnte er, dass ich mich nicht beugen würde, vielleicht hatte sich sein Plan geändert. Was auch immer sein Grund war, ich würde dafür sorgen, dass er nicht zum Zug kam. Zwar hatte ich Sam gesagt, dass ich Sunny anrufen würde, aber ich wollte ihn nicht erneut in Gefahr bringen. Meine eigenen Überlebenschancen bei einer Konfrontation schätzte ich sehr viel höher ein; und sei es nur, weil ich ein wertvolles Testobjekt war, das Elias nicht verlieren wollte. Außerdem war ich inzwischen schon am Rand der Stadt angekommen. Der Berufsverkehr hatte begonnen und das Hupen frustrierter Autofahrer und das Brummen von Motoren füllte die klare Morgenluft. Die blauen Lichtstränge versanken in einer alten Lagerhalle, die mit Maschendrahtzaun abgegrenzt war und völlig verlassen aussah. Gelbe Fußspuren unterschiedlicher Daemonen führten durch ein vergittertes Tor über den leerstehenden Platz zu dem Haupteingang. Ich kannte dieses Ort. Rocks Trainingshalle für Hunterazubis war nur wenige Minuten mit dem Auto entfernt. Unschlüssig blieb ich vor dem drei Meter hohen Zaun stehen. Ich wollte nichts lieber als hineingehen, Elias exzidieren und sofort danach ins Ödland ziehen und nicht eher zurückkehren, bis ich Ida wiedergesehen hatte. Eine verräterische Hoffnung legte sich um mein Herz. Ida war stark. Vielleicht würde mein Anblick reichen, um sie zurückzuholen? Vielleicht war unser Band nicht wirklich zerstört … Mein Blick fiel hinab auf das graue Überbleibsel, das aus meinem Brustbein hing. Aschgrau, verdorben, zerrissen. In den letzten Stunden war es merklich verblasst und geschrumpft. Bald würde es sich auflösen, meine letzte Verbindung zu Ida für immer zerstören. Aber noch war es vorhanden. Ich blinzelte. Was wenn … Was wenn … Die Hoffnung zog sich fester, ließ mich bluten. Was wenn Ida in ihrer Daemonenform das gleiche Reststück unserer Bindung mit sich trug? Würde ich sie daran erkennen können? Sofort hatte ich mein Handy in der Hand. Elias konnte warten. Ich musste Ida finden, sofort, bevor sie das einzige Erkennungsmerkmal verlor. Meine Finger tippten eine SMS.   Empfänger: Rock Jordans Nachricht: Elias ist im Industriegebiet, Pine Road 67, nahe Westtor. Bring Verstärkung.   Ich hatte gerade genug Zeit, auf Senden zu drücken, bevor ich das Knirschen von losem Splitt unter schweren Schuhsohlen vernahm. Ich drehte mich um. Ein Metallrohr raste auf mich zu. Ich riss die Arme hoch, versuchte auszuweichen—vergebens. Das Rohr schlug gegen die Seite meines Kopfes. Der Schmerz war so überwältigend, dass ich stöhnend zu Boden ging. Mir wurde schummrig vor Augen, meine Ohren rangen. Bevor ich begriff, was geschah, griffen Hände nach mir, packten mein Gesicht und hielten mich mit unnatürlicher Kraft fest. Immer noch benebelt versuchte ich, die Person zu erkennen. Es war eine Frau, mit kurzgeschnittenem, violett gefärbtem Haar und einer großen Hornbrille. Ein gelbes Leuchten ging von ihrem ganzen Körper aus und überlagerte sich mit dem hellen Grau, das den Rest von ihr dominierte. Ich trat nach ihr, aber meine Beine gehorchten mir nicht und trafen ins Leere. Die Augen der Frau leuchteten gelb, ihr Blick bohrte sich in meinen. Sie holte erneut mit der Metallstange aus, presste die Waffe gegen meine Kehle und drückte mich damit in den Schotter. Nach Luft schnappend schlug ich nach ihr, versuchte, mich zu befreien, aber der erste Schlag gegen meinen Kopf hatte mich komplett außer Gefecht gesetzt. Meine Lunge brannte, ich bekam keine Luft mehr. Verzweifelt riss ich den Mund auf und einzuatmen, doch in dem Moment beugte sich die Frau hinab— —und küsste mich. Es war kein richtiger Kuss. Unsere Münder prallten aufeinander, ihre Zunge bohrte sich zwischen meine Lippen, bevor ich auch nur daran denken konnte, die Zähne zusammenzubeißen. Rauch und Fäulnis füllten mich, flossen in meinen Körper, und wie zuvor mit William durchfuhr der Daemon mich wie eine Woge aus Dunkelheit, die mir die Kontrolle über meinen Körper entriss. Sie war nicht so vollkommen wie seine es gewesen war. Der beschleunigte Herzschlag, das Adrenalin, die Panik in meiner Brust waren alles meine Reaktionen. Aber als ich versuchte aufzustehen, gehorchten mir meine Gliedmaßen nicht. Als ich die Augen schließen wollte, blieben sie stur geöffnet. Was für ein Idiot ich war, was für ein absoluter Anfänger. Hatte die Erfahrung mit William nicht gereicht? Ich hätte besser aufpassen müssen, die Umgebung sondieren. All die neuen Eindrücke, die blauen Linien am Himmel, und mir war nicht aufgefallen, dass ein Daemon direkt hinter mir war. Natürlich würden nicht nur freilaufende Daemonen unter Elias' Kommando stehen, sondern auch solche, die bereits Menschen übernommen hatten, die versteckt auf seine Anweisungen warteten. Er hatte Wachen postiert, und ich war genau in seine Falle getappt. Der Daemon in meinem Kopf fühlte sich stark an. Er grub sich durch meine Erinnerungen, mein Sprachmuster, durchsuchte jeden Winkel meines Seins nach Geheimnissen. Die Zeit dehnte sich ins endlose. Als er mit mir fertig war, fühlte ich mich nackt, zerfleddert, verletzlich. „Raccoon Thynlee“, sagte er mit meiner Stimme. Ich spürte meine Zunge, meine Lippen, die die Laute formten, den Atem, der durch meine Lungen strömte. „Lass uns spielen.“ Ich warf mich gegen seine Fesseln, die mich in den hintersten Teil meines Bewusstseins verbannten, aber ich hätte genauso gut versuchen können, eine Betonwand mit bloßen Hände aufzureißen. Er war nicht so stark wie William, oder so gut kontrolliert, aber es war erst das zweite Mal, dass mich ein Daemon gegen meinen Willen besaß und ich schaffte es nicht, ihn loszuwerden. Zwei Gedanken dominierten das Chaos in meinem Kopf. Dass ich Ida nicht mehr rechtzeitig finden würde, und dass Rock Recht damit gehabt hatte, mich einzusperren. Blind vor Rache hatte ich genau das getan, was Elias wollte. Ohne weitere Erklärung erhob er sich, erhob ich mich mit ihm, und ging Richtung Westtor, während ich in meinem Gefängnis weiterhin gegen seinen Griff ankämpfte. Es musste sich um einen der intelligenteren Daemonen handeln, die Elias beherrschte, wenn er in vollständigen Sätzen sprechen und mich imitieren sollte. Ich hatte eine üble Vorahnung, was er tun würde, und das konnte ich nicht zulassen. Der Eingang zum Wachturm war verschlossen. Aus den Augenwinkeln konnte ich doppelte Patrouillen auf der Grenzmauer entdecken, ein Hunter pro fünfzig Meter Abschnitt. Auch wenn Distrikt 16 nur an einer Seite mit dem Ödland in Kontakt kam, war die Mauer einige Kilometer lang. Charles und Kady mussten alle verfügbaren Kräfte mobilisiert haben, um so viele Grenzhunter wie möglich aufzustellen. Mit meiner Hand klopfte der Daemon an die Tür. Von innen erklang das Schaben eines Stuhls über Stein. „Wer ist da?“ „Raccoon Thynlee“, sagte der Daemon mit meiner Stimme und wartete geduldig, bis der Mann öffnete. Es war derselbe wie an dem Tag, als Sam und ich losgegangen waren, um die Nachricht zu überbringen. Sein zerzaustes, blondes Haar erinnerte mich an Andrew, der nach unserer Rückkehr zu Paiges Organisation gewechselt war. Mein Daemon sprach weiter. „Ich bin wegen der Invasion hier. Überwachung der Grenzmauer.“ Ich tippte mir gegen meinen Willen gegen die Schläfe. „Ich bin die Einzige, die erkennen kann, ob einer der Hunter hier besessen ist. Kady sollte mich angemeldet haben.“ Der junge Hunter sah sichtlich verwirrt aus. Er kannte mich, wusste, dass ich erst vor kurzem wegen einer wichtigen Mission ins Ödland gegangen war. Aber natürlich hatte er nichts von diesen neuen Befehlen gehört. Wieder warf ich mich gegen die Fesseln, dieses Mal mit all der Kraft, die ich aufbringen konnte, mit dem einen Wunsch, dass Elias mir alles wegnehmen konnte, aber er würde mich nicht zur Mörderin machen. „Eh, lassen Sie mich kurz nachsehen“, sagte der Hunter und drehte sich zu seinem Schreibtisch um, wo er einen Packen Unterlagen durchblätterte. „Aber ich bin ziemlich sicher, dass Kady mir nicht —“ Weiter ließ der Daemon ihn nicht kommen. Ich trat hinter ihn, meine Hände umfassten von hinten seinen Kopf und ruckten. Es war ein Gefühl, dass ich nie in meinem Leben wieder fühlen wollte. Sein Genick brach zwischen meinen Händen mit einem satten Knacken und der junge Mann sackte lautlos in sich zusammen, Gliedmaßen leblos und schlaff. Ich starrte die Leiche an, den Hunter, den ich durch meine schiere Inkompetenz umgebracht hatte. Der Daemon mochte meine Hand geführt haben, aber ich hätte mich wehren, kämpfen, irgendetwas tun müssen. Jetzt war es zu spät. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Der Daemon hatte mich von meinem Sehsinn abgekappt. Ich schrie, wehrte mich, kämpfte gegen seinen Griff an. Er ignorierte mich. Wir verließen den Wachturm. Der kalte Wind streifte über mein Gesicht. Ich spürte, wie meine Finger sich um etwas schlossen, das sich verräterisch nach dem Metallrohr anfühlte, mit dem ich selbst eben erst niedergeschlagen worden war. HÖR AUF, schrie ich in meinem Kopf, aber er achtete nicht auf mich. „Das wird eine Weile dauern“, verkündete der Daemon in meiner Stimme, als wir zurück im Wachturm waren, durch eine Tür traten und die Treppen hinauf auf die Mauer stiegen. „Versuch, mich nicht allzu sehr zu nerven, okay?“ FICK DICH! „Wie du willst.“ Und mit diesen Worten versank ich in absoluter Dunkelheit, ohne Gefühl für Raum, Zeit, oder mein eigenes Selbst. Jeder Gedanke floss durch meine Finger wie Sand. Ich verlor mich, sank tiefer, tiefer … Tiefer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)