Bis in alle Ewigkeit von Tarima (Michi-Woche) ================================================================================ Kapitel 1: Fantasie ------------------- Es war immer wieder komisch, die alte blecherne Keksdose nach all der Zeit in den Händen zu halten und wie jedes Jahr unter den Kirschbäumen zu warten. Ich öffnete sie und die ganzen kleinen Zettel kamen zum Vorschein, die wir seit zehn Jahren dort hinterließen. Sie enthielten unsere geheimsten Wünsche. Träume, die wir uns im kommenden Jahr erfüllen wollten. Ich grinste und zog wahllos ein paar alte Zettel aus der Dose.   Matt: Im nächsten Jahr werde ich eine Band gründen. Joe: Nächstes Jahr werde ich Klassenbester sein. Mimi: Ich werde Abschlussballkönigin. Ich musste lachen. Das passte zu ihnen. Im Laufe der Zeit wurden die Zettel immer weniger. Vor einem Jahr hatte ich geschrieben: Ich werde Mannschafts-Bester.   Dann nahm ich Mimis letzten Zettel in die Hand, den sie vor zwei Jahren geschrieben hatte.   Nächstes Jahr werde ich so was von Karriere machen!!!   Schmunzelnd legte ich ihn zurück. Der von letztem Jahr fehlte. Sie war nicht gekommen, so wie alle anderen. Keiner hatte Zeit für vergangene Träume. Und auch dieses Jahr würde ich wohl der Einzige sein, der seinen Wunsch aufschrieb. „Hey, warum hast du schon angefangen?“, sagte plötzlich eine vertraute Stimme. Ich sah überrascht auf. Mimi stand vor mir und stemmte die Hände in die Hüften. „Das finde ich nicht nett von dir, Tai. Es ist Tradition, dass wir die Wünsche zusammen aufschreiben.“ Etwas ungläubig starrte ich sie an, doch dann musste ich einfach lächeln. „Sorry, ich dachte, es kommt niemand mehr.“ Ihre Miene entspannte sich und sie setzte sich neben mich. „Tut mir leid, dass ich dich letztes Jahr versetzt habe“, entschuldigte sie sich. „Aber… Mein Freund hat einen Tag vorher Schluss gemacht. Irgendwie war mir nicht hiernach.“ Ich nickte verständnisvoll. Das konnte ich ihr nicht verübeln. Auch meine Beziehungen waren die letzten Jahre über alle in die Brüche gegangen. „Wir hatten wohl beide nicht besonders viel Glück in der Liebe, was?“ Mimi lächelte traurig und ich konnte diesen Schmerz nachempfinden. „Ach, was soll’s“, sagte sie plötzlich wie ausgewechselt. „Wollen wir?“   Wir saßen eine gefühlte Ewigkeit mit unseren leeren Zetteln schweigend nebeneinander. Keiner von uns schrieb auch nur ein Wort. Irgendwann sagte Mimi dann: „Hast du auch das Gefühl, dass unsere Wünsche immer ziemlich… na ja, oberflächlich waren?“ „Deine vielleicht. Meine ganz sicher nicht.“ Dafür kassierte ich einen Schlag gegen den Arm. „Du weißt genau, wie ich es meine. Vielleicht sollten wir uns was wünschen, was etwas mehr… Tiefe hat.“ Mit hochgezogener Augenbraue sah ich sie an. „Du machst mir Angst. Hast du Fieber?“, fragte ich und legte eine Hand an ihre Stirn, die sie sogleich wegschlug. „Lass den Unsinn! Schließ mal die Augen.“ „Was?“ „Schließ deine Augen. Und dann stell dir vor, was dein tiefster Herzenswunsch ist. Lass einfach mal deine Fantasie spielen.“ „So ein Quatsch.“ Mimi grummelte und schloss ihre Augen. Ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen. „Also, in meiner Fantasie… verliebe ich mich unsterblich in jemanden. Und er verliebt sich unsterblich in mich.“ „Ach, wirklich?“, grinste ich. Mimi öffnete die Augen und sah mich ernst an. „Ja, wirklich. Gib mal her!“ Sie riss mir meinen Zettel aus der Hand und schrieb etwas darauf.   Tai: Ich werde mich unsterblich verlieben.   „Hey, das ist aber nicht mein Herzenswunsch“, beschwerte ich mich. „Doch, ist es. Du weißt es nur noch nicht“, grinste Mimi, schrieb dasselbe auf ihren Zettel und legte beide zu den anderen in die Keksdose. „Heute in einem Jahr, werden wir uns beide unsterblich verlieben, Taichi Yagami.“ Und somit wurde ihre Fantasie zu meiner Fantasie – auch wenn ich es nie wollte. Aber sie sollte recht behalten. Ich würde mich unsterblich verlieben. Ich wusste es nur noch nicht. Kapitel 2: Sterne ----------------- Wieder saß ich unter dem Kirschbaum und hielt die kleine Keksdose in der Hand. Doch diesmal wusste ich, dass noch jemand kommen würde. Mimi hatte es fest versprochen. Und - auch wenn ich es nur ungern zugebe - ich freute mich darauf. Wir verbrachten in den letzten Monaten viel Zeit miteinander und wurden immer engere Freunde. Ich war gerne in ihrer Gegenwart. Mit ihr war Spaß vorprogrammiert, sie verlor nie ihr Lachen. Doch auch über ernstere Angelegenheiten konnte man mit ihr sprechen. Es gab noch Hunderte weitere Eigenschaften, die Mimi zu einem Menschen machten, der liebenswürdiger nicht hätte sein können. Ich schaute auf meine Uhr und merkte, dass sie zu spät war. Hatte sie es vielleicht doch vergessen? Unruhe und Enttäuschung machten sich in mir breit. Doch all das erlosch in dem Moment, als ihre sanfte Stimme erklang. „Tai, Entschuldige die Verspätung. Ich hatte Probleme, meinen Kimono richtig zu binden“, sie stand abgehetzt vor mir und lächelte mich an. Und ich? Ich konnte nichts sagen, so sprachlos machte mich ihr Anblick. Sie trug einen hellrosa Yukata mit Blumenmuster und ihre Haare zierte ein passendes Haarband. Mimi war schon immer schön, doch heute fiel mir zum ersten Mal auf, wie schön sie war. „Puh, jetzt geht es wieder“, lachend ließ sie sich neben mich fallen. Meinen Blick konnte ich einfach nicht von ihr lösen. Mimis Wunsch, den sie letztes Jahr für uns aufschrieb, war eingetreten: Ich hatte mich gerade unsterblich verliebt. Und zwar in sie. Ich meine, ich hatte schon immer so ein kleines Kribbeln im Bauch, wenn wir gemeinsam etwas unternommen hatten oder sie beim DVD-Abend auf meiner Schulter eingeschlafen ist, aber ich wusste nie, was das bedeutete. Wie konnte ich nur so blind sein? Ein Fingerknipsen vor meinen Augen holte mich zurück in die Realität. „Erde an Tai. Ist alles okay?“, fragte sie grinsend. „Ähm, sorry. Ich war nur…“, verdammt, was sollte ich sagen? Doch die Entscheidung nahm sie mir ab. „Ich bin auch abgelenkt von den Sternen“, sagte sie, als hätte sie nicht gemerkt, dass ich nicht die Sterne, sondern die ganze Zeit sie angeschaut hatte. „Ich finde, heute strahlen sie noch intensiver als sonst, oder? Als wüssten sie, dass es ein besonderer Tag ist“, ihre Wangen wurden leicht rot und sie schaute verträumt in den Sternenhimmel. „Hm, ist mir noch nicht aufgefallen“, murmelte ich und schaute nun auch nach oben. „Euch Kerlen fällt sowas ja auch nicht auf“, lachte sie und stand plötzlich auf. „Komm, lass uns über den Platz schlendern bevor wir unsere Wünsche aufschreiben.“ Die Keksdose verstaute ich in ihrem Beutel und folgte ihr dann. Im Moment war mir egal, was wir machen würden, Hauptsache Mimi war an meiner Seite. Die Zeit verflog wie im Flug. Wir aßen etwas und ich schoss ihr sogar einen kleinen Plüschkaktus. Immer mal wieder stießen wir beim Laufen zusammen. So, als würden wir die Nähe des anderen suchen. Kurz bevor das Feuerwerk, der Höhepunkt des Abends, anfing, setzten wir uns wieder unter unseren Kirschbaum. „Tai, wir müssen noch unsere Wünsche aufschreiben“, erinnerte Mimi mich und holte die Dose hervor. Schweigend schrieben wir unsere Wünsche auf. Was sie wohl notierte? „Ist dein Wunsch von letztem Jahr eigentlich in Erfüllung gegangen?“, fragte ich schüchtern. „Ja“, sagte sie mit einem Strahlen, dass die Sterne über uns verblassen ließ. „Und mein Wunsch heute baut darauf auf.“ „Was wünschst du dir denn?“, hakte ich nach und lehnte mich zu ihr. „Dass das heute unser erstes Date von vielen war.“ Und in diesem Moment begannen die Schmetterlinge zu fliegen. Es gab nur eine Sache, die ich tun konnte: mich zu ihr beugen und sie küssen. Kapitel 3: Verbindung --------------------- Unser erstes Date war mittlerweile zwei Jahre her. Es folgten gemütliche Morgen, rasante Nachmittage und wundervolle gemeinsame Abende, die ich mit keinem außer ihr verbringen wollte. Wir zogen nach einem halben Jahr Beziehung bereits zusammen, auch wenn unsere Freunde uns schon für verrückt erklärten. Aber es passte einfach alles! Wir unterstützten uns gegenseitig, gaben uns Kraft sowie den nötigen Mut, unsere Träume zu erfüllen. Erst vor kurzem hatte ich einen neuen Job angefangen. Ich leitete eine ganze Abteilung in einer großen Finanzfirma. Anfangs hatte ich große Bedenken, ob es das Richtige für mich war und der Job mich nicht überfordern würde. Schließlich hatte ich erst die Uni abgeschlossen und startete relativ erfahrungslos in den Beruf. Dennoch wollte die Firma mich und scheute keine Mühen, mich anzuwerben. Aber erst durch Mimi konnte ich eine klare Entscheidung treffen. Sie war diejenige, die meine Stärken betonte und meine Schwächen eindämmte. Sie war meine Seelenverwandte, die mich vervollständigte. Dennoch bemerkte ich seit ein paar Tagen eine Veränderung zwischen uns. Sie war distanzierter als sonst, was ich jedoch auf ihre bevorstehende Masterarbeit schob. Vielleicht war sie nervös und hatte Angst, was ich ihr nicht verdenken konnte. Vor rund einem Jahr saß ich an diesem Schreibtisch und werkelte fleißig daran. Und Euphorie und Missmut lagen in dieser Zeit nah beieinander. Deswegen entschloss ich mich dazu, sie zu unterstützen. Heute verbrachte sie nämlich den ganzen Tag in der Bibliothek, weshalb ich extra früher Feierabend machte, um ihr Lieblingsessen für sie zu kochen. Ich deckte liebevoll den Tisch und verzierte ihn mit Rosenblättern, die ich extra für diesen Anlass gekauft hatte. Die Lasagne befand sich noch im Ofen und kühlte gerade aus, als ich auch schon das Schloss hörte. Geschwind schnappte ich mir die Topflappen, holte die Lasagne aus dem Ofen und drapierte sie auf dem Tisch, bevor Mimi ins Esszimmer trat. „Überraschung!“, rief ich freudig und breitete die Arme aus. „Ich habe Lasagne gemacht!“ „Ich rieche es“, erwiderte sie stockend und schluckte. „I-Ich glaube, ich verzichte heute. Mir ist nicht sonderlich gut.“ Verwirrt und gleichzeitig enttäuscht blickte ich sie an. „Sag mal willst du mir irgendwas sagen? Schon seit Tagen bist du so komisch“, stellte ich verärgert fest. „Ich habe extra früher Schluss gemacht, um für uns was zu kochen. Damit wir einen schönen Abend miteinander verbringen können.“ „Ich…es tut mir leid, aber…“, sie stockte abrupt, ließ ihre Tasche zu Boden fallen und stürmte ins Badezimmer. Ich hörte wie der Klodeckel gegen die Fliesen schepperte und sie sich lauthals übergab. Schnell sprintete ich zu ihr und blieb am Türrahmen stehen. Sie saß wie ein Häufchen Elend vor mir und würgte immer noch, ehe ich mich langsam an sie heranschlich und behutsam über ihren Rücken streichelte. „Hast du etwas Falsches gegessen?“, fragte ich besorgt, nachdem sie sich beruhigt hatte und sich erschöpft zu mir drehte. „Nein, das ist es nicht“, sagte sie fast flüsternd und schaute mich mit großen Augen an. „Was ist es denn? Sollen wir zum Arzt fahren?“ Doch Mimi schüttelte nur sachte den Kopf und ergriff meine Hand. „Ich war heute beim Arzt…“, gestand sie mir mit einem Lächeln. „Was? Ich dachte du wärst heute in der Bibliothek gewesen wegen deiner Masterarbeit.“ Mimi legte auf einmal meine Hand auf ihren Bauch, aber ich verstand nicht sofort, was sie mir mit dieser Geste sagen wollte. Nur sehr langsam begriff ich, dass eine große Neuerung auf uns zusteuerte. Wir hatten eine neue Verbindung geschaffen, die unser Leben für immer verändern würde. Sprachlos, aber glücklich, strich ich über ihren flachen Bauch. „Du bist schwanger“, hauchte ich freudig, ehe sie mir mit einem eifrigen Nicken die freudige Botschaft bestätigte. Kapitel 4: Gold --------------- Verträumt schaute ich auf meinen Ringfinger und konnte es noch immer nicht glauben. Vor ein paar Stunden hatten Mimi und ich uns die goldenen Ringe angesteckt und uns ewige Liebe versprochen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich sie schon viel früher geheiratet. Noch bevor unser kleines Wunder auf die Welt gekommen war. Aber Mimi wollte nicht. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass wir erst heiraten würden, wenn unser Kind alt genug sei, dass es die Hochzeit miterleben konnte. Und als wir erfahren hatten, dass wir ein Mädchen erwarteten, wollte sie unbedingt, dass sie ihr Blumenmädchen werden würde. „Die Kleine ist ja ein ganz schöner Wirbelwind“, klopfte mir Matt auf die Schulter und deutete auf unsere vierjährige Tochter, die gerade mit Mimi tanzte. „Wenigstens schläft sie dann heute Nacht gut“, erwiderte ich lachend und machte mich auf den Weg zu meiner kleinen Familie. Früher dachte ich immer, dass ein schönes Haus und ein gefülltes Bankkonto der Schlüssel zu einem glücklichen Leben seien, doch seit ich meine beiden Frauen hatte, wusste ich, dass dem nicht so ist. Unbedingte Liebe, unerschöpfliches Vertrauen und eine Person, die immer da ist und mit der man alles teilen kann, bedeuten ein erfülltes Leben. „Hallo, meine Hübsche“, hauchte ich Mimi leise ins Ohr und schlang meine Arme um sie. Nie hätte ich gedacht, dass diese Frau, meine Frau, noch hübscher sein könnte als sie sowieso schon war. Doch als sie vorhin den Altar entlanggeschritten kam, war ich überwältigt von Mimis Auftreten. In ihrem, wie Sora mir später erklärte, Vintage-Brautkleid und dem Blumenkranz in ihren gelockten Haaren sah sie aus wie ein Engel. Aber selbst in einem Kartoffelsack wäre sie für mich wunderschön gewesen. Immerhin liebte ich sie nicht wegen ihren Aussehens, sondern für die Person, die sie war. Während Sakura zu Kari rannte, um mit ihr zu spielen, fing ich an, mich mit Mimi auf der kleinen Tanzfläche zum Takt der Musik hin und her zu bewegen. Wir feierten unsere Hochzeit auf der Wiese eines Restaurants. Mimi hatte alles liebevoll dekoriert. Überall waren rosa und goldene Dekoelemente zu finden. Rosa, weil es ihre Lieblingsfarbe war und Gold sollte ausdrücken, dass unsere Liebe jeden materiellen Reichtum übertraf. Um uns herum tanzten vereinzelt einige unserer Gäste. Familie, Freunde und Kollegen, sie alle waren gekommen, um diesen besonderen Tag mit uns zu verbringen. „Amüsierst du dich?“, erkundigte sich Mimi und legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab. „Mit dir? Immer“, grinste ich und küsste ihre Schläfe. Auf meinen zweideutigen Kommentar hin lachte sie und drehte ihren Kopf so, dass ich in ihre wunderschönen, karamellfarbenen Augen schauen konnte. Mit jedem Blick, den ich ihr zuwarf, verliebte ich mich ein Stück mehr in diese Frau. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte mir ein „Ich liebe Dich“ auf die Lippen. Wir tanzten und amüsierten uns den ganzen Abend. Der einzige Wehmutstropfen an diesem Tag war der Moment, als wir Sakura auf Wiedersehen sagen mussten. Mimi und ich hatten beschlossen, unsere Flitterwochen auf einen Kurzurlaub in einem Wellnesshotel zu beschränken. So waren wir nicht allzu lange von unserer Kleinen getrennt, die während dieser Zeit bei meinen Eltern bleiben würde. „Meinst du, ich sollte mal deine Mutter anrufen und fragen, ob alles okay ist?“, fragte Mimi, die auf dem Beifahrersitz saß, unsicher. Wir hatten noch einige Zeit mit unseren Gästen gefeiert und uns dann auf den Weg ins Wellnesshotel gemacht. Das Hotel wusste Bescheid, dass wir später kommen würden, weshalb der Check-In um diese Zeit noch möglich war. „Es wird alles gut sein, sonst…“ „Tai! Achtung!“, schrie Mimi panisch. Und plötzlich war der schönste Tag meines Lebens der Schlimmste. Kapitel 5: Versprechen ---------------------- Meine Augenlider waren schwer und je länger ich versuchte, sie zu öffnen, desto mehr spürte ich, wie die Kraft aus meinem Körper entwich. Der Geruch von Benzin stieg mir in die Nase und breitete sich beißend aus, sodass ich stöhnend den Kopf bewegte. Ein stechender Schmerz durchdrang meinen Körper, brachte mich aber endlich dazu, meine Augen zu öffnen und das Grauen vor mir zu erkennen. Ich blinzelte und erkannte ein grelles Licht, das mich anstrahlte. Dumpfe Stimmen waren zu hören. Ich versuchte mich aufzurichten, doch jeder einzelne Knochen meines Körpers schrie qualvoll um Hilfe. Ich konnte diesen unsagbaren Schmerz kaum in Worte fassen und nur sehr langsam realisierte ich, was geschehen war. Der Air Bag war aktiviert worden. Unsere Windschutzscheibe war zertrümmert und vor mir sah ich einen dunkelblauen Kleinbus, der mit unserem Wagen scheinbar zusammengestoßen war. Ich hatte ihn nicht kommen gesehen. Erst als meine Frau… Mimi! Sie hatte mich kurz vorher gewarnt! Unweigerlich richtete ich meinen Blick zu ihr und bemerkte wie sich mein Hals zuschnürte. Ich versuchte ihnen Namen auszusprechen, doch nichts war zu hören. Leblos lag sie neben mir, weshalb ich versuchte, sie mit meiner Hand zu berühren. Der Sicherheitsgurt hatte sich in mein Fleisch geschnitten und jede einzelne Bewegung tat weh. Doch ich musste mich vergewissern. Vergewissern, dass sie noch lebte. An ihrer Stirn klaffte eine Wunde, aus der eine große Menge Blut trat. Ich musste sie stoppen, doch ich konnte mich nicht bewegen. „M-Mimi…“, ertönte ihr Namen kraftlos über meine Lippen. Doch sie reagierte nicht. Ich wand mich aus meinem Gurt und lehnte mich unter Schmerzen zu ihr rüber. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie immer noch atmete, was mich im ersten Moment erleichterte. „Mimi…wach auf“, startete ich erneut einen kläglichen Versuch und rüttelte an ihrem Arm. Ein leises Stöhnen überkam ihre Lippen und sie bewegte schwerfällig ihren Kopf. „W-Was ist passiert?“, fragte sie mit dünner Stimme. „Wir hatten einen Unfall“, versuchte ich ihr zu erklären als mir klar wurde, dass wir Hilfe brauchten. Ich musste an mein Handy gelangen und den Notarzt zu rufen! „Taichi…“, sie blinzelte, brachte aber kaum einen Satz zu Stande. „Bleib ruhig liegen! Ich werde Hilfe rufen“, versicherte ich ihr zuversichtlich und wollte mich zurück auf meine Seite schaffen, um mein Handy aus dem Seitenfach zu holen, als ich augenblicklich von ihr zurückgehalten wurde. Ihr Griff war schwach, aber dennoch bestimmend. Sie schluckte und ihre Lippen zitterten bitterlich. „D-Du musst mir etwas versprechen“, sagt sie leise. „Natürlich, alles was du willst Prinzessin“, antwortete ich sofort und stich ihr liebevoll eine blutgetränkte Haarsträhne aus dem Gesicht. Auch wenn ich starke Schmerzen hatte, bemerkte ich schnell, dass bei ihr etwas nicht stimmte. Nur sehr mühsam presste sie die Worte über ihre Lippen, die mein Leben für immer verändern würden. „D-Du musst dich um sie kümmern. Sie braucht dich. B-Bitte versprich‘ mir, dass du dich um unsere Tochter kümmern wirst.“ Sprachlos blickte ich sie an und erkannte, dass sie ihre Finger in mein T-Shirt gekrallt hatte. Ihre Augen waren halb offen und auch wenn ich ihren Blick im Dunkeln nicht erkennen konnte, wusste ich, dass sie dieses Versprechen nicht grundlos von mir verlangte. „Mimi, was redest du denn da? Sowas will ich beim besten Willen nicht hören!“, erwiderte ich verzweifelt und spürte die aufkommenden Tränen in meinen Augen brennen. „Bitte, du musst es mir versprechen“, flehte sie. „Aber…“ „Tai, versprich‘ es mir!“ Ich schluckte und legte meine Arme fest um sie, als die Tränen unkontrolliert aus meinen Augen liefen und ihr wunderschönes Gesicht betrachteten. „Ich verspreche es!“, versicherte ich ihr aufrichtig, ehe sie ihre Augenlider schloss und meine Welt endgültig zusammenbrach. Kapitel 6: Kreation ------------------- Die Tage vergingen wie Wochen. Und die Wochen wie Jahre. Dabei waren es nur 45. Erst 45 lächerliche Tage waren seit Mimis Tod vergangen und es fühlte sich jetzt schon wie eine Ewigkeit an. Wie sollte ich nur ein ganzes Leben ohne sie überstehen? „Papa?“ Ich blinzelte ein paar Mal und war zurück in der Realität. Sakura. Unsere kleine Tochter sah mich mit großen Augen an, während ich an ihrem Bett saß. Ich hatte sie gerade zugedeckt und ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. „Papa, ich vermisse Mama“, sagte sie traurig und ihre Stimme drohte zu brechen. Es zerriss mir das Herz. Was sollte ich nur sagen? Was sollte ich tun? Ich war ihr Vater und konnte nichts tun, das ihr half, über den Verlust ihrer geliebten Mutter hinweg zu kommen. Sakura war kein Baby mehr. Sie verstand sehr wohl, was das alles bedeutete. Ihre Mutter würde nie wiederkommen – ihr das zu sagen, war das Schwerste gewesen, was ich je im Leben tun musste. Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und zwang mich zu einem Lächeln. Dann strich ich ihr eine hellbraune Strähne hinters Ohr. „Ich vermisse sie auch, mein Schatz. Sehr sogar.“ „Meinst du, Mama ist jetzt bei den Engeln im Himmel?“, fragte sie leise, während sie ihr Plüschtier ganz fest an sich drückte. „Ich weiß sogar genau, dass sie da ist“, antwortete ich. Ihre Augen weiteten sich. „Wirklich?“ Ich nickte. „Ja, denn jeden Abend, wenn du schlafen gehst, wacht sie über dich. Ich kann sie spüren. Und du kannst es auch, wenn du ganz tief in dich hinein hörst.“ Ich legte meine Hand an die Stelle, wo ihr Herz schlug und Sakura schloss ihre Augen, ehe ein leichtes Lächeln ihr Gesicht zierte. „Und jetzt schlaf schön, mein Schatz“, sagte ich und gab ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Sie drehte sich auf die Seite und ich ließ ihr Nachtlicht brennen, als ich rausging und die Tür vorsichtig anlehnte. Ich ging in mein Schlafzimmer und ließ mich seufzend aufs Bett sinken. Sehnsüchtig blickte ich auf ihre Seite. Die Leere, die sie in unserem Leben hinterlassen hatte, war einfach allgegenwärtig. Ich griff nach der Dose, die neben mir auf dem Nachttisch stand. Unsere alte Keksdose. Unsere alten Wünsche. Als Mimi starb, hatte ich ihr ein Versprechen geben müssen. Dass ich mich um unsere Tochter kümmern würde. Doch an diesem Tag gab ich mir selbst auch eines. Nämlich, dass Sakura niemals vergessen sollte, wer ihre Mutter war. Sie war noch klein und im Laufe der Zeit würden ihre Erinnerungen an sie verblassen. Sie würde sich nicht mehr an ihr Lächeln erinnern, wenn sie sie abends in den Schlaf sang. Nicht mehr an den Klang ihrer Stimme oder an ihren Geruch oder wie es sich anfühlte, von ihr umarmt zu werden. Doch ich würde nicht zulassen, dass die Jahre uns die Erinnerungen an Mimi raubten. Ich öffnete die Keksdose. Es befanden sich nicht mehr nur unsere Wünsche darin, sondern auch viele andere kleine Erinnerungsstücke. Ein Foto von Mimi und Sakura im Krankenhaus – der glücklichste Tag in unserem Leben. Eine DVD mit Videoaufnahmen von uns an Weihnachten und als Sakura ihre ersten Schritte machte. Eine noch halbvolle Flasche von Mimis Lieblingsparfums. Das Rezept ihres Lieblingskuchens. Und es würden noch viele andere Dinge hinzukommen. Ich würde für unsere Tochter ein Andenken kreieren. Ein Andenken, was sie ihr Leben lang daran erinnern sollte, was für ein wundervoller Mensch ihre Mutter war. Egal, wie viele Erinnerungen uns blieben, sie alle würden sie nie ersetzen können. Sie würde uns immer fehlen. Aber es gab einen Ort, an dem sie für immer weiterleben würde – in unserem Herzen. Kapitel 7: Unendlichkeit ------------------------ „Sieh mal, Opa. Die schenk ich dir zum Geburtstag“, sagte meine jüngste Enkeltochter vergnügt und hielt mir einen winzigen Strauß Gänseblümchen entgegen. „Du bist ja doof“, mischte sich ihr älterer Bruder ein und rümpfte die Nase. „Wenn du sie in Opas Garten pflückst, ist es kein richtiges Geschenk. Sie gehören Opa ja schon.“ Die Kleine verzog das Gesicht und streckte ihm die Zunge raus. „Ist es wohl und du bist selber doof!“ Bei dem Anblick musste ich lachen. Auch wenn mir dabei jeder Muskel wehtat. Die beiden erinnerten mich jedes Mal sehr an Mimi und mich, als wir noch klein waren. „Hast du Spaß, Papa?“, fragte eine vertraute Stimme und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich sah zu Sakura auf und kurz hatte ich das Bild meiner verstorbenen Frau vor mir. Es war erstaunlich, wie sehr sie Mimi glich, je älter sie wurde. Nicht nur äußerlich. „So viel Spaß wie man als gebrechlicher alter Mann noch haben kann“, scherzte ich. Sakura verdrehte die Augen, grinste jedoch. „Bist du müde?“ „Etwas“, gestand ich. Wobei müde kein Ausdruck war. „Wir sollten Opa jetzt ein bisschen ausruhen lassen“, wandte sich Sakura an ihre Kinder. Die beiden nickten und umarmten mich. „Schlaf gut, Opa“, sagte meine Enkeltochter, ehe sie ihrem Bruder gegen den Arm schlug. „Du bist dran.“ Die beiden liefen hinaus in den Garten und ich lächelte ihnen hinterher. Ich konnte wirklich voller Glück auf mein Leben zurückblicken. Mein Versprechen gegenüber Mimi hatte ich gehalten und war unserer Tochter stets ein guter Vater gewesen, weshalb sie zu einer wundervollen Frau herangewachsen war. Mimi wäre so stolz auf sie gewesen. „Tut mir leid, dass ich an meinem Geburtstag schon so früh schlapp mache“, entschuldigte ich mich, als mir Sakura stützend unter die Arme griff und mir half, die Treppen zum Schlafzimmer hochzusteigen. „Ach Papa, das ist doch nichts, wofür du dich entschuldigen musst“, lachte sie und half mir, mich auf mein Bett zu setzen bevor sie nach unten zu den Kindern ging. Ich blickte noch einen Moment auf die Tür und war von Stolz erfüllt, diese Frau meine Tochter nennen zu dürfen. Wir hatten es nicht immer leicht und oftmals war ich ziemlich überfordert ohne Mimi an meiner Seite. Ich erinnerte mich daran, wie ich versuchte, eine Schultüte für Sakura zu basteln, diese aber so fürchterlich aussah, dass ich sie wutentbrannt gegen die Wand schleuderte und verzweifelt Kari um Hilfe bat. Kari war es auch gewesen, die mit Sakura die Frauengespräche führen musste, von denen ich nicht wusste, wie ich sie führen sollte. Auch wenn es oft hart war, hatten wir viele schöne Momente erlebt. Neben der Geburt meiner Enkel war Sakuras Hochzeit ein Tag, an den ich mich gerne zurückerinnerte. Es war der Tag, an dem ich zum ersten Mal seit Mimis Beerdigung geweint hatte. Doch es waren Tränen der Rührung, weil Sakura ihrer Mutter auf eine solch herzergreifende Weise gedachte: sie hatte sich ein Kleid anfertigen lassen, das Mimis Hochzeitskleid nachempfunden war. Ich lächelte bei dieser Erinnerung vor mich hin und wischte mit der Hand eine Träne weg. Aber es waren auch die alltäglichen Dinge, an die ich mich gerne zurückerinnerte: Ausflüge, Urlaube, Familienfeste. Langsam legte ich mich um. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen und ich war schon lange nicht mehr sehr fit. Meine Hand wanderte zur rechten Bettseite. Die Seite, wo Mimi immer gelegen hatte. Früher hatte ich das oft gemacht, weil ich mir dann vorstellte, sie wäre bei mir. Doch irgendwann habe ich damit aufgehört, weil ich wusste, dass Mimi in meinem Herzen immer bei mir war. Aber heute… da brauchte ich aus irgendeinem Grund diese Geste. Meine Augen wurden schwer, die Müdigkeit überkam mich und ich schlief sofort ein. Plötzlich fand ich mich auf einer Wiese wieder, die mir allerdings nicht unbekannt war. Die Kirschbäume blühten und ich wanderte den Park entlang. Die Luft war so klar und strömte durch meine Lungen, sodass ich sie genießerisch einsaugte und die Augen schloss. Ich stieß einen lauten Seufzer aus und öffnete meine Lider, als ich sie plötzlich vor mir, an unserem Lieblingsplatz, sah. Sie hatte sich zu mir gedreht und lächelte. Ich verstand nicht sofort, was hier vor sich ging, da sich dieser Traum so real anfühlte und ich wie ferngesteuert auf sie zu lief, aus Angst, dass sie doch noch verschwinden könnte. Doch sie blieb und ich sank auf die Knie. Ihr wunderschönes Gesicht hatte sich nicht verändert und war nach all den Jahren immer noch so klar vor mir, dass ich sie am liebsten berühren wollte. Ich streckte meine Hand nach ihr aus und erschrak mich augenblicklich. Meine runzeligen Hände und die Altersflecke waren verschwunden. Ungläubig blickte ich zu ihr, ehe ihre Stimme ertönte. „Ich habe schon eine halbe Ewigkeit auf dich gewartet“, sagte sie sehnsuchtsvoll. Ich sah sie an, berührte ihre Wange und spürte ganz deutlich ihre Hand auf meiner. Das war kein Traum. Sie war wirklich hier. „Was machst du hier?“, fragte ich unter den schimmernden Blättern des Kirschbaumes. Mimi hingegen lächelte nur. „Ich bin hier, um dich abzuholen“, antwortete sie sanft als ich auf einmal verstand, was geschehen war. Ich war im Schlaf gestorben. Hatte einfach aufgehört zu atmen und befand mich nun an dem Ort, wo alles begonnen hatte. Damals unter den Kirschblüten. Ich zog sie näher an mich heran und hielt sie so fest ich konnte. Doch diesmal würde ich sie nicht verlieren. Denn die Ewigkeit gehörte nur uns. Für immer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)