Virtuelle Postsendung von Sam_Linnifer (Mini-Adventskalender in 6 Akten) ================================================================================ Kapitel 3: Nur ein Traum ------------------------ Es war dunkel, als er aufschreckte. Schlaftrunken, ein wenig benommen, aber trotzdem schon halb aus dem Bett und auf den Beinen. Und das ohne hinzufallen, auch wenn sein Fuß sich in der Decke verfing und es einigen wenig grazilen Rumgefuchtels bedurfte, um auf den Füßen zu bleiben. Nun… Zum Glück war es dunkel. Die schweren Vorhänge hielten die kalte Nachtluft draußen und ließen kaum genug Licht herein, um die Hand vor Augen zu erkennen. Das war gut, weil es den peinlichen Beinahe-Zusammenstoß mit dem Bettvorleger kaschierte. Es war weniger hilfreich, weil es auch die Quelle des Lärms, der ihn überhaupt erst aufgeweckt hatte, vor ihm verbarg. Alistair lauschte angestrengt ins Dunkel, doch das Einzige was er hörte, war der Klang des mechanischen Herzen in seiner Brust. Dass das verdammte Ding aber auch so schrecklich laut sein musste! Aber… Da war etwas gewesen. Er wusste es. Ganz sicher! Er hatte nicht geträumt. Ganz bestimmt nicht… Oder? „Hey… Pelzdecke“, flüsterte der Dieb verschwörerisch, doch der große Hund, der sich am Fußende des Bettes ausgestreckt hatte, blinzelte kaum. „Du hast das auch gehört, oder?“ Cyron schnaufte, wedelte träge, zwei, drei Mal mit dem Schwanz und schien nicht im Geringsten beunruhigt. Aber das… Es sei denn… Der Nordmann wandte sich zur Badtür um, gerade, als sie leise wieder aufgestoßen wurde. Nicht, das er die Tür wirklich sehen konnte, oder die Gestalt, die sich dort bewegte. Aber er wusste, das sie da war und er wusste jetzt auch, wer ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte. Das Verhalten des Hundes ließ eigentlich nur einen Schluss zu… „Lil?“ „Oh… Du bist wach?“, sie klang müde. Er konnte die erschöpfte Blässe in ihrem Gesicht beinahe hören, was auf den ersten Blick zwar keinen Sinn zu ergeben schien, aber sogar ausgesprochen sinnvoll war, wenn man sich so gut kannte, wie er sie inzwischen kannte. „Habe ich dich geweckt? Tut mir Leid.“ Auf offensichtlich bloßen Füßen, kein Schuhwerk wäre so lautlos gewesen, trat die Halbelbe zum Fenster, machte sich an den Vorhängen zu schaffen und er wappnete sich gegen den Stoß kalter Luft, der unweigerlich hereinkommen würde. Sie hatte es noch nie sonderlich gemocht im Dunkeln zu schlafen. „Wie spät ist es?“, fragte er mit einer gewissen Anspannung. Da war noch etwas, nicht nur Erschöpfung. Ein leichter Beiklang in der Stimme, ein Hauch von Schärfe in der Art und Weise, wie sie atmete. Wenn es um Ishara ging, war es schlicht nötig, auf solche kleinen Details zu achten und vielleicht war das sogar ein Teil dessen, was ihn so anzog. Sie war wie eine komplexe, sich ständig wandelnde Mechanik. Nur, dass es hier manchmal eher frustrierend als belustigend war, wenn er eigentlich nicht wirklich wusste, was er tat… War sie verletzt? Aber wieso sollte sie? „Die Sonne müsste bald aufgehen, denke ich“, gab das Halbblut zur Antwort. Da war er, der Luftzug und alle Vorbereitung half rein gar nichts. Alistair begann umgehend zu frösteln, doch sein Blick lag auf der, jetzt deutlich besser erkennbaren, Gestalt am Fenster. Auch wenn es noch dunkel war, es zogen kaum Wolken über den Nachthimmel und der Mond war beinahe voll. Sie wandte sich zu ihm um, während der Nachtwind leicht an ihren hellen Haaren zerrte, seufzte leise. „Hat die Besprechung so lange gedauert?“, erkundigte er sich stirnrunzelnd. Sie war fertig um schlafen zu gehen, trug ein weites, einfaches Hemd, das eher Thorin gepasst hätte, als ihr und schlichte Hosen, immer bereit für den Notfall, aber irgendetwas stimmte nicht. Das… Witterte er gerade zu. Dabei war er nicht mal ein Hund. Und das sie aus den endlosen Sitzungen mit irgendwelchen Adligen und Abgesandten erschöpft zurückkehrte, das war zwar nicht ungewöhnlich, aber das hier sah einfach nicht aus, als wäre es nur Erschöpfung. „Was? Oh… Ach das“, sie stutzte, schien sich nur mit Mühe zu erinnern und ein verlegener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Nein, uhm… Eigentlich, war die am späten Abend vorbei. Aber… Dann kam dieser Bote, weißt du? Von der Wasserburg. Er wäre unterwegs fast überfallen worden und ich dachte, wenn wir uns gleich darum kümmern, dann müssen wir die Bande nicht erst aufspüren. Das war nur ungefähr eine Stunde von hier.“ Alistair seufzte. Natürlich. Er sah, wie sie den Kopf einzog, sich offenbar auf die unweigerlich folgende Schelte einstellte, aber eigentlich… Es war spät. Es war kalt, während das wohlig warme Bett nur wenige Schritte entfernt stand und es waren vor allem nur ein paar Stunden, bis irgendein Diener klopfen und sie wecken würde. Egal, wie viel, oder in Isharas Fall wohl eher wie wenig, Schlaf sie bis dahin bekommen hätten. Und nichts von dem was er hätte sagen können, hatte er nicht schon tausendmal gesagt. Manchmal gelang es ihr tatsächlich ihm einen Eindruck dessen zu vermitteln, wie es wohl manch anderem mit ihm erging… Aber nein. Er war nicht berechenbar! „Bist du verletzt?“, fragte er trotzdem. Ein wenig Sorge war ja wohl selbstverständlich. Lileth schüttelte den Kopf. „Nur ein paar Schrammen. Susann hat mich schon zusammengeflickt.“ Er ersparte es ihnen beiden, darauf hinzuweisen, dass das nicht gerade nach nicht verletzt klang und nickte seufzend. „Dann komm ins Bett. Es ist kalt.“ Der überraschte Ausdruck auf ihrem Gesicht munterte ihn dann doch ein wenig auf und Alistair grinste. Nicht berechenbar! Wohlig seufzte er auf, als er wider unter die warme Decke gekrochen war. Sie gesellte sich zu ihm, bettete den Kopf an seiner Schulter, schwer vor Müdigkeit und er legte die Arme um sie. „Danke“, flüsterte das Halbblut fast erleichtert und er strich ihr durchs Haar. „Schlaf. Morgen warten schon die nächsten Idioten darauf, dass du ihnen in den Hintern trittst.“ Ein kleines Lächeln belohnte ihn, doch es dauerte kaum Minuten, bis sie eingeschlafen war. Etwas, um das man sie wirklich beneiden konnte. Nicht, dass Ishara nicht heute noch oft mit Alpträumen zu kämpfen hatte, unruhig schlief oder schlecht. Dass sie an den meisten Tagen nicht einfach gar nicht genug Zeit hatte, um ordentlich zu schlafen. Aber Einschlafen? Das konnte sie. Auf der Stelle und so ziemlich überall. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus der Zeit in der Wildnis als körperliche Bedürfnisse sich den Möglichkeiten der Umgebung anpassen mussten. Immerhin, es hatte schon zu der einen oder anderen amüsanten Begebenheit geführt, so wie damals als sie… Der Dieb gähnte, schmiegte die Wange an ihren Schopf. Atmete den vertrauten Geruch ihrer Seife und ihren eigenen, spürte die Wärme. Diesmal würde er wohl auch keine Schwierigkeiten haben einzuschlafen. Er schlief immer besser, wenn sie da war. Und nicht irgendwo da draußen, um sich schon wieder in irgendwelche absurden Schwierigkeiten zu bringen. Nein. Sie war hier. Bei ihm und in Sicherheit. Umgeben von festen Mauern und Soldaten. Was sollte da schließlich schon passieren? Weiß. So viel Weiß. Er mochte die Farbe. Auch wenn es, je nachdem wen man fragte, natürlich gar keine Farbe war. Andererseits hatte ihm bisher auch niemand erklären können, was es dann war. Daeri hatte es vielleicht versucht, aber bei ihr verstand er sowieso bestenfalls die Hälfte. So oder so… Er mochte Weiß, eigentlich. Es hatte etwas beruhigendes, obwohl oder vielleicht sogar weil es die Farbe war, die er mit seiner Heimat verband. Eine weiße, unberührte Schneedecke, das war etwas Friedliches, Schönes. Es brachte die Welt zum Leuchten, selbst im Dunkeln. Als wäre es etwas Magisches. Aber dieses Mal war es ein bisschen zu viel. Alles war weiß. Wirklich alles. Da war kein Boden, kein Himmel, keine Wände. Nur eine endlose, unerträgliche, blendend weiße Leere, die ihn frieren ließ und nicht nur vor Kälte, sondern aus tiefster Seele heraus. Es musste ein Traum sein. Aber keiner, der ihm sonderlich gefallen hätte. Andererseits, wenn er wusste, dass es ein Traum war, dann konnte er da doch wohl ein wenig Abhilfe schaffen! Sich etwas… weniger Langweiliges und Gruseliges einfallen lassen. Ein wenig Gesellschaft vielleicht. Wenn er Ishara herholte… Wie wäre es wohl in der Schwerelosigkeit zu… Gedanken jagten davon. Schlugen Haken wie Hasen, stoben hierhin, dorthin und es brauchte eine Weile, bis er genügend Fokus aufbrachte, um irgendetwas zu tun. So viele Möglichkeiten! Wie sollte man sich da schon entscheiden? Gar nicht, ganz einfach! Am Ende entschied er sich für eine Tür. Es wurde ein wuchtiges, altertümliches Ding, ein wenig, wie das schwere Portal vor dem Weinkeller. Was immer sein Unterbewusstsein ihm damit sagen wollte. Natürlich war ein Schloss daran. Ein ganz hervorragendes sogar und es dauerte eine Weile, ehe es Alistair gelungen war, es zu entriegeln. Doch schließlich wäre er nicht der Meisterdieb, der er war, wäre es ihm nicht gelungen! Er trat erwartungsvoll hindurch und… Es war immer noch alles weiß. Oder nein. Nicht alles, alles. Aber ziemlich viel. Da war ein weiter, hellblauer Himmel über ihm, mit ein paar weißen Wolkensprenkeln und da waren Bäume, jede Menge sogar. Sie schienen nur fast unter einer schweren Schicht aus Schnee begraben. Irgendwie war das beunruhigend vertraut. Und es war immer noch kalt. Grässlich kalt und der Nordmann schlotterte am ganzen Körper. „Wirklich?“, murrte er zähneklappernd. „Was Besseres ist dir nicht eingefallen?“ Denn als er sich umdrehte und das ebenfalls eingeschneite Dorf erblickte, dessen Dächer gerade von den ersten Strahlen der Morgensonne berührt wurden, konnte er bei aller Mühe wirklich nicht mehr so tun, als wisse er nicht, wo er war. Dabei hatte das ganze so vielversprechend gewirkt. Aber Laruien? Das konnte gar kein guter Traum werden und Alistair seufzte fast ein bisschen schwermütig. „Alistair?“ Der Satz, den er machte, war durchaus bemerkenswert. Bestimmt einen Meter und das aus dem Stand! Aber er war schließlich schon immer recht akrobatisch gewesen. Mit jagendem Puls wirbelte der Nordmann herum und vor ihm stand Lileth, barfuß im Schnee, ohne dass irgendwelche Spuren verraten hätten, wo sie hergekommen war. Tatsächlich sah sie genau so aus, als sie zu ihm ins Bett gekrochen war. Nur sehr viel verfrorener und verwirrter. Alistair seufzte. „Was machst du denn hier? Und du hättest wenigstens Stiefel haben sollen. Und einen Mantel! Oder einfach… Etwas anderes als das da? Du hättest dieses Kleid nochmal anziehen können, das Schulterfreie“, unwillkürlich musste er grinsen, als er sich das vorstellte, doch leider schien sein Unterbewusstsein nicht gewillt, die Sache zu korrigieren und Ishara wiederum zog die Stirn in Falten. „Wovon redest du? Und wo sind wir hier?“ „Naja… Du bist eigentlich gar nicht hier, denke ich. Schließlich ist das mein Traum. Aber das hier ist Laruien.“ Wobei… Woher wusste er eigentlich, ob sie in seinem Traum war, oder er in ihrem? Oder sie beide in irgendjemandes Traum? Kurz verwirrte ihn der Gedanke. Aber es schien niemand sonst da zu sein und es ergab einfach keinen Sinn, dass Ishara von seiner Heimat träumen sollte. Sicher, sie waren gemeinsam dort gewesen und sie hatte die Leute ziemlich vorgeführt. Aber… Er konnte sich nicht vorstellen, dass das so viel Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Und außerdem… Das hier sah eher wie das Laruien seiner Kindheit aus, auch wenn die Hinweise darauf recht subtil waren. Lileth indes schien ein bisschen überfordert, was natürlich verständlich war, und vor allem fror sie nicht weniger als er, was in Anbetracht ihrer Kleidung auch nicht sonderlich verwunderte. Das konnte man sich ja kaum ansehen. Alistair nahm ihre Hand. „Na komm. Ist zwar ein ziemlich seltsamer Traum, aber wenn wir schon hier sind, dann machen wir eben das Beste draus. Aber zuerst brauchen wir Schuhe. Und Mäntel, oder irgendetwas“, erklärte er ganz selbstverständlich und sie folgte gehorsam, als er sie in Richtung der Häuser zog, eines bestimmten Hauses sogar und im Stillen rätselte, ob die Leute hier sie eigentlich wahrnehmen würden, oder nicht. Das Schloss an der Tür war so miserabel wie er es in Erinnerung hatte und bot keinen wesentlichen Widerstand und die Wärme im Inneren des Hauses brannte zwar schmerzhaft auf der Haut, aber war so unendlich angenehm. Vertraute Gerüche stiegen ihm in die Nase und er hörte Geräusche aus Richtung der Küche. Gewiss seine Mutter, die damit beschäftigt war Frühstück zu machen. Vielleicht süßer Brei mit Honig? Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Lil wiederum schien noch immer recht angespannt. Wachsam. Beunruhigt, während sie sich umblickte, als erwartete sie, dass in jedem Augenblick irgendein Monster hinter einem Möbelstück hervorsprang wie einer dieser Springteufel. Andererseits… Möglich war es wahrscheinlich? Er zog sie leise zur Treppe und nach oben. Übersprang ganz selbstverständlich die knarzenden Stufen und sie tat es ihm ganz selbstverständlich nach. Als er jedoch die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern aufstieß, erstarrte er. Dröhnendes Schnarchen drang ihnen entgegen und unter der Decke zeichnete sich die wuchtige Gestalt seines Vaters ab. „Äh…“, entfuhr es dem Dieb leise und nur mit Mühe konnte er den Blick nach einer Weile ab und dem Kleiderschrank zuwenden, der eigentlich sein Ziel gewesen war. „Weißt du… Warte einfach kurz“, wies er die Halbelbe unbehaglich an und schlich ins Zimmer. Jetzt war er derjenige, der nervös und angespannt war und bei jeder Unregelmäßigkeit des Schnarchens zusammenzuckte und wie erstarrt inne hielt. War der Schrank schon immer so weit von der Tür entfernt gewesen? Und jetzt, wo er darüber nachdachte… Hatte es da nicht einmal diese Gelegenheit gegeben, zu der er eine Tracht Prügel bekam, wegen Kleidung, die er gar nicht genommen hatte? Benommen schüttelte Alistair den Kopf. Das ergab doch gar keinen Sinn! Es war nur ein Traum! Also fasste er sich ein Herz, überwand das letzte Stück und öffnete den Schrank, kehrte kurz darauf mit einem Stapel Kleidung zu Ishara zurück und lotste sie aus dem Raum zur Besenkammer am Ende des Flurs. Natürlich waren ihnen Beiden die Sachen viel zu groß und zu weit, sodass sie einen reichlich lächerlichen Anblick ergaben und Alistair unweigerlich auflachte. Das half die Spannung ein wenig abzubauen, doch Lileth hatte noch immer nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. „Wir sind im Haus deiner Eltern, richtig?“, erkundigte sie sich, halb versunken in einem kratzigen Wollpullover. „Aber… Es sieht ganz anders aus, als beim letzten Mal.“ Er grinste, nickte lebhaft. „Ja… ich habe da so eine Idee, woran das liegen könnte. Finden wirs raus!“ Und ehe sie Zeit zum antworten hatte, nahm er wieder ihre Hand und zog sie aus dem einen Raum heraus und in den nächsten hinein. Da war sein Zimmer mit dem schweren Holzbett mit den Schnitzereien und er saß darauf, die Decke um die schlaksigen Schultern geschlungen und blätterte mit konzentrierter Miene in einem recht kruden Pamphlet. Lileth starrte. „Bist das du?“, erkundigte sie sich, den Blick ungläubig auf den schlaksigen Jungen mit dem zerzausten schwarzen Haaren gerichtet. Wie alt konnte er sein? Sicher nicht älter als zehn. Ein Ruf erklang und der Junge blickte auf und mitten durch sie beide hindurch. Schob hastig das Pamphlet in den Kissenbezug und kämpfte sich, mit der Decke ringend aus dem Bett, zog hektisch  die bereitliegenden Sachen an, zum Teil verkehrt herum. Lileth gluckste leise. „Ich sehe schon. Manches ändert sich nicht“, bemerkte sie amüsiert und er spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Diesmal war sie es, die ihn mitnahm. Seinem jüngeren Abbild hinterher und nach unten, wo tatsächlich seine Mutter in der Küche stand und Schalen mit Brei füllte, während Klein-Alistair hastig den Tisch deckte. „Du solltest heute rausgehen“, erklärte die Mutter gerade und der Junge schnitt unbehaglich eine Grimasse. „Das Fieber ist fort und die frische Luft wird dir gut tun.“ „Aber es ist kalt“, murrte der Junge. „Und so gut fühle ich mich gar nicht.“ Sie wandte sich um, fasste ihn ins Auge. Der Blick mütterlich warm, aber wachsam. Trat an ihn heran und legte ihm eine Hand an die Stirn, ehe sie lächelnd den Kopf schüttelte, ihm in liebevoller Geste das dunkle Haar zerzauste. „Es wird dir gut tun. Und jetzt setz dich, ich wecke deinen Vater, dann können wir essen. Vielleicht will er dich auch mit rausnehmen.“ „Oh bitte bloß nicht“, nuschelte der junge Alistair missmutig in seinen Brei. Sie schien es nicht gehört zu haben und verließ den Raum. Vielleicht hatte sie es auch nicht hören wollen. Er spürte, wie jemand seine Hand drückte und wandten den Blick von seinem jüngeren Ich ab und zur Seite. Ishara musterte ihn, Sorge in den tiefblauen Augen. „Sollen wir gehen?“, fragte sie leise. „Es… gibt keinen Grund, sich das anzusehen, oder?“ Gab es den? Er wusste es nicht. Trotzdem schüttelte der Dieb den Kopf. „Ist schon gut. Ich will… ich weiß nicht. Vielleicht passiert ja noch irgendetwas?“ Doch zunächst blieb alles erschreckend normal. Sein Vater fand sich ein und mit der morgendlichen Ruhe war es vorbei. Nichts, an dem der Mann nichts auszusetzen hatte, ganz besonders nicht, wenn es seinen Sohn betraf. Alistair hielt Lils Hand und zwischenzeitlich drückte er sie vermutlich fest genug, dass es weh tat, doch die Halbelbe gab keinen Laut von sich. Sie musterte den Holzfäller selbst mit kalten, blauen Augen, als überlegte sie, was wohl geschehen würde, wenn sie ihn mit einem Pfeil durchbohrte. Durchaus eine interessante Frage… Sie folgten, als er den Jungen tatsächlich hinausscheuchte und es wurde nicht besser. Sie begegneten auf der Straße dem einen oder anderen Dorfbewohner, ernteten gleichsam mitleidige, wie zum Teil auch verächtliche Blicke und folgten dem ungleichen Gespann dann hinaus in den Wald. Holzhacken. „Das ist so dämlich“, murmelte Ishara verstimmt. „Du bist kein Holzfäller. Aber du hättest so viel tun können.“ Irgendwie tat es gut zu sehen, wie sie sich für ihn empörte. Es half die Last und Beklommenheit, die sich über seine schmalen Schultern gelegt hatten, ein wenig zu erleichtern und er bemühte sich um ein Lächeln. „Na ja… Den Verstand hab ich ja auch nicht von ihm. Was glaubst du, würde passieren, wenn ich ihm einen Schneeball an den Kopf werfe?“ Ishara verzog das Gesicht. „Ich schätze, er würde dir die Schuld dafür geben. Einfach, weil du da bist. Aber warte…“, fügte sie hastig hinzu, als sie sah, wie sein Lächeln schwankte. „Bleib einfach hier stehen.“ Sie ließ seine Hand los und verschwand zwischen den Bäumen. Er sah es verdutzt und verfolgte die nächsten, quälenden Minuten allein, bis sein Vater den Jungen harsch beiseite schubste und auf den Baum einzuhieben begann. Die Erschütterung, die selbigen dabei durchfuhr, war allerdings sehr viel größer, als Alistair erwartet hatte und verdutzt sah er zu, wie sein Vater, ob des tönenden Rauschen in der Baumkrone gerade rechtzeitig den Kopf hob, um den Schneemassen, die auf ihn niedergingen entgegenzublicken. Er lachte noch und rang um Atem, als Lileth grinsend zwischen den Bäumen hervortrat. Sein Vater wiederum fluchte noch und Klein-Alistair bestaunte das Ganze mit großen Augen und offen stehendem Kiefer. Immerhin war er klug genug, nicht zu lachen und keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Wie hast du das gemacht?“, japste er. „Oh na ja. Offenbar kann uns hier niemand wahrnehmen. Aber die Umgebung beeinflussen können wir. Ich musste ein bisschen suchen, aber dann hatte ich alles zusammen, was ich brauchte um eine Schlingfalle nach Uros Vorbild zu bauen und im richtigen Moment gegen den Baum zu richten.“ Spontan fiel er ihr um den Hals. Küsste sie, ehe sie dazu kam fortzufahren, falls sie das denn vorgehabt hatte und sah grinsend die verlegene Röte, die ihr in die Wangen schoss und das weiche, warme Leuchten in ihren Augen. „Danke.“ Lil lächelte liebevoll: „Jederzeit.“ Zeit verstrich. Es wurde irgendwann langweilig sich das Elend weiter anzusehen und sie entfernten sich zwar nicht allzu weit, doch spazierten ein wenig durch den winterlichen Wald. Hand in Hand. Das war eigentlich auch ganz schön, auch wenn es nur ein Traum war. Vielleicht etwas, was sie generell mal machen konnten. Es musste ja nicht Laruien sein… Ein Kichern weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie entdeckten ein paar andere Kinder in einem Dickicht und Alistair spannte sich unwillkürlich. Er kannte sie. Natürlich tat er das. Und den Großteil seiner Kindheit hatte er damit verbracht ihnen möglichst aus dem Weg zu gehen. Mehrheitlich. Vor allem Victor, dem großgewachsenen Blondschopf, der schon jetzt in jungem Alter eine kleinere Kopie seines schrankbreiten Vaters zu sein schien und der immer besondere Freude daran gehabt hatte, Schwächere zu malträtieren. „Hey, ist das nicht Alistair?“, merkte plötzlich ein Mädchen mit rötlichem Schopf und Sommersprossen auf. Tatsächlich. Die Stelle, an der in unermüdlichem Takt das gleichmäßige Schlagen der Axt erklang, war nicht weit entfernt und durch die Bäume konnte man den reichlich gelangweilten Jungen tatsächlich dort herumstehen und vor sich hinbibbern sehen. „Und wenn schon“, winkte Victor verächtlich ab. Was willst du von dem Weichei, Lyssa?“ „Lyssa ist verliiiiiiebt!“, krähte ein jüngeres, ebenfalls rothaariges Mädchen vergnügt. Lyssas Schwester Marie. Die anderen Kinder kicherten. „Bin ich gar nicht!“, protestierte das Mädchen sofort und warf ihr einen bösen Blick zu, ehe sie sich schulterzuckend an Victor wandte: „Ich weiß, dass er ein bisschen komisch ist. Aber er kann wirklich gut klettern.“ Und bedeutungsvoll, wie der Blick war, war das von ganz besonderer Relevanz. Der Blonde legte die Stirn in Falten, schien angestrengt nachzudenken, was ihm jedoch offenbar nicht sonderlich lag. Wirklich. Er sah reichlich dämlich dabei aus, wenn Alistair ihn jetzt so betrachtete. Und na ja, nicht mehr so einschüchternd. Immerhin war er jetzt größer… Lyssa seufzte gequält. „Der Bienenstock! Er könnte wahrscheinlich hochklettern und den Honig holen!“, erklärte sie und Victors Miene verfinstere sich. „Den Hänfling brauchen wir nicht!“ „Ach… Dann willst du es nochmal versuchen und wieder auf dem Hosenboden landen? Nur zu, wir lachen dich gerne nochmal aus.“ Pinke Röte verunzierte Victors Gesicht und ließ ihn ein wenig wie ein Schwein aussehen. „Und wieso kletterst du nicht, wenn du so neunmalklug bist?“ „Ich?“, demonstrativ strich der Rotschopf ihre Röcke glatt. „Bin eine Dame. Die steigen nicht auf Bäume.“ Einer der anderen Jungen prustete, doch zog unter dem Blick, den sie ihm zuwarf, rasch den Kopf ein. „Ich kann das machen!“, tönte Marie und ihre ältere Schwester seufzte. „Nein, kannst du nicht. Du bist zu klein.“ „Bin ich nicht!“ „Sind das… Freunde von dir?“, erkundigte sich Ishara, doch der Ton wirkte zweifelnd. Er zuckte die Schultern. „Lyssa war eigentlich… ganz in Ordnung. Mehr im Kopf als die Meisten. Habe sie manchmal zum Lachen gebracht und sie hat sich manchmal für mich eingesetzt. Aber natürlich wollte sie nicht… Na ja, sie wollte trotzdem dazu gehören.“ „Was ist aus ihr geworden?“ „Wir haben sie getroffen, als wir in Laruien waren. Weißt du nicht mehr? Sie hat Victor geheiratet. Schätze, sie ist eine von denen, die draußen in der Welt glücklicher geworden wären. Hatte sogar überlegt, sie zu fragen, ob sie mitkommen will, als ich abgehauen bin, aber… Es war nicht wirklich geplant und ich habe mich nicht getraut.“ „Na ja“, Lileth lächelte schief, drückte tröstend seine Hand. „Glück für mich? Sonst hättest du dich vermutlich nicht noch weiter nach Norden verlaufen. Und ich wäre von Wendigo gefressen worden.“ Die Erinnerung ließ ihn schaudern, auch wenn er grinsen musste. „Ja, eindeutig Glück für dich. Mir hätte das so manches… Hey!“ Sie verloren die Kinder aus den Augen, während sie kabbelten. Sahen sich später, atemlos, mit rote Wangen und von oben bis unten mit Schnee bepudert, nach ihnen um. Vielleicht war der Traum doch gar nicht so schlecht. Und offenbar war es tatsächlich gelungen Klein- Alistair von seinem Vater zu befreien, denn der war jetzt allein und murmelte missmutig vor sich hin. Lileth erspähte sie zuerst, ein gutes Stück tiefer im Wald blitzte etwas Rotes auf und wenn man genau hinsah erkannte man auch die schmächtige Gestalt, die wie ein Äffchen den Stamm einer alten Tanne hinauf huschte. Wahrscheinlich befand sich dort das Bienennest, das er zu plündern hoffte. Die Halbelbe entdeckte jedoch auch noch etwas anderes, das sie aufmerken und erstarren ließ. „Wendigo.“ Mehrere, dunkle Schatten, die die Kinder umschlichen, sie einkreisten und belauerten. Die ahnten nichts von der Bedrohung, lachten und stritten, feuerten Alistair an und veranstalteten generell einen Höllenlärm. Sie krempelte die Hosenschichten hoch und offenbarte eine Messerscheide, die an ihre Wade geschnallt war, zog einen langen Dolch heraus und war schon halb in Bewegung, während Alistair noch völlig überrumpelt in den Wald und dann zu ihr starrte. „Warte. Du trägst das immer noch? Im Bett?“, entfuhr es ihm dann zunächst. Sie wurde rot, zuckte jedoch mit den Schultern. „Man weiß nie. Und jetzt zeigt sich, wie nützlich das ist?“ „Aber es ist nur ein Traum! Was soll schon passieren?“ Das ließ sie inne halten. Scheinbar hatte sie es vergessen und es fühlte sich ja auch tatsächlich alles sehr wirklich an, doch am Ende schüttelte Lileth trotzdem den Kopf. „Egal. Ich will trotzdem nicht, dass du von einem Wendigo gefressen wirst. Komm!“ Na ja… vermutlich war das auch eine Art Liebeserklärung? Und irgendwie war es ja auch ganz witzig. Und pures Chaos. Er kletterte am Ende selbst nach oben, um den Bienenstock herunterzuwerfen und die Kinder zur Flucht zu animieren. Sie warfen Schneebälle, Äste, Steine, brachten sogar einen halb entwurzelten Baum zu Fall, der zwei der Biester unter sich begrub und Isharas Dolch leistete ihnen gute Dienste. Schade, dass er dieses Mal keinen Schnaps dabei hatte. Das wäre eine epische Vorstellung geworden! Ishara zog gerade den blutigen Dolch aus dem Hals eines Wendigo und blickte den kleiner werdenden, fliehenden Gestalten nach, deren schrilles Gekreisch ihnen noch in den Ohren hallte. Auch sein eigenes. Das war ein bisschen peinlich gewesen. Zugegeben. Aber Victor hatte noch sehr viel mehr wie ein Mädchen gekreischt! Plötzlich blieb alles stehen. Keine Geräusche mehr, keine Regung in den Zweigen. Selbst das spritzende Blut war in der Luft erstarrt. „Äh… Lil?“, erklang aus dem Nichts eine Stimme, die Alistair im ersten Moment nur vage vertraut vorkam. Der Halbelbe, die ebenfalls erstarrt war und mit neuer Wachsamkeit gewartet hatte, was da nun wieder kam, entgleisten die Gesichtszüge. „Hans…?!“ „Oh da bist du! Ja. Ähm… Entschuldige, das ist gerade etwas... Oh gute Güte, ist das Blut?“ Ein Zittern lag in der Stimme und eine Gestalt manifestierte sich zwischen den Bäumen, hochgewachsen und schlaksig, ziemlich bleich im Gesicht und den Blick fest auf die Klinge geheftet. Was bei allen Göttern hatte Hans in seinem Traum verloren? Das schien Ishara sich ebenso zu fragen: „Was machst du hier?“ „Oh ich ähm… Bin Euretwegen hier. Weißt du, wegen Duncan.“ Er fuhr hastig fort, als sich keinerlei Verständnis auf den verwirrten Gesichtern zeigte. „Die Sache ist die. Er äh… Versucht etwas Neues, wegen der ganzen Sache, dass ihr seine Pläne hier durchkreuzt habt und all das. Jetzt fängt er offenbar an, in der Vergangenheit der Leute, die dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, rumzupfuschen. Also… na ja bei dir und Thorin ist das natürlich ziemlich hoffnungslos. Viel zu viel Einmischung von… Äh warte, vergiss das. Jedenfalls... Du bist kein direktes Ziel. Aber er zum Beispiel. Und ein paar andere auch. Und ich hab versucht dich hinterher zu schicken, damit du das Schlimmste verhindern kannst. Und… ihn offenbar auch. Auch wenn das nicht geplant war. Aber gut. Und na ja… Ihr… Äh… ihr habts offenbar verhindert? Gute Güte ist das widerlich. Musstest du… so tief schneiden?“ „Warte… Das heißt… Das hier ist gar kein Traum?“ „Äh… Nein. Nein. Das war Duncans Versuch Alistair aus dem Weg zu räumen.“ Jetzt wirkte auch die Halbelbe blass, während der Dieb selbst eher verwirrt war, als alles andere. Letztlich zuckte er mit den Schultern. „Na ja… Glück gehabt?“, er grinste ihr zu. „Danke, dass du mich nicht hast fressen lassen.“ Lileth nickte benommen, doch schien halbwegs zu sich zu kommen, wie aus einer Trance. Sie sah zu ihm, trat zu ihm. Umarmte ihn und in der Geste, in den Schatten in ihren Augen, lag alles, was sie nicht auszusprechen wusste. Er hielt sie fest, strich ihr etwas überfordert durchs Haar. Das war neu. Normalerweise war er derjenige der sich Sorgen machte. Und sie diejenige, die fast starb. Falls man das so nennen wollte? „Hey… Schon gut. Es ist doch alles gut. Ist es doch, oder?“, wandte er sich an Hans, der unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Vielleicht fror er? Konnten Götter frieren? „Oh äh… Na ja. Nicht ganz. Irgendwo hier muss ein Duncan-Splitter sein, der die Wendigo geschickt hat. Und vielleicht versucht er noch irgendetwas anderes und die Anderen sind da auch noch.“ „Ein Splitter?“, erkundigte sich die Halbelbe an Alistairs Schulter und Hans seufzte. „Das ist… ziemlich kompliziert. Duncan ist… Na ja, zersplittert. Es gibt jetzt jede Menge Versionen von ihm. Das einzig Gute daran ist, dass jeder einzelne schwächer ist, als das Original. Aber sie haben sich sonst wo verteilt und stiften Unruhe.“ „Und wir sollen sie jagen.“, das war eher eine Feststellung als eine Frage und Hans wirkte verlegen. „Na ja… Ja. Ehrlich gesagt, ich… Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll?“ Die Halbelbe seufzte. Beunruhigt, vielleicht ein wenig verängstigt, überfordert. Alistair zuckte erneut mit den Schultern: „Ein Gutes hat es“, erklärte er lächelnd und beide wirkten verdutzt. „Das heißt, dass es für uns eine ganze Weile keine Ratssitzungen mehr gibt und wir übermorgen nicht zu Lady Destinas Ball gehen müssen.“ Es war ein kleines, verlorenes Lächeln, das ihre Lippen verzog. Aber es war ein Lächeln. Und wenn er sie in so einer Situation zum Lächeln bringen konnte? Na dann schafften sie alles andere auch! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)