Geliebter Bruder... von Lupus-in-Fabula ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Schritte ihres Gastes hörte die Herrscherin nicht. Wie in Trance lauschte sie dem Spiel des Windes mit den Blättern. Der Besucher wollte sie nicht stören, liess sie in ihren tiefen Gedanken. „Say'ri, ich verstehe dich … jedoch musst du stark sein.“ Leise sprach Tiki, wollte die Frau vor ihr nicht erschrecken. Der Wind kehrte sich, während Say'ri die Augen schloss. Gespräche spielten sich in ihrem Kopf ab. Jedoch … ein leises Seufzen verliess ihren Mund. Ihre Augen langsam öffnend drehte sie sich um. Ob sie die Anwesenheit ihrer Freundin bemerkte oder war es ein Zufall? Tiki lächelte gütig, lief auf Say'ri zu. Auch sie konnte sich zu einem kleinen Lächeln hinreisen. Ohne ein weiteres unnötiges Wort zu verlieren, griff Tiki die Hand ihrer Freundin. „Say'ri, komm. Es wird langsam kühl und eine Tasse Tee wird uns aufwärmen.“ Ein Kopfnicken war das einzige, was die Herrscherin zustande brachte. Sie wollte nicht sprechen und ihre Schwäche offenbaren. Nicht einmal ihre Freundin durfte ein bisschen davon mitbekommen. Lange blieb Tiki an diesen Tag. Sie plauderte über jenes und dieses, entlockte Say'ri nicht nur einmal ein Lächeln. Und doch war ihr Lächeln nicht echt. Ihre Gedanken kreisten um ihn. Ihren Bruder. Der lebte. Der starb. Und wieder erschien, um sie zu beschützen. Geliebter Bruder. Weshalb verschwandst du? Niemand wagt es auszusprechen, dennoch bist du alleine in meiner Erinnerung. Träumte ich von dir? Sehnte ich mich mit solcher Kraft nach deiner Anwesenheit? Oh, mein geliebter Bruder. Wieder spielte der Wind mit den Haaren der Herrscherin, als sie ihren Gedanken nachhing. Alleine und verloren in dem prächtigen Palast. Eine leere füllte ihr Herz. Trotz der vergangenen Monate griff die Trauer ihren Geist an. Und auch die Angst, ihren Verstand zu verlieren. Bruder, bitte gebe mir ein Zeichen … Oder verschwinde endgültig aus meinem Herzen … *** Der Abend brach herein. Sie sass auf dem reichlich geschmückten Thron, versuchte würdevoll dreinzublicken und dem späten Besuch ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Tiki war schon zurückgekehrt zu ihrem Zuhause. Der Milabaum war der heilige Ruhesitz der Manakete und Tochter Nagas. Der Dynast sprach langsam und bedacht. Sein mitgebrachtes Geschenk lag auf einem Seidenkissen vor ihren Füssen. Der Mann aus dem Süden wollte sich erkenntlich zeigen, sich gleichzeitig für seine Vergehen entschuldigen und ihr seine Loyalität beweisen. Say'ri schloss für einen Moment die Augen. Das Geschehene wollte sie vergessen. Der Verrat. Ihre Gefangenschaft. Der Schmerz. Ihren … Wie würde er in ihrer Situation reagieren? Würde er ruhig und königlich seinen Untertanen lauschen und trotz des Schmerzes die Vergangenheit vergessen? Hätte er ihr verzeihen können, wenn sie … Ein leises Räuspern holte sie zurück. Ihr Gast blickte direkt zu ihr. Seine Vasallen bewegten sich nicht, sie blickten zu ihrem Herren. „Eure Gesellschaft erfreute mich. Bitte seid mein Gast und ruht Euch in meinem Heim aus.“ Mit einer Handbewegung rief die Herrscherin einer ihrer Leute. Sie nickte und erhob sich. Ihrem Gast schenkte sie ein dankbares Lächeln. Viel mehr als über sein mitgebrachtes Präsent freute die Herrscherin sich über seine Ergebenheit. Ihre Schritte hallten im Abendrot gefärbten Gängen nieder. Ihrem Gast sollte es an nichts mangeln, deswegen gab Say'ri still Anweisungen. Sein Schlafgemach. Seine späte Mahlzeit. Die Unterkünfte seiner Vasallen. All dies sollte absolut einwandfrei sein. Ihre Untergebenen dachten für sich, was für eine herzensgute und edle Herrscherin sie wäre. „Holt genug Stroh für die Pferde. Die treuen Tiere sollten sich wie ihre Besitzer erholen.“ Der Stallbursche nickte, seine Augen glänzten vor Stolz. Dass seine Königin mit ihm sprach, war für ihn eine Ehre. Seine Müdigkeit war auf der Stelle verschwunden, er war nicht mehr mürrisch, weil er aus seinem Schlaf gerufen wurde. Alleine die Stimme Say'ris zuhören, bereitete dem Burschen eine Freude. Niemand bemerkte den wahren Grund. Niemand sprach sie darauf an. Niemanden fiel es auf. Say'ri schlief diese Nacht nicht. Aus Furcht von ihren Träumen. *** „Meine Dame, ich …“ Der Apfel hätte die Sprechende an den Kopf getroffen, wäre sie nicht ausgewichen. Einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte. Und genau das wusste auch Tiki. Deswegen holte sie tief Luft und schimpfte mit ihrer Freundin. Wie mit einem Kleinkind. Wiederholte all das, was sie gefühlte tausende Male aufzählte. Say'ri kannte dies. Sie hörte trotzdem konzentriert zu, beugte sich vor, um den angebissenen Apfel aufzuheben. Doch da sprach die Stimme etwas aus, was Say'ri vergessen wollte. Was sie tief in ihrem Herzen verschlossen hatte. „Dein Bruder hätte nicht gewollt, dass du so lange trauerst. Du befreitest dein Volk vor dem Eroberer und streitest an Chroms Seite für den Weltfrieden. Er ist nicht hier, jedoch lebt er in dir und deinen Taten weiter.“ Sekunden vergingen, bis die Angesprochene reagierte. Der Apfel blieb liegen, die Frau zitterte wie ein Blatt im Wind. All ihre Beherrschung floss dahin. So lange war sie stark, jedoch konnte sie ihr Gesicht nicht weiter wahren. Als Tiki sie am Arm berühren wollte, um sie zu trösten und ihr Halt zugeben, brach Say'ris Maske. „Berührt mich nicht! Niemand soll mir falsches Mitleid schenken. Besonders Ihr nicht. Was bedeutet menschliches Leiden für ein Wesen wie Euch?“ Nicht nur der Körper der Sprechenden zitterte. Die geröteten Augen weit aufgerissen, Tränen flossen ihre bleichen Wangen hinunter. Say'ris Körperhaltung war angespannt, drohend. Tiki seufzte tief, wollte ihre Freundin Trost spenden. Aber niemand konnte ihr helfen. Nicht einmal Naga selbst. „Gewiss bin ich meiner Sinne, ich träumte nicht von seiner Nähe!“, sprach die Frau mit letzter Kraft, bevor ihre Trauer sie zu Boden zwang. Er kämpfte an meiner Seite. Sein Schwert war mein. Unsere Herzen waren verbunden. Weshalb brach unsere Bande? Weshalb bestrafen mich die Götter? „Meine Dame“, die Worte gingen im Wind fast unter. Die Sonne schenkte der Natur ihre warmen Strahlen. Vögelchen sangen ihre Lieder, Blumen lockten mit ihren bunten Farben die Insekten an. Ein herrlicher Tag. Sicherlich hätte all dies Say'ris Herz und Seele erwärmen können. Doch trotz der Schönheit der Natur, ihrer verlässlichen Freundin und der Treue der Dynastien und ihrer Vasallen war ein tiefes Loch in ihrem Herzen gerissen worden, welches verheilen sollte. „Weshalb erlauben mir die Götter nicht, bei meinem Bruder zu sein?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)