Gnadenlos von Platypusaurus ================================================================================ Kapitel 1: Soziale Medien ------------------------- Sam sitzt auf dem einzigen Stuhl in Gabriels Zimmer, die langen Beine umständlich übereinander geschlagen, und mit dem Rücken zum Schreibtisch, zu dem der Stuhl gehört. Mit gemischten Gefühlen beobachtet er den Erzengel, der sich bäuchlings auf seinem Bett fläzt. Dessen Füße, die in Socken mit geflügelten Würstchen darauf stecken, wippen vergnügt in der Luft, während er vor sich auf der Matratze Sams Laptop stehen hat. „Oi, Sammy, du glaubst ja nicht, wie viel Internetkultur man in sieben Jahren offline verpasst!“, sagt Gabriel begeistert und ohne aufzusehen. Sam verzieht das Gesicht. Schlimm genug, dass Gabe die Dreistigkeit besessen hat, Sam nach seinem Laptop zu fragen. Noch schlimmer, dass Sam umnachtet genug war, ihn – Unter Aufsicht! – zu verleihen. Am allerschlimmsten, dass Gabriel sich immer noch nicht an persönliche Grenzen hält. Dean (und Mom) sind nun mal die einzigen, die ihn bei diesem Spitznamen nennen dürfen. „Doch, das kann ich mir vorstellen“, sagt Sam gequält und verzichtet darauf, Gabriel zu korrigieren. Unnötig, dem Erzengel noch mehr Stoff für Hänseleien zu geben. „Diese ganzen Updates auf Facebook ...“, begeistert zeigt er auf den Bildschirm, der für Sam von seinem Stuhl aus absolut uneinsehbar ist. Er kann nur vermuten, dass Gabriel sich wirklich auf Facebook herumtreibt. Zumindest kann er blaues und weißes Licht ausmachen, das der Bildschirm in das charismatische Gesicht des Erzengels wirft und seine bernsteinfarbenen Augen blitzen lässt. „Ich glaube, du bist einer der wenigen, die sich darüber freuen“, erwidert Sam wenig interessiert und lauscht auf das Scroll- und Klick-Geräusch der Funkmaus, die er Gabriel zusammen mit seinem Laptop gegeben hat und die nun unterhalb der Tastatur über das Gehäuse des Geräts kratzt. Sam gibt sich Mühe, nicht darüber zusammenzufahren, wie Gabriel mit seinem Heiligtum umgeht. Bevor er seinen Computer aus der Hand gegeben hat, haben sie mit Handschlag ausgehandelt, dass Gabe augenblicklich des Bunkers verwiesen werde, sobald Sam nach dessen Benutzung auch nur eine Veränderung an Hard- oder Software feststellt. Er atmet also tief durch und lenkt sich mit dem Gedanken ab, dass es nett ist, Gabe inzwischen so sorglos zu sehen. Kein Vergleich mehr zu der mit Blut verkrusteten, verhärmten kleinen Gestalt, in deren Augen nichts als Angst und Schmerzen liegen. „Hey, Eileen Leahy hat dir heute vor einem Jahr ein GIF mit Hundewelpen über deine Chronik geschickt!“, ruft Gabriel plötzlich und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen. „Wer ist Eileen Leahy?“ Sam schließt für einen Moment die Augen, stöhnt ergeben auf. Gabe ist so eine Nervensäge und der Gedanke an Eileen immer noch erstaunlich schmerzhaft, also auf keinen Fall ein Thema, das er mit seinem neusten Mitbewohner diskutieren will. „Das geht dich nichts – Moment mal, was machst du da mit meinem Account!“ Sam ist schneller auf den Füßen, als seine verknoteten Beine es zulassen sollten, macht einen Schritt Richtung Bett und klappt den Deckel seines Laptops mit Schwung zu. „Autsch, Samantha!“, mault Gabriel, dessen Finger nur minimal zwischen Tastatur und Bildschirm eingeklemmt worden sind. Die Maus ist glücklicherweise auf die Matratze gerutscht und hat den Laptop bei Sams Kurzschlussreaktion nicht beschädigt. „Du brauchst nicht gleich grob zu werden, ich respektiere deine Privatsphäre!“ Sam schnaubt ungläubig und öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, als er plötzlich ein leises Lachen hinter sich hört. Er richtet sich blitzschnell auf und wirft einen Blick über die Schulter. Außer ihnen ist niemand im Raum, die Zimmertür ist nach wie vor geschlossen und doch schwebt das Lachen über ihnen; eine körperlose Stimme, die Sam auf schauderhafte Weise in ihren Bann zieht. Gar nicht gut! Die Haut in seinem Nacken prickelt; er kann spüren, wie sich die Härchen dort alarmiert aufrichten. Das Lachen hält an. Die Stimme ist vertraut, männlich, samtweich und eiskalt. Nicht nur das, auch die Temperatur scheint plötzlich um ein paar Grad zu sinken, als Sam sich umschaut. Gabriels Gezeter ist verstummt; er beobachtet Sam aufmerksam vom Bett aus, was er nur gerade so am Rande mitbekommt. Er kann plötzlich den eigenen Puls in seinem Kopf hören. Das körperlose Lachen verebbt allmählich, wird leiser und leiser, beinahe als würde jemand die Lautstärke der Stimme herunter drehen. „Hey, Sasquatch. Alles in Ordnung da oben?“ Sam dreht sich zu Gabriel herum und beeilt sich, ein unbekümmertes Gesicht zu machen. „Sicher, was soll sein!“, erwidert er leichthin – und nimmt Gabriel kurzerhand den Laptop weg. „Das war genug Social Media für den Trickster“, sagt er bemüht trocken und klammert sich an seinen Computer, als würde ihm das dabei helfen, nicht umzufallen. Er hat die Stimme erkannt. Er würde dieses Lachen immer wiedererkennen. Es verfolgt ihn bis in seine schlimmsten Alpträume und jetzt sucht es ihn wohl auch bei Tage heim. Erneut. Ein prüfender Blick verrät ihm: Das einzige, was Gabriel bemerkt zu haben scheint, ist Sams Reaktion, als er das Lachen gehört hat. Was bedeuten muss, dass es kein Geist war, kein anderes übernatürliches Wesen, das in Unwissenheit (Jack) oder durch einen bösen Scherz (Rowena, Crowley, Gabe) aus der Asservatenkammer befreit worden ist und jetzt an seinem Verstand nagt. Der Erzengel wäre nicht nur in der Lage, eine übernatürliche Präsenz im Raum auszumachen, nein, er könnte selbstverständlich auch die Anwesenheit des echten Lucifers erkennen. Darüber hinaus sind sie Brüder. Und den eigenen Bruder bemerkt man wohl im selben Zimmer. Sam ignoriert das Schmollen Gabriels, von dem sie beide wissen, dass es nur aufgesetzt ist. Einbildung!, sagt er sich stumm immer und immer wieder. Das Lachen war bloß Einbildung! Doch es hilft nicht, dem flauen Gefühl beizukommen. Sam kann den wachsamen Blick, der ihm folgt, deutlich im Nacken spüren, als er das Zimmer verlässt.       *     Sam kann das Lachen in Gabriels Zimmer nicht vergessen, auch wenn er mehr und mehr davon überzeugt ist, es sich bloß eingebildet zu haben. Es muss am Stress gelegen haben, am Schlafmangel, daran, dass er inzwischen das Gefühl hat, sich Tag und Nacht mit Lucifer befassen zu müssen. Kein Wunder also, dass sein müdes Hirn ihm einen Streich gespielt hat. Sam besinnt sich darauf, was ihm bei Stress am meisten hilft – Ablenkung und Gesellschaft – und kümmert sich in den nächsten Tagen ganz besonders um Jack. Sie sitzen nebeneinander im Strategiezimmer am Weltkartentisch, Sams Laptop direkt vor ihnen, positioniert über dem Atlantik, zwischen Uruguay und Südafrika. Es tut gut, Jack etwas zu zeigen, das so menschlich ist, wie die Handhabung eines Computers, selbst wenn er das Wissen am Ende dafür brauchen wird, um mit ihnen auf die Jagd zu gehen. Willkommen in der Familie, denkt Sam und wird dabei ein bisschen schwermütig. Aber irgendwo fühlt er auch diese Unverschämtheit einer fixen Idee in sich aufsteigen, dass der Junge in naher Zukunft vielleicht aufs College gehen könnte. Auch für so etwas kann ein kleiner PC-Exkurs durchaus von Nutzen sein. Sollte Jack sich früher oder später für ein menschliches Leben entscheiden, spräche nichts dagegen, einen selbstgewählten Bildungsweg einzuschlagen, ein völlig normaler Student zu werden – ein Leben, das Sam bis auf die winzige bittersüße Kostprobe verwehrt geblieben ist. In Jack ruht nicht nur die Chance auf Weltfrieden, wie Sam die Erzählung von Castiels Vision insgeheim auslegt, nein, er besitzt auch das Potential zur eigenen Freiheit. Team Freier Wille. Nicht ohne einen gewissen Stolz betrachtet er das glatte, junge Gesicht, aus dem die hell schimmernden Augen so vertrauensvoll zu ihm aufblicken. Sam kann nicht behaupten, elterliche Gefühle für Jack zu hegen. Als Vaterfigur hat er sich noch nie selbst gesehen; zu groß ist dafür die Angst, zu viel Ähnlichkeit zum eigenen Vater an sich zu entdecken. Sam mag Kinder und er kommt gut mit ihnen zurecht – zwar nicht so wie Dean, der einen echten Draht zu ihnen hat und den Sam insgeheim als den geborenen Vater betrachtet. Aber Dean weigert sich bislang, sich näher mit Jack zu befassen, reduziert den Jungen auf seine Herkunft und widerspricht damit allem, was das Leben sie über die Jahre eigentlich gelehrt haben müsste. Doch Sam tut der Umgang mit Jack gut. Es fühlt sich an wie der Beginn einer tiefen Freundschaft. Einmal mehr fühlt er sich mit Jack an eine jüngere Version seiner selbst erinnert: Ahnungslos, hoffnungsvoll, getrieben von dem nahezu unstillbaren Hunger nach Wissen und Gerechtigkeit. Und vor allem nach Anerkennung. Die Sehnsucht danach, um um der eigenen Person willen respektiert und geschätzt zu werden. Bevor sie in Jägerkreisen für Dinge wie das Öffnen der Höllentore oder seine Abhängigkeit von Dämonenblut in Ungnade gefallen waren, wofür sich Sam auch nach Jahren noch schuldig fühlt, war der Name Winchester, dank Dean und John, einmal fast so etwas wie angesehen gewesen. Und weder dieses Ansehen, noch John Winchester hatten damals erlaubt, dass Sam das Leben einschlagen konnte, das er sich insgeheim schon immer gewünscht hat. Jack hat so viel mit ihm gemeinsam. Sam unterbricht seine Einführung über fundierte Internetrecherche, darüber wie man einzelne Aspekte von Suchanfragen ausschließt oder sich auf sie beschränkt, wie man sich vor dem Aufruf vergewissert, ob Internetseiten sicher sind und wie man seine Browser Historie löscht. Der Junge soll den unbegrenzten Zugang zu Wissen haben, aber dabei auf der sicheren Seite sein, das ist Sam wichtig. Die heutige Lektion war keine große und Jacks Neugier und Auffassungsvermögen hätten deutlich mehr Input vertragen können, aber Sam versucht, im Blick zu behalten, dass er ein Kind vor sich hat. Und zwar eines, dem ohnehin schon ein Großteil seines Kindseins abhanden kommt, weil sein leiblicher Vater Jagd auf es macht. „Was machen wir jetzt, Sam?“, fragt Jack mit so etwas wie geduldiger Neugier. Sam grinst. „Jetzt zeig‘ ich dir, wie man vor 20 Jahren seine Zeit mit Computern vergeudet hat“, sagt er und spürt, wie ihn selbst die nostalgische Begeisterung packt. Mit einem Doppelklick auf das entsprechende Icon öffnet sich 3D Pinball mit vertrautem, surrenden Getöse. Sam zeigt dem faszinierten Nephilim die paar Tasten, die für das Spiel benötigt werden und schaut dabei zu, wie Jack sich im simplen, aber definitiv einnehmenden Konzept des Simulators verliert. „Du bringst meinem Neffen aber nicht irgendwelchen Blödsinn bei, oder Samshine?“, fragt Gabriels Stimme plötzlich hinter ihnen. Sam unterdrückt ein Zusammenzucken. Er ist nicht etwa schreckhaft geworden, seitdem er sich die bedrohliche Stimme im Zimmer des Erzengels eingebildet hat; nichtsdestotrotz kann er sich Schöneres vorstellen, als jemand, der sich ihm unbemerkt von hinten nähert. Er steht deshalb von seinem Platz auf und dreht sich seufzend zu Gabriel um, um gegenüber dem Millennia alten, überirdischen Wesen den reifen Erwachsenen heraushängen zu lassen – und muss sich bei dem Anblick, der sich ihm bietet, ein Lachen verkneifen. Der Erzengel trägt einen flauschigen, roten Bademantel offen über einem albernen, klischeehaften Feinrippunterhemd. Und dazu Boxershorts mit denkbar geschmacklosem Aufdruck: Sam kann Lollipops und sabbernde Knutschmünder erkennen. In der Hand hält Gabriel einen Teller mit Fruchtpastete, und zwar Kirsch, wie es auf die Entfernung den Anschein hat. Auf Gabriels Lippen liegt ein rötlicher, zuckrig glänzender Schimmer, den er sich bedächtig mit der Spitze seiner Zunge abzulecken beginnt. Sams Blick bleibt an dem Lollipop-und-Kussmund-Print der Unterhose hängen. „Sicher, dass ausgerechnet du über guten Einfluss auf Jack reden solltest?“, fragt er , wobei es ihm nur zur Hälfte gelingt, seine Amüsiertheit hinter einer entnervten Mine zu verbergen. Gabriel folgt seinem Blick, sieht an sich selbst hinunter, und kichert anerkennend über den Konter, als er die eigene Unterwäsche begutachtet, so als sähe er sie in diesem Moment zum ersten Mal. Er lässt es sich nicht nehmen, die Schöße seines Bademantels mit einem dramatischen Hüftschwung aufwirbeln zu lassen. „Sam hat einen guten Einfluss auf mich, Gabriel“, murmelt Jack konzentriert, ohne sich nach ihnen umzudrehen. Im Hintergrund ist das leise Flippern des Spiels zu hören, in das er vertieft ist. „Er bringt mir bei, wie man in den 1990er Jahren Zeit vergeudet hat.“ Wären seine Finger bei diesen Worten nicht anderweitig beschäftigt, hätte er sie mit Sicherheit für die Andeutung von Anführungszeichen in der Luft verwendet. Sam und Gabriel sehen sich an, offenbar in dieser Sekunde einen ähnlichen Gedanken teilend: Jack kann nicht wissen, wie sehr sein Tonfall eben an Castiel erinnert hat. Mühsam halten sie ein Lachen über den völlig ernsthaften Kommentar zurück und es ist absurd, dass da auf einmal eine Verbindung, dieser stumme Austausch zwischen ihnen besteht. Sam ist nicht ganz sicher, was er davon halten soll. Der Ausdruck in Gabes Gesicht verrät ihm, dass der Erzengel nicht nur seinen amüsierten Gedanken, sondern auch die darauf folgende Irritation teilt. Wie um davon abzulenken, verdreht Gabriel plötzlich theatralisch die Augen und schlägt sich die freie Hand vor die Stirn. „Oh, Jacky! Das war aber gerade nicht Samanthas Einfluss; aus dir spricht Daddy höchstpersönlich!“ Das Spiel signalisiert mit einem bedauernden Tonabfall, dass Jack die Runde verloren hat. Der Junge nutzt die Pause, um sich für einen Moment von Sams Laptop loszureißen, und dreht sich auf seinem Stuhl herum. „Mein Dad?“, fragt er und sieht erwartungsvoll zwischen Gabriel und Sam hin und her. „Meinst du Castiel, oder …?“ Sein Blick bleibt schließlich an Gabriel hängen, während die unausgesprochene Frage zwischen ihnen im Raum hängen bleibt. Sie liegt schwer in der Luft, drückend und ungemütlich, und lässt die unbekümmerte Stimmung plötzlich ins Gegenteil umschlagen. Sam räuspert sich, doch Gabriel scheint sich in diesem Moment dazu entschlossen zu haben, Jack eine Antwort zu geben. „Natürlich meine ich Cassie. Er ist doch dein Vater, wenn ich es richtig verstanden habe?“ Erwartungsvoll auf den Ballen seiner Füße wippend, die heute nur in vergleichsweise langweiligen, mit Wolle gefütterten Slippern stecken, sieht er Jack an. Und Jack lächelt schließlich und nickt kurz. „Ja, Gabriel. Castiel ist mein Vater.“ „Gut! Dann habe ich eure Familienkonstellation wohl richtig verstanden. Oder Rollenverteilung, wenn du so willst. Manchmal ist das nämlich nicht so ganz ersichtlich!“ Gabe schaufelt sich zufrieden eine Gabel voll Pastete in den Mund und beginnt mit vollen Backen zu kauen. Sam hat keine Ahnung, wie der Erzengel das anstellt, aber nachdem er sich die Lippen vorhin erst sauber geleckt hat, sind sie schon wieder über und über mit Kirschfüllung beschmiert. Gabe isst beinahe so unansehnlich wie Dean, und das will schon etwas heißen. Wobei, nein, das stimmt nicht so ganz. Skurrilerweise hat der Erzengel einen Hauch mehr Würde dabei. „Dad Numero Uno und sein aggressives Eichhörnchen, das aber kein Dad ist … Dann unser Samshine, hier … Und der Erzeuger. Verzeiht es mir, wenn ich bei eurer multi-kulti Alternativ-Elternschaft nicht immer ganz durchsteige“, mümmelt Gabriel und zwinkert zu Sam herüber. „Bitte was?“ Gabriel spießt mit seiner Kuchengabel ein Stück Pastete auf, bevor er damit schwungvoll auf Sam zeigt. Etwas Kirschfüllung tropft dabei auf den Teller, wobei das Dessert darauf mit einem Mal eher Ähnlichkeit mit einem blutigen Massaker zu haben scheint. Es fällt Sam schwer, den Blick davon abzuwenden. „Aggressives Eichhörnchen?“, fragt Jack erstaunt. „Das ist ein Spitzname für Dean. Crowley hat ihn eine Zeit lang so genannt. Lass dir von Dean irgendwann einmal ‚The Adventures of Rocky and Bullwinkle and Friends‘ zeigen“, erklärt Sam geduldig, nachdem er es geschafft hat, nicht länger auf das matschig rote Trauerspiel auf Gabriels Teller zu starren. Jede weitere Stichelei aus Erzengel-Richtung übergeht er einfach. Jacks Gesichtsausdruck ist immer noch ratlos, aber er nickt langsam – und scheint darauf zu warten, dass noch mehr an Erklärung folgt. Sam seufzt. „Cas ist Jacks Dad. Nur Cas. Nichts weiter, niemand sonst. Verstanden?“ Er bemüht sich, seinen Tonfall nicht zu scharf vor Jack werden zu lassen, würde ihm gern das sich anbahnende Drama ersparen, doch er weiß nicht, wie er Gabriel unauffällig dazu bringen soll, seine große Klappe zu halten. Es ist ja gut, dass er wieder spricht und seine alten Lebensgeister wieder beisammen zu haben scheint. Aber es ist auch … äußerst unbequem. „Was immer du sagst, Champ!“, meint Gabriel achselzuckend und ist schon wieder am Kauen. Sam zuckt kaum merklich zusammen, als er sieht, wie etwas roter Saft über sein Kinn rinnt. Es ist schon unheimlich, wie sehr der Anblick im gelben Licht der Deckenbeleuchtung an Blut erinnert. Nervös leckt Sam sich über die Lippen, was ihm ein fragendes Blinzeln von Gabriel einbringt, als er sich mit dem Handrücken den Kirschsaft aus dem Gesicht wischt. Überraschenderweise meldet sich Jack erneut zu Wort: „Das stimmt nicht, Sam! Ich habe drei Väter!“ Das Lächeln, dass er Sam schenkt, ist so aufrichtig und offen, dass es ihm fast einen Stich versetzt. „Ein Vater ist der männliche Elternteil einer Person. Ein ‚sozialer Vater‘ übernimmt die persönliche Verantwortung über ein Kind, und schützt und umsorgt es. Das habe ich im Internet gelernt“, erklärt Jack und sieht Gabriel stirnrunzelnd an. „Also bedeutet das, dass ich drei Väter habe. Sie sind sehr verschieden und mein … richtiger Dad ist Castiel.“ Eine kurze Pause folgt auf diese Erklärung; eine Minute, in der Gabe die letzten Bissen seiner Pastete vernichtet und in der Sam krampfhaft versucht, ihm nicht dabei zuzusehen. Er weiß, dass er sich vermutlich gerührt darüber fühlen sollte, dass Jack ihn nicht nur als Freund und Mentor, sondern tatsächlich auch als eine Vaterfigur betrachtet. Neben Dean, der Jack bisher mit allem anderen als väterlicher Wärme begegnet ist. Sam bleibt dabei: Der einzige, der die Bezeichnung ‚Vater‘ für Jack in seinen Augen wirklich und wahrhaftig verdient, ist Cas. Doch offensichtlich hat der Nephilim in dieser Angelegenheit seinen eigenen Kopf. Ebenso, wie er offenbar keinerlei Probleme damit hatte, sich bereits vor Sams Unterweisung in den Weiten des World Wide Webs zurechtzufinden. Eine Tatsache, die auch dem Erzengel nicht entgangen zu sein scheint. „Vielen Dank für den Hinweis, Wikipedia-Engel. Ich werde es mir merken“, sagt Gabe nämlich endlich und es klingt erstaunlich sanft. „Immer gern, Onkel Gabriel“, sagt Jack und dreht sich wieder zu Sams Laptop herum, um eine neue Runde Pinball zu starten. Überraschung stiehlt sich bei dem Wort ‚Onkel‘ so rein und offen in Gabes Gesicht, dass Sam nicht anders kann, als ihn fasziniert anzusehen. Es ist ein völlig ungewohnter, befriedigender Anblick, den ehemaligen Trickster einmal aus dem Konzept gebracht zu erleben: Das unverschämte, Jahrmilliarden alte Funkeln aus den Augen gewischt, bis er einfach nur noch verblüffend menschlich aussieht. Gabriel merkt, dass er beobachtet wird und hebt eine Augenbraue. Das schelmische Zwinkern ist augenblicklich zurück, die Verletzlichkeit wieder hinter seinem Vorhang aus überirdischem Spott verborgen. Sam registriert es beinahe mit Bedauern. Nachdem er in den vergangenen Wochen so viel Zeit mit dem Erzengel verbracht hat, genießt er es durchaus, auch andere Seiten an ihm kennenzulernen. Er hat Gabriel zu schätzen gelernt, das kann er nicht leugnen. „Oooaaah, Sammy, das ist ja herzallerliebst!“ Etwas hat sich im Raum verändert. Und Gabriels Lippen haben sich nicht bewegt. Sam erstarrt. Es war nicht der Erzengel, der zu ihm gesprochen hat. Zumindest nicht dieser Erzengel. Sam weicht reflexartig ein Stück vor Gabriel zurück. Eine große Gestalt ist hinter dem Trickster aufgetaucht, so plötzlich und wie aus dem Nichts, als sei sie schon immer da gewesen. Es ist Sams schlimmster Alptraum: Das Lachen von vor ein paar Tagen hat wieder ein Gesicht bekommen. „DAS war gerade ein Moment zwischen euch, merkst du was?“, fragt Lucifer über Gabes Schulter hinweg. Gabriel reagiert nicht auf seinen Bruder, scheint ihn überhaupt nicht zu bemerken; er registriert nur am Rande, dass Gabe weiterhin ihn, Sam, ansieht. Wie ihm selbst der Mund offen steht, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht, bemerkt er nicht. „Guck-guck! Ich bin immer noch hier.“ Lucifers Gesicht – vielmehr das deutlich harmlosere Gesicht seiner menschlichen Hülle – ist kreidebleich und mit roten, schorfigen Malen und offenen Wunden übersät. Eine dunkle Erinnerung an die Zeit, als ihn seine erste menschliche Hülle, Nick, nicht länger zu halten vermochte und allmählich von innen heraus zu zerfallen drohte. Seine eisblauen Augen sind ein scharfer Kontrast zu Blässe und Blut und der belustigte Blick aus ihnen scheint sich tief in Sams Seele zu bohren. „Sammich?“ Ihm war bisher nicht klar, dass man die eigene Seele spüren kann, als sei sie etwas Körperliches, das träge im eigenen Brustkorb umherschwappt. Aber die Art und Weise, wie Lucifer ihn mustert, sorgt dafür, dass seine Seele sich genau so wund und verätzt anfühlt, wie das gefürchtete Gesicht vor ihm aussieht. Halluzinationen. Ich bilde mir das alles nur ein! Der Teufel in seiner geliehenen Gestalt ist plötzlich wie ein Spiegelbild seines Inneren: Genauso abstoßend, genauso krank. Die Ähnlichkeit zu einem Menschen besteht kaum noch. Kalter Schweiß steht Sam auf der Stirn, seine Augen tränen und er blinzelt einige Male. „Überraschung: Ich war nie weg! Die gaaanze Zeit in deinem Kopf und es war so langweilig.“ Abgesehen vom hämischen Singsang Lucifers ist sein eigener Atem, der laut in seinem Kopf widerzuhallen scheint, das einzige, was er im Moment hören kann. Lucifer streckt beide Arme in die Luft, die weit über Gabriel hinausragen, der im eigenen Menschenkostüm gut und gerne einen Kopf kleiner als sein älterer Bruder ist. Lucifer räkelt sich, als sei er aus einem langen Schlaf erwacht. „Samantha? Sam!“ Sam schüttelt heftig den Kopf. Einbildung. Nur Einbildung. Ich – ich bin verrückt geworden! Ich bilde mir das alles nur ein. Lucifer verschwindet nicht, stattdessen grinst er. Er schaut interessiert zu ihm herüber, stützt sich auf Gabriels Schulter ab, der dies nicht zu bemerken scheint, und fährt seinem Bruder summend durchs honigblonde lange Haar. „Gabby lebt also! Schön, schön – damit hätten wir beide nicht gerechnet, hm, Sammy? Lebende kleine Brüder sind sooo wichtig.“ „Sam!“ Lucifer lässt von Gabriel ab und sieht sich interessiert im Raum um. „Nett hast du‘s hier ja. Hat mir schon beim letzten Besuch gut gefallen. Ist immer wieder ein lauschiges Plätzchen für kleine Familientreffen, oder?“ Während er auf das Aufeinandertreffen mit dem eigenem Vater im Bunker anspielt, macht Lucifer eine ausholende Geste und deutet zwischen Gabriel, Jack, Sam und sich selbst hin und her. „Das ist also der Sohnemann! Wie spannend. Und dann du, als meine wahre Hülle ...“ Lucifer spricht nicht weiter, aber das muss er auch gar nicht. Sam beißt sich auf die Lippen. Fest, bis er Blut schmeckt. Es tut weh, aber der Schmerz hilft nicht dabei, dass Lucifer wieder verschwindet. „Erde an Sam, hallo-ho!“ Die Finger seiner rechten Hand graben sich reflexartig in den Ballen, auf der Suche nach einer längst verheilten Wunde. Er spürt nur die kleine Narbe, die ihn normalerweise daran erinnert, dass er die Halluzinationen von Lucifer überlebt hat. Dass er den Käfig überlebt hat. Dass er lebt. „Übrigens: Mein Bruder redet mit dir. Seit … hm, etwa fünf Minuten. Er wirkt ein bisschen besorgt, weil du nicht reagierst. Wenn du nicht willst, dass er dir eine knallt, solltest du ihm vielleicht langsam antworten!“ „W-was?“, stammelt Sam. Tatsächlich steht Gabriel jetzt direkt vor ihm, weniger als eine Armeslänge entfernt, und mustert ihn aus hellen, wachsamen Augen. Der Größenunterschied sorgt dafür, dass der Erzengel den Kopf in den Nacken legen muss, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sam holt zitternd Luft. „Tinnitus“, sagt er schließlich – das erste, was ihm einfällt. „Ich glaube, das war ein Hörsturz.“ Er wagt es, den Blick ein Stück zu heben und über Gabriels Kopf hinwegzusehen. Lucifer hat sich nicht von der Stelle gerührt, steht mit verschränkten Armen am selben Fleck und beobachtet seinen Bruder und seine wahre Hülle mit unverhohlener Belustigung. „Was ist ein Hörsturz?“, fragt Jack irgendwo in Sams Nähe. Niemand gibt ihm eine Antwort darauf. „Ja, Sam. Was ist ein Hörsturz? Erzähl uns doch mal, wie sich das anfühlt“, keckert Lucifer. Sam reißt sich von seinem Anblick los und sieht sich mit dem scharfen Blick Gabes konfrontiert, der ihn immer noch aufmerksam taxiert. „Soll ich dich heilen, Sam?“ Jack klingt ratlos, aber freundlich. Sam schüttelt den Kopf. „Es geht schon wieder. Entschuldigt.“ Er zwingt sich zu einem Lächeln und es fühlt sich sogar halbwegs überzeugend auf seinem Gesicht an. „Wenn ich etwas tun kann, sag mir Bescheid. Ich helfe dir gern, wenn ich kann“, sagt Jack, der jetzt schräg hinter Gabe und halb vor Lucifer steht. Sam sieht sich selbst in einer Reihe mit einigen von Chucks engsten Angehörigen und nein, ein Grund zur Freude ist das in dieser Kombination ganz sicher nicht. Sie alle haben diese Verbindung zu Lucifer, der nach wie vor begeistert am Ende steht; eine Verbindung zum Teufel, die Sam nicht leugnen kann – egal, wie wichtig ihm Jack und auch Gabriel inzwischen geworden sind. „We are family!“, summt Lucifer irgendwo im Hintergrund und wirkt mit einem Mal seltsam durchscheinend. Es hilft nicht dabei, dass er sich sicherer fühlt, aber als Sam das nächste Mal blinzelt, ist er verschwunden. Gabriel hat die Brauen so hoch gezogen, dass seine Augen darunter riesig wirken. „Bullshit, Sam“, sagt er leise und lässt das B mit einem weichen Ploppen über seine Lippen gleiten, das Doppel-L langgezogen und tief. „Bullshit.“ Sam kommt nicht dazu, sich darüber zu wundern, dass Gabe seinen Namen einmal nicht ins Lächerliche gezogen hat. Der Erzengel macht eine unerwartet elegante Drehung um die eigene Achse und verlässt mit wehendem Bademantel das Kriegszimmer. Sam und Jack sehen ihm stumm nach. Sam räuspert sich schließlich und nickt zum Laptop hinüber, der inzwischen in den Standby-Modus gewechselt ist. „Wie sieht‘s aus? Noch eine Runde Pinball?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)