Gnadenlos von Platypusaurus ================================================================================ Kapitel 7: Gegenwart und Fluch ------------------------------ „Geh zur Seite, Mutter.“ „Oh, und wie ich zur Seite gehe, Fergus! Ich bin weg!“ Rowenas Stimme klingt schrill und hysterisch, das erreicht Sam selbst durch den dichten Nebel, der sein Hirn wieder einmal einzulullen scheint. Wie oft ist er in der letzten Zeit eigentlich ohnmächtig geworden? Allmählich verliert er den Überblick … „Rede nicht so viel und lass mich endlich durch, Frau!“, sagt Crowley scharf und Sam muss sein Gesicht dazu nicht sehen, um zu wissen, dass die dunklen Augen vor Zorn und Gereiztheit Funken sprühen. Er spürt, wie ein Schatten über ihn fällt. Sam hat nicht die Kraft, schützend die Hände vors Gesicht zu heben, aber vermutlich ist das auch nicht notwendig. Er ist nicht in der Hölle, nicht mehr. Sam ist zu Hause und gerade ist niemand in der Nähe, der Gefahr bedeutet ... Sonst würden sie nicht alle um ihn herum so verhältnismäßig ruhig bleiben, während er selbst hier wie ein sterbender Schwan auf der kalten Erde liegt. Sam weiß übrigens instinktiv, dass der Schatten diesmal nicht Gabes Flügel ist, der sich schützend in der Luft über ihm ausbreitet, und seltsamerweise erfüllt ihn diese Erkenntnis mit tiefem Bedauern. „Er wacht auf.“ Es ist eine Feststellung und, sollte sie Sam gelten, kann er sie nur als zutreffend bestätigen. Die reale Welt um ihn herum überlagert den Alptraum, den er endlich, endlich wieder verlassen zu haben scheint. Er versucht zu blinzeln. Seine Augenlider fühlen sich an wie zusammengenäht. „Ich habe alles gesehen, Fergus. Alles. Wenn du wüsstest, wie –“ „Ich weiß, wie!“, faucht Crowley. Den Geräuschen nach zu urteilen, findet über Sam in diesem Moment ein kurzes Gerangel statt und er stöhnt protestierend auf. Nicht einmal jetzt können sich diese Idioten zusammenreißen … „HEY! Feierabend!“, schaltet sich eine erstaunlich bedrohliche Stimme ein, die den ganzen Raum auszufüllen scheint. Gabe. Endlich. Nicht zu fassen, dass ausgerechnet der Erzengel derjenige sein soll, der in dieser Situation angemessen reagieren kann. Sam spürt Hände, die nach seinen Armen greifen und ihn mit übermenschlicher Kraft, wenngleich behutsam, in eine aufrechte Position ziehen. Widerstandslos sinkt Sam gegen etwas, das sich wie ein fester Körper anfühlt, der seinen Rücken nun von hinten stützt. Abermals blinzelt er und diesmal gelingt es ihm, die Augen zu öffnen. Es ist hell, viel zu hell, im Vergleich zu dem gähnenden Schlund aus seinem Traum, doch noch während sich seine Augen an die Umgebung gewöhnen, erkennt er Gabriel, der mit besorgtem Gesicht vor ihm kniet. Wie merkwürdig. Wenn Gabriel direkt vor ihm ist – an wen gelehnt sitzt Sam dann auf der Erde? Die zu erwartende Panik bleibt aus. Es ist, als hätte sein Körper inzwischen auch den letzten Tropfen Adrenalin aus ihm herausgepresst und sei nun zu nichts anderem mehr als emotionaler Erschöpfung fähig. Er hat bereits alles gesehen, alles durchlebt; nun schon zum zweiten Mal in seiner jämmerlichen Existenz. Sam hat das Gefühl, dass er jetzt vor nichts auf der Welt mehr Angst haben kann. Selbst, wenn es Lucifer persönlich sein sollte, der ihn von hinten beinahe so liebevoll umarmt, wie ein Vater seinen Sohn, dem er Trost zu spenden versucht. Trost … Auf der Suche nach etwas Vergleichbarem sucht Sam Gabes Blick noch einen Moment länger, findet jedoch statt Rückhalt oder Frieden für sich selbst nur Sorge und tiefes Beunruhigen in den bernsteinfarbenen Tiefen. Gabriel sieht so aus, als würde er gern die Hand nach ihm ausstrecken, aber sei sich nicht sicher, ob Sam es zulasse. Für das Warum? fehlt es seinem Kopf in diesem Augenblick jedoch an Kapazität. Er kann sich später darüber Gedanken machen. Das Gezanke im Raum ist zu einem angeregten Tuscheln im Hintergrund geworden. Er blendet es ebenfalls aus, sieht stattdessen an sich herab und entdeckt, dass die Arme, die ihn halten, in den verblichenen Ärmeln eines beigefarbenen Trenchcoats stecken. Cas. Es ist Cas, der ihn fest umschlungen hält. Vor Erleichterung wäre er beinahe in Tränen ausgebrochen. Erleichterung, ja, ein Gefühl, das noch Raum in ihm einnehmen zu können scheint. Ein Gefühl, das ihm geblieben ist, ihm einen letzten Rest Menschlichkeit bewahrt. Mit einem Mal ist es mucksmäuschenstill und Sam gelingt es, nun auch die anderen Gestalten um sich herum wahrzunehmen. Hinter Gabe stehen Crowley und Rowena, einander halb zugewandt und jeder von ihnen in einer Haltung, als würde er dem jeweils anderen am liebsten jeden Moment an die Gurgel gehen, während Sam jetzt ihre erstaunlich betroffenen Blicke auf sich ruhen fühlt. Sam tätschelt schwach mit der flachen Hand Cas‘ Unterarm, den der Engel um seine Mitte geschlungen hält, woraufhin dieser seinen Griff verstärkt, ihm noch mehr Halt gibt. Es tut gut, nicht allein zu sein. Doch etwas fehlt. Vielmehr jemand, der wichtigste Jemand in Sams gottverdammtem Leben. „Wo ist Dean?“, krächzt er und fährt zusammen, sobald die erste Silbe seine Lippen verlässt. Einerseits tut das Sprechen höllisch weh, beinahe so, als hätte er sich stundenlang heiser geschrien. Und andererseits klingt seine Stimme selbst in den eigenen Ohren so fürchterlich, als träfe eben genau das zu. Sam schluckt und es fühlt sich an, als würde etwas Blut heiß und zähflüssig seinen Rachen hinab rinnen. Das betretene Schweigen hält an. Niemand antwortet ihm. Er holt zitternd Luft, um genug Atem für die nächste Frage zu sammeln. „Und Mom?“ Auch sie sollte unter den Anwesenden sein. Vermutlich haben sie genug Lärm gemacht, um so weitläufig im Bunker zu hören zu sein, dass es niemanden mehr unter ihnen geben dürfte, der nicht mitbekommen hat, an welche Art von Experiment sie sich hier gewagt haben. Wie viel Zeit wohl verstrichen ist, seit Rowena mit der Hypnose begonnen hat? Noch immer macht sich niemand die Mühe, Sam eine Antwort zu geben. Seine tränenden Augen stechen in den Höhlen, als er sie suchend durch den Raum wandern lässt; nicht zuletzt, um den quälend mitleidigen Blicken vor sich zu entgehen. Keine Spur von Dean oder Mary – und übrigens auch nicht von Jack. Was geht hier vor? Er seufzt, wobei seine Lungen ein bedenkliches, rasselndes Geräusch von sich geben und versucht, sich aus eigener Kraft so aufzurichten, dass er nicht länger gegen Cas lehnt. Der Engel hindert ihn nicht daran, aber er entfernt sich auch nicht aus seinem persönlichen Freiraum, so als wisse er ganz genau, dass Sams Muskeln jederzeit wieder schlapp machen könnten. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke, wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Training er in seinen Körper investiert. Soll das jetzt bedeuten, dass er sich weder auf seinen Geist, noch auf seinen Körper verlassen kann? Also gibt es nichts mehr, was mir bleibt. Vermutlich sollte ihn dieser Gedanke mehr aufwühlen. „Leute, redet mit mir! Was haben wir?“, stößt er hervor und versucht sich an einem erzürnten Lachen. Sogar für ihn selbst klingt es wie Wimmern. „Jetzt sagt schon! Rowena! B-bin ich verrückt oder ist es Lucifer?“ Sam keucht und bricht ab. Um mehr Fragen zu stellen, fehlt ihm der Atem. Wieder fühlt er sich, als sei er meilenweit vor den schrecklichen Vögeln davon gerannt. Die Vögel, von denen er noch niemandem erzählt hat. Die Vögel, die er inzwischen ganz bewusst mit Castiel, Gabriel und Lucifer assoziiert. Vielleicht ist der Moment der Klarheit Resultat des Alptraums, aus dem er soeben erwacht ist. Vielleicht hat es etwas mit der Hypnose zu tun oder vielleicht erschließt sich sein Hirn all die Antworten selbst, die ihm niemand hier im Raum geben zu wollen scheint. Sam spürt, wie Cas hinter ihm eine kleine Bewegung macht. Der schwarz-weiße Vogel, den er auf dem Waldboden zuerst hat sterben sehen, war ein Symbol für Castiel. Ganz klar. Cas stirbt. Er wird sterben, wegen mir. Magensäure bahnt sich unheilvoll ihren Weg nach oben, steigt ihm bitter in die Kehle, erneut begleitet von dem schweren, metallischen Geschmack seines eigenen Blutes. Rowena gibt im Hintergrund einen unbestimmten Laut von sich. Es klingt wie eine Mischung aus Schmerz und Bedauern. „Jemand gebe Samuel endlich etwas Wasser! Gabriel! Fergus! Macht euch nützlich!“ Crowley beugt sich dem herrischen Tonfall seiner Mutter nicht, sondern wirft ihr nur einen stirnrunzelnden Blick zu, als wollte er ihr damit sagen: ‚So leicht lasse ich dich nicht aus den Augen.‘ In Gabriel wiederum kehrt augenblicklich Bewegung; er springt auf und verlässt tatsächlich den Raum, als habe er einen Befehl erhalten. Ein ungewöhnliches Verhalten für den sonst so widerspenstigen Erzengel, doch statt sich darüber zu wundern, sieht Sam ihm nur nach, bis er um die Ecke verschwunden ist. Das Kriegszimmer fühlt sich mit einem Mal ein paar Grad kälter an. „Cas, was ist los?“, flüstert Sam über die Schulter. Crowley und Rowena scheinen derweil erneut in ein halblautes Streitgespräch vertieft zu sein, denn sie haben wieder damit begonnen, sich gegenseitig anzufunkeln, während sie sich wütende Unverständlichkeiten entgegen zischen. Von dem bisschen, das Sam heraushören kann, scheint es wohl darum zu gehen, dass Rowena sich immer noch aus dem Staub machen will und sich offenbar weigert, eine klare Aussage über Sams Geisteszustand zu treffen. „Dean und Mary scheinen nicht im Bunker zu sein“, antwortet Cas hinter ihm leise. Er klingt bedrückt. „Jack sucht gerade nach ihnen. Ich habe ihn darum gebeten, als er vorhin zu uns gestoßen ist. Ich wollte nicht, dass er ...“ Cas unterbricht sich und seufzt unheilschwer. „Du wolltest nicht, dass er Lucifer so nahe kommt. Oder dem, was er mir angetan hat“, schließt Sam für ihn. Es ist keine Frage. Alles hier hat mit Lucifer zu tun. Ob er nun in diesem Moment höchstpersönlich unter ihnen weilt, oder nicht – Sams Zustand ist auf jede erdenkliche Art dem Teufel zu verdanken. „Ja“, sagt Cas schlicht und hilft Sam behutsam dabei, auf die Beine zu kommen. Als er endlich steht, muss er sich am Arm des Engels festklammern, der mit festem Griff beinahe sein ganzes Gewicht stützt. Sams Beine sind so wackelig, als gehörten sie überhaupt nicht zu seinem Körper. Eigentlich fühlt sich alles an ihm an, als gehöre es nicht zu ihm, als stecke sein Bewusstsein in einer hölzernen Marionette, deren Puppenspieler nicht die geringste Ahnung davon hat, wie sie zu führen sei. Gleichzeitig tut ihm alles weh, ist jede einzelne Faser seiner Existenz so schmerzlich präsent, dass ihm das Atmen immer noch schwer fällt. Wie gern würde er sich jetzt einfach ins Nichts sinken lassen. Nicht in das Nichts aus dem Käfig. Auch nicht in das Nichts seiner Seelenlosigkeit. Das tröstliche, beruhigende, stille Nichts, in der es weder Gestern noch Morgen gibt. Das Nichts, in dem er endlich aufhört, zu sein. „Sam.“ Gabriel steht plötzlich vor ihm. Sam hat ihn gar nicht kommen sehen. Der Erzengel hält ein Glas Wasser in der Hand. Sam nimmt es fahrig entgegen, ist dankbar dafür, dass Gabe das Glas erst los lässt, als er schon im Begriff ist, es sich gierig zu Munde zu führen, und selbst dann hält Gabriel die Hand darunter ausgestreckt, so als rechne er damit, dass Sam das Glas jeden Moment fallen lassen könnte. Um ehrlich zu sein, rechnet auch Sam damit. „Sam, sieh mich an.“ Sam leert das Glas in zwei großen Zügen, an denen er sich fast verschluckt. Er erwidert Gabes durchdringenden Blick. Die albernen Spitznamen fehlen ihm plötzlich. Er setzt zu einem Lächeln an, erinnert sich dunkel an das bemitleidenswerte Geräusch, das ihm zuvor anstatt eines Lachens entwischt ist. Also lässt er es lieber. „Danke, Gabe“, haucht er stattdessen rau. Seine Kehle brennt noch immer, aber das Wasser hat die schreckliche Trockenheit darin etwas gelindert. „Ich weiß, dass du mir geholfen hast. Du warst da.“ Sams Wangen schmerzen. Sein Gehirn scheint nicht begriffen zu haben, dass er sich gegen ein Lächeln entschieden hat. Die Grimasse, die er stattdessen zieht, muss scheußlich aussehen, denn aus Gabes Gesichtsausdruck spricht nun mehr Sorge als je zuvor. „Ich war da.“ Gabe nickt langsam. „Ich habe alles gesehen, Sammy. Und du solltest dich jetzt ausruhen.“ Nenn mich nicht Sammy, will Sam sagen. Es ist ein Reflex, so wie Niesen oder Blinzeln. Nur Dean darf ihn so nennen. Aber Dean ist nicht da. Nenn mich nicht Sammy, will Sam sagen, wie um damit Deans Abwesenheit nicht zu laut im Raum werden zu lassen, um die Leere, die er hinterlässt, wenigstens ein klein wenig zu füllen. Doch stattdessen fällt ihm das Glas aus der Hand. Gabriel fängt es auf und Castiel fängt Sam auf. Er war nicht in der Lage, das Glas zu halten oder auf den Beinen zu bleiben – genau so, wie beide Engel es vorhergesehen haben. Gabe weiß, wann Sam die Dinge zu entgleiten drohen. Cas weiß, wann Sam dazu neigt, sich selbst zu überschätzen. Die schmerzliche Lücke im Bild hinterlässt Dean. Dean weiß, wann Sam seinen Bruder braucht. Eigentlich weiß er das ... „Bring ihn in sein Zimmer, Cassie. Ich mache das schon. Ich kümmere mich um ihn ...“, ist das letzte, was Sam hört, bevor ihn das Nichts heimsucht, nach dem er sich so sehr gesehnt hat.   * Als Sam das nächste Mal aus einem erfreulich traumlosen Dunkel heraus zu sich kommt, ist die Abwesenheit Gabriels abermals eines der Dinge, die er an seiner Umgebung zuerst wahrnimmt. Zwar konnte sein schützender Schatten ihm gegen die Bedrohung aus seiner Vergangenheit nicht beistehen, doch ist es das erste Mal gewesen, dass ihn jemand in seine Abgründe hinein begleitet hat, ohne ihn dort allein zurückzulassen. Ohne vor Entsetzen sofort wieder Kehrt zu machen. Aber allein ist er auch nicht; an Gabriels Stelle ist jemand anders da, das kann er deutlich spüren. Sam reißt die Augen auf. Er weiß, dass er nicht im Käfig ist, nicht im Käfig sein kann, aber er braucht die Gewissheit. Als könnte ein Blick allein die Bestätigung dafür liefern, ob er sich noch in der Realität befindet … Schließlich hat der Lucifer seiner Erinnerung immer äußerst überzeugend darauf bestanden, dass Sams Wirklichkeit die wahre Illusion sei. Und die letzten verstörenden Bilder, die Sam gesehen hat, waren einfach zu real – mehr als nur eine Erinnerung an das, was einmal wirklich gewesen ist. Real fühlt sich glücklicherweise auch das zerknüllte Bettlaken in seinen zu Fäusten geballten Händen an; nahezu schmerzhaft wirklich ist das matte Licht der Nachttischlampe in seinen empfindlichen Augen, selbst gedimmt durch den schweren, in die Jahre gekommenen Schirm. Und Dean und Rowena, die am Fuße seines Bettes sitzen und tief in ein flüsternd ausgetragenes Streitgespräch versunken zu seinen scheinen, wirken ebenfalls äußerst überzeugend und leibhaftig in ihrer Anwesenheit in seinem Schlafzimmer. „Tu, was du nicht lassen kannst“, presst Dean in diesem Moment zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Stimme ist ein bedrohliches, lautes Zischen; offensichtlich hat er Sams Erwachen bisher nicht bemerkt. „Lass dich nicht aufhalten, geh! Aber tu nicht so, als würd‘s dir leidtun und vergeude unnötig unsere Zeit -!“ Rowena wirkt auf Deans scharfe Worte hin erstaunlich niedergeschlagen, das fällt Sam selbst in seinem benommenen Zustand auf. Nichtsdestotrotz gelingt es ihr, die Vorwürfe seines Bruders mit einem spitzzüngigen Konter niederzuschmettern. „Liebes, so gern ich mir normalerweise auch deine undankbaren Unverschämtheiten anhöre, wir sollten dieses Gespräch auf ein andern Mal verlegen. Samuel!“ Dean ist nur für den Bruchteil einer Sekunde verdattert, als sich die Hexe von ihm abwendet. Sobald er sieht, dass Sam bei Bewusstsein ist, springt er von seinem Stuhl auf und schießt förmlich an seine Seite. „Sammy!“ Sams Kopfschmerzen sind zu einem dumpfen Hämmern in Schläfen und Nacken verebbt, doch das bedeutet nicht, dass die ruppige Umarmung, in der Dean seinen Oberkörper von der Matratze hochreißt, seinem geschundenen Körper besonders willkommen ist. Mit einem erschöpften Grunzen und einer willenlosen Stoffpuppe gleich fällt er in Deans Arme, bis es ihm schließlich gelingt, eine Hand zu heben, um seinem Bruder beruhigend auf die Schulter zu klopfen. Endlich ist er da, denkt Sam und, trotz Schmerzen, schwelgt er für einen winzigen Moment in der Welle aus Zuneigung, Erleichterung und in der Wärme der brüderlicher Umarmung. Dean ist da! - Aber helfen kann er dir nicht. Wird er nicht. Er hat dich allein gelassen. Wo war er, als du ihn einmal in deinem Leben wirklich gebraucht hast? Die leise Stimme in seinem Ohr ist zu leicht zu ignorieren, um ihr viel Beachtung zu schenken und wer kann schon sagen, ob ihm sein malträtierter Geist nicht nur wieder einen Streich spielt? Der Stich in seiner Brust ist trotzdem so schmerzhaft, dass ihm kurz der Atem stockt. Ein und aus, ein, wieder aus … Dean muss sein Keuchen zweifelsohne bemerkt haben, denn er lässt ihn sofort los, und ausnahmsweise einmal ist Sam ihm dafür dankbar, dass sein Bruder grundsätzlich auf gefühlsbetonte Fragen, wie der nach seinem Wohlbefinden, verzichtet. Vielleicht allein deshalb, weil Sams Zustand nach außen hin mehr als offensichtlich sein muss. Unbeholfen zerquetscht Dean ihm nun die Hand, als wolle er ihn mit dem Klammergriff daran hindern, aus dem Bett zu fliehen oder sich gar in Luft aufzulösen. ‚Hölle, Sammy‘, scheint sein gehetzter Blick zu sagen und Sam bemerkt auf einmal, dass Deans Gesicht einen ungesund gräulichen Ton angenommen hat, zu dem seine blutrot zerkauten Lippen einen unangenehm scharfen Kontrast bilden. ‚Schon wieder die Hölle. Und ich war nicht da.‘ Deans Selbstvorwürfe mögen unausgesprochen sein, doch erscheinen sie Sam fast genau so greifbar wie das körperlose boshafte Flüstern zuvor. „Nun, da du dich vergewissert hast, dass ich deinem Liebsten während der Hypnose nicht ein Haar gekrümmt habe – nicht wirklich, jedenfalls – muss ich darauf bestehen, ein paar Worte allein mit ihm zu wechseln!“, unterbricht Rowena sie mit einer Art drängenden Bedauerns. Dean wirft ihr einen vernichtenden Blick zu, doch Rowena winkt nur ab und flicht ihrer Stimme mit spielerischem Geschick den Hauch einer Mahnung ein: „Erinnere dich daran, was wir besprochen haben, Darling! Ihr schuldet mir etwas.“ Nach sichtlichem inneren Ringen, einem langen Blick in Sams Gesicht, das von Verwirrung und Erschöpfung deutlich gezeichnet sein muss, und nachdem Dean ein letztes Mal zugedrückt hat, gibt sich sein großer Bruder doch geschlagen – und Sams Hand endlich frei. „Ich warte vor der Tür!“, sagt er warnend in Richtung der Hexe, so als könne er sie mit der verbalen Drohung und seiner Wache auf dem Gang in Schach halten. Gemeinsam, Rowena mit einem kleinen, bedrückten Lächeln auf den perfekt bemalten Lippen, sehen sie ihm nach, bis die Tür hinter seinen schweren Schritten ins Schloss fällt.   * Die Schwere in seinem Herzen scheint auch von außen auf seinen Schultern zu lasten, auf seinen Schläfen, seinen Armen und Augenlidern – er spürt dieses gewaltige Gewicht überall an seinem Körper an sich zerren, als wolle es ihn durch Matratze und Lattenrost hindurch zu Boden drücken. Sam gibt sich Mühe, sich etwas mehr im Bett aufzurichten. Er weiß, dass es albern ist; Rowena stellt zwar mit Vorliebe ihr Beharren auf Etikette zur Schau, aber Sam ahnt, dass sie ihm in diesem Zustand eine Menge verzeiht. Immerhin saß sie bei seinen gelebten Erinnerungen während der Hypnose direkt mit Gabriel in der ersten Reihe. Sam fragt sich, ob sie, wie er selbst, Lucifers und Michaels grausame Stimmen hören, den Geschmack von Blut und sengendem Fleisch wie Säure im Mund brennen fühlen konnten … Alles nicht mehr als ein Echo der Jahre zurückliegenden Ereignisse, und doch so fürchterlich und greifbar, dass Sam unter der Bettdecke heimlich seine Gliedmaßen zählt. Nur, um ganz sicher zu gehen. Rowena scheint in etwa eine Vorstellung davon zu haben, was in seinem Kopf vor sich geht. Nachdem er sich, auch ohne nachzusehen, sicher ist, noch alle zehn Zehen zu haben, wird er sich ihres nachsichtigen Blickes gewahr, mit dem sie ihn nun wohl schon seit einer ganzen Weile mustert. Nervös ballt Sam die rechte Hand zur Faust, spürt mit Genugtuung, wie sich seine Nägel tief in die wulstigen Erhebungen der alten Narbe auf seiner Handfläche graben. Die Narbe ist echt. Sie erinnert Sam stets daran, dass er lebt, und was wirklich ist. Sie gibt ihm beinahe das Gefühl, dass Dean noch im Raum ist, um ihm bei den unbestreitbar schrecklichen Neuigkeiten beizustehen, die Rowena ihm jeden Moment eröffnen wird. „Es gibt keinen Weg für mich, dir das, was ich zu sagen habe, schonend beizubringen, Kiddo“, beginnt sie schließlich, nachdem sie sich vergewissert zu haben scheint, dass seine Aufmerksamkeit bei ihr in der Gegenwart weilt. Sam schluckt hart, und ist sich noch im selben Moment bewusst, dass ihre Augen der Bewegung seines nervös hüpfenden Kehlkopfes folgen. Dass sie jedes noch so winziges Anzeichen seiner Angst von ihm wahrnimmt, wie ein besonders lästiger Seelenklempner. Vielleicht ist genau das, was ich brauche, denkt er. Einen Therapeuten, jemand, der mich nicht infrage stellt, sondern zuhört, wenn ich schon auseinander genommen werden muss … „Es muss schlimm genug sein, wenn du uns deshalb verlassen willst“, sagt Sam schlicht und stellt fest, dass seine Stimme nicht annähernd so furchtbar klingt, wie noch unmittelbar nach der Hypnose. Rowena wirkt nicht überrascht davon, dass er ihre Pläne in all dem Durcheinander mitbekommen hat; andersherum erstaunt es Sam, den Anflug eines schlechten Gewissens über ihre eleganten Züge huschen zu sehen. „Ich dachte eigentlich, du wüsstest, wie schrecklich Lucifer wirklich sein kann … Du hast sein wahres Gesicht gesehen!“ Bei der Erwähnung des Namens zuckt sie zusammen, so als habe er ihr einen Schlag verpasst. „Ich konnte nicht alles von dem sehen, was du in deiner Trance durchgemacht hast, Samuel“, haucht sie mit bebenden Nasenflügeln, ihre Augen vor unverhohlener Angst geweitet. Dunkel erinnert sich Sam daran, dass sie vor Crowley noch etwas anderes behauptet hat. „Aber es war genug. Mir ist noch nie jemand begegnet, der solchen Schrecken erlebt hat. Zumindest niemand, der noch lebt und halbwegs bei Trost ist, der gehen und sprechen kann und ein mitfühlendes Wesen mit wenigstens dem Hauch eines Verstands ist! Du bist ein Wunder, Sam Winchester!“ Ein Wunder. So hat ihn bisher noch niemand genannt. Eine Absurdität, eine böswillige Laune der Natur vielleicht, ja, aber noch nie ein Wunder. Sam ist sich nicht sicher, ob er in diesem Zusammenhang überhaupt eines sein möchte. Viel lieber wäre er manchmal einfach tot – allerdings hat er genug von dem gesehen, was ihn für seine Taten auf der anderen Seite erwarten wird, was seinem Überlebenswillen, insbesondere in der letzten Zeit, noch einmal einen gewaltigen Schub verpasst hat. Sam geht also über Rowenas eigentümliches Kompliment hinweg, nicht ganz sicher, ob es überhaupt als solches gemeint war. „Du hast zu mir gesagt, die Hypnose würde mich an den Punkt bringen, an dem Lucifer das letzte mal persönlich Einfluss auf mich hatte. Ich habe … Du weißt, was ich gesehen habe. Das ist acht Jahre her. Bedeutet das, dass ...“ „Dass du verrückt geworden bist, Sammylein, nichts anderes!“ Die Matratze senkt sich plötzlich unerwartet rechts neben ihm unter dem Gewicht eines menschlichen Körpers, der sich, wie aus dem Nichts heraus, nun darauf niederlässt. Sam hält den Blick fest auf Rowenas Gesicht gerichtet. Er versucht alles, um zu ignorieren, dass sich die vertraute Gestalt der vom Zerfall zerfressenen Hülle Lucifers neben ihm auf dem Bett fläzt. Rowena antwortet nicht, sondern betrachtet ihn immer noch eingehend, so als versuche sie abzuschätzen, wie viel Wahrheit er heute noch verkraften kann. Fest ballt Sam die Faust, drückt auf die Narbe in seiner Handfläche. Die Haut darüber ist, seit die Verletzung vollständig abgeheilt ist, leider vollkommen gefühllos geworden, weshalb der von ihm gewünschte Effekt ausbleibt. „Rowena!“, entweicht es ihm unter vor Anspannung angehaltenem Atem. Er weiß nicht, was er tun soll. Jetzt, da er sich so schrecklich bewusst darüber ist, dass der einzig bewährte Schutz gegen die Halluzinationen für immer der Vergangenheit angehört, findet er nach dem heutigen Tag nicht die Kraft, Lucifer noch lange zu ignorieren. „Sag mir, dass es nicht echt ist! Sag mir, dass niemand in Gefahr ist!“ Er hört sich selbst flehen und betteln, hilflos, wie ein kleines Kind, glaubt nicht daran, dass die Wahrheit der Hexe tatsächlich einen Unterschied für ihn machen wird, während Lucifer neben ihm amüsiert auflacht. Er sieht das Grauen in Rowenas angsterfülltem Gesicht, das sie hinter einem beruhigenden Lächeln zu verbergen versucht und er weiß, dass sie nicht sehen kann, was er sieht, nicht hören kann, was er hört, aber dass sie eine ungefähre Ahnung von dem haben muss, was sich für ihn in diesem Augenblick im Zimmer abspielt. „Mein Sammy steht im Walde, ganz still und stumm! In ihm ist der Teufel, bringt alle ander‘n um! Seht doch, wie mein Sammy weint, er ist ein Mörder, wie es scheint, mit dem purpur ro-ho-ten Blut am Mund!“ „Es ist nicht Lucifer persönlich, aber es ist ein Teil von ihm …“, sagt sie leise, aber doch fest und klar genug, um damit Lucifers grausigen Singsang zu übertönen. „Es ist der Rest seiner Gnade, den er in dir nach all der Zeit in der Hölle zurückgelassen hat und der jetzt, da sein Besitzer in dieser Welt erneut zu Kräften zu kommen versucht, zu ihm zurückstrebt!“ Erinnerungen an Gadreel und Cas‘ Erklärung über das Zurückbleiben von Gnade in einer Hülle, nachdem ein Engel sie wieder freigegeben hat, flackern durch seinen Geist. Sollte die Dauer, die ein Engel eine Fleischhülle in Anspruch nimmt, eine Rolle bei der Menge der Gnade spielen, die sich im menschlichen Körper ansammelt, muss das, was von Lucifer in Sam selbst zurückgeblieben ist, beachtlich sein. Wie kommt es aber, dass bisher kein Engel etwas davon bemerkt hat – nicht einmal Gadreel, der immerhin über Wochen hinweg versucht hat, seinen Geist von innen heraus zu heilen? „Ich habe immer noch einen Rest von Lucifer in mir?“, flüstert Sam und spürt, wie die vorherige Schwere in seinen Gliedmaßen einer eisigen Kälte weicht, die nichts mit der tatsächlichen Temperatur um sie zu tun hat. „Genau so, wie es sein sollte, Sammy. Wir sind eins!“, flüstert Lucifer und spielt mit Sams Haar. Nur am Rande bekommt er mit, dass sich Rowenas Augen über das Grauen in seinem eigenen Gesicht mit Tränen füllen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)