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I Feel You II

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kurze Warnung: Angeal hat hier Familie, nicht wundern. Das gehört zu meinem AU, keine Zeit, es zu erklären. :'D

Hintergrundmusik:
https://www.youtube.com/watch?v=7Pp-kPe8Xo8&list=PLNzWgLVJd0JO-MDREgF6RRHLe3FtAerVB&index=2&t=0s
Viel Klischee in einer langen Playlist. Enjoy! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hintergrundmusik:
https://listenonrepeat.com/watch/?v=-3D5FwwtNVM#Katy_Perry_-_Wide_Awake_(Lyric_Video)
Wide Awake by Katy Perry (2012) Komplett anzeigen

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Schließt sich eine Tür, ...

Genesis hörte die Tür aufgehen. Angeal kam herein, an der Hand Ben, seinen kleinen Sohn. Angeal kam nur langsam näher, unsicher, was er sagen oder tun sollte. Schließlich setzte er sich zögernd zu Genesis an den Tisch und nahm Ben zu sich auf den Schoß. „Wie war die Nacht?“, fragte er.

„Oh, super“, erwiderte Genesis, ohne von der Kaffeetasse aufzusehen, die schon seit längerer Zeit unangerührt vor ihm auf dem Tisch stand. „Ich hab auch komplett durchgeschlafen, sehr angenehm. Kann mich nicht beklagen.“

Angeal sah ihm in die immer noch geröteten Augen und glaubte ihm ganz offensichtlich kein einziges Wort. Die Wahrheit war, dass Genesis nicht glaubte, auch nur eine Sekunde Schlaf bekommen zu haben. Dabei waren ihm die Tränen nicht einmal sofort gekommen. Zunächst hatte er bis weit nach Mitternacht versucht, Ausreden zu finden, warum er noch nicht zu Bett gehen musste: Zuerst versuchte er es damit, sich weiszumachen, er sei noch gar nicht müde, dann fiel ihm ein, er hätte noch dieses Buch zu lesen, wollte noch einen Blick in jenes Buch werfen, schließlich hatte er doch noch etwas für die Arbeit zu tun – vielleicht ließe sich etwas ganz unbeschwert am Wochenende erledigen, um den Montag etwas zu entlasten. Sogar aufgeräumt und alle Tassen gespült hatte er. Dann hatte er alles neu geordnet, was er in die Hände bekommen konnte; nur bei seinem gut sortierten Bücherregal hatte er sich dazu nicht recht durchringen können. Immerhin aber hatte er die Bücher von links nach rechts umgestellt. Am Ende hatte jedoch alles keinen Zweck. Irgendwann musste er ja doch schlafen. Er spürte am ganzen Körper, dass er schwer, dass er erschöpft und müde war. Also durchquerte er sein Wohnzimmer, zog sich seinen Pullover über den Kopf, warf ihn unachtsam zu Boden und öffnete die Tür zum Bad.

Dort verharrte er mit einem Mal. Er spürte plötzlich, wie sehr seine Kehle schmerzte. Daran hatte er in seinem ermüdeten Zustand natürlich nicht gedacht. Sein Blick war nichtsahnend auf die zweite Zahnbürste am Waschbecken gefallen. Er spürte, wie seine Augen sehr schnell sehr feucht wurden. Statt auf dieses Zeichen seiner Anwesenheit sah er tief durchatmend in Richtung Zimmerdecke und drehte sich ruckartig weg. Langsam schloss er hinter sich die Tür, schloss den Anblick aus, und versuchte sich zu beruhigen. Lange stand er da, unfähig, sich zu bewegen, schnell atmend, geradezu keuchend, im Kampf mit den Tränen und einen dicken Kloß tief in seinem Hals.

Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder einen Fuß, wenn auch unsicher, vor den andern setzen konnte und mit zittrigem Schritt zur Spüle in der Küche herüberging, um sich ein Glas Wasser abzufüllen. Etwas zu trinken tat ihm gut. Es löste das Schütteln, das ihn zu überkommen drohte, und beseitigte das zugeschnürte Gefühl in seiner Kehle. Er atmete noch ein paarmal schwer, ehe er ruhig da stand, beinahe als wäre nichts gewesen.

Genesis konnte dennoch nicht glauben, was da eben geschehen war. Irgendetwas tief in ihm drin schmerzte immer noch. Und es tat verdammt weh. Das Atmen fiel ihm immer noch ungeahnt schwer, ebenso das Schlucken – und überhaupt das Stehen. Er bewegte sich ein paar Schritte zur Seite, um sich am Küchentisch auf einen Stuhl fallen zu lassen. Alle Kraft schien ihn plötzlich verlassen zu haben. Warum nur musste es so wehtun? Warum musste er das fühlen? Womit hatte er es verdient? Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er auf keinen bestimmten Punkt, richtete einfach den Blick verzweifelt nach oben, als würde er auf Antworten hoffen, oder auf Linderung. Er fuhr sich grob mit beiden Händen durchs Haar. Was passierte nur mit ihm? Schwäche, Kontrollverlust, beides sah ihm nicht ähnlich. Er war erschöpft. Am besten, er ging einfach zu Bett.

Ja. Sich zusammennehmend, erhob sich Genesis von dem Stuhl und wandte sich zu der Tür, die zum Schlafzimmer führte. Er öffnete sie ohne einen weiteren Gedanken, trat hindurch und setzte sich nach einem weiteren Schritt auf das Fußende seines Bettes. Er fuhr mit der Hand über die Decke, spürte den weichen Stoff unter seinen Fingern. Wie oft er sich mit Prakash einfach darunter zurückgezogen hatte, Arm in Arm, lachend, warm, geborgen, aneinander geschmiegt. In einem nun wieder leidvollen Ausdruck zog er erneut die Augenbrauen zusammen. Ihm war klar geworden, dass sie den Großteil des letzten halben Jahres in diesem Bett verbracht hatten, Prakash hatte nie auch nur eine Minute die Finger von ihm lassen können.

Nein, Genesis konnte unmöglich die Nacht in diesem Bett verbringen. Unmöglich! Fluchtartig, wie von Sinnen, stand er vom Bett auf und stürmte wieder aus dem Zimmer, schlug die Tür laut hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken stützend dagegen, keuchend. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Allmählich rutschte er rücklings an der Tür herunter, bis er schlussendlich am Boden angekommen war. Ungebeten stiegen Bilder in seinem Geist auf, blitzartig erschienen sie vor ihm, wie Prakash seine Hand hielt, wie er in der Küche stand, wie sie zusammen auf dem Sofa lagen und nichts weiter taten – aber dann änderte sich die Szene.

Da war er wieder, dieser andere, dieser blonde Mann. Genesis versuchte sich dagegen zu wehren, wie vor seinem inneren Auge Bilder der beiden entstanden. Wie sie zusammen lachten, wie sie sich gegenüber saßen und sich verliebt ansahen, wie sie sich küssten, als er hereinplatzte, gerade kurz davor ... Aber wenn er nicht aufgetaucht wäre ... Sie wären in Prakashs Schlafzimmer verschwunden, hätten sich die Kleider von den Leibern gerissen, zwei erhitzte Körper, die sich auf Prakashs Bett vergnügt hätten, Prakash in inniger Umarmung mit diesem anderen Mann, nicht mit ihm ... Wie hatte er nur ... sein Vertrauen so missbrauchen können ...

Nun schüttelte es Genesis am ganzen Körper, er konnte die Tränen nicht aufhalten; atemlos beherrschte ihn ein Krampf nach dem nächsten, es tat so unheimlich weh, daran zu denken, und doch konnte er nicht aufhören, immer wieder erschienen die beiden vor ihm, miteinander im Bett, Küsse austauschend, ineinander versenkt, unbesorgt, sie verschwendeten nicht einen Gedanken daran, dass sie ihm mit jeder Bewegung einen tödlichen Streich mehr versetzten. Nein! Wieso? Er hatte ihm vertraut! Wie konnte er? Warum? Und warum tat es ihm so weh, wenn er doch nichts falsch gemacht hatte? Warum waren seine Knie feucht vor Tränen, und warum war nicht Prakash am Boden zerstört? Warum wand er sich nicht winselnd vor Genesis im Staub und bat um Verzeihung? Warum verbrachte Genesis die Nacht elend in seinem Unglück versunken, während er ahnte, dass Prakash schon wieder auf der Suche nach neuem Material war?

„Nein, alles ok“, fügte er betont ungerührt hinzu, als Angeal nicht überzeugt aussah.

„Schon klar.“ Angeal ließ ihn mit seinem wachsamen Blick nicht aus den Augen. Ben hingegen begann auf dem Schoß seines Vaters zu zappeln. Angeal war abgelenkt und schaute seinen quengelnden Sohn an, der langsam von seinem Schoß herunter rutschte. Mit seinen vier Jahren war Ben zwar gerade erst groß genug, um im Stehen über die Tischfläche schauen zu können. Es war dennoch beeindruckend, mit welcher Bestimmtheit er eben jenen Tisch umrundete, direkt auf Genesis zusteuerte und nun auf seinen Schoß zu klettern begann. Unwillkürlich lachend, half Genesis dem kleinen Mann bei seinem Aufstieg und hielt ihn dann gut fest. Ben benutzte ihn nicht zum ersten Mal als Spielzeug.

„Und, was ist mit dir?“, fragte er den Sohn seines besten Freundes, sich mit einem aufgesetzten Lächeln davon ablenkend, dass er immer noch die vielen Tränen der letzten Nacht in seinen Augen brennen spürte. „Bist du auch schon lange wach?“ Als er Ben einmal diese Frage gestellt hatte, gab es kein Halten mehr; der Junge plapperte unbremsbar drauf los und erzählte Genesis in seinem kindlichen Eifer jedes Detail seiner vielen bunten Abenteuer, die er erlebt hatte, seit er vermutlich etwa dreißig Minuten zuvor zwischen seinen Eltern aufgewacht war. Genesis, erleichtert, der Achterbahn seiner eigenen Gedankenwelt für einen Moment zu entkommen, versuchte sich als guter Zuhörer und gab dem Jungen ermutigende Kommentare, die ihn nur weiter in seiner Begeisterung anstachelten. Und Angeal saß die ganze Zeit daneben und sah seinen Jungen elterlich stolz an. Irgendwann aber streckte er eine Hand aus und fuhr Ben durchs Haar.

„Jetzt lass dem Onkel noch ein Ohr übrig, das du ihm beim nächsten Mal abkauen kannst“, ermahnte er seinen Sohn liebevoll. Der drehte sich um und sah verwirrt drein.

„Hä?“, fragte er. Angeal lachte, stand auf, packte seinen Sohn sanft um die Körpermitte und setzte ihn sich auf den Arm.

„Komm, wir gehen frühstücken“, sagte er an Genesis gewandt. Der hatte kaum genug Zeit, um mit einem unsicheren Blick zu antworten, ehe Angeal schon fortfuhr: „Ich lasse kein Nein als Antwort gelten.“

„Dachte ich mir schon“, erwiderte Genesis mit einem traurigen Lächeln.

„Papa, ist mit dem Onkel alles in Ordnung?“, fragte Ben dazwischen.

Die Cafeteria im Shin-Ra-Hauptquartier bot auch ein umfangreiches Frühstück an, und das sogar am Wochenende. Genesis, trotzdem zum ersten Mal in seinem Leben nicht im Ansatz hungrig, setzte sich schon einmal mit dem kleinen Ben an einen freien Tisch und beschäftigte ihn, während Angeal und Eliza, die Mutter des Kleinen, sich um eine Auswahl an Teigwaren, Eiern, Obst und allen möglichen anderen Dingen kümmerten, die sie morgens anboten. Genesis wurde es irgendwann doch zu anstrengend mit Ben, der ununterbrochen in einer Tour mit seiner hohen Kinderstimme schnatterte und plapperte, also setzte Genesis sich ihn wieder auf den Schoß, diesmal mit dem Blick in Richtung Cafeteriadecke, schloss Ben fest in die Arme und sagte: „Jetzt spielen wir mal, wer länger leise sein kann.“ Er gab dem Jungen einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

„Aber Onkel“, sagte der und drehte sich ihm wieder zu. Genesis war etwas enttäuscht.

„Hast du das Spiel nicht verstanden?“, fragte er.

„Aber das Spiel ist doch doof!“, sagte Ben frei heraus.

„Ja, hast recht“, räumte Genesis ein und musste wieder lachen. Ben schlang ihm fest die Arme um den Hals und erdrückte ihn damit beinahe. „Auf dem Onkel rumzuklettern und ihn dabei zu ersticken ist ein viel besseres Spiel.“ Da setzte Ben ihm einen kurzen Kuss aufs Kinn, wohl die höchste Stelle an ihm, die er erreichen konnte. Genesis hielt überrascht inne; er blinzelte mehrmals. Dann schaute er auf Ben herab, der ihn wie ein Engel ansah. Er lächelte. „Bist ein guter Junge“, sagte er ehrlich lächelnd.

Angeal und Eliza kamen wieder, mehrere Tabletts beladen mit scheinbar allem, was sie hatten kriegen können, balancierend. Genesis ließ Ben von seinem Schoß herunterrutschen und half ihm, wieder auf seinem eigenen Stuhl Platz zu nehmen. Angeal stellte Ben mehrere Dinge zur Auswahl hin. Als er sich schließlich gesetzt hatte, schaute er Genesis an. „Du solltest auch was essen“, riet er ihm in einem ruhigen Tonfall.

„Mir ist jetzt nicht danach“, seufzte Genesis.

„Es wäre aber wirklich besser, wenn –“

„Angeal, mir ist jetzt nicht danach“, wiederholte Genesis mit Nachdruck.

Angeal ließ ihn erneut nicht aus den Augen und schien weiter protestieren zu wollen, als Eliza eine Hand auf Angeals legte und sagte: „Schatz, es ist ok.“ Angeal sah Genesis weiterhin unverwandt an, offensichtlich hin und her gerissen, Genesis einerseits zu nichts zu zwingen, ihn aber andererseits zu etwas zu bewegen, von dem sie insgeheim beide wussten, dass es das Bessere war. Eliza verstärkte ihren Druck auf Angeals Hand und küsste ihn gezwungenermaßen von der Seite, weil er immer noch Genesis taxierte. Sie hatte ihn aufs Kinn geküsst.
 

„Ach, hier bist du!“ Angeal, der zunächst nur den Kopf zur Tür herein gesteckt hatte, betrat nun Genesis‘ Büro, in dem dieser auf der Couch im Schneidersitz gedankenverloren vor sich hin starrte. „Hier hätte ich dich von allen Orten auf der ganzen Welt zuletzt vermutet.“

Genesis‘ erneut sehr feuchte Augen richteten sich mit ein paar Schwierigkeiten auf Angeal. Der durchquerte den Raum und setzte sich neben Genesis. „Hast du sie zum Bahnhof gebracht?“, fragte er nach einigen Momenten der Stille.

„Ja, mit den üblichen Tränen, dass Papa doch mitkommen soll“, erwiderte Angeal nickend. Er sah Genesis von der Seite an. „Und mit dem üblichen Versprechen, dass Papa bald in Banora zu Besuch kommt. – Aber jetzt erzähl mal, was ist wirklich los?“

Genesis wusste darauf nichts zu erwidern. Wie sollte er beschreiben, was in seinem Innersten wirklich vor sich ging? Dass er selbst nicht wusste, was er fühlte außer Leid, nur wusste, dass es einen Namen gab, den er nicht einmal mehr denken konnte, dass ständig dieser vermaledeite blonde Mann vor ihm auftauchte, ungebeten, nicht unansehnlich, einsichtig, nicht unfreundlich, dieser andere, auf den er nicht einmal wütend sein konnte, weil auch er nichts gewusst hatte und in dem Moment, in dem er erfahren hatte, welches Spiel gespielt wurde, die Reißleine zog, dass er nicht wusste, wo er selbst dabei blieb, wer er war, was er getan hatte, ob es noch weitere gab, wie er so dumm hatte sein können, ob es seine Schuld war, seine Schuld ... „Ich laufe vor mir selbst weg“, sagte er schließlich trocken. Sein Büro war der einzige Ort, an dem sie nie zusammen gewesen waren. Hier konnte er einfach ... verloren sein.

„Du weißt, ich konnte ihn noch nie leiden“, sagte Angeal und wandte sich ihm zu. In seinem Blick standen Stärke, Entschlossenheit und Opferbereitschaft.

„Vielleicht hätte mir das eine Warnung sein sollen“, sagte Genesis niedergeschlagen, die Augen gen Boden gerichtet. Angeal, der so häufig wusste, was das Beste war. Warum hatte er nicht auf ihn gehört? Warum war er nicht stutzig geworden?

„Unsinn“, widersprach ihm Angeal und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wie hättest du das ahnen sollen? Du warst verliebt. Das ist ok.“

Genesis ließ kraftlos den Kopf gegen Angeals Brust sinken, der die Arme um ihn schloss. Er konnte nicht mehr. Warum plagten ihn die brennenden Schmerzen? Hatte er nicht alles getan? „Ich will nicht mehr weinen“, sagte er leise. Er mochte sich so lange beherrscht haben, wie es dauerte, von diesem Ort nach Hause zu fahren, aber er hatte geweint, als er endlich angekommen war, er hatte geweint, als er Eliza und Angeal davon erzählte, er hatte letzte Nacht geweint, er hatte am Morgen geweint, immer wieder kamen ihm die Tränen, als er darüber nachdachte, auch beim Frühstück, er hatte hier auf dieser Couch geweint, als Angeal nicht da war. Es reichte ihm. Er wollte nicht mehr. Es half nichts. Er hatte nichts falsch gemacht, es war nicht seinetwegen so geworden, er, er hatte doch ... alles in Brand gesetzt.

Genesis schlang die Arme um Angeals warmen Oberkörper. Es rannen ihm schon wieder Tränen über die Wangen, still diesmal, gleichgültig, ohne Schmerz, ohne Krampf, ohne Zittern. Sicherlich hatte er nicht absehen können, was passieren würde. Prakash hatte ihn vollständig eingenommen, das wurde ihm jetzt klar. Er hatte sich beherrschen lassen, immer wieder, ohne Aussicht auf ein Ende. Und er war glücklich dabei gewesen. Verdammt glücklich. Prakash hatte es in der Hand gehabt, ihn glücklich zu machen oder todtraurig, aber jede Zuwendung, jedes Lächeln, jede Berührung hatte alles wettgemacht. Und dann hatte er einen Fehler gemacht; er hatte sich selbst in einem Augenblick der Unachtsamkeit verraten und sein Plan war nach hinten losgegangen. Und Genesis sollte froh darüber sein.

„Er ist es nicht wert, dass du seinetwegen so fertig bist, das weißt du“, sagte Angeal und sprach damit Gedanken aus, die Genesis‘ eigenen sehr ähnelten. Angeal fuhr ihm sanft durchs Haar. „Du findest jemand besseres, jemanden, der gut und ehrlich zu dir ist und treu bleiben kann und der ein Leben mit einem einzigen Mann verbringen möchte und nicht seine Zeit nutzt, so viele Männer wie möglich ins Bett zu kriegen. Ok?“

Er schaute Angeal von unten her an. Er hatte recht, das musste er zugeben. So vieles eröffnete sich ihm in einem Moment der Klarheit. „Es wäre immer wieder so gekommen“, sprach er seine Erkenntnis aus. Es machte ihn traurig. Wie konnte man sich in Menschen so täuschen? Er vergrub das Gesicht wieder an Angeals Brust.

Genesis war froh über Angeals Beistand. Angeal ließ ihn kaum eine Sekunde allein, hielt ihn fest, legte ihm eine Hand auf die Schulter, nahm ihn in den Arm und ließ ihm Zeit. In Angeals Anwesenheit brachte Genesis sogar irgendwann am Nachmittag ein paar Bissen herunter, als sie sich zu einem späten Mittagessen in die Cafeteria setzten. Genesis stocherte mit der Gabel im Essen und überlegte, ob er nicht noch ein paar Happen schaffen konnte. „Hat er noch Sachen bei dir?“, fragte Angeal ihn da aus heiterem Himmel. Genesis ließ die Gabel sinken. Musste Angeal ihn das so unsensibel fragen?

„Ja, logisch“, sagte er widerwillig.

„Die sollten wir beseitigen“, sagte Angeal todernst.

„Ja ...“ Genesis nahm mit einem leichten Zittern die Gabel wieder zur Hand. Der Appetit war ihm gehörig vergangen. Das Stück Braten vor ihm wirkte auf einmal nur noch grau und widerlich. Er schob den Teller von sich und ließ die Gabel wieder klappernd auf den Tisch fallen. Angeal nahm sich des Tellers kommentarlos an; Reste hatte er noch nie aushalten können.

Als also Angeal die Teller leer geputzt hatte, brachten sie ihre Tabletts weg und machten sich wieder auf den Weg zurück in Genesis‘ Wohnung. Angeal holte von seiner eigenen Wohnung nebenan noch eine große Kiste, in der er sonst alles verstaute, was er brauchte, wenn Ben zu Besuch war, und stellte sie geleert in Genesis‘ Küche. „Wo fangen wir an?“, fragte er. Genesis antwortete nicht sofort. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wollte sich eigentlich darum drücken, auszumisten. Dann nickte er aber mit dem Kopf in Richtung des Küchenschranks hinter Angeal. Der drehte sich um, öffnete die Tür und durchsuchte die Regale. „Ah, schon klar“, sagte er dann, „sein Tee.“

Nach der Küche widmeten sie sich dem Schlafzimmer. Angeal konnte zielgenau auch ohne Genesis‘ Hilfe Prakashs Klamotten im Kleiderschrank von Genesis‘ unterscheiden. Alles landete in der Kiste, ungeordnet, achtlos hinein geworfen. Genesis lehnte im Türrahmen und fand surreal, was gerade passierte. Angeal bot ihm an, das Bett für ihn neu zu beziehen. Genesis nickte nur unbestimmt, nicht in der Lage, eine wirkliche Entscheidung zu treffen. Er hatte in so naher Zukunft ohnehin nicht mehr vor, in diesem Bett zu schlafen; bei Angeal war auch noch Platz.

Angeal durchsuchte die Schubladen des Nachttisches neben dem Bett; schnell schob er die Schublade wieder zu. „Ich tu einfach so, als hätte ich das nicht gesehen“, sagte er mit festem Blick in eine andere Richtung.

„Das hat auch er mitgebracht“, sagte Genesis.

Angeal warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das zeigt dir hoffentlich, wie sehr ich dich liebe.“ Genesis lächelte schwach; aber er lächelte. Angeal öffnete die Schublade wieder und warf auch die darin enthaltene Tube in die Kiste. Er fuhr mit dem Bad fort, in dem ihn Genesis anweisen musste, um die richtigen von den falschen Dingen zu unterscheiden. Angeal stellte die Kiste in den Eingang und verschloss sie. „Hat er einen Schlüssel?“, fragte er. Genesis verneinte mit einem Kopfschütteln. „Dann musst du jetzt nur noch die Erinnerungen aus deinem Kopf entfernen.“ Sein Blick sagte Genesis, dass auch er wusste, dass das der schwierigste Teil werden würde.
 

Mit immer noch vor Erschöpfung brennenden Augen schleppte sich Genesis tags darauf zur Arbeit. Seinem Körper war es gleich, wie viel Kaffee er sich zuführte; es war unvorstellbar anstrengend, aufzustehen, auch nur die kürzesten Wege zu gehen oder gar Nachrichten zu verschicken und Anrufe in andere Büros zu tätigen. Genesis kam sich ununterbrochen vor wie ein wandelnder Toter, angezogen von einem noch gar nicht ausgehobenen Grab tief in der Erde, ohne Energie für irgendetwas, das über das Nötigste hinaus ging; Smalltalk, ein Lächeln, ein zusätzlicher Gang zum Kopierer – für ihn kaum möglich an diesem Tag.

Konzentrieren konnte er sich ebenfalls nicht. Minutenlang starrte er ausdruckslos in die Leere, ehe er sich selbst dabei ertappte und sich wieder seiner Arbeit zuwandte, die er ja doch nicht erledigte. Die Papiere auf seinem Schreibtisch stapelten sich unbeachtet, eine Kaffeetasse stand neben der anderen, und trotzdem legte Genesis den Kopf auf den Schreibtisch und gewährte Geist und Körper einen kurzen Moment der Ruhe ...

Ein Klopfen an der Tür weckte ihn. Während er sich stöhnend an seinem Schreibtisch aufrichtete, steckte Amber den Kopf zur Tür herein, die das Geschäftszimmer auf der Etage führte. „Was gibt’s?“, fragte er noch etwas verschlafen.

„Alles ok?“, fragte sie, statt zu antworten.

„Ja, klar, was ist nun?“

„Ein Herr hat bei mir für dich angerufen, er meinte, er würde sonst bei dir nicht durchkommen.“ *

„Ach, so was macht der?“ Genesis versuchte unbeeindruckt zu klingen. Möglich, dass er die Nummernanzeige genutzt hatte, um keine Anrufe entgegenzunehmen, die nicht eindeutig firmeninterne Nummern vorweisen konnten. Aber vielleicht war es gar nicht er gewesen. „Hast du einen Namen?“

„Den hab ich auch auf Nachfrage nicht ganz verstanden, aber es war irgendwas Orientalisches, denk ich.“

Genesis seufzte. „Prakash ...“ Es fühlte sich merkwürdig an, den Namen wieder auszusprechen.

„Ja, das könnte es gewesen sein.“

„Und was wollte er?“

„Vorschlagen, dass ihr euch heute Abend im Foyer trefft und ‚redet‘, was auch immer er damit meinte. – Ist das was Privates?“

„Ja, schon.“

„Ich hab Besseres zu tun.“

„Ich hab ihn nicht gebeten, bei dir anzurufen.“

„Aber du kannst ihn bitten, es in Zukunft zu unterlassen. Neunzehn Uhr, hat er gesagt.“ Damit verließ sie sein Büro, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Genesis war unentschlossen. Genauer gesagt war er sogar hin und her gerissen. Sein Herz wollte, dass alles wieder so war wie früher, wollte in den Zustand vor dem letzten Wochenende zurückkehren und so tun, als wäre nichts gewesen. Es wollte vergessen, Gras über die Sache wachsen lassen und wieder glücklich sein wie doch vorher auch. Sein Kopf sagte ihm, dass er nicht verzeihen konnte, dass es nicht recht war, was Prakash getan hatte, und dass Genesis ohne ihn besser dran war, dass er gar nicht zulassen sollte, dass Prakash wieder angekrochen kam.

Ein Schluck erkalteten Kaffees war in seiner letzten Tasse noch übrig. Genesis schwenkte die Flüssigkeit ein wenig und überlegte. Er wollte sein Leid beenden und endlich loslassen. Erreicht hatte er das nicht durchs Weinen, nicht mit Angeals Hilfe und nicht durch seine Arbeit, da er sich überhaupt nicht darauf konzentrieren konnte. Vielleicht schadete es nicht, sich anzuhören, was Prakash zu sagen hatte. Bei dieser Gelegenheit konnte sich Genesis zwischem dem, was sein Herz, und dem, was sein Kopf ihm sagte, entscheiden und Prakash die Sachen in der Kiste zurückgeben.

Er schaute auf die Uhr über der Bürotür. Es waren noch über sechs Stunden.
 

Ruhelos saß Genesis an einem der weißen Tische im Foyer des Hauptquartiers, die mitgebrachte Kiste zu seinen Füßen darunter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, die Finger, mit denen er auf der Tischoberfläche trommelte, zitterten, seine Atmung ging unregelmäßig, er spürte deutlich den Kloß in seinem Hals, ihm war kalt und heiß gleichzeitig. Die letzte Stunde vor sieben Uhr war für ihn eine unvorstellbare Tortur gewesen, die Zeiger auf der Uhr bewegten sich unmenschlich langsam vorwärts, während er sich mit nichts beschäftigen konnte, was er zur Hand nahm, da er schlicht zu nervös war.

Und jetzt saß er hier seit nunmehr bereits zwanzig Minuten und wartete. Ans Warten war er nicht gewöhnt. Für gewöhnlich wartete man auf ihn. Bei der Arbeit konnten sie ohne ihn nicht anfangen; auch privat war er nie wirklich pünktlich. Wer ihn kannte, kam zu einer Verabredung von vornherein einige Minuten später. Das Warten gefiel ihm nicht. Es frustrierte ihn. Er hatte diese Uhrzeit immerhin nicht vorgeschlagen. Nun war es Viertel nach sieben, er war sogar zu früh am verabredeten Ort aufgetaucht; war er wirklich dumm genug gewesen, sich auch noch versetzen zu lassen?

Gerade, als er überlegte, sich einfach einen Kaffee zu holen und damit irgendwohin zu verschwinden, egal wo, trat Prakash doch noch durch die automatischen Eingangstüren des Hauptquartiers. Genesis beobachtete Prakash dabei, wie er ihn suchte, lokalisierte und ansteuerte. Er kochte innerlich. Sein Magen sprühte beinahe über vor Übelkeit. „Du bist zu spät“, warf er ihm kühl vor, als Prakash sich setzte. Er sah ihn dabei nicht an, sondern knapp an ihm vorbei.

„Wartest du schon lange?“, fragte Prakash verlegen.

„Ja“, sagte Genesis knapp. „Ich dachte, das hier wäre wichtig genug, um einmal im Leben pünktlich zu sein.“ Er wagte es nicht, Prakash anzusehen, zu tief saß der Schmerz, zu sehr war sein Stolz verletzt – und zu sehr war sein Vertrauen missbraucht.

„Oh.“ Prakash musste seine Aggressivität gespürt haben. Er sagte dennoch nichts weiter dazu. Es entstand eine merkwürdige Pause zwischen ihnen, in der Prakash Genesis‘ Blick suchte und Genesis‘ Herz schwer in seiner Brust hämmerte; seine Beine fühlten sich selbst im Sitzen weich an. Wozu waren sie noch gleich an diesem Tisch zusammengekommen?

„Also“, sagte Genesis, immer noch ohne Prakash anzusehen, „rede.“

Prakash begann nicht sofort; er schien etwas vor den Kopf gestoßen. Hatte er etwa erwartet, dass Genesis ihm noch irgendetwas zu sagen hatte? „Na ja ... das letztes Wochenende ...“ Er stockte.

„Ja?“ Genesis warf Prakash einen Seitenblick zu. Prakash hatte sich auf seinem Stuhl um den Tisch weit zu ihm vorgebeugt und versuchte ihn mit einem beschwörenden Ausdruck in seinen dunklen Augen einzufangen.

„Wir sind uns doch einig, dass das einfach blöd gelaufen ist, oder?“

Genesis hielt inne. Prakashs Version klang ganz anders als das, was er gesehen hatte. „Blöd gelaufen?“, fragte er etwas ungläubig. Sollte er etwa alles falsch verstanden haben?

„Ja ...“, sagte Prakash, offensichtlich erleichtert, dass Genesis auf das einging, was er sagte. Genesis konnte dabei hören, wie er ihn von unten verführerisch anlächelte. „Wir hatten Streit, ich war sauer ...“

„Klar ...“

„Ich kannte ihn von der Arbeit.“

Genesis horchte auf und wandte sich auf seinem Stuhl weiter in Prakashs Richtung. „So wie mich?“, fragte er. Immerhin hatten sie sich in dem Laden kennengelernt, in dem Prakash an der Bar arbeitete; Genesis war bis Schichtende geblieben. Es wurde eine lange Nacht ...

„Ja ...“

So war das also. „Du wolltest dich abreagieren.“

„Ja, genau, es war nichts Ernstes. Du bist rausgestürmt, ich wusste nicht, ... ob es das war ... Mein Herz war gebrochen.“ In seiner Überraschung über diese Worte sah Genesis Prakash genauer an.

„Verständlich ...“

„Es ging auch alles von ihm aus, weißt du? Ich wollte mich nur ausheulen ...“

„Ja, ich mich auch ...“

„Es war alles seine Idee, plötzlich zieht er mich in Richtung Schlafzimmer.“

„Ja ...“

„Und übel sieht er ja nun wirklich nicht aus, auch wenn ich das alles gar nicht wollte, im Gegenteil, ich wollte ihm gerade sagen, dass er es lassen soll.“

„Ja, bestimmt.“

„Ich hätte das nie tun können, du bedeutest mir zu viel. Du würdest mir ja auch nie wehtun wollen, das weiß ich. Du hast mir immer gesagt, wie sehr du mich liebst.“

„Stimmt.“

„Ich hätte ihn schon noch rausgeschickt und gesagt, dass er nicht wiederzukommen braucht, wenn er nicht akzeptieren kann, dass ich fest vergeben bin.“

„Sicherlich.“

„Siehst du, ich konnte dir alles erklären.“ Nun nicht mehr gebannt, setzte sich Genesis Prakash wieder abgewandt gegenüber und sah ihn nicht noch einmal an. Er überdachte, was er gerade gehört hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Prakash über den Tisch fasste; er berührte ihn an der Schulter. „Schatz, bitte ...“

Genesis schüttelte Prakashs Hand grob ab. „Nenn mich nicht so. Ich bin nicht mehr dein Schatz.“ Er drehte den Kopf und sah Prakash direkt in die Augen. Hass loderte ohne Vorwarnung in ihm auf und verbrannte sein Innerstes; ihm wurde übel, als er in dieses Gesicht sah, dessen Anblick ihn einst so glücklich gemacht hatte. Nun sah er in diesem strahlenden Lächeln nur noch unaufrichtige Verschlagenheit. Prakash allerdings schien nichts zu merken.

„Bitte ... ich liebe dich doch.“

Liebe?!“, wiederholte Genesis entgeistert. Er wusste nicht, was er tat, doch Momente später war er auf den Beinen, der Tisch zu seinen Füßen umgeworfen und Prakash zu Tode erschrocken auf seinem Stuhl zusammengekauert. „Glaubst du, ich weiß nicht, was hier läuft? Glaubst du, er hat mir nicht erzählt, dass er schon öfter bei dir war? Für wie dumm hältst du mich? Du magst es Liebe nennen, aber du scheinst das mit Lügen zu verwechseln, was sehr ähnliche Wörter sind, kann ich dir nicht vorwerfen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Männer du noch belügst, aber mit mir brauchst du deine Zeit nicht mehr zu verschwenden. Ruf nicht mehr an, komm nicht mehr her, versuch es einfach nicht mehr. Verschwinde einfach!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Genesis auf dem Absatz kehrt und stürmte durch das Foyer in Richtung einer gesicherten Tür, durch die Prakash ihm nicht folgen konnte. Einmal hindurch, hielt er erschöpft inne und lehnte sich rückwärts an die Tür, um sich zu beruhigen und einmal durchzuatmen. Er hätte gut einen Schluck Wasser gebrauchen können; sein Mund war furchtbar trocken. Immer noch schwer atmend wandte er sich um. Die Tür war aus seiner Blickrichtung durchlässig, von der anderen Seite verspiegelt. Mit einem leisen Triumphgefühl sah er, dass Prakash immer noch wie vom Donner gerührt gelähmt war.

Genesis beobachtete ihn weiter. Den Schock ins Gesicht geschrieben, erhob sich Prakash langsam von dem Stuhl. Er schien sich der Beobachter bewusst, die Genesis‘ Wutausbruch herbeigeführt hatte. Vorsichtig beugte sich Prakash herunter und stellte den umgeworfenen Tisch wieder hin. Dabei entdeckte er die Kiste auf dem Boden; er öffnete den Deckel und erkannte seine hineingestopften Habseligkeiten. Er schloss die Kiste wieder und hob sie vom Boden auf. Danach zögerte er; sein Blick ging in die Richtung, in die Genesis verschwunden war. In Genesis regte sich etwas. War es Mitleid? Er trat näher an die Tür heran, seine Hand bewegte sich bereits in Richtung der Klinke.

Seine Vernunft stoppte ihn. Erst wollte er abwarten. Wenn Prakash sich doch noch um ihn bemühte ... Wenn er doch ehrliche Reue zeigte ... Wenn es ihm wirklich leidtat, wenn er nur verstand ... Wenn er ihm glaubhaft machen konnte, dass es nie wieder vorkommen würde ... Wenn er alles tun würde, um bleiben zu können ... Wenn er Genesis wirklich liebte ...

Aber durch die Tür sah Genesis, dass Prakash sich nur kurz umschaute, die Schultern zuckte und ohne einen weiteren Blick zurück verschwand. Genesis starrte ihm hinterher. Er vergaß zu atmen. Es war nicht möglich. Damit war es wirklich und offiziell vorbei. Prakash war gegangen und würde nicht wiederkommen. Mit jedem Gedanken zersprang Genesis innerlich in weitere Teile. Was einmal mit einem Blickwechsel über eine Bar begonnen hatte, war nun über einen umgeworfenen Tisch hinweg beendet worden. Genesis fühlte sich betäubt. Wie ein Schlafwandler wandte er sich um und ging auf den Aufzug zu. Seine Augen waren immer noch merkwürdig trocken. Ihm war nicht mehr danach, zu weinen. Mit viel Kraft hielt er die Scherben seines Inneren zusammen; da war kein Platz mehr für Tränen.

Er betrat den Aufzug und wählte die Etage seines Büros. Mit einem entschlossenen Blick machte er sich an die Arbeit für eine Fassade. Er wollte nicht mehr daran denken. Er wollte nicht mehr danach gefragt werden. Er setzte eine Maske auf, wurde jemand anders, einfach um zu vergessen. Er würde keine Tränen mehr vergießen und nie mehr auch nur an diesen Namen denken.

Er wandte sich um, innerhalb von Sekunden um Jahre älter, und sah aus dem noch offenen Aufzug hinaus. Dann schlossen sich die Türen.

... Öffnet sich eine andere.

Nachts raschelte eine sonderliche Brise durch die flüsternden Nadeln der umstehenden Bäume. Beinahe mystisch lag unterm Neumond im Sternenlicht eine Bank. Kaum eine Wolke trieb am Himmel, in dessen Richtung Genesis aber auch nicht schaute. Im Gegenteil, gebannt wurde er von dem Buch auf seinem Schoß. Es war ein besonderes Buch, das ihn an vergangene Zeiten erinnerte. Lange hatte er es nicht mehr anzurühren gewagt, hatte nur, und auch das mit Müh und Not, die Fortsetzungen zur Hand genommen, die es mittlerweile gab.

Nun also hatte er dieses Buch wieder aufgeschlagen. Als er bei der Szene im Zug angelangt war, saß Genesis für einen kurzen Moment nicht mehr draußen auf einer Parkbank. Einen Augenblick lang fühlte er sich um ein paar Jahre zurückversetzt. Genau das hatte er befürchtet. Genau deswegen hatte das Buch so lange unbeachtet in seinem Regal gestanden. Als nach dem Ende seiner Beziehung ein dritter Teil erschienen war, hatte Genesis daran die Zeit verstreichen sehen. Er hatte sich weiter bewegt, die Zeit war weitergelaufen, die Welt hatte weiter ihren Lauf genommen. Sogar ein vierter Teil war erschienen. Nun sah er den Moment gekommen, von vorne anzufangen und dabei seine Erinnerung neu zu schreiben.

Im Dunkel der Nacht lief ihm dennoch ein Schauer über den Rücken. Prakashs Anwesenheit schwebte nahezu über ihm, sein Wutausbruch von damals war beinahe zu greifen, ihr Streit, Prakashs Fehler, durchwachte Nächte, einem Untoten gleich durchwandelte Tage, Tränen, Scherben, Masken, Disziplin. Genesis zwang sich, weiter zu lesen. Es konnte nicht sein, dass er ein Buch wie einen Menschen aus seinem Leben verbannte, Buch wie Autorin konnten immerhin nichts für seine schlechte Menschenkenntnis.

In der Zwischenzeit hatte er tatsächlich einige Männer kennengelernt; manche hatten ihn besser behandelt, andere schlechter. Aber von allen hatte er sich rechtzeitig zurückgezogen, er hatte einen Blick in andere Welten geworfen, auch ins Schattenreich, war aber am Ende immer allein und für sich geblieben. Es war sicherer so – er konnte doch nicht riskieren, noch mehr Bücher zu verlieren.

Mit viel Willenskraft und Konzentration kehrte Genesis auf die Buchseiten vor sich zurück. Ja, er erinnerte sich an seinen ersten Eindruck des Mädchens. Wenn er nur daran dachte, wie sie sich gemacht hatte, wie erwachsen sie geworden war ... Er fragte sich, wie lange es wohl noch bis zum nächsten Band dauern würde. Immerhin wurde der erste Teil bald verfilmt, ein Grund mehr, ihn wieder zu lesen. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf seine Lektüre. Sie waren fast am Ziel ihrer Reise angekommen, es warteten allerdings noch ein paar Hindernisse, bevor sie sich endlich eine wohlverdiente Ruhe genehmigen konnten ...

Endlich hatte Genesis wieder in das Buch hinein gefunden. Begeistert las er weiter Seite um Seite, Kapitel um Kapitel, der Mond am Himmel ging seines Weges, die Sterne mochten in ihren Bahnen weiterlaufen, Genesis hatte nur Augen für die Magie vor ihm. Er merkte überhaupt nicht, wie die Stunden vergingen, voranschritten, vorbeiglitten. Möglicherweise hätte er zumindest einen Schatten bemerkt, wenn mehr Licht die Umgebung beschienen hätte, am Tage vielleicht, aber da schon lange Dunkelheit herrschte, merkte Genesis nicht, dass er nicht mehr allein war. Vertieft in das neueste Abenteuer, das die drei Freunde seines Buches erlebten, sah er auch nicht, dass sich jemand vor ihm aufbaute. Er erschrak heftig, als er angesprochen wurde.

„Wenn du einmal angefangen hast zu lesen ...“ Mit vor Schreck geweiteten Augen sah Genesis auf. Vor ihm stand aber bloß Angeal, der den Kopf schüttelte und ihm ein freundschaftliches Lächeln schenkte. Aber war es bloß Angeal? Hinter seinem besten Freund ragte nicht nur das Shin-Ra-Hauptquartier auf. Genesis blieb die Luft weg. Seinen Kollegen – Sephiroth – den großen General – groß war er tatsächlich – große Männer, Männer, die größer waren als er selbst, hatte er schon immer gemocht – den großen Helden, hatte er noch nie vorher persönlich gesehen, zumindest nicht aus solcher Nähe. Verstimmt drückte er sich hinter Angeal und schien nicht recht zufrieden mit der Situation zu sein. Genesis‘ Herz raste. Dieses Haar – wie konnte es selbst bei diesem Licht so hell sein? Und trug Sephiroth etwa immer noch seine Uniform?

In Sephiroths demonstrativ abgewandtem Blick erkannte Genesis, dass er selbst ihn unverhohlen anstarrte. Er schluckte und versuchte sich zusammenzureißen. Wie ein Echo aus weiter Ferne hörte er, dass Angeal sprach. „ ... kennt euch nicht, soweit ich weiß, also dachte ich, als ich dich gesehen hab, ich stell euch mal vor, wenn ich Seph eh im Schlepptau hab.“ Seph ... So hatte Angeal ihn einfach genannt. Genesis sah Sephiroth an. Mit diesem verschlossenen Ausdruck wirkte er überhaupt nicht wie jemand, der sich bei einem verkürzenden Spitznamen nennen ließ. Jede Strähne dieses makellos glatten Haars saß perfekt an der richtigen Stelle, keine Regung durchbrach das Gesicht, das wie ein ruhiger See lag, nicht ein Krümel schien seine Uniform zu verunstalten; vielleicht hielt er sich etwas steif. Er fühlte sich offensichtlich unwohl. Ohne etwas zu tun, beanspruchte Sephiroth Genesis‘ ganze Aufmerksamkeit. Möglicherweise hörte er Angeal noch so etwas wie „Rückweg“ sagen.

Beinahe wie ein Schlafwandler erhob er sich von der Bank. Sephiroth schaute ihn immer noch nicht direkt an. Wenn er nur den Kopf neigen, wenn er nur den Blick auf ihn richten würde ... Genesis schwindelte es beinahe. Er hatte schon lange nichts mehr so sehr ersehnt wie Sephiroths Interesse. Sein Mund war trocken. Wie konnte sein Kopf so leer sein? Was hatte er eben noch gemacht?

„Bist du nicht ein wenig alt hierfür?“ Die Stimme kam von hinter Genesis. Er drehte sich widerwillig um. Angeal hielt sein Buch in der Hand. Genesis machte ein missbilligendes Geräusch und schnappte Angeal das Buch wieder weg. Er mochte es nicht, wenn Leute seine Bücher anfassten, geschweige denn, wenn sie schlecht von ihnen redeten.

„Was ist das für ein Buch?“, fragte die samtige Stimme Sephiroths, nun wiederum hinter ihm. Genesis wandte sich ihm nur halb zu; er hielt ihm schweigend das Buch hin. In Sephiroths Blick war nicht abzulesen, ob er das Buch kannte. Es ging nicht eine Bewegung über sein Gesicht, auch nicht, als Genesis das Buch wieder einsteckte und, wie von Angeal vorgeschlagen, mit den beiden andern den Rückweg antrat. Neugierig warf Genesis Sephiroth unentwegt Seitenblicke zu. Er beobachtete, dass Sephiroth sich anscheinend etwas entspannte und nicht mehr absichtlich in eine andere Richtung schaute.

Angeal versuchte, eine unbeschwerte Konversation in Gang zu bringen. Genesis hatte nicht den Hauch eines Interesses daran, ihn dabei zu unterstützen. Stattdessen erlaubte er sich ein Spiel mit Sephiroth, in dem es darum ging, sich abwechselnd Blicke von der Seite zuzuwerfen, ohne sich dabei wirklich in die Augen zu sehen. Wann immer er Sephiroth musterte, schaute der in Richtung Boden, manchmal auch in Richtung des Hauptquartiers oder des Wegesrandes, aber meist war es der Boden. Wann immer Genesis aber spürte, dass Sephiroth ihn seinerseits musterte, auch wenn der sich das nur für kurze Momente traute, setzte er einen koketten, nur gespielt schüchternen Blick auf, in der Hoffnung, Sephiroths Aufmerksamkeit zu bannen.

Es war kein sehr weiter Weg von der Bank, auf der Genesis Momente zuvor noch im Versuch einer Vergangenheitsbewältigung gelesen hatte, zum Hauptquartier, aber Genesis schlenderte absichtlich betont langsam vor sich hin, um die Dauer ihres Zusammenseins künstlich in die Länge zu ziehen. Angeal schien ihr Spiel zunächst nicht zu bemerken und vermittelte weiter verbal zwischen ihnen. Sephiroth ließ sich mitunter sogar dazu herab, auf Angeals Gesprächsversuche einzugehen. Genesis genoss den ruhigen, dunklen Klang von Sephiroths Stimme. Er selbst hatte nicht vor, irgendetwas beizusteuern; im Grunde folgte er dem Gesprächsverlauf gar nicht. Irgendwann, als sie beinahe am Eingang angekommen waren, hörte er allerdings seinen Namen. „ ... sitzt ständig irgendwo rum und liest vertieft vor sich hin, man muss nur drauf achten.“ Genesis beäugte Angeal skeptisch. Sollte das Kritik oder ein Kompliment sein?

„Wie kann es dann eigentlich sein, dass ich dir vorher nie über den Weg gelaufen bin?“ Es war das erste Mal, dass Sephiroth Genesis direkt ansprach. Von der Frage überrascht, richtete Genesis seinen Blick auf Sephiroth – und der auf ihn. Es kam nun, nachdem sie sich eine Weile absichtlich abwechselnd ausgewichen waren, auch zum ersten Mal dazu, dass sie sich direkt in die Augen sahen. Genesis war fasziniert von diesem Makogrün, in das er blickte. Er blinzelte einmal kurz. Er vergaß zu atmen. Vielleicht blieb ihm auch der Mund leicht offen stehen. Wie konnten Augen von einem solchen Grün sein? War das tatsächlich nur das Mako? War es normal, dass Augen einen so in den Bann zogen?

Die automatischen Türen des Hauptquartiers öffneten sich und beendeten den Moment, den Genesis und Sephiroth eben noch geteilt hatten. Anstatt einander gebannt in die Augen, schauten sie nun beide verlegen zu Boden. Wieder ohne einander anzusehen, betraten sie das Hauptquartier, Angeal direkt hinter ihnen. Genesis blieb etwas verloren im Eingang stehen, Angeal folgte ihnen. Sephiroth wandte sich ihnen zu. „Wenn ihr mich entschuldigen würdet“, sagte er in seiner ruhigen Art, doch Genesis meinte sich einzubilden, dass eine bis dahin unbekannte Unsicherheit darin lag, „es gibt noch Dinge zu erledigen.“ Er sah unsicher von Angeal zu Genesis. Er schien um Worte verlegen.

„Um deine Frage von eben zu beantworten“, sagte Genesis, der endlich zu seiner zynischen Gewohnheit zurückgefunden hatte, „du läufst mir wahrscheinlich im Pausenraum über den Weg.“ Sephiroth sah ihn völlig planlos an.

„So was gibt es?“, fragte er ehrlich verwirrt.

„Du weißt schon, die Teeküche? Eine Etage unter den Büros?“ Immer noch nicht überzeugt, nickte Sephiroth, bevor er ohne ein Wort des Abschieds von dannen zog. Genesis blieb ein paar Momente völlig durch den Wind zurück. Dann fiel ihm wieder ein, dass Angeal ja auch noch da war. Er wandte sich um. Angeal grinste ihn mit einem wissenden Ausdruck unerträglich an.


Nachwort zu diesem Kapitel:
* "The old Genesis can't come to the phone right now. Why? Oh, 'cause you killed him, Prakash!"

Einmal von oben nach unten -- wie gesagt, Angeal hat in diesem AU einfach Frau und Kind, Ben und Eliza (inspiriert von Totalmente Demais :'D) sind nicht zwingend die finalen Namen, waren nur die ersten, die mir einfielen und halbwegs passende Bilder hervorriefen.^^

Genesis' Nervenzusammenbruch. Ist aufgefallen, dass die Tränen erst in dem Moment kommen, in dem er zulässt, Prakashs Namen zu denken? Vorher, als er noch jede Erinnerung zu verdrängen versucht, schafft er es immerhin, sich zu beherrschen.

Ich habe mir heute sagen lassen, dass dieser "andere blonde Mann" voll das Klischee sei, blond, schön, groß. Es tut mir leid, wenn das so rübergekommen ist, denn ich dachte dabei wirklich nur an helle Haarfarben und Prakashs Beuteschema von großen, hellen Männern. :'D

Zu Ben sag ich ansonsten nur, dass ich's nicht so mit Kindern habe.

Das Gespräch im Büro. Genesis durchlebt hier in kürzester Zeit viele Gefühle, vor allem viel Hin und Her -- mal will er Prakash vergessen, dann will er ihn doch wieder zurück etc. --, und viele Erkenntnisse, die ansonsten sicherlich etwas Zeit brauchen. Das ist natürlich dem Medium geschuldet, in dem ich bei der beabsichtigten Storyline nicht Wochen vergehen lassen kann. Vielleicht fängt der Rückfall ja den Umstand auf, dass Genesis ein bisschen plötzlich zur Erkenntnis kommt, dass Prakash blöd ist.

"Angeal nahm sich des Tellers kommentarlos an; Reste hatte er noch nie aushalten können." Crisis Core, anyone? :'D

So, wie Genesis mit Liebeskummer arbeitet, bin ich eigentlich immer drauf, das ist etwas traurig. Konzentriert arbeiten? Aber ich hab Hunger, noch tausend andere Gedanken, vor dem Fenster huscht ein Eichhörnchen vorbei, irgendwo föhnt sich jemand die Haare, irgendwas ist immer ... seufz.

Amber? Who's that chick?

Das Gespräch mit Prakash. Dass Prakash zu spät kommt, kann Genesis ihm ja mit seiner Erklärung, er sei selbst immer zu spät, beinahe nicht verübeln. Irgendwie komisch. Dass Prakash sich so beschwörend rüberbeugt. Das hab ich letztens im Bus gesehen, ein Mädchen ganz normal in ihrem Sitz, ihr Freund (?) beugt sich ganz tief zu ihr hin, guckt sie intensiv an, spricht ganz ruhig nur mit ihr, irgendwie sah diese Beziehung nicht ganz gesund aus. Aber so konnte ich meine Szene wenigstens um ein Detail ergänzen.

"I can make all the tables turn", just sayin'.

"Mit jedem Gedanken zersprang Genesis innerlich in weitere Teile ... Mit viel Kraft hielt er die Scherben seines Inneren zusammen ..." Nun, da ich im Studium mit Archäologie begonnen habe, liest sich das irgendwie ganz anders ...

PS Wenn jemand wissen möchte, wie Herzschmerz wirklich geht, kann ich nur Catulls Lesbia-Zyklus empfehlen, besonders carmen 76!

PPS Schaut auch in meine Darkfic You Come When I Call You rein, die nicht ins "Mit Liebe Gekocht"-AU reingehört: https://www.animexx.de/fanfiction/autor/534019/389349/
Cloud kommt frisch als Rekrut zu SOLDAT und Sephiroth nimmt sich seiner aus mysteriösen Motiven an ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer wissen will, wie der Abend weitergeht: https://www.animexx.de/fanfiction/385612/1259935/default/#complete
In "Reversed" geht es darum, wie Genesis und Seph nach diesem ersten Treffen zusammenkommen. <3

Übrigens, das "Schattenreich" ist eine Disney-Anspielung.

PS Schaut auch in meine Darkfic You Come When I Call You rein, die nicht ins "Mit Liebe Gekocht"-AU reingehört: https://www.animexx.de/fanfiction/autor/534019/389349/
Cloud kommt frisch als Rekrut zu SOLDAT und Sephiroth nimmt sich seiner aus mysteriösen Motiven an ... Komplett anzeigen

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