Aschenregen von nimatkaja ================================================================================ Kapitel 1: Eine Nacht auf dem Meer ---------------------------------- Linus Färber befestigte gerade die Takelage am Klüverbaum, als in der Stadt auf der gegenüberliegenden Uferseite die Rathaushalle explodierte. Während Linus das Seil aus den Händen rutschte und ihm synchron dazu der Mund offen stand, hätte die Detonationswelle den kleinen Fischkutter bereits zum Kentern bringen müssen, denn es war keine gewöhnliche Explosion. Form und Farbe waren selbst im Dunkeln der Nacht sehr gut sichtbar und wiesen darauf hin, dass sie wohl einen magischen Verstärker besessen hatte. Linus wusste nicht, wie sie funktionierten. Aber um der Macht deren Detonationswellen wusste er gut Bescheid. Wie auch immer, die Welle erreichte sie nicht. Verpuffte kurz vor der Grenze zum anderen Kontinent. Der Fischkutter schwankte in der Stille der ruhigen See, so wie zuvor auch. Ungläubig starrte Linus geradeaus, starrte die Stadt Sysdale an und wie ihr Zentrum brannte. Häuser waren eingestürzt, aus ihnen hervor ragten lodernde Flammen. „Himmel, Arsch und Zwirn.“ Kaspar Schuchard war an Deck erschienen und Linus schaute zu ihm, wie er sich die Stirn rieb. Schweißperlen hatten sich auf dieser gebildet - Schuchard schwitze immer sehr schnell - und in ihnen spiegelte sich das Feuer von Sysdale. Auch Linus' andere Kollegen hatten aufgeschaut, die beiden Frauen Falk und Frieda hatten ihre Aufgabe, die Netze zu verstauen, unterbrochen. Ein Moment der Stille zog ein, auf allen acht Metern vom Bug bis zum Heck. „Was ist mit Bosch, wo steckt der Kapitän?“, fragte sich Linus, sagte aber nichts, starrte nur. „Was war'n das?“ Schuchard schaute mit zusammen gezogenen Augenbrauen hin und her. „Feuer, wie du siehst.“ Falk seufzte laut, dann ging sie ihrer Arbeit wieder nach. „Aber nein, nein.“ Der junge Mann fuchtelte mit den Händen. „Nein, ich meine, was war'n das?“ Falk reagierte nicht weiter. Linus schwieg nach wie vor. Sein Blick hing am Feuer, das zum dunklen Nachthimmel hinauf loderte, sowie dem schwarzen Rauch. Die Detonationswelle hatte Schiffe in Hafennähe erwischt, sie umgeworfen. Er konnte die Schreie der Menschen hören. Es war kalt in jener Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten Januar 6399. Nichts wirkte real. „Wir sollten was machen, die sterben in der Kälte.“ Frieda schaute sich besorgt um. Wo steckte der Kapitän? „Das ist Hostis, das geht uns nichts an.“ Falk sah doch noch einmal auf. „Außerdem dürfen wir da eh nicht hin – was war das grad eigentlich?“ „Feuer“, kam es von Schuchard. „Mein ich nicht, Idiot.“ Sie nickte gen Sysdale. „Warum hat uns die Welle nicht erwischt, Linus, warst du das? Du kannst so 'nen Kram doch.“ Linus' Blick schweifte kurz zu ihr. Sie meinte die Barriere, die sie vor der Druckwelle bewahrt hatte, die magische Blockade eines Schutzzaubers. Er schüttelte den Kopf. Nein, das war er nicht gewesen. Stattdessen nickte er in jene Richtung, aus der er die Ursache vermutete. Von Falk war er Worte wie diese gewohnt, sie mochte Hostis nicht und jegliche Versuche, ihr ihre Vorurteile auszureden, waren bisweilen gescheitert. Linus mischte sich da nicht ein, aber Schuchard hatte es einmal versucht. Er hatte Verwandtschaft auf dem Nordkontintent, wenn auch nicht in Sysdale. Es war ein langer Streit gewesen und am Ende hatte Kapitän Bosch dazwischen gehen müssen, der die beiden beinahe gefeuert hätte. Doch selbst Falk konnte nicht leugnen, dass sie ihr Leben einem hostischen Grenzschiff zu verdanken hatte. Mit seinen drei Masten gehörte es zu den größeren Grenzern. Seit der hostischen Wirtschaftskrise fünfzehn Jahre vorher, war die Zahl der illegalen Einwanderer von Norden nach Westen besonders hier, zwischen Sysdale und Hohendamm, enorm angestiegen, die Anzahl der Grenzer seitdem verdreifacht worden. Dreimastige Grenzschiffe waren große Grenzschiffe, aber bei Weitem keine Seltenheit mehr. Der eiserne Rumpf spiegelte den brennenden Hafen. Wind war aufgezogen, auch wenn er nicht sehr stark war. Zwei der großen Segel waren eingeholt. Auf jeden Fall war Linus sich nicht sicher, ob sie den Menschen im Wasser, auf der anderen Seite der Grenze, überhaupt helfen durften. Bojen markierten es im Wasser und er hatte die ganze Zeit über schon gefunden, dass sie sich zu nah an ebenjenen aufgehalten hatten. Falk wirkte nicht begeistert davon, ganz und gar nicht. Sie verzog das Gesicht, sodass ihr Nasenrücken faltig wurde. „Schuchard, geh Bosch wecken, ich glaube, den brauchen wir jetzt.“ Linus begann unter kristallisierendem Atem, die Takelage wieder zu befestigen. Seine Finger zitterten. Es war nicht der Kälte zuzuschreiben. Noch ein anderes Grenzschiff war in Sichtkontakt. Dieses war ein Stück weiter entfernt, hatte einen Mast weniger als das andere und vor allem bereits in Richtung des Hafens abgedreht. Das nähere jedoch hielt genau auf den kleinen Fischkutter zu. Linus war in seinem Leben noch nie in direkten Kontakt mit dem hostischen Militär geraten, auch nicht mit deren Marine. Man könnte meinen, dies wäre nicht allzu verwunderlich, da Hostis nicht sein Heimatland war und er es auch noch nicht einmal betreten hatte. Statistisch gesehen war Hohendamm jedoch, als seine Heimatstadt und sein derzeitiger Wohnort, jene tribunische Stadt, die das höchste Aufgebot an Fremdmilitär hatte. Die Leute redeten viel, sie fluchten viel, auch auf das landesfremde Militär, auf Soldaten wie Offiziere. Hostis sollte sich fernhalten. Wenn sich der Nordkontinent mit den anderen nicht zur Union vereinen wollte, dann sollte er mit den anderen auch nichts zu tun haben. Wer verlangte, allein gelassen zu werden, der sollte auch die anderen allein lassen. Die Leute redeten viel, sie fluchten viel. In dieser Gegend war das nicht anders als im Rest der Welt. Ein Licht wurde vom Achterdeck des Grenzschiffes gefeuert. Ein Signalzauber, niedrig, blau leuchtend. Ein weiteres. Linus konnte die Nachricht nicht lesen, auch wenn die Formen deutlich waren und garantiert nicht von einem Praktikanten wie ihm selbst gemacht wurden. Falk jedoch konnte sie sehr wohl entziffern und stürzte zum Steuer, um in Abwesenheit des Kapitäns zu entscheiden, was zu tun war. „Das ich sowas mal erlebe“, ächzte sie, während sie eindrehte, um das Schiff über die Grenze zu lenken. Blau als Farbe war kein Befehl, es war aber auch kein Hilfe, keine Warnung. Eine Bitte. Linus konnte sich gut denken, worauf sie bezogen war. „Himmel, Arsch und Zwirn“, hörte er gleich darauf ein zweites Mal, diesmal von Kapitän Bosch persönlich. Er erschien an Deck, nachdem er die Klappe zum Frachtraum aufgeworfen hatte. Dann rieb er sich die Augen und schaute angestrengt Sysdale an. „Und ich dachte, die hätten zur Feier der Konferenz ein Feuerwerk gezündet, was läuft eigentlich schief da drüben?“ Für einen Moment war er still, kratzte sich am Kopf. Sein Blick wich zum Grenzschiff der hostischen Marine und die Mimik fror ihm ein. „Sadnaval bewahre. Die Konferenzen!“ Linus hatte auch nicht daran gedacht. Er hatte es völlig verdrängt gehabt, obwohl die Nachrichten sich die letzten Tage um nicht viel Anderes gedreht hatten. Es hatte ihn nicht interessiert. Die Konferenzen fanden auf einem anderen Kontinent statt, der, obwohl von Hohendamm aus bei fast allen Wetterlagen sichtbar, in einer ganz anderen Welt lag. Einer fremden, kalten. Die nordische Welt aus Eis und Schnee. Er interessierte sich nicht für Politik, weshalb er nicht genau wusste, was für einen Anlass die Konferenzen in Sysdale eigentlich gehabt hatten. Doch auch er hatte mitbekommen, dass der Zar und seine Frau persönlich anwesend waren, weshalb die letzten Wochen in der Gegend das Militäraufgebot auch entsprechend hoch gewesen war. Noch höher als ohnehin schon. Von Frieda hörte Linus ein erschrockenes Einatmen und sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich die Hände vor den Mund hielt. Schuchard verstand nichts, gar nichts, wie immer, doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er scheiterte dabei. Niemand auf der ganzen Welt, niemand in ganz Miseria, brauchte im Moment noch mehr Reibereien zwischen dem Norden und dem Westen, doch wem auch immer diese Explosion zuzuschreiben war, schien augenscheinlich anderer Meinung zu sein. Sicherlich hatte derjenige seine Gründe und obwohl Linus eigentlich jede Meinung respektierte und bei entsprechender Begründung für existenzberechtigt hielt, kam er an jenem Abend zu dem Entschluss, dass eine Bombe in einer Großstadt zu zünden eine beschissene Meinung war. Es dauerte nicht mehr lange und sie lagen Flanke an Flanke mit dem Grenzschiff. Nach knapper Verständigung zwischen den Schiffen, stand ein Mann bei ihnen an Deck, bei dem es sich offenbar um den Kapitän der Grenzer handelte; an jener Stelle, an der Linus zuvor noch gearbeitet hatte. „Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie meiner Aufforderung nachgekommen sind, Kapitän Bosch“, sprach der Mann, dessen hostischer Akzent weniger rau als erwartet war. Vom Alter her war er wider Erwarten vermutlich näher an Linus als an Bosch selbst. Jung, mit kurzem, dunkelblonden Haar und mit der Uniform eines hostischen Kampfmagiers. „Es ist mir eine Ehre, Herr...“ Bosch kniff die Augen zusammen, um zu lesen, was auf der Uniform des Militärs stand, „Kapitänleutnant Frederik.“ Er lächelte kurz. Es war gelogen. Bosch mochte Hostis und sein Militär vermutlich noch weniger als Falk. Einer der oberen Offiziere, am Land wäre er Hauptmann gewesen. Doch hier war er Kapitänleutnant und trug die Uniform der Marine, die man vom Land ganz leicht durch die umgekehrten Farben unterscheiden konnte. Hauptsächlich weiß, nur wenig des sonst so dominanten dunklen Graugrün an den Rändern. Lediglich die dicken, goldenen Knöpfe waren gleich, sowie das Kreuz auf den oberen Ärmeln, unterlegt mit der gespaltenen Tanne. Das Zeichen des hostischen Militärs. Sowie sein Schild mit seinem Vornamen auf der Brust, befestigt über dem gestickten Clansymbol der Täysikuu. Der Clan der Eisbändiger aus dem Süden des hostischen Hauptlandes, deren Provinz nordöstlich an die der Hauptstadt grenzte. „Was ist geschehen?“, erkundigte sich Bosch indessen. Kapitänleutnant Frederik verschränkte die Arme, sein Blick schweifte zur Stadt. „Wir wissen es nicht, unsere Verbindung wird blockiert. „Und Sie beschäftigen sich mit uns?“ Der Mann lächelte kurz und verbittert. „Wir haben noch mehr Leute in der Stadt stationiert, die kümmern sich. Wir müssen den Menschen hier helfen und ich erteile Ihnen die Genehmigung, uns zu unterstützen. Bosch legte den Kopf schief, Linus schaute weg. Er konnte sein Herz schlagen spüren und es war unangenehm. Das Wasser war eiskalt. Bosch sollte nicht vor einem so hochrangigen Mann heraushängen lassen, wie wenig er Hostis leiden konnte, das war der falsche Moment. ​​​​„Bei einem Ereignis wie diesem lockern Sie die Grenzvorschriften?“ Linus hätte gern sein Gesicht in den Händen vergraben. Er erhaschte einen kurzen Blick auf den düsteren seines Kapitäns. „Das Wasser hat vier Grad.“ Herr Frederik schien unbeeindruckt. „Wenn Sie helfen wollen, sollten Sie vergessen, wo diese Menschen herkommen.“ Er trat wieder zur Reling. „Holen Sie sie aus dem Wasser und bringen Sie sie zu uns, wir schaffen sie zurück ans andere Ufer.“ Daraufhin kletterte er die Strickleiter wieder nach oben, die zu seinem Schiff führte und war so gleich darauf aus der Sichtweite verschwunden. Die Leiter wurde eingeholt. Es war nicht das erste Mal, dass Linus einen Magier gesehen hatte. Er selbst gehörte ebenfalls einem Clan an, auch wenn seine magischen Fähigkeiten nur knapp ausreichend gewesen waren, um ihm den Clannamen „Färber“ zu verschaffen. Jedoch war es das erste Mal, dass er direkt mit einem Kampfmagier, einem Magier des Militärs zu tun hatte. Obwohl sie im Heimatland Tribunus keine offiziellen Militärränge haben durften, hatten sie doch einige Kampfmagier selbst, insgesamt mehr als Hostis. Linus hatte mit denen, den sogenannten Großmeistern, aber nur wenig zu tun. Wären seine Fähigkeiten stärker ausgebildet, dann vielleicht, da man ihn dann ins Militär geschickt hätte, doch dem war nicht so. So war er nur ein einfacher Fast-Siebzehnjähriger, der seit einem halben Jahr mit der Schule fertig und zu unfähig gewesen war, sich einen Platz an einer Hochschule oder eine Ausbildung zu beschaffen, sodass seine Mutter ihm aus Verzweiflung dieses Praktikum hier besorgt hatte. Er wollte ihr dankbar dafür sein, aber er konnte es nicht. Gleich darauf wurde Steuerbord eingelenkt, um sich von dem Marineschiff zu lösen, dann backbord, um die Grenze zu überqueren. Linus' Blick hing an der leuchtend orangefarbenen Boje im Wasser. Er war noch nie in Hostis gewesen. Weder auf dem Hauptland noch auf den Iliarys, der großen Inselgruppe direkt vor seiner Haustür, auf der Sysdale lag. Es war anstrengend, ein Visum zu bekommen. Bosch grummelte vor sich hin, nachdem er Frieda und Linus die Anweisung gegeben hatte, alle Lichter anzuzünden. Falk unterdessen hielt noch immer das Steuer und Schuchard regelte etwas an der Takelage. „Aufgeblasene Mistmagier“, hörte er Bosch fluchen. Linus hörte Boschs Ausfälle nicht gern, aber besser hier als direkt vor dem Magier. „Vergessen, woher die Menschen kommen, ja, selbstverständlich, aus dem Grund sperrt ihr sie ja auch in eurem eigenen Land ein.“ Bosch entfernte sich von Linus, sodass er sein wütendes Grummeln nicht mehr verstehen konnte. „Wenn ihr mir hier Leute reinholt, dann schaut, dass das Boot nicht zu voll ist, ich habe keine Lust zu kentern oder Fracht über Bord schmeißen zu müssen.“ Mit den Worten verschwand er wieder unter Deck. Eigentlich waren sie nur Nachtfischen und kurz davor gewesen, wieder zurück zum Hafen von Hohendamm zu fahren. Doch seit jenem Moment, an dem Linus am Klüverbaum alles hatte vorbereiten wollen, waren ein paar Stunden vergangen und erst jetzt machten sie sich auf den Heimweg. Der Kapitänleutnant hatte sich dankbar gezeigt, wenn auch ungewollt nervös. Linus vermutete, dass die Verbindung zu den Einheiten in Sysdale immer noch nicht funktionierte, hatte es aber nicht angesprochen. Als minderjährigem Praktikanten stand ihm das nicht zu. Aber immerhin hatten sich die Feuer in der Stadt gelegt. Die gesamte Mannschaft atmete tief durch. „Vielleicht weiß die Zeitung morgen, was passiert ist“, sprach Frieda und sie war damit die erste, die wieder etwas sagte. „Das ist Hostis, du weißt doch, dass die etwas radikaler sind.“ Falk zuckte mit den Schultern, lehnte sich ans Steuerrad. „Aber was ist, wenn die jetzt Tribunus den Krieg erklären?“, sorgte sich die andere Frau. „Wenn sie selbst 'ne Bombe legen, warum sollten die Tribunus den Krieg erklären?“ Sie wirkte unbesorgt. Linus verdrehte die Augen und ging weiter seiner Arbeit nach. Er ersehnte den Tag, an dem es auf diesem Schiff ein Gespräch mit Substanz geben würde. „Das ist Hostis?“, lenkte Frieda wieder ein, woraufhin Falk nur sehr laut aufstöhnte, aber nichts weiter sagte. „Ich meine, die kennen da nur Winter und Schnee und außerdem fürchten die sich vor nichts.“ „Die sind keine Barbaren, das sind Menschen.“ Schuchard verschränkte die Arme vor der Brust. Während Linus weiter das machte, was er eigentlich schon vorhin hätte tun sollen, versuchte er, seine Nervosität einfach herunter zu schlucken. Das Gespräch seiner Kollegen hörte sich ein bisschen wie eine Diskussion aus einem Ethikkurs der achten Klasse an. Bei dem Gedanken fühlte er sich schlecht. Er stellte sich nicht gern über andere, aber ein Praktikum auf einem Fischkutter war nie das gewesen, was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Selten zuvor war er tagtäglich an einem Ort, an dem er so wenig intellektuellem Austausch ausgesetzt war wie hier. Das, was ihn jedoch am meisten störte, war, dass das Thema in der Fassung Schuchard-Falk-Frieda klang, als würde eine Boulevard-Zeitschrift es behandeln. Er interessierte sich nicht für Politik, nein, aber das musste er auch gar nicht, um über die angespannte Lage zwischen dem Norden und dem Westen, zwischen Hostis und Tribunus, Bescheid zu wissen. Das Problem war nicht erst diese Woche aufgetaucht. Vor allem auf den Iliarys war es seit der Wirtschaftskrise vor fünfzehn Jahren unruhig und obwohl sich die hostische Wirtschaft stabilisiert hatte, war es auf den Inseln nur noch chaotischer geworden. Hostis und Tribunus würden sich wegen eines Attentats auf den Zaren wohl kaum den Krieg erklären. Viel höher stand die Chance, dass sich die iliarische Bevölkerung gegen die Clans des Festlands erhob. „Ruhe, alle miteinander“, schallte irgendwann die Stimme des Kapitäns über das Deck und die rege Diskussion der anderen brach ab. Wie lange würde es noch dauern, bis sie in Hohendamm anlegten? Dreißig Minuten? Es konnte nicht schnell genug gehen, immerhin mussten sie die Waren noch in den Lagerhäusern unterbringen und Linus war fürchterlich müde. Es war bald früher Morgen. Die Nacht war anstrengend gewesen. „Ich kann's erklären“, hörte er dann und zu seiner Verwunderung kannte er die Stimme nicht, weshalb er sich zu seinen Kollegen umdrehte und einen Schritt zur Seite machte, um etwas sehen zu können, da ihm sonst der Mast des Kutters die Sicht versperrt hätte. Kapitän Bosch stand an der Luke zum Frachtraum. Da er ein großer Mann war, stellte es für ihn kein Problem dar, den fremden Jugendlichen am Genick gepackt zu halten, der deshalb die Schultern hochgezogen hatte, sich aber nicht wehrte. Der Junge war von der Kälte sehr blass, nass und durchgefroren, zitterte stark und seine Lippen waren blau angelaufen. Linus schätzte ihn als nicht viel älter als sich selbst, auch wenn er sich fragte, was er mitten in der Woche mitten in der Nacht auf einem der Schiffe gemacht hatte, die von Sysdale nach Hohendamm übersetzten. Und vor allem, wie er es geschafft hatte, sich vor ihnen zu verstecken. „Ich höre, Junge“, sprach Bosch streng, Frieda hingegen schaute besorgt drein. „Wir sollten ihm erst einmal eine Decke geben, er holt sich sonst den Tod“, protestierte sie, Falk seufzte daraufhin noch lauter als sonst und niemand ging weiter darauf ein. „Ich...“, begann er und diesmal fiel Linus auf, wie heiser seine Stimme klang. „Ich wollt' nich' zurück nach Hostis, ich wollt' weg.“ „Hatte da jemand kein Visum?“ Er öffnete leicht den Mund, sein Blick zuckte nervös hin und her. „Nein also.“ Bosch seufzte. „Ich würde dich ja echt gern augenblicklich wieder rüber schicken und zwar mit einem riesigen Arschtritt, aber ich an deiner Stelle hätte auch weg gewollt.“ Der Kapitän ließ ihn los. Offensichtlich war es zu plötzlich für ihn, doch obwohl er zuerst stolperte, schaffte er es, nicht hinzufallen. „Was haben Sie denn gedacht?“, erkundigte er sich, stützte sich auf seinen Knien ab, während er zu dem Mann aufschaute. „Wenn du versuchst, dich an unserem Fisch zu vergehen, schmeiße ich dich über Bord.“ Der Junge verzog das Gesicht. „Wer isst denn bitteschön rohen Fisch?“ „In Agmen essen sie rohen Fisch“, warf Frieda ein, aber außer, dass der fremde Junge knapp lächelte, reagierte keiner auf sie. Bosch indessen verschränkte die Arme und betrachtete den Flüchtling vor sich mit schief gelegtem Kopf. „Du bist nicht aus Sysdale, das hört man dir an.“ „Cilghain“, antwortete der Junge. „Hast du in Hohendamm Familie?“ Er schüttelte den Kopf. „Nay, aber...“ Bosch hob die Hand. „Sonst in Luchtal?“ „Nay, ich...“ „Irgendwo in Tribunus?“ „Nay, meine...“ „Dann wird das nichts, Junge, du hast keine tribunische Krankenversicherung, kein Geld, kein nichts, außer vielleicht 'ne schwere Lungenentzündung morgen früh und...“ „Jetzt lassen Sie mich doch ausreden!“, fauchte der Junge und es schien ihm Einiges an Kraft abzuverlangen, die Stimme so zu heben. Von Bosch kam ein Schnauben, doch er schwieg. ​​​​​„Ich will nach Rubrica. Meine Schwester hat gesagt, sie trifft sich da mit mir in... ein paar Tagen... oder so.“ „Oder so? Keine sehr genaue Angabe“, sagte Bosch, dessen kritischer Blick immer noch auf dem Jungen lag. „Sehr genau am Arsch“, schnaufte er. „Was interessiert Sie das, Fakt ist, dass ich weg will.“ „Sehr viel, das ist mein Schiff, auf dem du dich illegal aufhältst“, knirschte der Kapitän. Der Junge jedoch wich seinem Blick aus und schaute zur Seite weg, in jene Richtung, in die das tribunische Festland lag. Erst jetzt schien er Linus im Halbschatten des Masts zu erkennen. „Ich hatte noch 'ne zweite Jacke mit“, sagte Schuchard irgendwann. „Die können wir ihm geben.“ Der Gesichtsausdruck des Fremden erhellte sich etwas, doch Bosch unterbrach die Freude mit einem Knurren. „Wir wollen hier mal nichts überstürzen. Der Junge ist immer noch aus Hostis – wie heißt du überhaupt?“ „Immer noch aus Hostis, dass ich nich' lache!“, sagte er mit plötzlich viel festerer Stimme. Wie zuvor auch erschöpfte es ihn wohl, lauter zu sprechen. Dennoch machte er es und Linus wusste nicht, ob er besonders mutig war, sich so dem sehr großen und sehr kräftig gebautem Kapiän Bosch entgegen zu setzen, oder aber besonders dumm. „Iliarys, es sind die Iliarys, Hostis schert sich eh 'nen Scheißdreck um uns! Wenn die ohnehin immer sagen, wir würden nich' zu denen gehören, soll'n die sich nich' wundern, wenn wir uns auch nich' als Hostis bezeichnen und Tribunus ist auch nich' besser, pah!“ „Nicht frech werden, Bursche, ich kann dich immer noch über Bord gehen lassen!“ Bosch fiel es leicht, den Jungen zu übertönen. „Mein Name ist Horatio.“ Linus konnte durch das schlechte Licht und die Entfernung schlecht sagen, ob es Wahrheit oder Einbildung war, doch der Blick des Jungen war herausfordernd und fest. Es stand im Kontrast dazu, dass er immer noch zitterte und seine Lippen bebten. „Fatum noch eins, Bosch, jetzt lassen Sie ihn doch wenigstens 'ne trockene Jacke anziehen, sonst hat er die schwere Lungenentzündung schon, wenn wir in Hohendamm ankommen!“, warf Falk schließlich ein. „Wenn wir überhaupt direkt nach Hohendamm fahren, wenn wir umdrehen, dauert es nicht lange, bis...“ „Warum interessiert Sie das eigentlich, wie ich mich in Hohendamm anstelle“, beschwerte Horatio sich und wollte wohl noch mehr sagen, doch stattdessen folgte ein trockenes Husten. „Hören Sie es sich doch an.“ Falk deutete auf ihn. „Ich mag Hostis auch nicht, aber er war in eiskaltem Wasser, wollen Sie auch noch für seinen Tod verantwortlich sein?“ Bosch grummelte irgendetwas. Auf einen Handwink von Falk verschwand Schuchard unter Deck. „Hast du einen Ausweis dabei?“, fragte Bosch dann, die Stimme wieder etwas ruhiger, und verschränkte die Arme vor der Brust. Horatio schwieg, dann fasste er sich langsam in die Hosentasche. „Ich hab... Geld...“ Bosch schnaubte. „Ich lasse mich nicht...“, setzte er an, brach aber mit großen Augen ab, als er den ganzen Haufen zerknüllter Geldscheine in den Händen des Jungen entdeckte. Vorsichtig nahm er einen Schein, hielt ihn hoch, schaute ihn an. Dann gab er ihn zurück. „Sogar tribunische Sere, Himmel, Arsch und Zwirn“, murmelte er. Linus konnte durch das wenige Licht nicht genau sagen, wie viele Scheine wie beschriftet waren. Doch die größte der drei tribunischen Währungseinheiten war ausgesprochen viel wert. „Pack das wieder weg, pack das wieder weg“, sagte Bosch schnell mit hoch gehaltenen Händen. Horatio hielt es noch einen Moment lang Bosch unter die Nase, ehe er es langsam wieder weg packte. Linus konnte seine Zähne klappern hören. Schuchard kam unterdessen wieder nach oben, in der Hand eine Jacke. Das viele Geld hatte er demnach verpasst. „Hier, hier“, sagte er und war der einzige an Deck, der im Moment lächelte, als er Horatio die Jacke reichte. Der bedankte sich knapp und nahm die Kleidung an. Sein Blick huschte nervös übers Deck, ehe er sie über zog. Bevor er mit dem Arm durch den Ärmel der Jacke fuhr, rutschte sein Hemdärmel ein Stück nach oben. Linus bemerkte es nur, weil er zufällig darauf schaute und offenbar bemerkte es sonst keiner seiner Kollegen, aber offenbar waren Horatios Arme tätowiert. Einmal davon abgesehen, dass tätowierte Minderjährige nicht so häufig anzutreffen waren, wusste Linus, dass zumindest Bosch die ganze Situation noch schneller durchschaut hätte, als Linus es in jenem Moment tat. Horatio war ein Magier. Das war die einzige Erklärung, von sehr großzügigen Eltern einmal abgesehen. Die Crayfish, der große Clan der Metallbändiger aus Sysdale, waren bekannt für ihre kunstvollen Tattoos. Wenn Horatio so alt war wie Linus selbst, dann würde er kurz vor Beginn der Ausbildung im hostischen Militär stehen und offenbar wollte er das nicht. „Das ist 'ne Menge Kohle“, sagte Bosch schließlich und unterbrach eine unangenehme Stille damit. „Aber das ist schneller alle, als du denkst. Bei uns drüben ist es ein bisschen teurer als bei euch.“ Er klang ruhiger als zuvor noch, als hätte ihm die Minute, die Horatio zum Anziehen gebraucht hatte, genügend Zeit gegeben, um kurz alles zu überdenken. „Und legal macht das das alles hier trotzdem nicht. Wir nehmen dich mit nach Hohendamm, da kannst du dich aufwärmen, aber morgen früh geht’s wieder rüber.“ „Bitte nich'!“, kam es sehr schnell von Horatio. „Ich kann nich' zurück! Ich hab kein' Dunst, was Morgen drüben läuft, ich kann nich' zurück.“ „Da hat er Recht, wir wissen nicht, was in Sysdale drüben läuft!“, warf Frieda ein. „Erst recht nicht dann morgen.“ „Was ist, wenn die sich dann morgen den Kopf einschlagen?“ Schuchard musterte Horatio. „Ich will da keinen Jugendlichen reinschicken.“ „Er ist aus Cilghain, hat er selbst gesagt“, murrte Falk. „Wie kommt es, Horatio, dass du mitten in der Nacht einer Explosion auf dem Schiff bist, einem hostischen Kampfmagier bei der Untersuchung unseres Frachtraums durch die Lappen gehst und jetzt hier bist, mit einem kleinen Vermögen in der Tasche?“ „Ich...“ Horatio starrte sie an wie ein verschrecktes Kaninchen. „Ich kann nich'...“ „Das sagtest du bereits.“ Boschs Stimme klang wieder härter. „Warum. Warum kannst du nicht?“ Horatios Mund stand einfach nur offen. Vielleicht wollte er etwas sagen, doch kein Wort kam heraus, kein einziges. Stattdessen stand Falk wieder am Steuer und schaute zum Kapitän, schien auf dessen Befehl zu warten, irgendetwas zu machen. Irgendwo schrie eine einsame Möwe. „Ich kann ihn mitnehmen.“ ​​​Einen weiteren Moment lang war es leise auf dem Schiff. Linus wusste, dass ihn alle anschauten. „Ich kann ihn mitnehmen, meiner Mutter fällt sicherlich etwas ein.“ Sein Herz schlug ihm bis zur Brust. Er bemerkte Horatios Blick und die großen Augen, mit denen dieser ihn anschaute. Eine Mischung aus Verwirrung und Dankbarkeit. „Oha, er kann sprechen“, war Falks Murmeln das erste, was sonst jemand sagte. Ein Glück ging niemand darauf ein. Das unangenehme Kribbeln in Linus' Bauch war schlimm genug. „Deine Mutter ist eine gute Frau“, sagte Bosch seufzend. „Aber ihre hohe Position in der Hafenverwaltung wird sie nicht vor Stress mit dem hostischen Militär bewahren, wenn die das herausfinden.“ „Oder mit dem tribunischen“, merkte Falk an. „Keiner mag illegale Einwanderer. Nirgendwo.“ „Nein, also...“ Linus schüttelte verlegen den Kopf und wusste selbst nicht ganz, was er sagen sollte. „Dann lass es sein. Wir sorgen dafür, dass er morgen zurück nach Hostis kommt“, sagte wieder Bosch. „Du bist ein Färber, richtig?“ Horatios Blick lastete immer noch auf ihm. Linus schaute augenblicklich weg, nickte allerdings. Es gab nicht viele Clans in Miseria, die man allein am Aussehen erkennen konnte, jedoch gehörte sein eigener, sowie nahe Verwandte, dazu, hatten sie unter anderem die Fähigkeit, Haar- und Augenfarben nach Belieben zu wählen. Die Voraussetzung dafür und somit den Clannamen „Färber“, war eine Ausprägung des Fähigkeitengrades, der hoch genug sein musste. Bei Linus reichte er gerade so für den Namen. Er konnte ein bisschen an der Helligkeit seiner Haare schrauben, weshalb er sie so dunkel wie möglich hielt. Dass sie dennoch sehr deutlich ein kräftiges Rot innehatten, wurde umso klarer, da Horatio ihn ohne Probleme in den miserablen Lichtverhältnissen an Deck seinem Clan hatte zuordnen können. „Dein Clan kann ihm nicht helfen“, sagte Falk. „Wissen Sie's?“ Horatio schaute nun sie an. Seine Atmung ging noch etwas schneller als zuvor. „Das können wir versuchen, sie... Also, die könn' mich ja immer noch rüber schicken, wenn's nich' klappt, aber bitte, bitte, ich kann nich' – ich will nich' zurück, bitte, ich...“ „Wir unterstützen keine minderjährigen Ausreißer!“, sagte Falk etwas lauter, hielt sich aber zurück, als Bosch ihr mit einer Hand anwies, Ruhe zu bewahren. Linus wollte noch irgendetwas Nützliches sagen, aber er wusste nicht was. Wenn Horatio es vorzog, seine Clanherkunft den anderen zu verschweigen, dann wollte er ihm nicht in den Rücken fallen. Es gab Verträge zwischen den Clans, uralte Verträge. Vielleicht konnten die helfen, um Horatio etwas neuen Boden hier in Tribunus zu geben. Über Sysdale hing nach wie vor dicker Rauch, selbst bei der Entfernung und der Dunkelheit war es gut zu sehen. Linus hätte dorthin auch nicht zurück gewollt. Bosch hatte erneut die Arme verschränkt und musterte Linus und Horatio abwechselnd, vor allem aber letzteren. „Von mir aus“, sagte er schließlich. Als Horatio sehr breit zu grinsen begann, hob er jedoch einen Finger. „Aber wenn das hostische Militär oder das tribunische oder sonst irgendein hohes Tier ein meine Tür klopft, dann gnade euch Sadnaval.“ „Wir werden das fürchterliche Missverständnis sofort klären, ja!“ Horatio umarmte Bosch. Der hatte nicht damit gerechnet und schaute dementsprechend drein. Falk schnaubte verächtlich, sagte aber nichts weiter. „Frieda, kümmere dich um ihn“, wies Bosch an, den Blick aber auf Hohendamm gerichtet. Die Stadt war nicht mehr weit. „Schuchard, in den Frachtraum. Linus, du kriegst deinen nächsten freien Tag gestrichen. Zurück an den Klüverbaum.“ Linus versuchte, nicht allzu offensichtlich das Gesicht zu verziehen, sagte jedoch nichts weiter und ging wieder seiner Arbeit nach. Im Hintergrund bekam er mit, wie Frieda Horatio versorgte, der offenbar kein Problem mit der Behandlung hatte. Doch gelegentlich sah er, wie er zu ihm herüber schaute, und wich dem Blick aus. Er wollte ihm keine Hoffnung machen. Es gab keine Garantie, dass die Clanverwaltung etwas machen konnte. Die restliche Fahrt verlief still und auch beim Anlegen wurde weniger gesprochen als sonst, kaum mehr als das Nötigste. Horatio bot seine Hilfe an, doch Bosch wimmelte ihn grob ab, sodass der Junge nur daneben stand und nichts machte. Linus sah, dass er nach wie vor zitterte. Auch seine Gesichtsfarbe war noch nicht gesünder geworden. Und dennoch lächelte er vor sich hin. Warum lächelte er? Es war halb fünf am Morgen, als sie endlich fertig waren. Bosch sagte nichts zu Linus, was ihm das Gefühl gab, dass der Kapitän sauer auf ihn war und es die nächsten Tage auch sein würde. Er wusste nicht, ob er das vorhin mit dem freien Tag ernst gemeint hatte, befürchtete dies allerdings. Aus dem Kopf wusste er gerade gar nicht, wann er das nächste Mal frei hatte, von heute abgesehen. Zu Hause würde er dann nachsehen. Falk sagte ebenfalls nichts zu ihm, nur Frieda kam noch einmal und wünschte Horatio sehr viel Glück, Schuchard tat das gleiche. Außerdem merkte er an, Horatio könne seine Jacke vorerst behalten, Linus solle sie dann einfach demnächst wieder mitbringen. Nachdem das getan war gingen die beiden los, die ersten Minuten lang in unangenehmem Schweigen. „Isses weit bis zu dir?“, fragte Horatio irgendwann. Er lächelte immer noch, auch wenn seine Augen nicht mitmachten. Gerade, als Linus antworten wollte, sprach er schon weiter. „Also, nich', dass du denkst, ich würd' das nich' schaffen, ich bin nur doch etwas müde – ah, im Übrigen. Eh, ich bin dir so dankbar, dass du das getan hast, ich dacht' echt, der katapultiert mit mit 'nem Arschtritt zurück nach Eart.“ Linus nickte und wollte aufgrund der Formulierung lächeln, es wurde aber nur eine schiefe Grimasse daraus. Doch ja, das hätte er Bosch zugetraut, deshalb hatte er etwas gesagt. Horatio musste wohl mehrere Gründe haben, nicht in seine Heimatprovinz zurück zu wollen. „Du... bist doch wirklich ein Crayfish, oder?“ „Huh? Woher weißt'n das?“ Horatio wirkte erstaunt und sah ihn an. Linus hörte seine Zähne klappern und band sich gleich darauf den Schal ab, um ihn dem Jungen zu reichen. „Eh, du bist irgendwas Übernatürliches, danke, danke, danke.“ „Kein... Thema“, sagte Linus langsam, der jetzt lieber wieder gerade aus schaute. Trotzdem spürte er, wie Horatios Blick weiterhin an ihm hing. „Dir sind vorhin kurz die Ärmel hochgerutscht.“ „Oh. Hm. Nah. Glück, dass der Kapitän das nich' gerallt hat – ist der immer so drauf?“ „Häufig, ja.“ „Pft, Seeleute, hach.“ Sie waren noch nicht weit gelaufen, aber Linus konnte Horatio anhören, wie sehr er außer Atem war. Es war nicht weit bis zu Linus nach Hause, aber er wollte Horatios Lungen nicht weiter strapazieren. An der nächstbesten Straßenbahnhaltestelle würde er nachschauen, ob sie zeitnah eine Tram nehmen konnten. Erneut war es kurz still. „Nimmst du mich wirklich mit zur Clanverwaltung?“ „Hmmmm.“ Linus wusste es nicht. Wenn Horatio das nicht wollte, würde Linus ihn nicht drängen, nein. „Musst mit meiner Mutter reden. Die hat da mehr Ahnung als ich.“ Er wollte ihn nicht anlügen. Wenn seine Mutter darauf bestand, würde es darauf hinauslaufen. Aber erst einmal mussten sie den Rest der Nacht darüber schlafen. Linus war zu müde, um sich damit zu befassen. „Ich kann mich auch jetzt gleich in 'nen Zug setzen und nach Rubrica abdüsen. Geld hab ich, haste ja gesehen.“ Aus dem Augenwinkel sah er Horatio mit den Schultern zucken. „Hm, nein, also.“ Er räusperte sich, weil er spontan nicht wusste, wie er das formulieren sollte, was er ausdrücken wollte. Ihm wurde warm. „Bosch hatte Recht. Musst dich erstmal ausruhen, sonst wirst du wirklich, wirklich krank.“ Horatio gab ein Geräusch von sich, das sehr unzufrieden klang, sagte aber nichts weiter dazu. Stattdessen war es erneut still. „Du“, begann Linus schließlich langsam, „bist hier, weil du nicht ins Militär willst, oder?“ Seine Zähne klapperten nicht mehr. Der Schal wärmte gut. „Eigentlich nich'“, antwortete er dann. „Hat... Obwohl, doch, doch, eigentlich schon, ja.“ Linus hörte sein Schnaufen. „Meine große Schwester hat'n paar Gruselgeschichten über die da erzählt, is' echt nich' soooo bequem dort? Ich meine, es is' das Militär. Haha. Wär' ja eigentlich ehrenvoll, da zu arbeiten? Aber es is' gefährlich und wir sind ja auch nich' aus Vorderagmen und setzen unsere Ehre über sonst alles.“ „Aber an sich... Also, du hättest schon zur Militärakademie gesollt?“, fragte er nach, auch wenn ihn das eigentlich nichts anging. Immerhin war es Horatios Angelegenheit, nicht seine. „Aye, schon. Militärfamilie und so. Richtig anstrengend. Außer meine Schwester, die is' super.“ Er grinste kurz, aber es war ein leeres Grinsen. „Sie is' Major im Militär! Major! Mit fünfundzwanzig! Du müsstest sie echt mal kennenlernen, sie is' klasse. War mit in Sysdale wegen der Konferenz... und so.“ Mit den Worten war er auf einmal ruhig. Linus ließ die Ruhe einen Moment lang wirken. „Wo ist sie jetzt?“, fragte er dann und bereute es sofort. Es dauerte länger als zuvor, bis Horatio seine Antwort fand. „Uh. Also. Ich weiß... Sie, hngh.“ Er hustete und es hörte sich sehr ungesund hat. „Wir treffen uns in Rubrica, das hat sie gesagt. Ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie haben keine Verwandtschaft dort? Nich', dass ich wüsste. Vermutlich schon. Weiß ja auch nich' alles. Haha.“ Er lachte auf. „Sie hat gesagt, wir treffen uns in Rubrica. Das hat sie gesagt.“ Von da an schwiegen die beiden, bis sie an der Straßenbahnhaltestelle angekommen waren. Kurz, nachdem sie aus der Tram wieder draußen waren, kurz vor Linus' Wohnung, begann es zu schneien. Mittlerweile war es windiger als zuvor noch. Es trug wohl Asche und Ruß aus Sysdale über die Wasserstraße zwischen den beiden Städten. Denn anders konnte sich Linus nicht erklären, warum die zahlreichen Flocken heute so ungewohnt grau aussahen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)