Verlorene Sonne von Noxxyde ================================================================================ 10 -- Kapitel 10 Katja Pfahlhammer bedeutete Tom durch Schwenken ihrer Pistole das Schussfeld auf Julius freizugeben. Alles andere als erpicht darauf, herauszufinden, ob auch diese Waffe nur das Bewusstsein oder am Ende doch das Leben raubte, bewegte er sich trotzdem keinen Millimeter von der Stelle. Enttäuscht schüttelte Pfahlhammer den Kopf. „Sei nicht so stur, Junge. Er stirbt so oder so. Gerade machst du es nur komplizierter für alle Beteiligten.“ „Gut.“ Tom gelang das lässige Grinsen nicht ganz so überzeugend wie erhofft. „Irgendwie muss ich meine Stärken ja ausspielen.“ „Du überschätzt deine Bedeutung für uns. Meinem Mann mag dein Körper gefallen“, ihr Blick huschte von Toms Haaransatz bis zu seinen Zehenspitzen, „und mir auch. Aber du bist sicher nicht einzigartig. Batiste kann hunderte von deiner Sorte auftreiben, wenn ich sie darum bitte.“ Sie richtete die Waffe zwischen Toms Augen. „Du bist ganz und gar ersetzbar.“ „Stopp!“ Julius‘ versuchte sich aufzurappeln, scheiterte jedoch an seinen Fesseln. Kraftlos sank er zurück auf den Boden. Die Stirn gegen Toms Unterschenkel gelehnt, funkelte er Pfahlhammer von unten herauf an. „Ihr hättet uns längst töten können. Ihr hättet mich längst töten können. Habt ihr aber nicht. Also muss es etwas geben, das ihr euch von mir erhofft.“ Ein Lächeln kroch über Pfahlhammers gestohlene Lippen. „Kluger Junge. Vielleicht kommen wir doch noch zu einer Einigung.“ „Lasst Tom gehen, dann werde ich sehen, was ich für euch tun kann.“ „Du bist kaum in der Lage, Forderungen zu stellen. Es wird so laufen: Du tust, was wir von dir wollen und dein Freund stirbt einen raschen, schmerzlosen Tod. Weigerst du dich, verliert er ein Fingerglied. Weigerst du dich erneut, verliert er ein weiteres. Solange, bis ihm die Finger ausgehen. Dann werde ich mir überlegen, was ich als nächstes abschneide.“ So sehr sich Tom bemühte, er konnte nichts gegen das Zittern tun, das seinen Körper übernahm. Julius‘ Hand hatte er lange losgelassen – dieses Mal war die Angst seine eigene. Er wusste, dass er diesen Keller nicht lebend verlassen würde. „Genug Zeit verschwendet.“ Pfahlhammer trat einen Schritt zur Seite und enthüllte damit den Durchgang zum Nebenraum. „Nach euch.“ „Ich bin noch gefesselt“, warf Julius ein. „Das weiß ich.“ „So kann ich nicht laufen.“ Mit einem abschätzigen Zungenschnalzen zog Pfahlhammer einen eleganten Dolch aus ihrer offensichtlich gut bestückten Handtasche und warf ihn zu Tom. „Keine Sperenzchen. Schneid ihn frei und lass den Dolch dann liegen. Andernfalls …“ Die Mündung ihrer Waffe zielte exakt zwischen Toms Beine. „Verstanden?“ „Verstanden.“ Fieberhaft überlegte Tom, wie sie aus der Nummer herauskamen. Verflucht, er war soeben in den Besitz eines scharfen Messers gelangt, irgendwie musste er das doch nutzen! Doch nur Leere füllte seinen Kopf und seine Hände zitterten so erbärmlich, dass es seine gesamte Aufmerksamkeit brauchte, Julius bei dem Versuch ihn zu befreien nicht noch schlimmer zu verletzen. „Es ist in Ordnung.“ Julius‘ Lippen berührten beinahe Toms Ohr, seine Stimme so leise, dass Pfahlhammer sie unmöglich hören konnte. „Alles wird gut.“ „Sagst du das, weil deine tollen Fähigkeiten für einen Blick in die Zukunft reichen, oder einfach nur, um mich zu beruhigen?“ „Letzteres“, räumte Julius nach ein paar Sekunden ein. „Und um mich selbst zu beruhigen.“ „Funktioniert’s?“ „Nein.“ „Bei mir auch nicht.“ „Genug getuschelt“, unterbrach Pfahlhammer. „Hopp, hopp, wir haben nicht ewig Zeit.“ Tom half Julius aufzustehen – unsicher, wer wen stärker stützte – und humpelte vorwärts; stets begleitet von Pfahlhammer und ihrer Schusswaffe. So sehr er auch danach suchte, er fand keine Lücke; keine kleine Unaufmerksamkeit, die er für sich nutzen konnte. Als er den Nebenraum betrat, vergaß er, danach zu suchen. Leichenhalle. Das war Toms erste Assoziation. Weiße Fliesen bedeckten Boden und Wände, Utensilien, deren Funktion er sich lieber nicht vorstellte, reihten sich penibel auf Regalen aus Edelstahl, ein Lüfter pumpte eisige Luft in den Raum, in dessen Zentrum ein blanke OP-Liege stand. Auf ihr … „Ist er tot?“ Tom wünschte sich, weniger entsetzt zu klingen, doch offenbar hatten die Erlebnisse der vergangenen zwölf Stunden gerade genügt, ihm jede Hoffnung zu rauben, ohne ihn dabei komplett abstumpfen zu lassen. „Der letzte Wirt meines Mannes“, antwortete Pfahlhammer, ohne auch nur einen Blick auf den reglosen Körper zu werfen. „Bedauerlicherweise hat er nicht lange gehalten. Im Gegensatz zu diesem Schätzchen hier.“ Zärtlich strich sie über ihre/Sunnys Hüften. „Ein zugegebenermaßen ungeplanter Glücksgriff. Eigentlich wollte Martin nur seinen neuen Wirtskörper ausprobieren, während ich unterwegs war, aber das dumme Ding musste ja unbedingt im Haus herumschnüffeln. Was blieb ihm da schon anderes übrig? Immerhin ein hübsches Willkommensgeschenk nach meiner Rückkehr.“ Blut rauschte in Toms Ohren. Hatte Sunny gewusst, was die Pfahlhammers hier trieben? Sie musste, oder? Permanent wechselnde Körper ließen sich schon dann nur schwer übersehen, wenn man nicht mit ihnen vögelte. Nein. Unmöglich. So ein Mensch war Sunny nicht. Julius mochte sich in Batiste getäuscht haben, Tom täuschte sich ganz sicher nicht in Sunny. Sicher hatten die Pfahlhammers ihr irgendeine Story aufgetischt. Eine kurze Pause entstand, als erwartete Pfahlhammer eine Reaktion von Tom und Julius. Für die Stille, die ihr stattdessen entgegenschlug, hatte sie lediglich ein Schulterzucken übrig. „Wir hatten große Hoffnungen, Batiste könnte herausfinden, weshalb manche Körper schneller verfallen als andere. Das habt ihr uns allerdings mit eurer Schnüffelei gehörig versaut.“ Sie betrachtete Julius und Tom wie Dreck, der den Frevel besaß, an ihren überteuerten Pumps zu kleben. „Batiste wird die nächsten Wochen wohl im Krankenhaus verbringen und danach eine nicht unerhebliche Zeit im Gefängnis. Also brauchen wir Ersatz für sie.“ Ihre Aufmerksamkeit schwenkte zu Julius. „Du. Setz dich da rüber.“ Der Stuhl, auf den sie deutete, sah aus wie die Requisite eines schlechten Horrorfilms. Massives Eisen, umwickelt mit stabilen Lederriemen. Wie der Rest des Raums war auch er vollständig in Weiß gehalten; so ließen sich die rostroten Verfärbungen auf den Lederriemen noch schwerer ignorieren. Nichts an Julius‘ Mimik gab preis, ob er die Flecken bemerkte. Sein Gesicht glich einer Maske, als er auf darauf zuging, doch kurz vor dem Stuhl versagten ihm seine Beine den Dienst und er strauchelte. Tom fing ihn auf. Emotionen jagten durch ihn hindurch. Kummer. Furcht. Verzweiflung, die möglicherweise ihm selbst gehörte, denn unter all den fremden Gefühlen, die durch ihn hindurchflossen, lag auch eiserne Entschlossenheit. Lauf! Hatte Julius geflüstert? Bildete sich Tom die Stimme in seinem Kopf nur ein? Oder– „Los jetzt!“, fauchte Pfahlhammer. Julius folgte ihrem Befehl, glitt von Toms Armen in den Stuhl. „Und weiter?“ Pfahlhammer nickte zu Tom. „Fessle ihn.“ „Was? Nein!“ Er zuckte zurück, als Pfahlhammer mit dem Fuß auf den Boden stampfte. „Du tust was ich sage, wenn ich es sage! Verstanden? Sonst sind die hübschen Fingerchen ab!“ Einen wundervollen Augenblick lang gab sich Tom der Vorstellung hin, nach vorne zu schnellen und dem Miststück seinen Ellenbogen in den Magen zu rammen. Genauso schnell verwarf er den Gedanken wieder. Er hätte mindestens drei Kugeln – oder womit auch immer diese Waffe schoss – in der Brust, bevor er auch nur in ihre Nähe gelangte. Als ahnte sie seine Überlegungen, trat Pfahlhammer einen weiteren Schritt zurück. Die Waffe in ihrer Hand zitterte dabei nicht einmal. „Nur um das klarzustellen. Wenn du nicht sofort tust, was ich sage, wirst du einen Finger verlieren. Das heißt aber nicht, dass ich mich davor scheue, dir zusätzlich ins Bein zu schießen. Du solltest dir wirklich zweimal überlegen, ob du weiter meine Geduld strapazieren möchtest.“ „Tom.“ Sachte strich Julius über Toms Unterarm. „Das ist es nicht wert. Tu einfach, was sie sagt.“ Betend, dass Julius einen besseren Plan hatte, als einfach bei dem Spiel der Pfahlhammers mitzumachen, bis einer oder beide von ihnen starben, schlang Tom die Lederriemen um seine Brust und fixierte seine Hand- und Fußgelenke. „Das geht fester“, merkte Pfahlhammer hinter ihm an. „Deutlich fester.“ „Noch fester und sie schneiden ein.“ „Ist mir egal.“ „Mir nicht!“ „Tom …“ Julius suchte seinen Blick, eine stumme Bitte in den Augen. „Okay.“ Tom schluckte. Angst drohte ihn zu überwältigen. „Okay. Ich mach ja schon.“ Er zog die Riemen fest, bemüht, Julius‘ schmerzerfülltes Stöhnen zu ignorieren. „So. Hier. Wahrscheinlich fallen ihm in der nächsten Stunde die Gliedmaßen hab. Zufrieden?“ Pfahlhammer spannte Sunnys Lippen zu einem Lächeln. „Sehr.“ Sie richtete die Waffe auf Toms Stirn. „Dann brauchen wir dich ja nicht länger. Ein bisschen schade ist es ja schon, aber du machst mir eindeutig zu viel Ärger. Und so heiß bist du dann doch nicht.“ „Warte!“ Die Lederriemen knarzten, als sich Julius dagegenstemmte, gaben jedoch keinen Millimeter nach. „Wenn ihr ihn tötet, könnt ihr meine Hilfe vergessen!“ Pfahlhammer hob eine Braue. „Ich bin neugierig. Denkst du wirklich, du könntest dich uns verweigern? Dann glaub mir, wenn ich dir sage, dass wir dir wesentlich Schlimmeres antun können, als dich an einen Stuhl zu fesseln. Und was ihn angeht“, sie nickte zu Tom, „ein rascher Tod wird eine Gnade für ihn sein.“ „Mich zu foltern wird euch nicht helfen. Ich brauche Kraft und einen klaren Verstand, wenn ich für euch arbeiten soll, aber vor allem meinen freien Willen. Ohne ihn funktionieren meine Kräfte schlicht nicht.“ „Ist das so?“ „Könnt ihr es riskieren, mir nicht zu glauben?“ Julius wartete nicht auf eine Antwort. „Wenn ihr Toms Körper übernehmt, werde ich euch nicht helfen. Wenn ihr ihm Schmerzen zufügt, auch nicht. Schon gar nicht, wenn ihr ihn tötet. Lou kann euch nicht mehr helfen. Ich bin eure einzige Chance. Entweder, ihr macht mir ein sinnvolles Angebot, oder dein Mann darf erleben, wie es sich anfühlt, wenn die Metastasen in seiner Lunge so richtig loslegen.“ Die Lippen, die einmal Sunny gehört hatten, verzerrten sich zu seinem Lächeln, das genauso gut ein Zähnefletschen hätte sein können. „Na schön, nehmen wir mal an, du sagst die Wahrheit. Ist sein Leben dir wirklich mehr wert als das deiner Freundin Batiste?“ „Es ist nicht Lou, auf die eine Waffe gerichtet wird.“ Leider, fügte Tom still hinzu. „Ist dir nie in den Sinn gekommen, Batiste könnte einen guten Grund haben, uns zu helfen?“, fragte Pfahlhammer, noch immer dieses schaurige Lächeln auf den Lippen. „Macht, nehme ich an. Geld vermutlich auch.“ „Oh, das ganz sicher. Dass mein Mann nicht der einzige ist, der sich mit einer unheilbaren Krankheit herumschlägt, dürfte allerdings ebenfalls recht motivierend gewesen sein.“ Pfahlhammer beobachtete Julius wie ein Jäger, dessen Beute soeben die schützende Deckung verließ. „Du wusstest nicht, dass sie krank war, oder? Wie tragisch.“ „Lou und ich sind geschiedene Leute. Sie hat ihre Entscheidung getroffen und was auch immer ab jetzt passiert, ist ganz allein ihre Sache.“ Doch Tom sah den Schmerz in Julius Gesicht, als er diese Worte aussprach, und erinnerte sich an das Häufchen Elend, zu dem er zusammengesackt war, nachdem er sie niedergeschlagen hatte. „Ich helfe euch nur, wenn ihr Tom freilasst.“ Darüber hätte Tom sogar beinahe selbst gelacht. Wenn Julius pokerte, pokerte er offensichtlich hoch. Auch Pfahlhammer wirkte amüsiert. „Ich denke, uns allen ist klar, dass das keine Option ist.“ „Wieso?“, fragte Julius. „Was kann Tom schon tun? Zur Polizei gehen? Bisher haben die kein besonderes Interesse an dem Fall gezeigt und eine abenteuerliche Geschichte über Magie und Körpertausch wird daran kaum etwas ändern. Für den ausgesprochen unwahrscheinlichen Fall, dass doch mal jemand nachfragt, gebe ich einen ziemlich passablen Sündenbock ab. Lou wird sicher gerne bezeugen, dass ich sie kaltblütig niedergeschlagen habe und mehr als ein Polizist hatte mich ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, nachdem ich Emmas Leiche ohne wirkliche Hinweise im Wald aufgespürt habe. Selbst wenn Tom zur Polizei gehen sollte, schadet er damit also mehr mir als euch.“ Still musterte Pfahlhammer Julius. „Ich gebe zu, dass ich diese Argumentation schlüssiger finde als erwartet.“ „Dann lasst ihr ihn gehen?“ Lächelnd hob Pfahlhammer die Waffe. „Nein.“ Ein Knall zerriss die Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)