Wilder Mohn von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Kagome ----------------- Mit einem Seufzen hielt die junge Frau inne und ließ den Blick auf dem trostlosen, heruntergekommenen Gebäude ruhen. Sie war hier richtig, das stand außer Frage. Und eigentlich mochte sie Besuche wie diese nicht, aber sie waren notwendig. Kagome straffte die Gestalt und ging schließlich die restlichen Schritte zu dem mehrstöckigen Wohnhaus. Es knirschte unter einem ihrer flachen Pumps und als sie einen Schritt zur Seite hopste um nach unten sehen zu können, bemerkte sie leicht angeekelt eine zerbrochene Heroinspritze. Was leider typisch war für dieses Viertel. Es war ihr unbegreiflich, wie man hier Kinder aufwachsen lassen konnte. Als sie wenig später gegen den Hauseingang drückte, war dieser nicht verschlossen und ihr schlug, kaum hatte sie selbigen passiert, ein unangenehmes Geruchsbouquet aus gedünsteten Zwiebeln, Knoblauch, feuchten Wänden und Urin entgegen. Die Briefkästen, die hier alle in einer Reihe angebracht waren, waren nur teilweise beschriftet und manche der kleinen Türchen verbogen, sodass die Post seitlich und unten wieder herausfiel. Soweit Kagome wusste, wohnte die Familie Kimura, der sie heute ihren Besuch abstatten musste im elften Stock. Wie gut, dass sie sich heute für die flachen Pumps entschieden hatte – dem Aufzug hier war nämlich nicht zu trauen.   Während sie also schnaufend die Treppen erklomm stellte sie sich mental schon auf ein sehr unangenehmes Gespräch ein. Die ersten Monate als Sozialarbeiterin war es ihr sehr schwer gefallen, die richtigen Worte zu finden und da war sie froh gewesen, dass sie solche Besuche immer in Begleitung eines erfahreneren Kollegen hatte machen dürfen. Sie hatte sogar die erste Zeit immer mal wieder mit dem Gedanken gespielt, einfach alles hinzuschmeißen, weil sie sich ungeeignet fühlte - sie war einfach zu nett, doch nach drei Jahren in diesem Beruf hatte sie endlich ein recht gutes Gespür entwickelt für die Menschen und ihre Schicksale und wie sie mit denen umzugehen hatte. Als sie endlich im elften Stock angekommen war, stützte sie sich einen Moment schnaufend mit den Händen auf die Knie. Sie sollte wirklich dringend mehr für ihre Fitness tun. Als sie noch mit Inu Yasha und den anderen täglich Dämonen bekämpft hatte, war sie nicht so schnell aus der Puste gekommen. Man spürte zehn Jahre mehr eben doch.   Kagome ließ den Blick schweifen. Auf jedem Stockwerk waren sechs Wohnungen, teilweise vermietet, teilweise besetzt, weil sie zu heruntergekommen waren, um sie zu vermieten. „So, Kimura, wo versteckt ihr euch?“, murmelte sie zu sich selbst, während sie die Türen abschritt und darum betete, die Familie möge ein Namensschild haben, sonst würde sich das nur unnötig kompliziert gestalten. Tatsächlich hatte sie Glück. Bei der letzten Türe auf der rechten Seite war ein von Feuchtigkeit hochgewelltes Namensschild, auf dem man „i ura“ erkennen konnte. Sie lauschte einen Moment ehe sie die Klingel betätigte. Von drinnen drang ein sehr lauter Fernseher und das Keifen einer Frau heraus. Dass jemand zuhause war, daran bestand jedenfalls kein Zweifel. Kagome drückte auf die Klingel – von Innen ertönte ein schrilles Geräusch und ein Fluchen, dann öffnete sich die Tür schließlich und durch den Türspalt mit der Sicherheitskette davor wurde Kagome von einem kleinen schmutzigen Gesicht mit großen dunkelbraunen Augen neugierig gemustert. Sie lächelte warmherzig. „Bist du die kleine Kaori? Holst du deine Mama mal her?“ Die Kleine nickte und schlug dann die Türe wieder zu und kurz darauf wurde die so heftig aufgerissen, dass Kagome zurück zuckte. Eine junge Frau, nicht viel älter als sie selbst starrte sie feindselig an. „Sind Sie die Gerichtsvollzieherin? Ich hab denen doch schonmal gesagt, dass es hier nichts zu holen gibt, meine Fresse…“ „Nein, ich bin Higurashi Kagome vom Jugendamt. Darf ich bitte hereinkommen? Wir müssten uns einmal unterhalten.“ Die junge Frau schien mit sich zu ringen. Allerdings ging von Kagome absolut nichts Negatives aus – mehr im Gegenteil. „Na schön, mein Mann ist eh nicht da, kommen Sie rein.“ Kagome stieg umsichtig über ein paar einzelne Schuhe, die hier im Gang verstreut lagen und folgte der Frau ins Wohnzimmer. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und ihr Blick fiel auf zwei volle Aschenbecher, die auf dem Couchtisch standen. „Kann ich Ihnen nen Kaffee anbieten?“, wollte die junge Frau etwas versöhnlicher wissen. „Danke, nein“, lehnte Kagome höflich ab.   „Also was gibt’s?“, wollte Kimura wissen, als die beiden sich auf dem abgenutzten Sofa niedergelassen hatten, während sie sich eine Zigarette anzündete. „Rauchen Sie immer in der Wohnung?“ „Schon, aber ich mach die Fenster regelmäßig auf.“ Kagome sagte nichts dazu, sondern machte sich eine dementsprechende Notiz auf einem Klemmbrett, das sie soeben aus ihrer Tasche geholt hatte. „Es geht um die kleine Kaori“, begann sie dann, „ihre Klassenlehrerin sagte, sie sei schon länger nicht in der Schule gewesen – und wenn sie da ist, sei sie oft müde, unkonzentriert und habe nie fertige Hausaufgaben dabei. Ich wüsste gerne, was es damit auf sich hat.“ Kagomes Ton war nicht vorwurfsvoll, sie hatte schnell gelernt, dass man damit nicht weiterkam. Er symbolisierte eher ehrliches Interesse, die Bereitschaft zuzuhören und zu helfen, soweit es in ihrer Möglichkeit stand. Frau Kimura verdrehte die Augen. „Ich kann das Kind ja nich zwingen, in die Schule zu gehen, oder? Wenn sie nicht will, will sie nicht. Von Hausaufgaben weiß ich nichts.“ „Kimura-san, Sie wissen, dass in Japan eine Schulpflicht herrscht?“ „Nie davon gehört.“ „Das bedeutet, dass die Lehrerin der Kleinen das nächste Mal, wenn sie nicht zur Schule kommt, sie von der Polizei abholen lassen wird – die Kosten des Einsatzes werden Sie zu tragen haben.“ „Was? A-aber das kann ich mir unmöglich leisten!“ Es war traurig, aber spätestens sobald es um Geld ging, hörten die Leute uneingeschränkt zu, was sie zu sagen hatte. „Um das zu verhindern müssen Sie dafür sorgen, dass Ihre Tochter regelmäßig zur Schule geht“, sagte Kagome nachdrücklich. Während sie sich unterhielten fiel Kagomes Blick plötzlich auf etwas, das sie unangenehmerweise als Crackpfeife identifizierte. Auf diese Forderung hin wurde sie mit müden Augen und einem leicht gequälten Blick angesehen. „Wissen Sie eigentlich wie schwer das hier alles ist?“, das erste Mal bröckelte etwas von der harten Fassade der Frau. „Was ist mit Ihrem Mann?“, fragte Kagome einfühlsam, „Kann er Sie nicht ein wenig unterstützen?“ Kimura schnaubte trocken, „Der alte Säufer. Den hab ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Der kommt und geht wie es ihm passt, hat wahrscheinlich ne andere.“ Sie drückte die Zigarette aus und zündete die nächste an, während Kagome abermals Notizen auf ihrem Klemmbrett machte. „Bekommen Sie von Ihren Eltern Unterstützung?“ „Die Kleine ist ab und zu bei denen, wohnen ein bisschen außerhalb. Aber von mir wollen die nix wissen… kann man denen wohl nicht verübeln.“ „Sind Sie gerade berufstätig?“, wollte Kagome dann wissen, obwohl sie sich die Antwort eigentlich schon denken konnte. „Ich helf ab und zu in ner Bar als Kellnerin aus, aber das ist nix Festes.“ Durch die Blumen gesagt, sie arbeitete schwarz. „Verstehe. Kimura-san, ich würde mich gerne mit Ihrer Tochter unterhalten. Wo ist ihr Zimmer?“ „Warten Sie, ich zeigs Ihnen…“ Sie machte Anstalten aufzustehen, doch Kagome meinte schnell: „Sagen Sie mir einfach wo es ist, ich werde es schon finden.“ „Erste Tür rechts.“   Kagome klopfte sanft an die Türe und öffnete sie dann. Sie erblickte die Achtjährige beim Barbiespielen. „Hallo Kaori“, sagte sie warm, „ich bin Higurashi-san, darf ich mich ein bisschen zu dir setzen? Zeigst du mir deine Barbies?“ „Okay“, sagte die Kleine ohne in ihrem Spiel inne zu halten, während Kagome sich in ihrer unmittelbaren Nähe auf die Knie nieder ließ. Das Zimmer war nicht besonders groß, aber in Ordnung für ein Mädchen in Kaoris Alter. Allerdings fiel Kagome auf, wie abgenutzt die meisten Spielsachen und das Mobilar wirkte. „Wie heißt sie?“ „Carrie.“ „Carrie? Das ist aber ein ungewöhnlicher Name.“ „Wie das Mädchen aus dem Film.“ Film? Da klingelte irgendwas. „Das Mädchen, zu dem alle so gemein sind und die dann so magische Kräfte kriegt.“ Jetzt fiel der Groschen. Das Mädchen sprach von Carrie, der Stephen King Verfilmung. Nicht gerade ein kindgerechter Film. „Und warum heißt sie ausgerechnet wie das Mädchen aus dem Film?“ „Carrie wird immer geärgert von ihren Klassenkameradinnen. Sie haben ihre Jacke mal ins Klo gestopft und schubsen sie dauernd rum. Sie sagen, dass sie stinkt und lassen sie auch in der Pause nie mitspielen und so weiter…“ Kagomes Blick ruhte auf der abgenutzten Barbie, der schon einige Haarbüschel fehlten. „Ist das der Grund, warum Carrie nicht in die Schule gehen möchte?“, fragte sie dann leise. Kaori nickte und Kagome spürte die Einsamkeit und die Traurigkeit, die von diesem kleinen Mädchen ausging und in solchen Momenten fiel es ihr sehr schwer, das nicht all zu sehr an sich heran zu lassen. „Kaori“, sagte sie leise und nahm die Hand der Kleinen. Die sah zu ihr auf. „Es ist wichtig, dass Carrie zur Schule geht“, dabei ließ sie ein ganz klein wenig ihrer wärmenden Miko Kraft in das Mädchen fließen, „es ist wichtig, weil das der einzige Weg ist, dass Carrie hier irgendwann herauskommt, verstehst du das?“ Kaori nickte schüchtern. „Auch wenn die anderen Kinder fürchterlich gemein sind. Irgendwann wird Carrie eine Freundin finden, mit der sie ganz viel Spaß haben kann. Und weißt du was? Ich werde dafür sorgen, dass die anderen Kinder nicht mehr so gemein sind.“ „Aber, was, wenn sie merken, dass Carrie gepetzt hat“, wollte die Kleine angstvoll wissen. „Dann wird doch alles nur schlimmer!“ Kagome lächelte und löste ihre Hand langsam. „Das wird nicht passieren, keine Sorge.“ Plötzlich lächelte das Mädchen. Sie hatte die Wärme gespürt, die die seltsame Frau da auf sie übertragen hatte. Dann nickte sie und Kagome stand auf, um sich zu verabschieden.   Nachdem sie noch einige Worte mit der Mutter gewechselt hatte, verabschiedete sie sich schließlich. Immerhin hatte das Mädchen keinerlei Anzeichen von körperlicher Misshandlung oder sonstiger Vernachlässigung gezeigt. Sie musste trotzdem darüber nachdenken, ob es nicht besser war, das Mädchen hier herauszuholen. Die Mutter hatte zwar glaubhaft beteuert, ihren Drogenkonsum niemals so auszuüben, dass die Kleine es mitbekam, was immerhin bedeutete, dass sie noch einen Rest Pflichtbewusstsein übrig hatte, aber ein Zustand war das ja trotzdem nicht. Sie beschloss, dass ihr nächster Schritt sein würde, die Großeltern des Mädchens zu kontaktieren. Eventuell könnte man die Kleine dauerhaft bei diesen unterbringen und der Mutter ein Besuchsrecht einräumen.   Während Kagome die Treppen hinunterstieg, dachte sie an ihre eigene Mutter, diese Seele von Mensch, die sie immer mit ihrer Liebe, ihrem Vertrauen und ihrer Unterstützung überschüttet hatte. Sie hatte sie gedeckt, wenn sie im Mittelalter gewesen war und deshalb die Schule längerfristig geschwänzt hatte, sie hatte sie eigene Entscheidungen treffen und daraus lernen lassen, war für sie da gewesen, wenn sie Kummer gehabt hatte. Sie war immer an ihrer Seite. Auch jetzt, wo sie gerade im Begriff war, sich von ihrem Freund zu trennen. Mit etwas gemischten Gefühlen stieg die 26-jährige später ins Auto, das sie ein paar Straßen weiter geparkt hatte. Sie konnte dieses Gespräch nicht mehr aufschieben. Hojo und sie waren einfach zu unterschiedlich. Er hatte nie wirklich mit ihr mithalten können. Sicher, er war ein perfekter Mann. Einfühlsam, liebevoll, aufmerksam. Aber nicht der perfekte Mann für sie. Und er wollte Kinder. Sie nicht. Und das war eine Sache, bei der es keine Kompromisse gab. Man konnte immerhin kein halbes Kind bekommen. Keiner ihrer Freunde konnte nachvollziehen, warum gerade sie keine Kinder wollte. Kagome hatte irgendwann aufgehört, zu zählen, wie oft man ihr schon gesagt hatte, was für eine tolle Mutter sie doch wäre. Sie konnte nichtmal genau sagen, warum sie nicht wollte. Es fühlte sich einfach nicht richtig an.   Als sie an diesem Abend nachhause kam, stieg ihr der Duft von Essen in die Nase. Kuschelrock drang dezent aus der Musikanlage. Sie seufzte. Auch das noch. Musste er es ihr denn so schwer machen? Kagome wollte schon aus ihren Schuhen schlüpfen um sie gegen bequeme Hausschlappen tauschen zu können als ihr Blick auf ein paar Rosenblätter fiel. Sie ließ die Schuhe an und ging langsam in die Küche. Hojo wandte sich um als er sie bemerkte und lächelte. „Hallo Liebling, wie war dein Tag?“ So etwas unendlich Warmes und Liebevolles lag in seiner Mine, dass es Kagome die Kehle zuschnürte. Warum ich?, dachte sie. Warum muss ich so ein Monster sein? „Ganz okay“, presste sie hervor und plötzlich schwante ihr Übles. Es war nicht so als wäre Hojo nicht immer schon fürsorglich und aufmerksam gewesen, aber das hier … „Hojo…“, sagte sie langsam, „bitte … was wird das?“ Er sah sie so verständnislos an, dass es sie beinahe schon nervte. „Was wird was?“ „Na… na das hier…?“ „Ich dachte, du solltest dich mal wieder entspannen. Du wirkst so gestresst in der letzten Zeit, da dachte ich, ich koche dir dein Lieblingsessen – ich hab dir auch den Badezusatz gekauft, den du so gerne hast. Am besten du lässt dir ein Bad ein und ich mach in der Zwischenzeit das Essen fertig. Der Haushalt ist fertig, du musst dich heute um nichts mehr kümmern.“   Kagome stand immer noch da, wie bestellt und nicht abgeholt. Dann seufzte sie innerlich. In solchen Momenten zweifelte sie wieder, ob es die richtige Entscheidung war, einen Mann wie Hojo abzuservieren. Vielleicht musste sie einfach noch etwas länger darüber nachdenken… nur noch ein bisschen… zumindest bis nach dem Essen. Kagome seufzte und erwiderte sein Lächeln. „Das ist so lieb von dir… danke….“   Wenig später ließ sie sich mit einem entspannten Stöhnen in das heiße Wasser gleiten, nachdem sie sich Oropax in die Ohren gestopft hatte, um die Geräusche des einlaufenden Wassers auszublenden. Sie mochte diese schlagartige Stille, denn es war so als hätte man die Welt auf Pause gedrückt. Sie schloss die Augen. Sie und Hojo waren erst drei Jahre nach dem gemeinsamen Schulabschluss zusammen gekommen. Er war hartnäckig geblieben und Kagome war wohl irgendwann eingeknickt. Sie und Inu Yasha, das … sie liebte Inu Yasha, ja. Aber als Freund. Er und die anderen waren ihr unglaublich wichtig. Sie waren immer ein tolles Team gewesen, aber eine Beziehung? So gern sie auch bei ihren Freunden gewesen war… ein Leben im Mittelalter war eigentlich nie in Frage gekommen für sie. Sie wollte die Freiheiten, die sie als Mensch, vor allem aber als Frau in der Moderne hatte nicht aufgeben.   Aber jetzt, wo sie gefangen war in ihrem Alltag und in einer Beziehung, die sie eigentlich nicht glücklich machte, dachte sie hin- und wieder daran, was gewesen wäre, wenn sie geblieben wäre… sie hätte als Miko leben können… und dann? Frauen hatten keinen guten Stand im Mittelalter, das war nunmal Fakt. Sie wäre vielleicht eine respektierte, aber einsame Priesterin in einer Hütte am Rande des Dorfes geworden, zu der die Menschen zwar kamen, wenn sie ihre heilenden Kräfte benötigten, der man aber ansonsten mit Distanz begegnete, weil sie eine Frau war. Und der Übergang von dem was man als Miko und was als Hexe wahrnahm oft zu schwammig. Vielleicht sollte sie mal wieder durch den Brunnen reisen, ihre Freunde besuchen. Es funktionierte noch, obwohl es das Juwel nicht mehr gab.   Manchmal kam es ihr so vor, als hätte sie noch etwas zu erledigen in jener Zeit, aber da war nichts, das wusste sie. Mit den Dämonen, die hin- und wieder das Dorf Musashi angriffen, wurden Inu Yasha und die anderen auch alleine fertig. Und sie und Hojo… tja. Irgendwie hatten alle erwartet, dass sie mal ein Paar würden. Mit ihm hatte sie ihr erstes Mal gehabt. Aber der Sex, der am Anfang so schön und blumig gewesen war, befriedigte sie schon lange nicht mehr. Da war keine Leidenschaft, kein Feuer mehr. Da war nur noch etwas das sich nach Schuldbewusstsein und Pflicht anfühlte. Das heiße Wasser machte Kagome schläfrig und die Lider sanken ihr herab.   Die Luft war kalt und es roch nach Schnee. Der Himmel war grau, kein Sonnenlicht durchdrang die Wolkendecke. Beklemmung. Wo war sie hier? Instinktiv nahm sie wahr, dass das nicht das Japan sein konnte, in dem sie lebte. Sie war zurück im Mittelalter. Aber wo war sie? Und vor allem wann war sie? Sie ließ den Blick umher gleiten, drehte sich dabei einmal um die eigene Achse, doch nichts hier kam ihr bekannt vor. Sie bemerkte plötzlich, dass sie vollkommen nackt war, aber wie kam es dann, dass sie die Kälte nicht spürte? Es musste unendlich kalt sein. Sie spürte etwas. Wandte den Blick nach Norden gen Horizont, verengte die Augen. Regen? Schnee? Etwas kam vom Himmel herab. Es kam schnell und tödlich. Und dann schlugen die Pfeile um sie herum in den gefrorenen Boden ein und sie hörte eine Stimme. Lauft! Eine Männerstimme, bedeutungsschwanger. Der Tod nahte! Ein Hinterhalt. Plötzlicher Lärm wie während einer Schlacht, doch die Kämpfenden fehlten, aber es war so laut, dass Kagome stöhnend die Hände gegen die Ohren presste, weil sie das Gefühl hatte, ihr Trommelfell platzte und ein Schneesturm kam und verschluckte die unsichtbare Schlacht. Als sie ihre Augen öffnete und verwundert die Hände sinken ließ, bemerkte sie, dass der Schneesturm immer noch tobte, doch es war weiß, nicht grau und kein Geräusch zu vernehmen. Ihre Lippen öffneten sich in stummem Erstaunen, denn sie war nicht mehr alleine. Ein Mann stand vor ihr, vielleicht fünf Meter entfernt. Sein Brustharnisch war in Höhe des Sternums gesprungen, in seiner weißen Kleidung überall getrocknetes Blut. Pfeile steckten in seinem Körper, unzählige. Langes Haar, das im Begriff war sich aus einem geflochtenen Zopf zu lösen durch den Wind der es erbarmungslos peitschte. Ein Blick aus saphirblauen Augen, der irgendetwas tief in ihr traf.   Kagome schreckte hoch und verursachte durch die hastige Bewegung eine riesige Wasserlache auf dem Badvorleger und dem Boden. Mehr unbewusst riss sie sich die Ohrstöpsel heraus. Ihr Herz raste, sie musste die Luft angehalten haben, denn ihr Atem ging flach und abgehackt. Die junge Frau brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie in der Wanne eingeschlafen sein musste. Das Wasser war immer noch angenehm warm und ein Blick auf die Uhr im Zimmer bestätigte, dass sie höchstens eine halbe Stunde gedöst haben konnte. Kagome strich sich abwesend die durch die Feuchtigkeit geringelten Fransen ihres Ponys aus der Stirn. Versuchte sich das Bild aus ihrem Traum – oder war es eine Vision gewesen? – ins Gedächtnis zu rufen. Sie wusste, irgendwo her kannte sie den Mann, aber sie kam nicht sofort darauf. Einen Moment ließ sie sich erschöpft zurück ins Wasser sinken, um wieder zur Ruhe zu kommen. Schluckte schwer. Das Herzrasen ließ langsam nach. Sie musste langsam raus, sonst fragte Hojo sich sicher bald wieder, ob sie in der Badewanne ertrunken war.   Wenig später verließ sie das Badezimmer in ihrem Lieblingsbademantel und wusste immer noch nicht, wer der Mann aus ihrer Vision gewesen war. Beim gemeinsamen Essen war sie recht still, sodass es sogar Hojo auffiel. Er schien einen Moment mit dem Gedanken zu spielen, sie anzusprechen, aber dann zu dem Schluss zu kommen, dass sie offensichtlich müde war und so ließ er sie.   Sie gingen zu Bett und er streichelte ihren Körper, ihre empfindlichen Stellen und war unendlich zärtlich so wie immer. Aber Kagome empfand nicht das Geringste, als sie wenig später miteinander schliefen und so sehr er sich auch bemühte, fand sie keinen Höhepunkt. Er kam und schlief wenig später, ihr Haar streichelnd ein. Sie fand keinen Schlaf diese Nacht. Während Hojos Atemzüge gleichmäßiger und tiefer wurden, starrte sie in die Dunkelheit und lauschte auf die leisen Geräusche der nächtlichen Großstadt, die gedämpft ins Zimmer drangen. Auf das schwache Schattenspiel an den Wänden, wenn unten ein Auto vorbei fuhr. Und sie fühlte sich plötzlich einsam.   ~*~   Für Kagome eskalierte die Sache endgültig drei Tage später. Sie hatte ihren freien Tag genutzt, um zum Kickboxen zu gehen, was sie seit drei Jahren in ihrem Fitnessstudio betrieb. Auf diesen Tag freute sie sich immer ganz besonders, da sie sich während dieser eineinhalb Stunden richtig auspowern und die Sorgen des Alltags hinter sich lassen konnte. Sie hatte, seit sie aus dem Mittelalter zurückgekommen war, schon länger mit dem Gedanken gespielt, einen Kampfsport anzufangen, da es sie nachhaltig nervte, ständig beschützt werden zu müssen. Man konnte sich nicht nur auf Pfeil und Bogen verlassen, außerdem war es auf lange Sicht besser, eine gesunde Muskulatur aufzubauen.   Nach dem Training duschte sie und zog sich um und ging zu ihrem Auto. Sie war heute mit ihrer Mutter verabredet. Verträumt dachte sie an den Onsen, den ihre Mutter ihr versprochen hatte und bemerkte dabei nicht, dass sie eine Nachricht aufs Handy bekommen hatte. Erst als sie bereits auf die Klingel gedrückt hatte und wartete, dass man ihr öffnete, holte sie es gewohnheitsgemäß aus der Jackentasche. Schaute darauf. Eine Nachricht von ihrer Mutter. Sie öffnete sie und erstarrte. /Schätzchen! Wolltest du nicht mit Hojo Schluss machen? Er ist spontan hergekommen und ich habe den Verdacht, dass er dir einen Heiratsantrag machen will!!/ Kagome begann zu schwitzen als sie Schritte aus dem Inneren des Hauses hörte – die Tür wurde aufgeschoben und sie sah direkt in das Gesicht ihres Freundes, der sie anstrahlte, wie um die Worte ihrer Mutter zu untermauern.   Kagome starrte ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht, dann drehte sie sich wortlos um und rannte – ja, sie rannte, es war kein schnelles Gehen mehr – fort. In ihrem Kopf war Leere und in ihr drin nur Panik und Fluchtbedürfnis. Hojo rief überrascht nach ihr, doch sie nahm ihn gar nicht mehr wirklich wahr. Beinahe wie von selbst lenkten ihre Schritte sie zum Schrein, den ihr Großvater sorgsam pflegte. Die Tür gab nach, obwohl ihr Großvater doch eigentlich immer abschloss, und sie spürte schon den altvertrauten Sog des Brunnens, der an ihr zerrte und mit grenzenloser Erleichterung ließ sie sich von den Wirbeln der Zeit umfangen und in die alte Welt tragen. 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