Sternenmeer von vallendrael (Weihnachten woanders) ================================================================================ Kapitel 1: Sternenflut ---------------------- Wenn man zu den Fenstern des Hauses am Dorfrand hinein sah, konnte man glauben, dass es darinnen geschneit habe. Der ganze Boden war bedeckt mit weiß und silbern schillernden Papiersternen. Ihre Zacken verhakten sich untereinander, umschlangen bald hier bald dort den einen oder anderen Stern und ergaben ein dichtes Meer, das keinen einzelnen papiernen Himmelsbewohner isoliert ließ. In allen Größen wogten sie gegen die Tischbeine, gegen Stuhllehnen und um die Beine des darin stehenden Mädchens herum. Es schaute sich die Unordnung mit für ihr Alter untypisch skeptischem Blick an, als wolle es überlegen, was hier vorgefallen sei. "Das geht so nicht", entschied es schließlich. Mit einem Einsatz, der eines Wattwanderers würdig gewesen wäre, watete es durch die Papiermasse zur Tür. Diese aufzustemmen gestaltete sich ob des Andrangs der Horden an winterlich schimmernder Sterne schwierig. Das Mädchen setze zunächst all ihre Anstrengungen dazu ein, das Holz an der Klinke dazu zu bewegen, sich durch die Massen an Sternen zu pflügen. Es hatte zwar den Anschein als würde sich ein Spalt öffnen, doch groß genug, damit das Kind sich hindurch zwängen konnte, würde er auf diese Weise nicht werden. "Das geht so nicht", wiederholte das Mädchen gereizt, stemmte die Arme in die Hüften und starrte die Sternwelle vor der Tür böse an. Alle Kraft der Welt, so schien es, konnte die Tür nicht dazu bringen, sich darüber hinweg zu heben. Da das nicht half, ließ sich das Kind auf die Knie nieder, die sofort zwischen den harmlosen Zacken verschwanden. Mit beiden Händen, und nicht ohne Spaß, schob es beinahe schwimmend die Sterne beiseite. Es war erstaunlich leicht, was hatte die Tür also? Doch musste das Kind schnell feststellen, dass die Sterne sich zwar den Armen bereitwillig anschlossen, doch an ihre Stelle bald neue traten. Und sie schaffte ohnehin nur einen kleinen Anteil dessen, was sich vor der Tür versammelt hatte. Das Mädchen schüttelte den Kopf und musterte die Sternenverwehung vor sich. Kraft nicht, Arbeit nicht, wenn es das Zimmer verlassen wollte, musste es wohl auf ein anderes Hilfsmittel zurück greifen. Also watete es zum Tisch zurück und vergrub den Kopf unter der Sternschicht, die sich auf ihm gebildet hatte. "Aha!", entfuhr es ihm, als es einen armlangen, in sich verschlungenen Zauberstab hervor zog. Dabei rieselten einige der Papiersterne auf den Boden, schwebten sachte herab und ließen die Erinnerung an Schnee einmal mehr aufkommen. Das Mädchen folgte einem der Sterne mit dem Blick, bevor es in ein weites Grinsen ausbrach. "Gute Idee!", rief es dem Stern erleuchtet zu und schwenkte den Stab. Die Magie, die das Haus, die Luft und das Kind umgab, wurde geweckt. Sie sammelte sich um das Mädchen, suchte neugierig eine Verbindung zu seiner Vorstellung und nach anderen Stellen, durch die sie die imaginäre Welt verlassen konnte. Von dem Gesicht des Mädchens verblasste das Lächeln nach und nach zu einem konzentrierten Ausdruck. Die unruhige Wärme, die es durchströmte und in ihm ein Gefühl der Leichtigkeit auslöste, war für es ein Zeichen dafür, dass die Kräfte, die es hatte rufen wollen, hörten. Nun musste es ihnen nur noch mitteilen, was es von ihnen wollte. Es ließ die Spitze des Stabs über einige der Papiersterne auf dem Boden und dem Tisch hüpfen. Von der erhöhten Position des Tischs aus vollführte es mit dem Stab eine schwebende Bewegung rund um sich herum. Den ganzen Raum wollte es damit einschließen, bevor es den Stab hoch riss. Das Funkeln der Sterne intensivierte sich, als die Magie danach griff. Sie hatte einen Willen gefunden, einen Weg in die Welt und wollte diesen bereitwillig gehen. Wie Daunenfedern, wie Schnee, der umgekehrt aus einer Wolke fiel, stoben die Sterne nach oben, drehten sich in einem unbemerkten Windhauch und tanzten durch das Zimmer. Ihr Silber und Weiß strahlte das Licht der Reflektionen an Wände, Möbel und Decke, sodass es schien, als würden auch echte Sterne von überall her dem Kind zublinzeln. Das erfreute Lachen des Mädchens über dieses Schauspiel bildete eine passende Musik zum Reigen der großen und kleinen Sterne. Es tanzte einen Moment mit und wedelte mit dem Zauberstab zum Takt der ungehörten Musik. Nach dem Moment hielt es inne, umgriff den Stab mit beiden Armen und nickte sich und dem Sternenschnee zufrieden zu. "So sollte es gehen", befand es und trabte zielstrebig auf die Tür zu. Federleicht ließ sich diese nun, da der Ansturm der Papiersterne sie nicht mehr behinderte, aufziehen und das Mädchen auf den Flur hinaus. Kapitel 2: Einladungen sind schwer - außer man lädt sich selbst ein ------------------------------------------------------------------- Zur gleichen Zeit, im gleichen Haus, nur eine Etage weiter oben, grübelte ein Mann über einem Stück Papier. Das Zimmer hinter ihm war ebenfalls voll, allerdings weniger mit glitzernden Papiersternen und mehr mit allerlei möglichem Tand. Eine Vase aus einem fernen Land stand auf einer Truhe aus der nächst größeren Stadt, beide zusammen teilten sich den Platz an der Wand mit einem geschnitzten Regal aus Mahagoni - vollgestellt mit Büchern über die unterschiedlichsten Themen. Wo manches sicherlich einen Staubwedel das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen hatte, erstrahlte die Oberfläche von anderem im saubersten, neu gewachsten Glanz. Der Mann hob den Stift, senkte ihn auf das Blatt und schrieb doch kein Wort. Oder wollte er zeichnen? Mit dem leeren Papier vor ihm war das schwer zu erkennen. Schließlich gab er ein Seufzen von sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der an die Einrichtung in einem verwunschenen Schloss erinnerte. Eindringlich starrte er zur Decke, von wo aus ihm das Modell einer Eisenbahn in seinen Nylonfäden entgegen fuhr. "Nein, ich denke diesmal nicht", schüttelte er den Kopf, als hätte die Eisenbahn ihm einen Vorschlag gemacht. Er drehte den Stift in der Hand und dachte offensichtlich angestrengt über etwas nach. Plötzlich fiel ihm eine Schneeflocke auf die Nase und er schielte, um sie anzusehen. "Kennen wir uns?", fragte er, bevor er mit dem Finger der freien Hand das Schmelzwasser abnahm. Schnee - dabei war es noch gar nicht so weit, oder hatte er die Jahreszeiten mal wieder durcheinander gebracht? Er schüttelte einmal mehr den Kopf. Vielleicht auch nur der Effekt der Magie um ihn herum, wer wusste schon, was sie wieder anstellen wollte. Immerhin, eine Ablenkung, um ihn von dem Papier und dem Stift los zu eisen. Er legte das Schreibwerkzeug quer übers Blatt und schob den Stuhl so weit zurück, wie es die Replika eines Rosenstrauchs hinter ihm erlaubte. Genug Platz, um aufzustehen und sich den Weg über den Hindernisparkours zum Fenster zu bahnen. Er zog zuerst die schweren Vorhänge aus khakifarbenem Samt beiseite, dann die geklöppelte Spitze von Seidenfäden. Draußen war es grau, die Bäume hatten die Blätter verloren, aber auf dem Boden hatte sie jemand zusammen gerecht. Es zeigte sich die karge Erde, das Gras war mittlerweile eingegangen. Der Mann steckte einen Finger in den Mund, bevor er sich daran erinnerte, das Fenster auch zu öffnen. Stur weiter den Finger im Mund behaltend, versuchte er, diese Aufgabe einhändig zu bewerkstelligen. Das stellte sich als schwieriger als gedacht heraus, doch irgendwie wollte es ihm schließlich gelingen. Erst da zog er den Finger empor und hielt ihn mitsamt des gesamten Arms in die Luft außerhalb seines Domizils. Ja, doch, kalt war es wohl schon. Aber der Wind fühlte sich noch nicht nach Schnee an, hatte er es sich doch gedacht! Triumphierend drehte er sich zu dem Haufen alter Spiele um, der sich unscheinbar hinter ihm türmte. "Siehst du, hab ich dir doch gesagt", nickte er ihm zu. Da keine Antwort kam, nahm er das als seinen endgültigen Sieg hin und suchte einen Weg zur Tür des Zimmers. "Vielleicht sollte ich aufräumen", überlegte er müßig, als er über die lebensechte Nachbildung eines Raptors stieg, der allerdings eine Lesebrille und einen Gelehrtenhut aufhatte und scheinbar über seiner Steuerabrechnung brütete. "Ach, Quatsch", verwarf er den Gedanken dann gleich wieder gut gelaunt, entzog einer Harfe einen Mantel und warf ihn sich über. Die Tür hatte bisher tapfer den Viertelkreis vor sich verteidigen können, lediglich ein handgewebter Teppich streckte seine Fühler vor sie aus. "Ein herrlicher Tag zum Nichtstun!", rief der Mann den Flur vor dem Zimmer entlang. "Aber wir haben doch gesagt, heute bereiten wir Weihnachten vor!", kam unerwartet die Antwort von der Treppe hinter ihm. Der Mann drehte sich um und hob abwehrend die Hände, das Gesicht zu einem gerissenen Grinsen gestreckt. Das Mädchen hatte noch immer einen Stern im Haar, der sich sicherlich nur dorthin verirrt hatte. Sein untypisch kritischer Blick wanderte vom Grinsen über die Handhaltung hin zum Mantel. "Du mogelst wieder", warf sie ihm vor. "Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute", tadelte der Mann das Kind und erhob seinerseits den Finger. "Ich zeige gar nicht auf dich", warf das Mädchen ein und verließ die Treppe, um die Tür eines anderen Zimmers anzustreben. "Aber hast du denn schon Weihnachten vorbereitet?" "Sicher doch", nickte der Mann und zog unauffällig die Tür hinter sich zu - oder hoffte es zumindest. Er konnte den anklagenden Blick des Papiers und des Stifts immer noch in seinem Rücken spüren. "Weißt du, immer zu Hause Weihnachten zu feiern, ist doch langweilig. Deshalb habe ich vorbereitet, dass wir woanders feiern, genau!" Er grinste, diesen Vorschlag konnte das Kind doch sicher nicht abschlagen. Tatsächlich hielt das Mädchen nachdenklich inne. Weihnachten woanders klang wirklich mal nach Abwechslung, und sie hatten schon viele Jahre zu Hause gefeiert. Aber Skepsis mischte sich auch in ihre Augen, schließlich drückte er sich nicht das erste Mal vor Arbeit. "Und wo?", wollte es deshalb wissen. "Äh", erstarrte der Mann kurz in seiner Position. "Bei deiner Oma! Sie kocht doch so gut und du hast bestimmt Hunger, hm? Ich meine, wenn wir schon woanders hin gehen, dann soll es doch auch gutes Essen geben. Tja, und wer wäre besser geeignet als sie?" Zufrieden beobachtete er, wie die Hand des Kindes von der Türklinke glitt. Da hatte er also die richtige Idee gehabt, und die ganze Vorbereitung konnten sie auch gleich streichen. Wer brauchte das schließlich schon, wenn sie raus gingen, die Oma der Kleinen besuchten und ihr dadurch auch noch eine Freude bereiteten? "Bei Oma ist immer was Besonderes", überlegte das Kind und versuchte, sich an die Erzählungen dazu zu erinnern. "Oma hat einen riesigen Garten und ganz viele Tiere und sie hat immer tolle Lichter überall." Die Idee gefiel dem Mädchen immer mehr, sodass sich auch sein Gesichtchen aufhellte. "Ja, warum nicht? Wenn du sie schon gefragt hast und sie zugestimmt hat! Ich sags gleich Papa!" Damit war die Türklinke zu ihrem Zimmer endgültig vergessen und sie machte einmal mehr auf dem Absatz kehrt. "Äh, klar hab ich schon gefragt", nickte der Mann. Auf jeden Fall hatte er das! Gerade erst, eben. Pff, als ob er sagen würde, dass sie bei der Oma feiern würden und dann stimmte es gar nicht! Er stürmte in sein Zimmer zurück, stieß auf dem Weg zum Schreibtisch den Raptor um und nahm den Stift in die Hand. Jetzt wusste er, was und vor allem wem er schreiben musste. Kapitel 3: Feierabend --------------------- In einem anderen Zimmer huschte der Stift eines anderen Mannes über ein anderes Blatt Papier. Die Zeilen waren ordentlich, alle in demselben Abstand, alle beinahe wie gedruckt. Durch ein Fenster strahlten die letzten niedrigen Strahlen der Sonne und erleuchteten das Weiß des Schriftstücks. Nur die Hand des Schreibenden warf einen Schatten über die Zeilen, der sich immer weiter vom Blatt verzog, bevor er die neue Zeile beendet hatte und zur nächsten ansetzte. Die Stille hatte beinahe ein eigenes Leben, sie lag ruhig und wartend im Raum, ein Hund, der darauf vertraute, dass alles in bester Ordnung war, solange sein Herrchen ruhig schrieb. Der untere Rand der Seite war erreicht und der Mann setzte den letzten Punkt unter sein Fazit. Er nahm das Papier in beide Hände und las sich noch einmal durch, was er geschrieben hatte. Der Adressat des Schreibens konnte mit den Ausführungen hoffentlich sein Werk weiter fortsetzen, neue Ideen bekommen und auf eigenen Wegen weiter gehen. Der Mann lächelte und legte seine Überlegungen an ein Ende des Schreibtischs, um sie beim Hinausgehen nicht zu vergessen. Anschließend stand er auf und nahm den mannshohen blauen Stab von der Wand, wo er gelehnt hatte. Die Stille schien den Kopf zu heben, als erwarte sie, dass gleich etwas geschehen würde. Als hätte er die Veränderung im Raum gespürt, hob der Mann sanft die Hand und bedeutete, dass alles gut sei. Danach trat er zum Fenster, um der Sonne beim Verschwinden hinter den Kronen der Bäume zuzusehen. Von hier aus war das Haus am Dorfrand durch den Wald vor Blicken verborgen. Trotzdem konnte er sich vorstellen, was dort vor sich ging, wie verschiedene Dekoration gebastelt wurde, vielleicht schon aufgehängt. Wie sich jemand ganz Gewisses vor der Arbeit drücken wollte, wahrscheinlich, weil ihm einfach nicht einfiel, was er tun könnte, um alles noch schöner zu gestalten. Die eigenen Aufgaben des Mannes am Fenster ließen ihm wenig Zeit, selbst etwas vorzubereiten, trotzdem wollte er sein Bestes geben. Er hielt dem letzten Sonnenstrahl die Hand auf und schenkte ihm ein neues Zuhause. Mit Einzug der Nacht wandte er sich vom Fenster ab und ging über den schlichten Teppich zur Tür. Am Schreibtisch nahm er das Schreiben auf, faltete es in der Hälfte und behielt es in der Hand. Die Tür seines Arbeitszimmers öffnete sich, ohne dass er Stab oder Schriftstück aus der Hand legen musste. Die Magie erkannte, was er brauchte und war nur zu begierig darauf, ihm zu helfen. Sie war an diesem Ort viel stärker als anderswo. Die Gänge, durch die er ging, waren alle schon leer. An den Wänden hingen mal schlecht, mal recht gebastelte Schneeflocken, Weihnachtsmänner und Tannenbäume. Der eine oder andere schwebte über seinem Kopf, doch war der Mann klein genug, um sich darüber keine Gedanken machen zu müssen. Ohne Sonne war es etwas dunkel in den langen Fluren, doch fand er sich zurecht und stand bald vor der Tür eines anderen Zimmers. Er klopfte, erwartete aber keine Antwort. Nach zwei Minuten hatte noch immer niemand eine Einladung heraus gerufen, also beugte er sich herunter und schob das Papier unter dem Spalt durch. Bevor es ganz seinem Zugriff entglitt, legte er zwei Finger darauf und schloss die Augen. Für ihn gestaltete sich die Wahrnehmung der Magie anders, sie war ein kühler See, der ihn umgab, der an dem blauen Stab entsprang und sich überall um ihn ausbreitete. Als er die Augen wieder öffnete und sich von der Tür abwandte, wusste er, dass die Magie das Schriftstück auf den Schreibtisch dahinter tragen würde. In dem Ankunftszimmer neben dem riesigen Eingangsportal hing abgesehen von seinem eigenen nur noch ein Mantel. Der Mann betrachtete ihn nachdenklich, eine weitere Seele hielt sich anscheinend noch auf dem Gelände auf und verrichtete ihre Aufgaben. Er ging hinüber und strich einmal über den fremden Mantel. Ganz eindeutig, er war nicht vergessen worden, ganz leise verband ein Magieband die Kleidung mit jemandem. Der Mann zog seine Hand zurück und schaute in seinen Taschen nach, ob er etwas Passendes fand. Schließlich kam er zu einem Beutelchen Nüsse und Schokolade, zumindest ein kleiner Gruß. Gut sichtbar, schließlich sollte die Person wissen, was auf sie zukam, steckte er das Beutelchen in die Manteltasche. Hoffentlich freute sich diejenige oder derjenige über ein vorweihnachtliches Geschenk. Mit seinem eigenen Mantel über den Schultern verließ er das riesige Tor. Es schloss sich langsam hinter ihm und schien sich schlafen zu legen. Mit einem amüsierten Lächeln lehnte der Mann den Stab an den Rahmen und richtete den Mantel. Kalt war es schon geworden, er meinte die ersten Anzeichen von Schnee in den kaum sichtbaren Wolken am Himmel erkennen zu können. Noch nicht heute, wahrscheinlich auch nicht morgen würde es schneien, aber lange würde das Weiß nicht mehr auf sich warten lassen. Als er den Blick wieder senkte, breitete er die Arme aus und fing das Mädchen in einer Umarmung, bevor es ihn wirklich umrennen konnte. "Bringst du den Sturm, Lys?", fragte er lachend. Den Kuss, den er ihr auf die Haare setzen wollte, ersetzte er durch das Pflücken des Papiersterns. "Oder Sterne vom Himmel, wie mir scheint." Er ließ das Kind los, zum Hochheben war es mittlerweile schon zu schwer. Stattdessen reichte er ihm den schimmernden Stern. "Oh, der hat sich raus geschlichen", mischte sich Tadel mit Entschuldigung in die Stimme der Kleinen. Sie griff nach dem Stern und schüttelte ihn kurz, bevor sie ihn weg steckte. "Nein, Papa, eigentlich komme ich, weil ich dir sagen will, dass wir dieses Jahr Weihnachten woanders feiern!" Sie hüpfte, griff nach seiner Hand und wollte ihn einmal um die eigene Achse drehen. Lachend ging er eine Drehung mit, bevor er mit der anderen Hand nach seinem Hut griff und dem Spiel Einhalt gebot. "Ach, tun wir das?", fragte er verschmitzt. "Und wo feiern wir denn dieses Jahr, kleiner Sternensturm?" Lys hielt weiterhin seine Hand, während sie ihn zurück zum blauen Stab begleitete. Er nahm ihn in die anderen Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Haus am Dorfrand. "Bei Oma!", berichtete die Kleine stolz. Das sanfte Licht, das der Stab ihres Papas aussandte, stellte sie sich als gute Vorbereitung auf die Lichter bei der Frau vor. "Mama hat gesagt, er hat sie schon gefragt. Und dass es da leckeres Essen gibt. Und hast du nicht erzählt, dass sie, ähm, einen ganz großen Garten hat? Und dann kann ich ihre Tiere auch mal sehen!" Sie zählte begeistert auf, was sie noch alles behalten hatte, das es bei ihrer Oma gab. Der Blick des Mannes ruhte beinahe melancholisch auf dem kleinen Mädchen. "Ja, ihr Garten ist wirklich groß. Viel größer als unserer", stimmte er ihr schließlich zu. "Da wirst du viel zu entdecken haben. Wahrscheinlich so viel, dass du dir das gar nicht alles merken können wirst." Er hob Lys' Hand mit seiner und suchte die Kühle des Teichs. Über ihren Fingern tanzte der letzte Sonnenstrahl, den er eigentlich hatte bitten wollen, Teil der Dekoration zu werden. Der Tanz des Sonnenstrahls bildete einen Stern. "Hast du noch mehr von den Papiersternen? Dann kannst du auf jedem etwas festhalten, was du dort finden wirst." Das Mädchen verfolgte vergüngt den Bewegungen des Lichts. Als sein Papa den Vorschlag beendet hatte, nickte es glücklich. "Hah, ja, habe ich", antwortete es ein bisschen schuldbewusst, aber auch verwegen. "Viiiiiiel mehr Sterne. Bestimmt viel mehr als es zu entdecken gibt. Auch, wenn ihr Garten so groß ist wie die ganze Welt!" Das Kind breitete die Arme aus, ohne die Hand los zu lassen. "So viele Sterne?", fragte ihr Papa belustigt nach. "Du weißt schon, dass die Welt sehr groß ist und es sehr viel zu entdecken gibt, ja?" Er breitete ebenfalls die Arme aus und durch den mannslangen Stab schien es einen Augenblick, als könnten sie den ganzen Wald umarmen. "Ja, weiß ich", lachte Lys. "Es gibt Meere und Strände und Berge und Flüsse und Städte und Wälder und Wiesen und Täler und Schlösser und noch viel mehr. Und Oma hat ja nur einen Garten." Sie kicherte, als sie versuchte, sich das alles in einem einzigen Garten vorzustellen. Vergnügt und in der Hoffnung, dass ihr Papa nicht böse werden würde, wenn er mitkriegte, wie viele Sterne sie wirklich hatte, schwenkte Lys auf dem restlichen Weg nach Hause seine Hand hin und her. Kapitel 4: Erinnerungen der Sterne ---------------------------------- Die Oma hatte wirklich nichts dagegen, dass die ganze Familie zu Weihnachten vorbei kam. Von der Idee, die Erinnerungen und was Lys in ihrem Garten entdecken würde, auf den Sternen festzuhalten, war sie ebenfalls angetan und half mit wo sie konnte. Auch, wenn das Mädchen es nicht für möglich gehalten hatte, erhielt jeder Stern eine Erinnerung, ein Bild, einen Gedanken, einen Geruch oder einen Geschmack. Die Ankunft an Omas Haus, das so ganz anders aussah als das Zuhause der Familie, blieb in einem Stern. Wie es halb in einem Hügel saß, wie das Dach unter einer Decke Moos hervor lugte. Dass es nicht ganz klar war, wo die Wände anfingen und wo der Hügel aufhörte. Ganz besonders aber behielt der Stern die Weihnachtsdekoration in Erinnerung, die das Haus zierte. Auf dem weichen Schnee rollten Christbaumkugeln herum, die sich anscheinend mächtig damit amüsierten, winzige Schneekugeln nacheinander zu werfen. Die Eiszapfen, die von verschiedenen Vorsprüngen am Hügel oder dem Dach glitzerten, mündeten in kleinen Sternchen, die ihr Licht sanft über alles in ihrer unmittelbaren Umgebung verteilten. Es sah beinahe so aus, als würden diese Lichtlein sich auch in dem Eis spiegeln, in ihm wohnen oder dort eine kleine Familie sitzen haben. Die Bäume um das Haus waren durch einen eigenen Stern repräsentiert. Sie hatten nicht nur wunderschöne Lichterketten, die sich zwischen den Ästen versteckten, sondern auch eine ganz eigene magische Besonderheit: Wenn man sich zu ihnen wandte, und niemand in der Nähe war, beugten sie sich vor, um zu lauschen. Dann konnte man ihnen ein Geheimnis oder einen Wunsch anvertrauen und sie nickten ernst. Am nächsten Morgen konnte man wieder kommen und der Wunsch war im Schnee versteckt. Leider hielt er jedoch nur für den einen Tag, doch für manche reichte das bereits aus. Besonders Lys und ihre Mama hatten Spaß daran, sich immer neue Sachen auszudenken, während sie bei der Oma waren, und zu sehen, wie die Bäume ihre Worte interpretierten. Die Wiesen, vollkommen von feinem, glitzerndem Schnee überzogen, boten einem weiteren Stern ein Andenken. Auf ihnen konnte man wunderbar Schlitten fahren. Sobald Lys einmal mit ihrer großen Schwester auf dem Schlitten saß, brauchten sie nur noch zu lenken. Die Fahrt selber um das Haus und den Hügel, manchmal scheinbar sogar auf diesen hinauf, verlief anschließend wie von alleine. Keines der beiden Mädchen musste jemals absteigen, um den Schlitten wieder an einen Abhang zu ziehen. Am Ende des Tages waren beide mit roten Wangen und Ohren durchkühlt, außer Atem aber glücklich. Sie erzählte begeistert, was sie bei der Fahrt alles entdeckt hatten. Und zu entdecken gab es viel. Die Tiere, die die Oma besaß, waren zwar den ersten Tag scheu und ließen sich kaum blicken. Dann allerdings kamen sie nach und nach zum Vorschein und liebten es genauso wie die Kinder, sich das Fell kraulen zu lassen. Einige davon hatten Farben, die Lys so noch nie an einem lebenden Wesen gesehen hatte. Andere hatten sehr lustige Hörner, die sie auch dazu nutzen konnten, gewaltige Schneeberge in einer Schneeballschlacht zu katapultieren. Weitere konnten gleiten und jedes Kind, das wollte, über die Landschaft tragen. Jedes der Tiere bekam einen eigenen Stern zugedacht, auch wenn manche aus Versehen auf den eines anderen dazu sprangen. In manchen von Büschen oder hinter Schneewehen verborgenen Geheimverstecken hatte der Weihnachtsmann oder eine andere Geschenke bringende Gestalt offensichtlich kleine Lager angelegt. Niemals ließ sich zwar etwas Großes, ein ganzes Geschenk finden, doch was die Kinder entdecken konnten, waren kleinere Dinge. Süßigkeiten zum Beispiel, getrocknete Früchte überzogen mit Zucker oder auch einfach eine leckere Brause. Manchmal eine hübsche Schleife oder ein Geschenkpapier, das sich wunderbar dazu eignete, das eigene Geschenk, was man noch nicht verpackt hatte, zu umwickeln. Hin und wieder fanden sich auch einfache Spielzeuge, die sich einen Tag hielten und danach wer wusste wohin verschwanden. Ein fantastisches Buch, das Abbildungen voll mit bunten Farben, goldenem Glitzer und silbernen Edelsteinen hatte. Auch schien dieses ganz von alleine seine Geschichten zu erzählen, man musste keinen Erwachsenen darum bitten. Doch wohin es nach dem ersten Tag gegangen war, wusste niemand. Neben den ganzen eigenständigen Dingen waren auch die Orte faszinierend. In einem Tal mit Hügel konnte man wunderbar Piratenschiff spielen, der eine Stein sah wirklich wie ein Bug aus und der Baum, der dahinter saß, wie der Hauptmast mit Segel. An einer anderen Stelle war ein perfekter Kreis geformt, den die Kinder immer wieder umrundeten, als wären sie kleine Kreisel. Kletterbäume fanden sich zuhauf, sodass sich die Kleinen einen Spaß daraus machten, zu sehen, wie weit sie kamen, ohne den Boden zu berühren. Einmal fanden sie Spuren, die wie die von Schlitten aussahen und dazwischen Hufabdrücke. Keins von den Kindern behauptete, dass es noch an den Weihnachtsmann glaubte, doch nachdem sie den Spuren durch ein Waldstück und einen Hügel hinauf gefolgt waren, waren sie überglücklich, dass sie plötzlich einfach verschwanden. Noch mehr begeisterte sie, dass nichtmal die Erwachsenen, die sonst alles irgendwie grau werden lassen konnten, daran etwas Schlechtes fanden. Es war, als wäre der Ort verzaubert und nachdem sie eine Weile auf dem Hang herum geklettert waren, stellten sie fest, dass sie wunderbar weit davon hüpfen konnten. Viele Sterne ließen sich also allein mit dem, was Lys draußen entdeckte, füllen. Nach und nach sammelten sich die Erinnerungen in den Papiergestirnen und diejenigen, die nichts beinhalteten, wurden immer weniger. Und das schon allein mit den wunderbaren Sachen, die sich draußen erleben ließen! Zugegeben, von außen sah das Haus der Oma schon faszinierend aus, doch so warm und einladend, wie es von innen wirkte, wollte Lys beinahe gar nicht mehr hinaus. Die Eingangshalle war mit Holz getäfelt, welches das weiche Licht, dessen Quelle Lys beim besten Willen nicht finden konnte, einfing und spielerisch umher warf. Die Mäntel und Schuhe, die dort abgestellt waren, schienen fast von selbst umher zu gehen und immer, wenn jemand das Haus verlassen wollte, bereit zu stehen. Zum Versteckspiel eignete sich das ganze Haus mit seinen vielen Winkeln und Ecken wunderbar. Man fand jedes Mal, wenn man glaubte, gleich gefunden zu werden, doch noch eine unverhoffte Nische, die einen mit offenen Armen vor gefährlichen Blicken verbarg. Oder man konnte im Zickzack hinter Wänden oder Bildern verborgen dem Verfolger entgehen, wenn man einen Nervenkitzel brauchte. Trotzdem, wenn man mal ins Bad musste oder schnell zum Essen rennen wollte, verlief man sich aus irgendeinem Grund nie. Und zum Essen zu rennen lohnte sich jedes Mal. Ihre Mama hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass es ein Grund war, die Oma zu besuchen. Die Braten, die sie auftischte, die Soßen, Klöße, selbst der Kohl schmeckten alle fantastisch. Dass immer genug da war, verstand sich natürlich beinahe von alleine. Mit dem, was es an, wie die Erwachsenen es so nannten, 'richtigem Essen' gab, konnte Lys endlich verstehen, warum es nicht immer notwendig war, Süßes zu wollen. Wenn man die Treppe, die in den ersten Stock führte, verließ, befand man sich schon fast im eigenen Gästezimmer. Selbst, dass Lys sich mit ihrer Schwester eins teilen musste, gab dem ganzen keinen Abklang, denn sie fanden viele Möglichkeiten, in ihrem Zimmer Höhlen zu bauen, Kissenschlachten auszutragen oder an den Wänden hinauf in die Decke zu klettern. Abends, wenn die beiden Mädchen müde in ihren Betten lagen, konnten sie Lys' Sternen beim Glimmen zusehen. Ein Zauber hielt sie über ihnen in der Luft und sie erlebten noch einmal die Ereignisse, die sie am Tag in Atem gehalten hatten. Am heiligen Abend, Weihnachten oder der Yulnacht saß die ganze Familie zusammen. Die Kinder warteten gespannt und neugierig auf ihre Geschenke, manche unruhig, manche vor lauter Aufregung keinen Mucks hinaus bekommend. Selbst die Streiche, die einige spielten, schienen an diesem Abend nicht ganz so viel Biss zu haben wie an anderen Tagen. Als es dann endlich soweit war, flog überall Geschenkpapier umher, es wurden stolz Errungenschaften präsentiert und ausgetauscht, was man wem warum geschenkt hatte. Lys' Papa beobachtete das ganze still lächelnd, bis ihm jemand eins seiner Geschenke in die Hand drückte. Ihre Mama musste hingegen zurück gehalten werden, vor lauter Übermut nicht auch die Pakete, die für jemand ganz anderen bestimmt waren, zu öffnen. So wurde nach und nach jedem Stern eine Erinnerung angehängt, sie bekamen eine Bedeutung, die großen wie die kleinen. Zusammen bildeten sie den Sternenhimmel über einer wunderbaren Zeit, konnten natürlich wie ihre fernen Verwandten nur einen Teil dessen einfangen, was alles wirklich geschehen war. Doch an heißen Sommertagen oder auch im Herbst, wenn die Tage länger wurden, hatte Lys ein Memorium, konnte in ihre Sternenkiste greifen und einen besonderen Moment hervor ziehen. Diese heiterten sie auf, wenn sie traurig war, machten einen schönen Tag noch schöner und gaben faszinierende Annekdoten ab, wenn sie mal eine Geschichte brauchte. Insgesamt waren die Sterne, die ihr erst die Tür versperrt hatten, am Ende eines der schönsten Geschenke, die sie aus der Zeit mitnahm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)