Blue Wolve von RaoulVegas ================================================================================ Butterflies and Childs ---------------------- 1 Die schrecklichen Ereignisse, die Kurts Leben so nachhaltig gezeichnet haben und schließlich damit endeten, dass Logan ihm endlich seine Gefühle offenbaren konnte, liegen nun schon sechs Monate zurück. In der Zwischenzeit konnte der Teleporter nicht nur seinen 21. Geburtstag und sein neues Leben feiern, sondern auch sein erstes Jahr bei den X-Men vollenden, von dem er vor so kurzer Zeit nicht einmal geträumt hatte, nachdem seine Klinge so widerwillig Blut leckte. Die Gedanken daran verfolgen ihn manchmal noch immer in seinen Träumen, doch das Ganze belastet ihn nicht mehr so sehr, hat Gott ihm doch eine zweite Chance gegeben, seinen ungewollten Fehler wiedergutzumachen. Nightcrawler ist sehr willens, dieser himmlischen Forderung in jeglicher Form nachzukommen, geht aufmerksam durch die Welt und sucht nicht selten unermüdlich nach dem Grund. Der allmächtige Herr teilte ihm immerhin mit, dass er noch mindestens eine sehr wichtige Aufgabe auf Erden zu erfüllen habe, um Buße für seine Taten zu tun, und ihm bis dahin der Weg ins Paradies verwehrt bleibt. Daher öffnet er sein Herz und seine Seele für die zarten Stimmen, die ihn führen mögen, um so den Willen seines Herrn zu erfüllen, sich von seinen Fehltritten reinzuwaschen und eines Tages an Seiner Seite Platz nehmen zu dürfen. 2 Der Gedanke, an die vor ihm liegende Aufgabe, wird in den letzten Tagen dieses bitterkalten Novembers immer nachdrücklicher. Massen am Schnee haben New York fest im Griff, dennoch beginnt Kurt Dinge zu sehen, die es jetzt einfach nicht geben dürfte: Schmetterlinge. Zuerst hielt der Elf das Ganze nur für Zufall, ist es doch kaum eine Woche her, dass die Temperaturen noch im zarten, zweistelligen Plusbereich lagen und die Sonne fröhlich wie im Frühling vom Himmel schien, sodass Vögel und zahlreiche Insekten schon ganz durcheinander kamen, und sogar eine waghalsige Bäume zu knospen begannen. Das ist nun alles futsch, in grausamer Kälte qualvoll vergangen, dennoch sind dort diese Schmetterlinge. Somit vermutet Nightcrawler die letzten Überlebenden dieser fragilen Sommergäste zu sehen, die bald ebenfalls das Zeitliche segnen werden oder endlich ihren Aufbruch ins Winterquartier starten. Das Komische an der ganzen Sache ist allerdings, dass Kurt der Einzige zu sein scheint, der die Schmetterlinge sieht. Mehrmals berichtete er den anderen X-Men von seinen Sichtungen und erntete jedes Mal nur unverständliche Blicke. Einmal flog einer der Falter sogar direkt an Scotts Nase vorbei, doch dieser hat ihn gar nicht wahrgenommen. Nightcrawler versuchte sich einzureden, dass das vielleicht an der roten Quarzbrille liegen könnte, die Cyclops ja den ganzen Tag tragen muss, um seinen Laserblick unter Kontrolle zu halten. Dass dem Leader daher solche Feinheiten womöglich entgehen könnten, doch irgendwie glaubt er nicht daran, da Scott eigentlich immer überaus aufmerksam ist. Was also, wenn der blaue Mutant tatsächlich der Einzige ist, der diese Schmetterlinge sehen kann? Was, wenn das die Aufgabe ist, von der Gott ihm berichtet hat? Was kann das alles bedeuten und wie findet er dafür eine sinnvolle Lösung, bevor die anderen ihn noch für völlig verrückt halten? Der Teleporter ist angesichts dieses Problems hin- und hergerissen und weiß nicht recht, wie er damit umgehen soll. Der Allmächtige wird es ihm mit Sicherheit nicht verraten, nur darauf warten, dass Kurt möglichst bald eine Lösung dafür findet. Nachdem er die Schmetterlinge also mehrere Tage hintereinander immer wieder gesehen hat, fällt ihm auf, dass es sich dabei immer um dieselbe Art handelt. Zuvor hat er so einen Falter noch nie gesehen. Das Insekt wirkt mit seiner überwiegend dunklen, fast schwarzen Farbe ziemlich unscheinbar, besonders im Vergleich mit den schillernd bunten Exemplaren, die man sonst auf üppigen Blumenwiesen zu sehen bekommt. Ist diese Art hier also vielleicht gar nicht heimisch oder stellt ihr Aussehen womöglich einen Hinweis dar? Ziemlich verloren grübelt der Fellträger darüber nach. Hilfe von den anderen kann er wohl nicht wirklich erwarten, halten sie ihn doch schon für ziemlich durch den Wind, was vielleicht auf irgendwelche Spätfolgen seines zwischenzeitlichen Verlassens der Welt der Sterblichen zurückzuführen sein könnte. Als letzte Hoffnung betritt er schließlich Xaviers Büro und berichtet ihm von alledem. Auch der Mann im Rollstuhl wirkt ziemlich skeptisch bei dem, was er da zu hören bekommt. Selbstredend beginnt er aber auch sofort sich Sorgen um Kurts geistigen Zustand zu machen, da Hank kein körperliches Problem für diese seltsamen Sichtungen finden konnte. Allerdings weiß der Professor natürlich von dem, was Gott seinem Schützling gesagt hat und wie stark Kurts unerschütterlicher Glaube damit bestätigt wurde. Von daher erhofft er sich ebenfalls, dass diese Schmetterlinge etwas mit dem Willen Gottes zu tun haben und den Elfen somit auf irgendeine Weise leiten sollen. Daher schlägt er Nightcrawler kurzerhand vor, doch einmal in der hauseigenen Bibliothek nachzusehen, ob er nicht herausfinden kann, um was für einen Falter es sich handelt, wenn es doch immer die gleiche Art zu sein scheint, die ihm begegnet. 3 Diesen Vorschlag will der junge Mutant nun in die Tat umsetzen. Mit einem Anflug von Hoffnung öffnet er also die großen Flügeltüren, um den ausladenden Raum mit den tausenden Büchern zu betreten. Soweit, einen Fuß hineinzusetzen, kommt er allerdings gar nicht erst. Mit offenem Mund steht Kurt wie erstarrt da und blickt in diese Halle des Wissens hinein, als hätte er einen Geist gesehen. Was er dort allerdings sieht, ist damit vermutlich tatsächlich zu vergleichen, denn es sind gefühlt hunderte dieser dunkel gefärbten Schmetterlinge, die gemächlich wie kleine Schatten durch den Raum gleiten. „Gott der Allmächtige...“, gibt er stockend von sich. Als die Falter seine fast schon flüsternde Stimme vernehmen, beginnen sie plötzlich eine Art Formation zu bilden und wie ein Kamikazeflieger auf ihn zuzuhalten. Erschrocken versucht Nightcrawler auszuweichen, doch er kann sich kaum bewegen, geschweige denn sich wegteleportieren – es ist, als würde ihn eine unsichtbare Hand daran hindern. Schützend hebt er also die Arme vors Gesicht, als die Schmetterlinge wie unzählige Geschosse an ihm vorbei rasen. Ihr gewaltiger, gemeinsamer Flügelschlag reißt den Elfen schlichtweg von den Füßen, sodass er unsanft auf seinen vier Buchstaben landet. Der Strom scheint gar kein Ende zu nehmen und dennoch ist kein einziger Falter mehr zu sehen, als er sich nach ihnen umsieht. Es ist, als hätten sie sich alle gemeinsam in Luft aufgelöst. Unsicher kommt er wieder auf die Füße und betritt dann ganz vorsichtig, geduckt auf allen Vieren, die Bibliothek. Seine leeren, gelben Augen huschen von einer Seite zur anderen. Seine spitzen Ohren lauschen nach jedem noch so leisen Geräusch. Doch nach dieser unerwarteten Attacke scheint es nun erst einmal wieder vorbei zu sein. Nightcrawler ist sich jedoch sicher, dass er auf dem richtigen Weg ist und der Ratschlag des Professors ihn somit einen Schritt näher an die Lösung herangeführt hat. Als Kurt das erste der schier unzähligen Regale erreicht, richtet er sich ganz langsam wieder auf, drückt sich mit dem Rücken gegen die Bücher und lässt den Blick lange durch den nun völlig leeren und stillen Raum gleiten. Er ist allein, wie es augenscheinlich wirkt, doch stimmt das wirklich? Ihn beschleicht das leise Gefühl, dass dem nicht vollkommen so ist, doch er kann im Moment nichts ausmachen. Tief atmet er mehrmals durch und wendet sich dann den Regalen zu. Die vielen Reihen sind wie in einer richtigen Bibliothek in bestimmte Kategorien unterteilt, die er nun langsam abgeht und nach der vielversprechendsten sucht. Der naturwissenschaftliche Bereich erscheint ihm am Sinnvollsten. Das Ganze scheint sich auch sogleich zu bestätigen, da einer der Schmetterlinge genau vor dieser Regalreihe herumschwirrt. Instinktiv verharrt der junge Mutant und macht sich schon für einen erneuten Überfall der Falter bereit. Dieser bleibt aber glücklicherweise aus, nur dieser eine Vertreter bleibt vorhanden, als wolle er ihm ein bisschen unter die Arme greifen. Langsam nähert sich Kurt dem Regal des Falters, wobei der Schmetterling immer denselben Abstand zu ihm wahrt, als fürchte er fast, nun derjenige zu sein, der von dem Teleporter angegriffen werden könnte. Dessen leere, gelbe Augen richten sich stattdessen auf die unzähligen, bunten Buchrücken und versuchen anhand der Titel herauszufinden, wie vielversprechend sie zu sein scheinen. Es dauert nicht lange, dann entdeckt er einen Bildband über Insekten. Als er danach greifen will, saust der einsame Falter auf einmal so dicht an seiner Nase vorbei, dass sich Nightcrawler vor Schreck wegteleportiert. Mit jagendem Herzen blickt er kurz darauf vom Regal gegenüber herunter und versucht diesen linkischen Schmetterling auszumachen. Zuerst scheint ihm, als wäre nun auch er verschwunden, doch dann findet er ihn auf der oberen Kante eines dicken Buches hockend wieder. Das Werk wirkt unscheinbar, lässt keine sichtbare Beschriftung erkennen, der Einband in rotbraunem Leder gehalten, sodass der dunkle Falter darauf kaum zu erkennen ist. Kurt gibt ein leichtes Seufzen von sich und klettert dann elegant kopfüber wieder von dem Regal herunter. Das kleine Insekt verharrt auch weiterhin auf dem Buchrücken, obwohl Nightcrawler ihm inzwischen so nah wie nie gekommen ist. Mit erhobener Augenbraue kratzt er sich am Hinterkopf und bläst sich dann eine verirrte Strähne aus der Stirn. „Weiß du was, mein Freund? Ich bin ziemlich schreckhaft, also überlegst du dir beim nächsten Mal vielleicht etwas Anderes, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen, findest du nicht?“, fragt er den Falter nachsichtig und kommt sich im selben Moment schon ein bisschen verrückt vor, mit einem Insekt zu sprechen, als wäre es ein Hund oder dergleichen. Selbstredend erwidert der Schmetterling auch nichts dazu, rührt sich noch nicht einmal von seinem Platz. Erneut gibt der Elf ein Seufzen von sich und legt die Stirn in Falten. Vorsichtig streckt Nightcrawler die Hand nach dem Buch aus, doch selbst als er es bemüht langsam aus dem Regal zieht, rührt sich das geflügelte Insekt nicht von der Stelle. Erst als sich der blaue Mutant den Buchdeckel betrachten will, fliegt der Schmetterling auf und wirrt träge um seinen Kopf herum. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Werk um eine Enzyklopädie der Schmetterlinge, was wohl kaum passender sein könnte. Einerseits erstaunt es den Teleporter, hier so ein Buch zu finden – zudem so alt und wertvoll aussehend –, andererseits auch wieder nicht, da Charles stets bemüht ist, jedes nur erdenkliche – insbesondere wissenschaftliche – Buch in seiner Sammlung zu haben. Sucht man hingegen nach Romanen oder auch nur simplen Märchen, wird man jedoch ziemlich enttäuscht, finden sich hier doch nur einige wenige ausgewählte Werke großer Künstler wie Shakespeare. 4 Ein paar Minuten später sitzt der Fellträger auf einem Stuhl an der Reihe aus Tischen, die sich in der Mitte der Bibliothek befindet. Konzentriert blättert er die einzelnen Seiten des dicken Buches durch, während der Schmetterling wie ein kleiner Soldat immer wieder vor ihm auf der Tischplatte entlang patrouilliert und mit seinem langen Rüssel das Holz anzutasten scheint, als würde er nach einer verlorenen Kontaktlinse oder dergleichen suchen. Fast schon belustigt beobachtet der junge Mutant das Schauspiel, bei dem der kleine Falter erst nach links marschiert, kurz verharrt, sich mit einer ruckartigen Bewegung umdreht und dann nach rechts zurückwandert, während sein Rüssel wie der Stock eines Blinden von einer Seite zur anderen schwenkt. Er wirkt wie der kleinste Lehrer der Welt, der geduldig darauf wartet, dass sein riesenhafter Schüler die Lösung findet. Kurt kann sich ein müdes Schmunzeln gar nicht verkneifen, dann blickt er wieder in das Buch und blättert weiter. Fasziniert betrachtet er die endlosen Bilder der größtenteils überaus farbenfrohen Schmetterlinge. Das Exemplar auf dem Tisch ist hingegen eher unscheinbar, wenn auch nicht weniger hübsch anzusehen. Zu jeder Falterart gibt es in dem Buch einen ausführlichen Text, der seine Lebensweise, Nahrung, Fortpflanzung, Herkunft und vieles mehr beschreibt. So befindet sich immer nur ein Schmetterling auf einer Seite, weshalb Kurt ziemlich weit blättern muss, ehe er etwas Passendes findet. Als er schließlich die richtige Abbildung entdeckt, schwirrt der kleine Falter gezielt auf das Buch, rollt seinen langen Rüssel heraus und scheint damit neugierig oder auch wehmütig sein fotografiertes Ebenbild abzutasten, als wäre es jemand, den er kennt. Beim Namen des Schmetterlings zuckt Nightcrawler allerdings augenblicklich zusammen und ahnt nichts Gutes für seine bevorstehende Aufgabe. Trauermantel: Der Trauermantel (Nymphalis antiopa) ist ein Schmetterling (Tagfalter) aus der Familie der Edelfalter (Nymphalidae). Die Falter erreichen eine Flügelspannweite von 55 bis 75 Millimetern. Die Oberseite ihrer Flügel ist überwiegend dunkelbraunviolett gefärbt. Der Rand ist cremefarbig bis hellgelb und leicht gezackt. Hinter dem gelben Rand schließt ein schwarzer Rand, der zahlreiche aneinandergereihte, blaue Flecken einschließt, an. Am Flügelvorderrand kann man an diesem dunklen Rand einen hellen Fleck und einen weiteren etwas weiter innen erkennen. Die Unterseite der Flügel ist überwiegend schwarz gefärbt, darüber hinaus findet sich nur der gelbe Rand, dessen Farbe deutlich blasser als auf der Oberseite ist. Die Flügelunterseiten sind ähnlich wie die Oberseiten, jedoch unregelmäßig schmutzig gefärbt. Der dunkle Bereich weist helle Flecken auf, der helle Rand dunkle. Die Falter kommen in ganz Europa und in Asien vor. Auch in weiten Teilen Nordamerikas sind sie heimisch, kommen aber nur in Bereichen mit Kontinentalklima vor. Sie leben vor allem in lichten, offenen und feuchten Laubwäldern. Sie fliegen dabei bis in Höhen von ca. 2000 Meter. Der Name „Trauermantel“ spiegelt sein Aussehen wider. Im 17. und 18. Jahrhundert waren an der männlichen, schwarzen Trauertracht helle Stoffbinden, sogenannte Pleureusen, an den Ärmeln befestigt. Der Trauermantel erinnerte die Menschen an ebendiese Kleidung durch seine hellen Ränder der ansonsten dunklen Flügel. Der wissenschaftliche Name erinnert an Antiope, die in der griechischen Mythologie zwei Söhne mit Zeus zeugte. Da Antiopie wegen trauriger Begebenheiten bekannt wurde, ist der Trauermantel nach ihr benannt. In einigen alten Überlieferungen gelten diese Falter auch als Sinnbild eines Psychopompos. Mit sichtlich traurigem Blick betrachtet Kurt den kleinen Falter, der noch immer sein Ebenbild betastet, als wäre es jemand, den er sehnlichst vermissen würde. Seufzend stößt der X-Man die Luft aus, streckt dem Schmetterling dann vorsichtig den Finger hin, den dieser ohne jede Furcht leichtfüßig erklimmt, und betrachtet ihn dann eingehender. „Okay, jetzt weiß ich, was du für ein Tierchen bist, und dass mich wahrscheinlich keine sonderlich schöne Aufgabe erwarten wird. Doch was ist es? Was soll ich tun?“, fragt der Teleporter leicht verzweifelt. Der Trauermantel dreht sich allerdings nur einmal um sich selbst und löst sich dann ganz plötzlich in Luft auf, als würde auch er das Teleportieren beherrschen. Der Elf bleibt allein und ratlos zurück. Davon will er sich aber nicht so schnell beirren lassen. Vielleicht hat er ja nur etwas übersehen? Der Schmetterling hat ihm zwar ein bisschen dabei geholfen das richtige Buch zu finden, doch dachte er wirklich, dass das nun so weiter gehen würde, bis er seine göttliche Aufgabe erfüllt hat? Nun wirklich nicht. Also muss ihm selbst etwas einfallen. Daher besieht er sich den Text über den Trauermantel noch einmal etwas genauer. Womöglich hat er etwas Entscheidendes nicht ganz im Blick gehabt. Nightcrawler liest jeden Satz gründlich durch und verinnerlicht dessen Bedeutung. Das Meiste handelt aber schlichtweg nur vom Aussehen und der Lebensweise des kleinen Insekts. Der Name der griechischen Dame sagt ihm nichts. Zeus ist hingegen allgemein bekannt und Kurt kommt es so vor, als wäre er auch nicht gerade eine sonderlich treue Seele oder ließe sich nur zu leicht von der holden Weiblichkeit verführen. Wenn er nachschlagen würde, könnte er vermutlich feststellen, dass Zeus mehr Geliebte – und außereheliche Kinder – hatte, als er an seinen ohnehin schon wenigen Fingern abzählen kann. Dann jedoch springt ihm der letzte Satz der Aufzeichnungen in die Augen. Psychopompos lautet das Wort ganz am Ende vom Text. Irgendwo hat der Elf diesen Ausdruck schon einmal gehört, er kommt nur nicht drauf. Er glaubt allerdings, dass er auch aus dem Griechischen stammt. Langsam erhebt er sich wieder und wendet sich erneut den endlosen Regalreihen aus Büchern zu. Nach einigem Suchen findet er ein mehrbändiges Lexikon. Jeder Buchstabe des Alphabets nimmt hierbei mindestens drei armdicke Bücher ein. Beim Q ist es jedoch nur eines, X und Y teilen sich sogar einen Band. Dafür erhält das S gleich sieben für sich allein – eines dicker als das andere. Alle Bücher zusammen füllen gut die Hälfte des vier Meter hohen und zwei Meter breiten Regals aus. Für das P stehen immerhin auch vier Bände zur Verfügung, wobei sich das gesuchte Wort lauf Angabe auf dem Buchrücken im letzten davon befinden müsste. Geschickt windet er das ledergebundene Buch zwischen den anderen hervor und nimmt es mit zum Tisch. Suchend gleitet er mit dem Finger die einzelnen, teils sehr kryptischen und kaum noch zu verstehenden, geschweige denn zu lesenden Worte entlang, und hält nach dem von ihm gewünschten Ausschau. In der Abteilung Psycho reihen sich dann gefühlte hundert Worte untereinander auf, sodass er schon glaubt, es nicht mehr finden zu werden. Tatsächlich wechselt die Abteilung dann auch zu Pt, ohne dass er fündig wird. Verwundert legt Kurt die Stirn in Falten und überlegt schon, ob er nun doch ein griechisches Wörterbuch zu Rate ziehen muss, um zumindest eine Übersetzung dafür zu finden. Dann allerdings entdeckt er das Wort doch noch. Es befindet sich ganz unten auf einer der Seiten, sodass nicht einmal mehr eine vollständige Zeile der Erläuterung vorhanden ist, bevor es auf der nächsten Seite weitergeht. Somit hat er es schlichtweg überlesen und beim nächsten Wort weitergemacht. Mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und nervöser Aufregung beginnt er dann zu lesen, wobei seine Stimmung immer weiter ins Negative abgleitet, besteht doch nun wirklich kein Zweifel mehr dafür, dass ihn eine schwierige und womöglich lebensgefährliche Aufgabe bevorsteht. Psychopompos: Das Wort Psychopompos (Plural Psychopompoi) kommt vom griechischen ψυχοπομπὀς und bedeutet wörtlich übersetzt „Seelengeleiter“: Er geleitet die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits. Der Namensteil „pompos“ stammt vom Verbum „pempo“ ab, was führen und geleiten bedeutet. Das Wort „Pomp“ verweist auf einen großen, festlichen Geleitzug. Psychopompos ist der Titel des griechischen Botengottes Hermes, der dieses Amt von Apollon übernommen hatte. Die Vorstellung von Psychopompoi war aber allgemein verbreitet. So kannten etwa die alten Ägypter Anubis, in der germanischen Mythologie holen Walküren die gefallenen Krieger vom Schlachtfeld nach Walhalla, und bei den Kelten war Ogma Seelenführer. Im Christentum sind es der Erzengel Michael, der Schutzengel oder der Riese Christophorus; an der Pforte zum Himmel erwartet Petrus die Seele, die Einlass begehrt. Im Islam ist es der Engel Azrael, der von Allah eine Liste mit den zum Tode bestimmten Menschen erhält und in den darauffolgenden 40 Tagen ihre Seelen vom Körper trennt. Allgemein ist der Psychopomp eine mögliche Form der Personifikation des Todes. Generell können Geister, Gottheiten, Dämonen oder Engel die Aufgabe eines Psychopompos übernehmen. Seine Bedeutung ist neben dem Transport der Seele vor allem der Prozess der Akzeptanz der Sterblichkeit. Er ist vor allem ein Führer und Begleiter. Helfer des Psychopompos sind die Schutztiere, die zumeist als Erste auftauchen. Während Nightcrawler diesen Text liest und zu verinnerlichen versucht, läuft ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Wenn er das alles richtig versteht, wird bald jemand sterben müssen, dessen Zeit womöglich noch nicht gekommen ist, und Kurt soll das im Namen des Herrn verhindern. Doch wer wird es sein? Kennt er diese Person? Wann wird es passieren und wie? Wo? Fragen über Fragen, bei denen ihm niemand helfen kann und deren Antworten dennoch über Leben und Tod entscheiden werden. Was also soll er jetzt nur tun, um das zu verhindern? 5 Tage vergehen, in denen Nightcrawler keine Antworten findet und auch keinem der Schmetterling mehr über den Weg läuft. Das Ganze beschäftigt ihn aber verständlicherweise dennoch sehr. So sehr, dass die übrigen X-Men schon in Sorge sind, ob das alles womöglich in einer Art Fanatismus ausartet, der Kurts zartbesaitetes Seelenheil völlig zerstören könnte. Er redet praktisch von nichts anderem mehr. Wird nur immer panischer, weil er keine Lösung findet und die Schmetterlinge auch nicht wieder auftauchen. Ziellos läuft er gefühlte Stunden in dem großen Haus auf und ab, ohne irgendwie weiter zu kommen. Schließlich reicht es Logan und er schickt den Elfen nachdrücklich in sein Zimmer, um sich endlich einmal richtig auszuschlafen, damit er mal wieder auf einen klaren Gedanken kommt. Nur widerwillig gibt der junge Mutant dem Ganzen nach und verzieht sich in sein Bett, wo er augenblicklich einschläft, noch bevor er sich ganz hingelegt hat. Als Nightcrawler irgendwann dann wieder die Augen aufschlägt, ist es bereits dunkel draußen. Ein Blick auf seinen Wecker sagt ihm aber, dass es erst halb fünf Uhr nachmittags ist. Da es allerdings tiefster Winter ist, ist es nicht verwunderlich, dass es jetzt schon stockfinster ist. Der Schnee, der in den letzten Tagen gefallen ist, türmt sich in der ganzen Stadt zu kleinen Bergen auf, und auf Feldern und Wiesen versinkt man schnell bis über die Knöchel in dem kalten Weiß. Im Moment kümmert das Kurt allerdings nicht so sonderlich viel – auch wenn er sonst hell auf begeistert von der weißen Pracht ist –, immerhin ist es in seinem Zimmer herrlich warm, erst recht im Bett, das er auch noch nicht so schnell verlassen will, obwohl ihn immer noch die Gedanken an seine göttliche Aufgabe quälen. Verschlafen fallen ihm wieder die Augen zu, doch nur für ein paar Sekunden. Dann kitzelt ihn etwas an der Nase und erlangt daher schwerfällig seine Aufmerksamkeit. Er hat noch gar kein völlig klares Bild von dem Störenfried, da schreckt er auch schon heftig zusammen und kann gerade noch verhindern, sich weg zu teleportieren. Den Trauermantel stört das allerdings kein bisschen und er bleibt ungetrübt auf der pelzigen Nasenspitze des Elfen hocken. „Hatte ich nicht erwähnt, dass ich sehr schreckhaft bin?“, rügt er den Schmetterling ein bisschen. Dieser zuckt nur nichtssagend mit den Fühlern herum und starrt Kurt mit seinen dunklen Facettenaugen an. Seufzend stößt Nightcrawler die Luft aus und pustet sie dabei absichtlich gegen die zarten Flügel des Falters. Auch das beeindruckt das Insekt nicht im Geringsten. Stattdessen entrollt es seinen langen Rüssel, als würde es sich strecken und lässt ihn dann wieder verschwinden. „Warum hat das eigentlich so lange gedauert, bis du wiedergekommen bist? Die anderen X-Men halten mich schon für vollkommen durchgeknallt, weil sie keine Schmetterlinge sehen können.“ Der Trauermantel antwortet ihm selbstverständlich nicht, ist sich aber scheinbar auch keiner Schuld bewusst. Erneut seufzt der Elf, diesmal aber ohne das Insekt anzupusten. „Habe ich irgendetwas übersehen? Ich meine, war deswegen die Pause, oder habt ihr noch etwas anderes zu tun und konntet deswegen nicht zu mir kommen?“ Der Falter äußert sich auch weiterhin nicht, hockt nur stumm auf Kurts Nase. Als der Teleporter kurz darauf jedoch niesen muss, schwirrt der Schmetterling etwas überrascht im Zimmer herum und stößt dann immer wieder ungeschickt gegen das Fenster, als wolle er versuchen zu entkommen. „Warte, ich lasse dich raus.“, gibt der junge Mutant von sich, woraufhin der Falter gehorsam am Glas verweilt. Innerlich fragt sich der X-Man, warum er sich eigentlich die Mühe macht, immerhin ist der Schmetterling ja auch vorher immer wie aus dem Nichts aufgetaucht und genauso magisch wieder verschwunden, da dürfte doch eine Glasscheibe kein Hindernis für ihn sein. Als er jedoch das Fenster hochschieben will, erstarrt Kurt in jeder Bewegung und blickt mit tellergroßen Augen in die verschneite Nacht hinaus. Was er dort zu sehen bekommt, will so gar nicht in seinen Kopf hinein, und dennoch scheint es da zu sein: Tausende Schmetterlinge tummeln sich dort auf der dicken Schneedecke, als wäre es eine saftige Blumenwiese im Sommer! „Heiliger Vater im Himmel...!“, entkommt es ihm stockend. Wie ferngesteuert richtet Kurt den Blick wieder auf seinen kleinen Zimmergenossen, der noch immer an der Fensterscheibe hockt, nun aber wieder den Rüssel entrollt hat und damit über das kalte Glas zu tasten scheint. „Du hast diesmal also deine Freunde mitgebracht, was? Heißt das, dass es jetzt soweit ist? Das ich jetzt meine Aufgabe zu erfüllen habe?“ Der Trauermantel rollt seinen Rüssel wieder zusammen und wirrt dann aufgebracht um Nightcrawlers Kopf herum, als wolle er ihn zu Eile drängen. Auch seine Artgenossen wirken hektisch, wie sie dort so über die dicke Schneedecke tanzen. Der Elf atmet tief durch und streift sich dann schnell seinen Trainingsanzug über. Als das erledigt ist, schiebt er endlich das Fenster hoch und entlässt seinen Gast in die langersehnte Freiheit. Der Schmetterling fliegt auch sogleich zu seinen Kollegen hinab und scheint sich aufgebracht mit ihnen auszutauschen. Völlig fasziniert betrachtet der blaue Fellball das Ganze. Inzwischen hat ein heftiger Wind eingesetzt, der die gefühlte Temperatur weit unter Null sinken lässt. Neuer Schnee peitscht dabei durch die klirrend kalte Luft, wie winzige Geschosse treffen sie die pelzigen Wangen des Mutanten. Augenblicklich lässt ein Schauer ihn erzittern und unweigerlich stellt sich sein kurzes Fell auf, um ihm Wärme zu spenden. Das alles bekommt Kurt jedoch nur am Rande mit, seine Augen kleben stattdessen regelrecht an all den Insekten, die in dieser weißen Einöde so fehl am Platz wirken. „Oh Herr, steh mir bei, damit ich dieser Aufgabe gewachsen bin...“, schickt er ein kleines Gebet hinauf in den düsteren Himmel und krabbelt dann aufs Fensterbrett. Geschickt klettert er kopfüber die Hauswand hinab und lässt sich dann in den dicken Schnee gleiten. Wie eine übergroße Katze hockt er dann dort auf allen Vieren, den langen Schweif um seinen zierlichen Leib gewickelt, als könnte er ihn irgendwie wärmen. Aufmerksam betrachtet er die endlos vielen Falter, die sich nun wieder in Bewegung setzen. Es dauert nicht lange, da bilden sie eine Perlenkette, die über das ganze Grundstück und in den angrenzenden Wald hineinzuführen scheint. Sie hocken immer als kleines Paar nebeneinander und blicken sich dabei wie Tanzpartner in einem großen Saal an. Die Schmetterlinge – jedenfalls diejenigen von ihnen, die Kurt am nächsten sind – machen nun einen schmalen Weg zwischen sich frei, gerade so breit, dass Nightcrawler hindurch laufen kann, ohne einen von ihnen zu berühren. Nun wirken die Insekten wie die kleinste Startbahn der Welt, sie scheinen sogar von innen heraus ganz sanft zu glühen. Sie kommen dem Elfen damit fast wie Irrlichter in einem dunklen Wald vor, obwohl Kurt ihren Weg in der Finsternis auch so erkennen könnte, immerhin bilden sie deutliche, dunkle Tupfen auf dem sonst völlig ungerührten, blütenweißen Schnee, und sind so trotz des heftigen Windes erkennbar. Der Sturm scheint die kleinen Insekten gar nicht zu kümmern, falls sie ihn überhaupt spüren. „Großer Gott!“, flüstert er und erhebt sich dann ganz langsam wieder auf alle Viere. Dann ist er zwischen ihnen. Plötzlich gleitet er aus der Welt, die er seit jeher gekannt hat, in eine fremde, in der es nichts zu geben scheint als diese winzigen Wachposten an der Grenze zwischen dem Land der Lebenden und der Toten. Nichts scheint mehr zu existieren, außer dem Weg vor ihm, und der unbändige Drang sich beeilen zu müssen. Mit gesenktem Kopf rennt Kurt mit dem Tempo und der geballten, sprungbereiten Eleganz einer Wildkatze über die halbgefrorene Schneedecke zwischen den wartenden Schmetterlingen hindurch. Tief sinkt er dabei in der weißen Pracht ein, doch es kümmert ihn nicht. Seine langen Gliedmaßen sind wie geschaffen dafür, sich ihren Weg durch dieses kalte Hindernis zu bahnen. Bei seiner Windhund gleichen Geschwindigkeit ist es ein Wunder, wie die winzigen Schmetterlinge es dennoch schaffen, ihm immer voraus zu sein und sich vor ihm zu öffnen. Praktisch unverändert bleibt ihr Abstand zu ihm und somit der Weg, der sich vor ihm in diese Winterwelt eröffnet und ihn immer weiter in das Grenzland zwischen Leben und Tod zu führen scheint... 6 Eine Stunde später pocht es nachdrücklich an Kurts Tür. Kurz darauf betritt Logan das Zimmer. „Hey, du Elf, Schluss mit Trübsal blasen. Vielleicht bekommst du von einem Bier ja wieder einen klaren K...“, versucht er seinen Freund zu locken. Allerdings kann er den Satz nicht ganz beenden. Als sein Blick auf das Bett des Teleporters fällt, rutscht ihm fast die Bierflasche aus der Hand. Auf dem Kopfkissen hockt ein einzelner Schmetterling, macht ein paar unsichere Schritte und fällt dann wie tot auf die Seite. Außerdem ist das Fenster offen, wodurch der ganze Raum wie eine Tiefkühltruhe wirkt. Als Wolverine die angehaltene Luft ausstößt, bildet sich eine dicke, weiße Wolke vor seinem Gesicht. Hier drinnen muss es mindestens so kalt wie draußen sein, was bedeutet, dass das Fenster nicht erst seit ein paar Minuten offensteht. Der Jäger merkt sofort, dass sein Elf nicht mehr da ist. So etwas wie leichte Panik macht sich in dem Schwarzhaarigen breit, weshalb er ziemlich unelegant wirkt, als er sich nun dem Bett nähert. Stirn runzelnd betrachtet er den toten Schmetterling auf dem Kissen. Ganz vorsichtig schiebt er eine Hand unter das zerbrechliche Insekt und hebt es an, um es näher zu betrachten. Es scheint sich um einen der Falter zu handeln, die Kurt in letzter Zeit immer wieder gesehen haben will. Doch was hat es zu bedeuten, wenn auch Wolverine ihn jetzt sehen kann? Verliert er nun auch den Verstand, so wie es anscheinend bei seinem süßen Elfen der Fall ist, oder ist die Aufgabe, die der Bengel angeblich erfüllen soll, so groß geworden, dass er möglicherweise Hilfe braucht? Viel darüber nachdenken kann der Jäger nicht, da löst sich der Schmetterling plötzlich direkt vor seinen Augen auf, als wäre er nichts weiter als eine Fata Morgana gewesen. Einen Moment starrt Logan seine Hand völlig dümmlich an, dann wendet er sich dem offenen Fenster zu. Er streckt den Kopf in die eisige Nacht hinaus und schreckt abermals zusammen. Unter Kurts Fenster liegen dutzende toter Schmetterlinge auf der dichten Schneedecke. Es gleicht jedoch einem Wunder, dass sie bei dem heftigen Wind nicht davongeweht oder hilflos unter dem Schnee begraben werden. Es können also einfach keine gewöhnlichen Falter sein. Von dem Haufen toter Insekten erstreckt sich ein Weg aus weiteren Tierchen wie ein Pfad in einem unheimlichen Märchen. Der Weg scheint bis in den angrenzenden Wald hinein zu reichen. Zwischen den bedauerlichen Schmetterlingen erkennt Wolverine noch schwache Spuren im Schneetreiben, die unverkennbar zu Nightcrawler zu gehören scheinen. Mit einem gekonnten Sprung landet Logan in der weißen Pracht, sinkt auf die Knie und schnüffelt an den verblassenden Spuren. Ganz eindeutig Kurt. Sein Duft hängt gerade noch so in der gefrorenen Luft, was bei diesen Witterungsverhältnissen nicht selbstverständlich ist, nicht einmal mit der guten Nase des Jägers. „Was machst du nur, Elf?“, fragt er halblaut in sich hinein und blickt zum Wald hinüber. Merklich frisst sich dabei die Kälte in ihn hinein. Kurz darauf gibt er ein heftiges Niesen von sich und schüttelt sich unwohl. Lange sollte sich niemand hier draußen aufhalten. Bei dieser Kälte hilft auch das kurze Fell des Teleporters nicht viel. Wolverine sollte ihn also lieber schnell finden, bevor noch ein Unglück passiert. Das besagte Unglück scheint jedoch schon zu beginnen, denn nun fangen auf einmal die Schmetterlinge an sich aufzulösen! Zuerst nur der Haufen vor seinen Füßen, dann allerdings auch die Wegbegleiter. „Scheiße...“, schimpft er leicht in sich hinein und beginnt zu rennen, wobei die Falter viel schneller das Zeitliche zu segnen scheinen als er im fast kniehohen Schnee unelegant vorankommt. Das ist nicht gut, ganz und gar nicht gut. Erst recht, wenn der Wind die wenigen Spuren des Blauhäutigen auch noch verwischt. Knurrend legt er noch einen Gang zu, doch es ist echt schwer in diesen Schneemassen vorwärts zu kommen. Doch so schnell gibt sich der Krieger nun wirklich nicht geschlagen. Damals in Kanada hat er Schlimmeres durchgemacht und da liegt das Land monatelang unter einer dicken Schneedecke begraben, die weit fieser ist als das hier. Also los, Logan, streng dich an! 7 Mit der Kälte, dem anhaltenden Wind und den immer dichter fallenden Flocken verliert Wolverine ziemlich schnell jegliches Zeitgefühl. Somit kommt es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er tief im Wald schließlich den letzten Schmetterling aus den Augen verliert. „Scheiße!“, knurrt er in sich hinein und niest wieder heftig. Wenn das so weitergeht, kann er seine Nase zur Fährtensuche völlig vergessen. Das Wetter macht es sowieso fast unmöglich etwas auszumachen. Es ist fast so, als wäre etwas oder Jemand dagegen, dass er seinen kleinen Elfen wiederfindet. Doch das darf er einfach nicht zulassen. Er kann spüren, dass Nightcrawler seine Hilfe braucht, und zwar dringend. Etwas verloren dreht er sich im Kreis und versucht die Spur wiederzufinden. Mit leichtem Grummeln stellt er allerdings fest, dass der stetige Wind und der nicht enden wollende Schneefall schon beinahe seine eigenen Spuren weggewaschen hat. Hier mitten im Wald ist es zudem auch noch fast stockfinster. Der Schnee gibt zwar ein gewisses Licht ab, sodass nicht alles vollkommen schwarz ist, aber das macht es auch nicht viel besser. Verzweiflung versucht ihn zu übermannen, doch er lässt es nicht zu. Stattdessen schließt er die Augen, versucht sich irgendwie zu beruhigen und lauscht. Er hört den Schnee sachte fallen, ein Geräusch, das über das nächtliche Heulen des Windes hinweg selbst für ihn kaum wahrzunehmen ist. In der Ferne kann er zudem ein, zwei Tiere – vermutlich Hirsche oder dergleichen – durch das Unterholz brechen hören. Irgendwo schreit eine Eule, woraufhin sich etwas anderes zu verstecken versucht. Äste knacken, immergrüne Sträucher rascheln. Plätschernd gleitet der Bach dahin. Noch tiefer, er muss noch tiefer hineintauchen! Alle anderen Geräusche ausblenden... Weiter... Tiefer... Immer noch viel weiter... Und... Da! Ein neues Geräusch, sehr schwach, doch unverkennbar das Schlagen von vielen kleinen Flügelchen – Schmetterlingsflügel! Sofort reißt Wolverine die Augen wieder auf und wendet sich in die Richtung um. Eine weitere Ewigkeit vergeht, dann stößt er auf einen ganzen Haufen der dunklen Falter. Es sieht aus, als wenn sie auf etwas sitzen würden, das dort im Schnee liegt. Mit einem ziemlich unguten Gefühl nähert sich Logan noch zwei Schritte. Daraufhin zerstreuen sich die Schmetterlinge in einer hektischen, dunklen Wolke und umschwirren ihn. Knurrend versucht er sie von sich fernzuhalten, um einen Blick auf das Etwas im Schnee werfen zu können. Als es ihm schließlich gelingt, stockt ihm zum dritten Mal heute Abend der Atem. Dort, schon halb im tiefen Schnee versunken, liegt reglos sein kleiner Elf! 8 Von Sorgen zerfressen stürzt Logan zu ihm und rüttelt ihn kräftig durch. „Wach auf, Elf! Kurt, hörst du mich? Hey!“ Er erhält jedoch keinerlei Reaktion. Prüfend drückt der Jäger sein Ohr auf die schmale Brust des Jungen und horcht nach dessen Herzschlag. Er ist sehr schwach und Wolverine muss sich richtiggehend anstrengen, ihn bei dem starken Wind hören zu können. Noch einmal versucht er den Bengel wachzurütteln, doch es geschieht abermals nichts. Verzweiflung schürt seine Sorgen ins Unermessliche. Dann nimmt er im Augenwinkel das Flattern der Falter wahr und wendet sich zu ihnen um. Sie schwirren ziellos umher und scheinen mit sich und alledem nichts wirklich anfangen zu können. Ihr Anblick weckt jedoch unglaubliche Wut in dem Vielfraß. Sie allein sind schuld daran, dass Kurt hier draußen im Schnee womöglich sterben wird! Knurrend fährt er die Krallen aus und beginnt damit die Viecher aus der Luft zu holen. Hektisch versuchen die Schmetterlinge dem zu entgehen. Nicht wenige von ihnen landen allerdings zerfetzt wie Bastelpapier auf der Schneedecke und lösen sich kurz darauf auf. Ihren Platz scheinen nur kurz danach aber neue Falter einzunehmen, sodass Wolverines Bemühungen nicht gerade von Erfolg gekrönt sind, was ihn nur noch zorniger macht. „Ihr dreckigen Biester seid schuld, wenn mein kleiner Elf hier draußen krepieren muss! Also kommt gefälligst her, damit ich euch das Fell über die Ohren ziehen kann!“, schimpft er in sich hinein und zerschneidet knurrend hundertfach die eisige Luft. Die Schmetterlinge werden immer aufgebrachter, doch wehren können sie sich nicht wirklich. Dann gelingt es Logan eines der Wesen mit seinen Klauen aufzuspießen. Zuckend und zappelnd hängt der Falter mit durchbohrten Flügeln auf dem kalten Adamantium und versucht irgendwie los zu kommen. Der heiße Atem des Kriegers trifft seinen kleinen Körper in einer fauchenden Dunstwolke. „Tut gefälligst etwas oder ihr endet als Mitternachtsimbiss!“, tönt der X-Man und öffnet mahnend den Mund. Gleichzeitig beginnt er sich zu fragen, ob diese Falter, die Kurt immer wieder als Seelengeleiter bezeichnet hat, nur hier sind, um die geschundene Seele des Elfen zu rauben, oder ob da wirklich eine göttliche Aufgabe dahintersteckt und das hier nur ein ungewolltes Unglück ist. Er spürt schon die winzigen Füßchen des Falters panisch über seine Zunge tanzen, als hinter ihm eine schwache Stimme laut wird. „Logan? – Was – was machst du denn hier?“ Mit aufgerissenen Augen wendet sich der Angesprochene herum. Seine Krallen verschwinden wieder in seinen Fingerkuhlen, wodurch der gefangene Schmetterling hilflos auf dem Schnee landet und dann verschwindet. Ungelenk lässt sich der Ältere auf die Knie fallen und reißt den sichtlich überforderten Teleporter dann in seine Arme. „Um Himmels willen, Elf, ich hatte eine Scheißangst um dich...!“, platzt es mit bebender Stimme aus ihm heraus, während er den geschwächten Jungen so fest an sich drückt, dass dieser schon kaum noch Luft holen kann. „Du – erdrückst mich...“ Nur widerwillig lässt der Schwarzhaarige von ihm ab. „Ist alles in Ordnung?“ „Ich – denke schon...“ „Was machst du hier mutterseelenallein im Wald, verdammt?“ „Ich bin den Schmetterlingen gefolgt. – Dann wurde irgendwann alles schwarz vor meinen Augen und jetzt bist du hier.“ „Diese dämlichen Falter wollten dich umbringen!“ „Das ganz bestimmt nicht, aber – kannst du sie etwa sehen? Hast du mich deswegen gefunden?“ „Ich kann die Mistviecher sehen, das heißt aber noch lange nicht, dass ich sie für hilfreich halten muss, wenn sie dich hierhergelockt haben.“ Kurt wirkt sichtlich erleichtert. „Wenn auch du sie sehen kannst, dann hälst du mich also nicht mehr für verrückt?“ Der zu kurzgeratene Kanadier gibt ein verstimmtes Schnauben von sich. „Vielleicht. Vielleicht hab‘ ich dank dir mittlerweile aber auch selbst einen Dachschaden.“ „Ach, den hattest du doch schon lange vor mir!“, gluckst der Elf keck und lächelt entzückend. Als Logan spielerisch nach ihm schlägt, weicht der Jüngere geschickt aus und zieht den anderen Mutanten dann seinerseits in seine Arme. „Danke, mein Freund! Hilfst du mir?“ „Alles, um diesen Irrsinn zu beenden, Elf.“, erwidert der Krieger seufzend und drückt ihm dabei zärtlich einen Kuss auf die Schläfe. 9 Die beiden haben sich noch gar nicht wieder voneinander getrennt, da werden die Schmetterlinge um sie herum immer aufgeregter. Hektisch flattern sie den Mutanten um den Kopf, um ihnen klarzumachen, dass die Zeit nun wirklich drängt. „Folgen wir ihnen lieber. – Irgendetwas liegt in der Luft. Ich kann es spüren, doch ich weiß nicht, was es bedeutet.“, Hilfe suchend sieht Kurt seinen Partner an. Der Krieger hat ebenfalls ein seltsames Gefühl, das er nicht so recht deuten kann. Etwas wird passieren, sehr bald, doch mehr kann er nicht damit anfangen. „Ich merke es auch. Hoffen wir, dass uns diese Flattermänner nicht in die Irre führen...“ Und so geht es weiter in den Winterwald hinein. Nach einer Weile überqueren sie den kleinen Bach, den Logan in der Ferne gehört hatte. Dahinter werden die Bäume immer dichter, sodass kaum noch Schnee auf dem Boden zu finden ist, was es nicht gerade leichter macht, den dunklen Schmetterlingen zu folgen. Schließlich kommen sie an einem Zaun an, der mitten durch den Wald führt und in regelmäßigen Abständen mit Schildern versehen ist. Privatgrundstück, betreten verboten! lautet die Aufschrift. Darunter befindet sich das Symbol eines Blitzes. „Wir ignorieren das einfach, oder?“, fragt Nightcrawler hoffnungsvoll, während die fliegenden Insekten ungerührt darüber hinweggleiten und nervös auf der anderen Seite auf sie warten. „Natürlich ignorieren wir das. Es galt nicht uns. Dieser Zaun markiert immerhin das Ende unseres Grundstücks. Berühr ihn nur nicht, sonst wird dir nicht nur das Fell zu Berge stehen.“, erläutert der Ältere knapp und schwingt sich elegant über das Hindernis hinweg. Dabei kommt er mit der Hand kurz an den fast unsichtbaren Draht, der um die einzelnen Holzbohlen gewickelt ist. Deutlich sprühen in der Dunkelheit Funken auf, die Nightcrawler unweigerlich das Fell sträuben. „Echt?“, staunt der Teleporter, hätte er doch nie geglaubt, dass das Anwesen der X-Men so weitläufig in den Wald hineinführt und zudem so abgesichert ist. „Warst du schon mal auf der anderen Seite?“, fragt er dann noch, während auch er auf die andere Seite überwechselt, wobei er in einem hohen Bogen wie ein Reh darüber hinwegspringt, um jede mögliche Berührung damit zu vermeiden. Logans Körper steckt den heftigen Stromschlag dank seines Heilfaktors locker weg, doch der Elf zweifelt nicht daran, dass er ihn selbst vielleicht sogar umbringen könnte. Leicht legt Wolverine den Kopf schief und denkt nach. „Jetzt, wo du es erwähnst. Nee, war bisher nur ein paar Mal hier am Zaun, um zu kontrollieren, ob der noch intakt ist. – Hm. An sich komisch. Ist sonst gar nicht meine Art. Hatte irgendwie immer andere Dinge zu tun und hab‘ nur daran gedacht, wenn ich hier am Zaun stand, und dann kam auch immer wieder etwas dazwischen, das mich davon abgehalten hat, ihn zu übertreten. Fast so, als hätte mich etwas davon abhalten wollen...“ Nachdrücklich betrachtet ihn der Elf. „Vielleicht ist es ja tatsächlich so? Vielleicht befindet sich hier etwas, das du nicht finden solltest? Vielleicht...“ „Jaja, vielleicht. Lass uns weitergehen, bevor deine Schmetterlinge keine Lust mehr haben zu warten.“ So machen sie sich erneut auf den Weg. Das Gebiet jenseits des Zaunes ist jedoch ziemlich unerschlossen, nahezu undurchdringlich. Die Vegetation steht so dicht, dass das Vorankommen zu einer echten Geduldsprobe wird. Die Flora liegt zwar größtenteils im Winterschlaf, doch es gibt genügend immergrüne Büsche oder Jungbäume, die den Weg immer wieder versperren, sodass Logan gezwungen ist, seine Krallen als Buschmesser zu benutzen. Das ist in jedem Fall einfacher, als sich endlos oft durch die Wildnis zu teleportieren, was sie beide schnell an ihre Grenzen bringen würde. Nach gefühlten Ewigkeiten stoppen die Falter endlich und wirren immer wieder im Kreis. Kaum, dass die beiden Mutanten bei ihnen angekommen sind, verschwinden sie allerdings spurlos. „Und jetzt?“, stellt Kurt in den Raum. „Was fragst du mich? Ist doch dein Projekt. Irgendwelche göttlichen Eingebungen?“ Der letzte Satz klingt schon beinahe belustigt, doch das ignoriert der Elf gekonnt. Immerhin weiß er nur zu gut, dass Wolverines Glauben schon seit Jahrzehnten nicht mehr existiert und macht ihm da auch keinen Vorwurf draus. Andererseits ist der Vielfraß durchaus bereit, himmlische Fügungen zu akzeptieren, wenn er sie mit eigenen Augen sehen kann. Gedankenversunken geht der Blauhäutige in sich. Er ist sich ziemlich sicher, dass sie ihrem Ziel jetzt sehr nahe sind. Hier muss es also etwas zu sehen geben. Es muss! Doch was und wo? Das ungute Gefühl in ihm ist nun praktisch schon greifbar und droht ihn regelrecht zu ersticken. Die Zeit sitzt ihm wie eine wütende Katze im Nacken und wartet nur darauf ihn fertigzumachen. Doch er muss sie abschütteln, sich konzentrieren. Ganz langsam lässt er daher seine leeren, gelben Augen über das vor ihm liegende Dunkel wandern. Sucht nach etwas Auffälligem in dem dichten Grauschwarz der Nacht. Wie in weiter Ferne hört er dabei Wolverine neben sich geräuschvoll schnüffeln. Als Nightcrawler schon der festen Überzeugung ist, nichts mehr zu sehen, ertönt die Stimme des Schwarzhaarigen neben ihm. „Wir sind nicht allein.“, knurrt er. „Was?“, fragt der Junge überrascht und dreht sich um, um den Weg zu betrachten, den sie gekommen sind. „Nein, nicht hinter uns, vor uns. – Hier ist irgendwo eine Höhle oder ein Zugang unter die Erde. Einer von denen war öfters hier draußen. – Die anderen Spuren sind zu viele, zu unterschiedlich. Fast so, als hätte dieser eine immer wieder andere hierher gebracht...“ „Das gefällt mir nicht.“, meint Kurt sorgenvoll. „Mir erst recht nicht. Der eine ist eindeutig ein Mann – die anderen sind Kinder!“ „Himmel! Er tut ihnen etwas ganz Schreckliches an, ganz sicher! Und ich bin hier, um das zu verhindern!“ „So sieht’s wohl aus!“ „Kannst du zufällig den Eingang oder so riechen? In dieser Dunkelheit fällt es selbst mir schwer, etwas zu erkennen.“, kommt es fast schon entschuldigend von dem Elfen. Der Mond ist hinter den dicken Wolken verborgen, und da hier kein Schnee liegt und die Vegetation so eng steht, dass sie einen förmlich anspringt, ist es nahezu stockfinster. Nur das leichte Glimmen der Schmetterlinge hat ihnen hier überhaupt den Weg weisen können. Logans Augen sind bei Tageslicht gewöhnlich weit besser als Nightcrawlers, was der Teleporter nachts mehr als wett macht. Jetzt allerdings sind sie beide praktisch blind, erst recht, seit die Falter verschwunden sind. Nur die überaus feine Nase des Vielfraßes kann ihnen jetzt noch helfen. Grummelnd geht der Krieger auf alle Viere hinab, hält die Nase eine Handbreit über dem gefrorenen Boden und beginnt dann wieder geräuschvoll zu schnüffeln. Langsam bewegt er sich dabei vorwärts und versucht den Ursprung der Fährte zu finden, was bei den vielen sich überlagernden Spuren gar nicht so einfach ist. Nach einer Weile stoppt er an einem sehr großen, alten Baum. Er wirkt, als wäre er schon völlig hohl und ist deswegen nur noch nicht umgefallen, weil dafür gar kein Platz ist. Zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die sich als dicke Stränge über den Erdboden winden und erstklassige Stolperfallen in der Finsternis bilden, befindet sich ein Loch. Als der Schwarzhaarige seine Bemühungen dort hinein richtet, beginnt er tief in der Kehle zu knurren. All seine Muskeln spannen sich mahnend an und es wirkt, als wäre er nur noch einen Sekundenbruchteil davon entfernt völlig auszurasten. ‚Er kann sicher das Leid dieser armen Kinder riechen und das treibt ihn vollkommen in den Wahnsinn...‘, geht es Kurt durch den Kopf, bevor er seinem Freund beruhigend eine Hand auf die Schulter legt. „Der Kerl ist so was von tot!“, brummt der Ältere kaum noch verständlich, ehe er sich gerade so weit wieder fängt, dass auch sein Partner das Loch einen Moment betrachten kann. „Nur nichts überstürzen. Wenn er uns bemerkt, können wir den Kindern vielleicht nicht mehr helfen...“ Widerwillig fügt sich Wolverine dem Gedanken und atmet ein paar Mal durch, ehe er wieder auf alle Viere sinkt und in dem Loch verschwindet, dicht gefolgt von Nightcrawler. 10 Das Loch unter dem Baum geht in einen langen Tunnel über, der die beiden X-Men immer weiter unter die Erde führt. Kurt kann unmöglich sagen, wie tief sie sich letztendlich befinden, als sie den Zugang zu einer riesigen Kammer erreichen. Beobachtend kauern sie sich neben dem Eingang hin und lassen den Blick bezüglich möglicher Gefahren schweifen. Das unterirdische Gewölbe scheint die Ausmaße eines pompösen Ballsaales zu haben. In unterschiedlichen Höhen reihen sich unzählige Lampen auf und tauchen diesen Ort damit in ein weiches, gelbes Licht, das trügerische Sicherheit zu versprechen scheint. Genau im Zentrum des Ganzen befinden sich allerdings leistungsstarke Strahler, die den mittleren Bereich so sehr ausleuchten, dass es einem Operationssaal gleichkommt. Unweigerlich muss Logan an die grausamen Experimente denken, die vor ewigen Zeiten an ihm vorgenommen wurden. Unterdrückt beginnt er zu knurren, bis sich abermals die Hand seines Elfen auf seine Schulter legt. Die eigentlich tröstlich gemeinte Hand des Teleporters fängt allerdings kurz darauf an zu zittern, als er die ein Dutzend Käfige entdeckt, die ebenfalls von der Decke herabhängen. Sie wirken wie übergroße Vogelkäfige, doch anstelle eines gefiederten Tierchens hockt in jedem ein verängstigtes Kind – ein Mutanten-Kind! Wie bei Nightcrawler ist ihnen ihre Andersartigkeit überdeutlich anzusehen. Viele wirken, als wären sie der überschwänglichen Fantasie eines Fantasy-Autoren entsprungen, der über eine ferne Alien-Zivilisation im Weltall schreibt. Der alte Getmann hätte sich wahrscheinlich alle zehn Finger danach geleckt, diese armen Geschöpfe in seinem Zirkus präsentieren zu können. Bei dieser Vorstellung gleitet ein eiskalter Schauer den pelzigen Rücken des Blauhäutigen hinab und er schüttelt vehement den Kopf, um sie zu vertreiben. Im Zentrum des hell erleuchteten Bereichs taucht nun ein Mann aus den Schatten hervor, der wie ein Arzt gekleidet ist. Im Gegensatz zu den gefangenen Kindern wirkt er allerdings völlig normal, nichts deutet augenscheinlich daraufhin, dass auch er ein Mutant sein könnte. „Freut euch, meine Kinderchen! Nun ist es endlich soweit. Euer Warten hat ein Ende. Ich habe endlich eine Möglichkeit gefunden, eure Kräfte zu kopieren! Schluss mit dem jämmerlichen und nutzlosen Leben eines unbedeutenden, kleinen Menschen. Ich werde der mächtigste Mutant aller Zeiten werden und dann gehört die Welt ganz allein mir! Ihr werdet dann allerdings nicht mehr gebraucht, doch als Brennholz seid ihr allemal ausreichend!“ Der vermeintliche Arzt bricht in ein dermaßen geisteskrankes Gelächter aus, dass es nun auch dem hartgesottenen Wolverine kalt den Rücken hinabläuft und er an seine Zeit in Japan denken muss, wo einer seiner damaligen Lehrmeister ebenfalls versucht hatte, ihm seiner Mutantenkraft zu berauben, um damit unbesiegbar und unsterblich zu werden. Damals konnte Logan ihn nur mit knapper Not besiegen und flüchten, doch es fehlte nicht mehr viel und er wäre seine Krallen losgeworden und womöglich sogar gestorben. Diesen wehrlosen Kindern darf daher keineswegs etwas Ähnliches passieren, sonst ist nicht auszudenken, was dieser Kerl alles anrichten könnte... 11 Durch diesen Gedanken beflügelt, erhebt sich Wolverine in einer schnellen, erstaunlich geschmeidigen Bewegung und will zum Angriff übergehen. Im allerletzten Moment bemerkt sein Partner jedoch sein Vorhaben und hält ihn vehement zurück. Der Jäger will schon zu einem lautstarken Protest ansetzen, besinnt sich dann aber doch noch gerade so und lässt sich von dem Jungen zurück in ihre Deckung ziehen. „Was?“, zischt er den Blauhäutigen wütend an. Dieser betrachtet ihn flehend und hält weiterhin seinen muskulösen Arm umfasst. „Logan, beruhige dich, bitte! Wir können nicht einfach kopflos dort reinstürmen! Siehst du das Gerät, das er hat, um die Kraft der Kinder zu kopieren? Wir wissen nicht, was passieren wird, wenn er es einsetzt. Womöglich kann er ihnen damit allen gleichzeitig schaden. Oder womöglich trifft er damit sogar einen von uns! Dass können wir nicht riskieren!“ Der Schwarzhaarige grummelt in sich hinein, entspannt sich jedoch merklich. „Hast recht. Hört sich allerdings eher so an, als wäre das Ding gerade erst fertig geworden, weshalb er vielleicht doch einen Testlauf mit nur einem Kind durchführen wird. Aber im Grunde ist das auch vollkommen egal. Wir dürfen nicht zulassen, dass auch nur eines einen Kratzer abbekommt. Sie haben bestimmt schon genug durchgemacht...“ Heftig ballt Logan die Fäuste und knurrt mit gebleckten Zähnen. Tief unter der Haut kann er seine Krallen regelrecht vor Erwartung vibrieren spüren und er würde dem nur zu gern nachgeben. Kurt kann das sehr gut verstehen und er verflucht sich tausend Mal selbst dafür, dass er sein Schwert in seinem Zimmer gelassen hat. Andererseits ist gerade das vielleicht auch etwas Gutes, sonst würde er wohl auch liebend gern Hackfleisch aus dem Typen machen, und dass wäre so gar keine gute Idee. So etwas sollte er besser Wolverine überlassen, der sich ja nur zu gern über dieses Gebot hinwegsetzt, ohne auch nur einen Funken Reue zu empfinden. Immerhin hat Nightcrawlers Schwert schon genug Tod gebracht und daher sollte er sein Glück, diesbezüglich noch einmal ungeschoren davon zu kommen, lieber nicht allzu sehr auf die Probe stellen, selbst wenn er im Auftrag des Allmächtigen unterwegs sein sollte. Einen Moment herrscht nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen. „Okay, versuch so viele von den Kindern wie möglich hier wegzuschaffen. Schaffst du es von hier aus bis nach Hause? Jedenfalls irgendwo ins Warme.“ „Da ich eh immer nur ein Kind mitnehmen kann, weil sie zu weit voneinander entfernt sind, denke ich mal, dass das gehen dürfte. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich in diesem Wald jegliche Orientierung verloren habe. Aber das ist beim Teleportieren zum Glück ja nicht ganz so schlimm.“ Zuversichtlich legt sich Logans Hand auf die Schulter des Jungen. „Du packst das schon. Mach nur schnell, dass ist am wichtigsten. Ich werd‘ dir derweilen Deckung geben. Ich schleich mich an den Typen ran und wenn er dich bemerkt, ist er fällig!“ Verstehend nickt der Elf und zappt sich dann auch schon davon. Kurz darauf hockt er in den vorherrschenden Schatten an der Decke und verschmilzt damit förmlich. Seine funkelnden Augen sind praktisch das einzig Sichtbare an ihm und mit ihnen beobachtet er nun den Mann unter sich genau. Wartet auf einen günstigen Augenblick, um sich unbemerkt einem der Käfige nähern zu können. So weit, so gut. Nun macht sich auch der Jäger auf den Weg. Geduckt versucht er jeden der wenigen Gegenstände in dem Gewölbe als Deckung zu benutzen, um möglichst nahe an den Kerl heranzukommen. 12 „So mein kleiner Timmy, freu dich, du darfst der Erste sein!“, posaunt der Arzt nun und nähert sich dabei dem Käfig des wehrlosen Jungen. Seine Haut ist von einer grünlich-braunen Farbe, die einen an einen Moos bewachsenen Baumstamm denken lässt. Seine Haare gleichen tatsächlich Blättern, seine Gliedmaßen wirken wie mit Rinde überzogen. Seine Fähigkeit besteht darin, seinen Körper wie eine Pflanze wachsen zu lassen. Wie aus dem Nichts kann er Äste, Blätter oder Lianen sprießen lassen und sie auch gegen jemanden einsetzen. Doch der Junge ist kaum älter als fünf und hat viel zu viel angst, um sich überhaupt wehren zu können, falls er überhaupt schon in der Lage ist, seine Kraft zu kontrollieren. Auch wenn Kurt es kaum ertragen kann, es untätig geschehen lassen zu müssen, wendet er sich dennoch schnell dem Käfig zu, der ihm am nächsten ist. Geschickt hangelt er sich an der dicken Kette herab und blickt hinein. Darin befindet sich ein kleines Mädchen, das mehr Ähnlichkeit mit einem Hund als einem Menschen hat. Erschrocken weicht die Kleine zurück, als der große, dunkle Schatten des Elfen an der Rückseite ihres Gefängnisses auftaucht. „Pssst!“, meint der Blauhäutige nur, woraufhin sich das Mädchen kindlich die Hände vor den Mund schlägt. „Bitte habe keine Angst. Ich bin Nightcrawler und...“, setzt er an, wird aber dann doch schnell von ihr unterbrochen. Aufgeregt beginnt die Kleine mit ihrem buschigen Schweif zu wedeln und mit den Schlappohren zu zucken. „Du meinst, von den richtig-echten X-Men?“, fragt sie freudig und tapst auf allen Vieren zu ihm heran. Neugierig beschnüffelt sie ihn und leckt ihm dann überglücklich über die Nasenspitze. Überrascht zuckt Kurt leicht zusammen und lächelt dann verhalten. Nach ihrer Aussage hatte er schon befürchtet, dass sie etwas Schlechtes über ihn gehört haben könnte, das ihr nun erst recht Angst machen könnte, doch dem scheint nicht so zu sein, was ihn sehr beruhigt. „Äh, ja, genau der.“, erwidert er ihr und wirft verstohlenen einen Blick an ihr vorbei, um zu sehen, was der fiese Typ treibt. Wie es aussieht, ist er gerade dabei, die letzten Einstellungen an seinem komischen Apparat vorzunehmen. Inständig hofft der Elf, dass das, was folgt, nicht so verstörend aussehen wird, wie er befürchtet, da er wohl nur eines der Kinder vorher wegbringen können wird. „Ich bin Lina. Sind die anderen X-Men auch hier, um uns zu retten?“ Die Angst scheint völlig von dem kleinen Mädchen abgefallen zu sein. Es sieht nun eher so aus, als würde sie darauf hoffen, dass Kurt mit ihr spielt. Vielleicht ist später ja für so etwas Zeit? „Wolverine ist auch hier. Aber du muss jetzt still sein und mir deine Hand geben. Dann kann ich dich hier wegbringen. Kannst du das?“ „Wusste ich doch, dass ich noch wen gerochen habe!“, gluckst sie begeistert. Doch bevor Kurt sie noch einmal ermahnen muss, reicht sie ihm ihre Hand, die mehr wie eine Pfote geformt ist, und blickt ihn mit ihren großen Hundeaugen an. „Gut, dann los!“, meint der X-Man noch und verschwindet dann in einer Schwefelwolke mit ihr. Das leise Geräusch entgeht Logans feinen Ohren nicht. Ihr Widersacher ist zum Glück noch nicht so gut ausgestattet und zudem völlig mit seiner Arbeit beschäftigt. Allerdings haben die Kinder in den anderen Käfigen ringsum beobachten können, was mit ihrer Leidensgenossin passiert ist, weshalb sie jetzt etwas unruhig werden, scheinen sie doch zu begreifen, dass sie womöglich doch noch gerettet werden. Der Jäger hofft, dass sich das aber in Grenzen hält. Wenn die Kleinen zu reden beginnen, statt sich ängstlich in irgendeine Ecke zu kauern, könnte die ganze Sache fehlschlagen. Kaum hat der Schwarzhaarige den Gedanken beendet, taucht sein Partner auch schon wieder auf. Geschwind widmet er sich dem nächsten Käfig und stellt zu seinem Erstaunen fest, dass er sich die Erklärungen sparen kann. Der kleine Junge, der darin hockt, sieht aus wie eine zum Leben erwachte Lehmfigur, und reicht ihm bereitwillig die Hand, als Kurt die seine in den Käfig steckt. Und weg sind sie. Das ist aber auch alles, was Nightcrawler zustande bringt, denn nun ist das Gerät einsatzbereit! „Schön stillhalten, Timmy!“, flötet der Kerl diabolisch grinsend. Dann richtet er die Maschine, die Ähnlichkeit mit einem futuristischen Handmixer hat, auf das Kind und drückt ab. „NEIN!“, entkommt es dem Kind noch panisch, dann löst sich ein greller Lichtstrahl aus der Spitze des Geräts und hüllt seinen Körper für einen Moment völlig ein. Mit aufgerissenen Augen beobachtet Logan fassungslos wie der Lichtstrahl sich nun umzukehren scheint und stattdessen den Arzt umhüllt. „Ja! JA! Es funktioniert! Ich kann die Kraft spüren!“, kommt es ekstatisch von ihm, während er wohlwollend die Augen verdreht. Kurz darauf erlischt das Licht und als der Kerl daraufhin konzentriert seine Fingerspitzen betrachtet, sprießen auf einmal saftige Blätter daraus hervor. Derweilen liegt Timmy bewusstlos in seinem Käfig, womöglich ist er aber auch schon tot... Als Nightcrawler eine Sekunde später erneut auftaucht, hat er schlagartig das Interesse an den Kindern verloren, die noch auf ihre Rettung warten. Stattdessen betrachtet er nun fassungslos den ausgelassen lachenden Mann und das reglose Kind. Der Elf ist wie versteinert und so kommt es wie es kommen musste. Als sich der Arzt dem nächsten Käfig zuwendet, entdeckt er Kurt! „Wen haben wir denn hier? Einen ungebetenen Gast, wie? Und du willst mir meine Kinder wegnehmen, habe ich recht? Doch das werde ich nicht zulassen, du mieser Dämon, also nimm das!“ Ein erneuter Lichtstrahl verlässt das Gerät und hält genau auf den Teleporter zu. Die Kinder versuchen ihn noch zu warnen, doch nichts scheint zu ihm durchzudringen. Erst ein dunkles Geräusch – das aufgebracht-wütende Knurren des Vielfraßes – befreit ihn schlussendlich aus seiner Starre. Im letzten Moment verschwindet der Blauhäutige und der Lichtstrahl durchzuckt nur die sich aufblähende Schwefelwolke. Nun hockt Nightcrawler wieder an der Decke, doch der Arzt braucht nicht lange, um ihn dort zu finden. „Eine wirklich sehr interessante Fähigkeit, mein Junge. Sei doch so gut und halt still, damit ich sie kopieren kann!“, gluckst er und feuert erneut. Diesmal macht sich Kurt aber nicht die Mühe zu fliehen, denn in diesem Augenblick greift Wolverine den Typen von hinten an und reißt ihn zu Boden, bevor er schießen kann. „Was zum...! Noch mehr ungebetene Gäste?“ „Verflucht, Elf! Sitz nicht nur rum, mach weiter!“, faucht Logan aufgebracht, während er den Kerl am Boden zu halten versucht, was sich dank der kopierten Mutantenkraft jedoch nicht gerade leicht gestaltet. Unschlüssig betrachtet Kurt das Ganze noch einen Moment, dann besinnt er sich und nimmt das nächste Kind mit, das ihm nur allzu bereitwillig folgt. So sieht er allerdings auch nicht das, was als nächstes passiert... 13 Im selben Augenblick, in dem Nightcrawler verschwindet, gelingt er dem Arzt, sich Logans Griff zu entwinden. Ehe ihn der Jäger erneut fixieren kann, trifft den X-Man stattdessen der Lichtstrahl. Ein sehr seltsames Gefühl gleitet über den gedrungenen Körper des kleinen Kanadiers hinweg. Es ist fast so, als würde sich eine riesige Hand um sein Herz legen und zudrücken. Gleichzeitig scheint eine andere Hand seinen gesamten Körper abzutasten. Abermals spürt er eine Art Vibration unter der Haut. Unwillkürlich schießen seine Krallen hervor, ohne dass er es will. Logan versucht dagegen anzukämpfen, doch er kann sich nicht rühren. Dabei wäre jetzt der beste Zeitpunkt, um den Typen umzubringen. Wenn es ihm erst einmal gelingt, Wolverines Selbstheilung zu kopieren, können sie ihn womöglich nicht mehr besiegen! Doch ist es ihm überhaupt möglich, mehr als eine Fähigkeit auf einmal zu erhalten? Es gibt nur einen Weg, dass herauszufinden! „NEIN!“, entkommt es Nightcrawler verzweifelt, als er nach seiner Rückkehr mit ansehen muss, was seinem Freund passiert ist. Nur seiner Selbstheilung hat es Wolverine überhaupt zu verdanken, dass er nun nicht ohnmächtig wird oder gar gleich tot umfällt, was es aber auch nicht besser macht, denn nun ist er so richtig wütend. „Ich bring dich um!“, faucht er zornig und lässt seine Krallen hervorschnellen, erleichtert, dass das nun wieder problemlos auf sein Kommando funktioniert. Sein Gegenüber lacht nur triumphierend. „Wahnsinn! Ich habe doch tatsächlich die Kraft des berühmten Wolverine kopiert! Damit bin ich unschlagbar!“ Ehe er sich aber noch weiter über seinen Erfolg freuen kann, zerfetzt das scharfgeschliffene Adamantium seine Maschine in tausend Teile. Entsetzen zeichnet nun das Gesicht des Arztes. „Wie kannst du es wagen, du räudige Töle?“, empört er sich, und verspürt im selben Moment die gleiche animalische Wut in sich, der der Vielfraß so oft erlegen ist. Die ihn blind für alles andere macht. „Logan...“, kommt es hilflos von dem Teleporter. „Kümmer dich um die Kinder!“, faucht der Angesprochene, ohne seinen Gegner aus den Augen zu lassen. „Aber...“, setzt Kurt an „Tu’s einfach!“ Alles in Nightcrawler sträubt sich dagegen, diesem Befehl nachzukommen. Doch was soll er denn sonst tun? Er könnte sein Schwert holen, aber selbst die Adamantiumklinge könnte Wolverine nicht töten, folglich auch seine Kopie nicht, oder doch? Oh, er ist sich so unschlüssig. Aber die Kinder dürfen auf keinen Fall das Gemetzel sehen, das nun zwischen diesen beiden Sturköpfen entbrennen wird. Von daher setzt sich Kurt wieder in Bewegung. Auch wenn er seinen Elfen nicht direkt angesehen hat, so konnte er dennoch in dessen Blick erkennen, was ihm durch den Kopf geht, und dass ihn dieselben Gedanken quälen. Logan hat seinen Selbstheilungsfaktor schon immer mehr als etwas unglaublich Lästiges empfunden und nun steigert sich dieses Gefühl ins Unermessliche. Allerdings schöpft er etwas Hoffnung, als er nun mit ansieht, wie der Typ seine kopierten Krallen ausfährt, um auf ihn losgehen zu können. „Was zum...?“, setzt der Arzt irritiert an, als er die seltsamen Gebilde sieht, die dort aus seinen Fingerkuhlen hervorschnellen. „Irgendwas muss schiefgelaufen sein...“, japst er voller Nichtbegreifen. Ein wölfisches Grinsen umspielt die gebleckten Zähne des Vielfraßes. „Da ist ganz und gar nichts schiefgelaufen, Freundchen. Doch deine kleine Maschine kopiert wohl nicht den Ist-Zustand der Fähigkeiten, wie?“ „Nein, sie kopiert die im Erbgut hinterlegten Informationen des X-Gens, sodass ich auch Dinge kopieren kann, die noch nicht ausgebrochen sind. Aber das kann trotzdem nicht richtig sein. Sieh dir diese Dinger doch mal an!“, empört er sich aufgebracht und streckt Logan die in seinen Augen missgebildeten Klauen entgegen. „Da ist gar nichts schiefgelaufen. Das ist der Original-Wolverine! Du sagst, du hast mein X-Gen kopiert und genau das hast du auch bekommen. Wenn du mich auch nur ansatzweise über meinen fragwürdigen Ruf hinaus kennen würdest, dann wüsstest du, dass meine Krallen eigentlich aus nachwachsenden Knochen bestehen.“ „Aber – aber das Adamantium...“ „Oh, ja, das Adamantium! Das gehört nicht zu meiner Grundausstattung, Kumpel. Das ist ein überaus limitiertes Extra, das sehr aufwendig nachgerüstet wurde!“ „Nein...“ „Ich fürchte doch.“ Fassungslos betrachtet ihn der Arzt und dann wieder die ziemlich kümmerlich wirkenden Knochenkrallen an seinen Händen. Er sieht sich schon als unterlegen, doch dann fällt ihm ein, dass Wolverine ja noch mehr Fähigkeiten als nur seine berühmten Krallen hat. Vielleicht hat er also doch noch eine Chance? In diesem Moment greift ihn der kleine Kanadier aber auch schon an. Als sich die scharfgeschliffenen Klauen des Schwarzhaarigen in sein Fleisch schneiden, ist es, als würde jemand mit einem glühenden Skalpell auf ihn losgehen und er müsste diese ungewollte Operation ohne Narkose ertragen. Der Schmerz ist schier überwältigend. Doch er lässt sich davon nicht blenden. Der animalische Überlebenstrieb des Jägers flammt in ihm auf und verdrängt dadurch den Großteil der Qualen. Schließlich findet er eine Lücke in den Angriffen seines Gegenübers und setzt zur Gegenwehr an. Mit den kümmerlichen Knochenkrallen verursacht er allerdings nur sehr oberflächliche Verletzungen. An dem Adamantium kommt er damit keinesfalls vorbei. Er spürt allerdings, wie sein Körper sich zu regenerieren beginnt, was ihm zwar nicht die Hoffnung gibt, diesen Kampf zu gewinnen, aber wenigstens lebend daraus hervorzugehen. Diese Erkenntnis hat auch der Krieger. Aber ohne das Adamantium ist der Kerl dennoch überaus verletzbar. Wenn er ihm also schnell genug schwer zusetzt, kommt der Heilfaktor in besten Fall nicht mehr hinterher und er wird dennoch krepieren. Dummerweise hat der Typ aber auch Logans Schnelligkeit übernommen. Ihm fehlt zwar die jahrzehntelange Kampferfahrung, aber solange es ihm gelingt auszuweichen, reicht es aus, dem Heilfaktor die benötigte Zeit zu verschaffen. 14 Inzwischen sind alle Kinder in Sicherheit. Kurt hat sich sogar noch die Zeit genommen, Hank Bescheid zu geben, damit er sie medizinisch versorgen kann. Insbesondere Timmy hat seine Hilfe dringend nötig. Nun taucht der Elf ein letztes Mal in der Höhle auf, das Schwert kampfbereit in der Hand. Er nimmt sich ein paar Sekunden, um die Lage zu begreifen. Schnell fällt ihm dabei auf, dass die Krallen des Arztes seltsam aussehen. Dunkel erinnert sich der Teleporter allerdings, dass Logan ihm mal davon erzählt hatte, woher das Adamantium auf seinen Knochen kommt. Somit durchaus ein Pluspunkt für diesen Kampf, wenn ihnen dieses Metallgeflecht nicht im Weg steht. Nightcrawler merkt aber, dass der Kerl dafür allerdings den Heilfaktor seines aufbrausenden Partners hat und daher auf Zeit zu spielen versucht, bis ihm etwas einfällt, sich aus dem Staub zu machen. Doch er wird nicht ewig ausweichen können, und entkommen wird ihn Wolverine nicht so einfach lassen, so viel steht fest. Dennoch wäre es besser, den Kerl schnell irgendwie kampfunfähig zu machen, damit sie sich überlegen können, wie sie ihn von der Bildfläche verschwinden lassen. Denn dank des fehlenden Adamantium hat er auch nicht die scheinbare Unsterblichkeit des Kanadiers. Wenn der Typ also keine Krallen mehr hätte, wäre damit schon mal viel getan. Eine ähnliche Strategie verfolgt sicher auch der Jäger, doch der Arzt weicht immer wieder aus, wenn er zum entscheidenden Angriff ansetzen will. Plötzlich kommt Kurt allerdings die Idee. Inzwischen hat der Elf nämlich noch einige interessante Facetten seiner Teleportation entdeckt, die ihn zu jeder Menge neuer Streiche animiert haben. So kann er inzwischen nicht nur Personen oder Gegenstände mit sich im Raum transportieren, wenn er sie berührt, sondern auch nur Teile eines Ganzen, wenn er sich ausschließlich auf sie konzentriert. Daraus hat sich ein ziemlich fieser Streich entwickelt, den Logan überhaupt nicht witzig findet. Der Elf hat es nämlich mehr als nur einmal fertiggebracht, den zu kurzgeratenen Kanadier aus heiterem Himmel ohne Klamotten dastehen zu lassen! Vielleicht kann der Elf diese Fähigkeit jetzt nutzen, um dem Arzt die Krallen abzunehmen? Angestrengt sucht er Logans Blick, um ihm klarzumachen, einen Moment innezuhalten, damit er seinen Plan in die Tat umsetzen kann. Allerdings ist der Vielfraß inzwischen so in Rage, dass er nur noch sein Ziel vor Augen sieht. Eine verzwickte Sache, aber verübeln kann Kurt es ihm nicht. Der Elf will sich gar nicht vorstellen, wie er an Logans Stelle reagieren würde, wenn jemand seine Fähigkeit kopieren und ihn damit – wenn auch ziemlich ungeschickt – versucht vorzuführen, zu ärgern oder sogar zu besiegen. Nightcrawler kommt dabei schnell der Gedanke, dass er dann sicher herausfinden würde, wie sich Wolverine jedes Mal dann fühlt, wenn Kurt ihm einen Streich spielt. Keine sonderlich schöne Vorstellung. Na schön, dann muss es eben anders gehen. Hoffen wir mal, dass der Kanadier ihm das nicht übelnimmt. Kurt passt einen geeigneten Moment ab und zappt sich dann direkt auf die Schultern seines zornigen Partners. Dieses Spielchen hat er nun schon unzählige Male abgezogen, dennoch überrascht es den Schwarzhaarigen immer wieder aufs Neue. Ist wahrscheinlich auch kein Wunder, wenn man gerade auf etwas ganz anderes konzentriert ist und dann so plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Das zusätzliche Gewicht des Teleporters zu tragen, ist für Logan nun wirklich keine Kunst, es ist lediglich der Schreck, der ihn nun kurz taumeln lässt. Gekonnt fängt er sich jedoch schnell wieder, ohne richtig aus dem Tritt zu kommen. Er steht zwar am Rande eines ziemlichen Wutausbruchs und würde Nightcrawler daher liebend gern ebenfalls blindwütig den Hals umdrehen, weil er ihm gerade dazwischenfunkt, aber er kann sich dennoch vorstellen, dass der taffe Elf einen Plan hat, um ihm zu helfen. Sonst würde er unter keinen Umständen freiwillig dazwischengehen und riskieren, ebenfalls getroffen zu werden. So gibt er nur ein verstimmtes Knurren von sich und führt ungehindert den Angriff aus, den er eben begonnen hatte. Das kommt dem blauen Jungen sogar noch zugute. Der Arzt hebt nämlich abwehrend die Hände, damit Logan seine Brust nicht trifft. Darauf hat der Fellträger praktisch nur gewartet. Schnell umklammert er die Handgelenke des Mannes und konzentriert sich mit aller Kraft darauf. Erschrocken versucht sich die billige Kopie ihm zu entziehen. Es gelingt ihm allerdings nicht und dann teleportiert sich Nightcrawler davon. Ein unsagbarer Schmerz jagt die Arme des Arztes hinauf. Als sich die purpurfarbene Schwefelwolke verflüchtigt, sieht er auch den Grund dafür: Seine Hände sind weg! Es sieht aus, als hätte jemand ein Beil genommen und sie feinsäuberlich von seinen Armen abgetrennt. „Was – was hast du getan?“, stammelt der Mann fassungslos und auch Wolverine betrachtet das Ganze mit großen Augen, ehe er makaber zu grinsen anfängt. Das Ganze wirkt vollkommen unwirklich, erst recht, da es noch einen vollen Moment dauert, bis die Armstümpfe ausgiebig zu bluten beginnen. „Ach, brauchst du die etwa noch? Dann entschuldige vielmals. Was bin ich doch für ein Dummerchen.“, kommt es nun erstaunlich kalt von der Decke der Höhle herab. Eine Sekunde später landen die abgetrennten Hände klatschend zwischen den beiden Kontrahenten auf dem Boden. Als der Arzt sie sieht, wird er ganz blass um die Nase. Er begreift einfach nicht, was gerade passiert ist. „Du – du elender Teufel!“, jammert er zur Decke empor. Dort löst sich Kurt aus dem Schatten und funkelt ihn todbringend mit seinen leeren Augen an. „Ich bin kein Teufel, sondern ein Abgesandter Gottes, und hier, um dich für deine Untaten an diesen wehrlosen Kindern zu bestrafen, Sünder!“ Kaum hat er den Satz beendet, lässt er sich mit gezogenem Schwert herabfallen. Die scharfe Klinge durchbohrt die linke Schulter des Mannes und frisst sich in ihrer gesamten Länge in seinen Körper hinein. Sie zerreißt den linken Lungenflügel, weshalb ein pfeifender Laut ertönt, als der Arzt erschrocken einatmet. Nun endlich treffen sich die Blicke der beiden X-Men. Der von Kurt wirkt hilflos-flehend, hat er doch gerade noch einmal die Kurve gekriegt. In seiner Wut auf diesen Mann, wollte er ihm das Schwert eigentlich direkt durch den Schädel jagen. Das hätte ihn womöglich umgebracht, vielleicht aber auch nicht. Doch auf ein Vielleicht kann sich Nightcrawler einfach nicht verlassen. Er will nicht töten, wenn es nicht ausversehen aus Notwehr passiert. Wolverines Blick besagt, wie stolz er auf die Entscheidung seines Elfen ist, und gleichzeitig ist er dankbar dafür, dieses Arschloch eigenhändig vernichten zu dürfen. Und genau das macht er nun auch. „Und jetzt zu uns beiden, Freundchen!“ Noch ehe der Kerl überhaupt ausatmen kann, rammt der Vielfraß seine Krallen in ihn hinein, wieder und immer wieder. Zerfetzt ihn regelrecht in tausend Stücke. Instinktiv schließt Kurt die Augen und wendet sich ab. Er weiß, wie viel Freude Logan das Ganze macht und das kann er sich einfach nicht mit ansehen. Irgendwann fällt klappernd das Schwert zu Boden. Vorsichtig sieht sich Nightcrawler nach seinem Partner um. Dieser steht beinahe ekstatisch keuchend über dem blutigen Haufen Undefinierbares und lässt ganz langsam seine Krallen wieder verschwinden. Von Übelkeit überkommen presst sich der Elf eine Hand auf den Mund und schluckt angestrengt. „Denkst – denkst du, er ist – tot?“, fragt er gepresst, obwohl der Anblick unmöglich etwas anderes zulässt. „Glaub schon, aber wir sollten die Reste dennoch verbrennen, um ganz sicher zu sein.“, erwidert der Ältere und sammelt alles Brennbare in der Höhle zusammen. 15 Als das Feuer schließlich brennt, schließt Wolverine seinen jungen Freund fest in die Arme und wendet so abermals den Blick es Elfen von der Szene ab, was dieser überaus erleichtert hinnimmt. „Wie geht’s den Kindern?“, fragt er nach einer Weile über das Prasseln der Flammen hinweg. Der Teleporter schmiegt sich fester in die Arme des anderen Mannes. „Den geht es den Umständen entsprechend, meint Hank. Er wird sie noch ein paar Tage beobachten, während wir ihre Eltern ausfindig machen.“ „Klingt gut. – Meinst du, dass es das jetzt mit einer göttlichen Aufgabe war?“ „Ich denke schon.“ „Und heißt das, dass du jetzt verschwinden wirst? Ich meine, der da oben hat dich von den Toten zurückgeholt, damit du etwas für ihn tust. Wenn deine Aufgabe jetzt erledigt ist, müsste das doch eigentlich heißen, dass du wieder zurück musst, oder?“ Langsam hebt Kurt den Blick und sieht in diese unglaublich alten und doch so wachen Augen vor sich. „Ich – weiß es nicht. – Was du sagst, klingt logisch, aber – ich weiß es nicht. – Wenn dem so ist, wird Gott mir sicher ein Zeichen geben und mich nicht einfach so verschwinden lassen – hoffe ich zumindest...“ „Hoffe ich auch. Ich will mich wenigstens verabschieden können, ohne dass eine verdammte Scheibe zwischen uns ist...“ Nachdenklich verweilen die beiden, bis das Feuer erlischt. Keiner von ihnen merkt, dass sie die ganze Zeit über beobachtet wurden. Ein wohlwollendes Lächeln huscht über das gütige Gesicht des Allmächtigen. Nein, Nightcrawlers Zeit ist noch lange nicht gekommen, so viel steht fest, denn es gibt noch so einiges für ihn zu tun, ehe er seinen wohlverdienten Platz im Paradies einnehmen darf... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)