Kigan von QueenLuna (– The crime scene of Gotamo City –) ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Kapitel 6 „Hey, was tun Sie hier?“ Was? Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, in meinem Kopf herrschte Chaos. Verwirrt blinzelnd starrte ich auf den Mann vor mir, spürte die Hand auf meiner Schulter, die Tonnen zu wiegen schien und mich regelrecht an Ort und Stelle festnagelte. Ich verstand nicht. Wer -? Wie durch einen Schleier sah ich, dass er mit mir sprach, doch ich war unfähig zu reagieren. Nur ganz langsam klärten sich mein Blick und die Welt um mich herum und damit auch das Gesicht vor mir. Es kam mir vage bekannt vor. Wie kam er hierher? Ich brauchte etwas, um ihn zuordnen zu können. In meinem Kopf herrschte immer noch diese drückende Leere, die jeden sinnvollen Gedanken verbannte und es unangenehm in meinen Ohren rauschen ließ. Verständnislos sah ich ihn an, beobachtete, wie er sich mit einer Hand durch die dichten, schwarzen Haare fuhr, mich nicht aus den Augen ließ, während sich seine Lippen bewegten. Die Worte erreichten mich nicht. In meinem Kopf dröhnte es, mein Herz schlug hart von innen gegen den Brustkorb, während sich mein Körper so anfühlte, als gehörte er nicht mir. Die ganze Situation überforderte mich. Ich spürte, wie der Griff um meine Schulter stärker wurde. „Niikura-San?“ Leise wie aus weiter Ferne. Heftig blinzelte ich, versuchte das Brennen in meinen Augen und das Rauschen zu vertreiben. Was zur -? Nach und nach kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück und mit ihm die Erkenntnis, dass hier gerade etwas ganz und gar falsch lief. Mein Herz setzte ein weiteres Mal aus, nur um anschließend weitaus schneller weiterzuschlagen als zuvor. Unbewusst hatte ich die Luft angehalten. Nun zwang sie sich krampfhaft zurück in meine Lungen. Ich konnte ein lautes Japsen nicht verhindern, während mir gleichzeitig kurz schwindlig wurde. Dabei starrte ich immer noch auf den Mann vor mir, der mir in diesem Moment wie ein Anker vorkam, in einer Welt, die an mir vorbeizurasen schien. Seine Konturen wurden schärfer, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ich wusste, dass ich ihn kannte, immerhin hatte er mir vor über einer Woche unaufgefordert seine Karte in die Hand gedrückt. In meinem Hirn ratterte es, während die Welt um mich herum immer klarer und lauter wurde. Andou? Nein, das war der Braunhaarige gewesen. Hara? Ja, Hara. Der, der mich mit seinem dämlichen Grinsen beinahe auf die Palme gebracht hatte. Diesmal grinste er nicht. „Was machen Sie hier?“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Dennoch schaffte sie es, mich endlich gänzlich aus der Erstarrung zu holen. Die dunklen Augen musterten mich eingehend, dabei machte er keine Anstalten seinen Griff zu lösen. Der schien sogar noch fester zu werden, als wollte er verhindern, dass ich jede Sekunde aufspringen und abhauen würde. „Gegenfrage: Was machen Sie hier? Und was ist passiert?“ Er sprach ruhig mit dieser warmen, weichen Stimme, trotzdem war die letzte Frage wie ein Eimer eiskaltes Wasser. Das Gefühlschaos, die Bilder der vergangenen Minuten stürzten erneut auf mich ein, ließen mich erschrocken keuchen. Mein Blick schnellte zur Seite. Frau Sumida! Da lag sie – unverändert, regungslos, eine Armeslänge von mir entfernt. Mit einem Schlag wich die restliche Leere in mir etwas anderem: Wut. Eine Wut, die ich schon lange nicht mehr verspürt hatte und die mich komplett in die Realität zurückkatapultierte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich geschrien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Ich starrte auf ihr lebloses Gesicht, ein unkontrollierbares Zittern breitete sich in meinem Körper aus. Diese Schweine! Wenn ich die - Mit einem Mal zuckte ein heftiger Schmerz durch meine Schulter, gleichzeitig wurde ich herumgezerrt. „Niikura-San!“ Etwas blitzte in den dunklen Augen vor mir auf. „Nochmal: Was tun Sie hier?“ Die Weichheit war aus seiner Stimme verschwunden, machte einem Drängen Platz. Jetzt erst wurde mir das komplette Ausmaß der Situation bewusst und wie es auf Außenstehende wirken musste. Die verwüstete Wohnung, Frau Sumidas lebloser Körper, ich neben ihr inmitten des ganzen Chaos'. Und dann noch entdeckt von jemandem, für dessen Vorgesetzten ich schon seit Jahren ein Dorn im Auge war. Scheiße! „Ich…“, setzte ich an, aber unterbrach mich gleich wieder. Was sollte ich antworten? „Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich damit nichts zu tun habe?“, brachte ich tonlos hervor, versuchte gleichzeitig mein hämmerndes Herz und die Wut unter Kontrolle zu bekommen. Ich wollte nicht aufs Revier, wollte nicht in einer der Zellen bis zum Verhör versauern. Das kannte ich schon. Sie würden mich zappeln lassen. Auf eine mildere Behandlung, gerade weil ich hiermit nichts zu tun hatte, brauchte ich nicht zu hoffen. Dafür war ich zu vielen Leuten auf den Schlips getreten und dass sie es in den letzten fünf Jahren vergessen hätten, glaubte ich nicht. „Ja.“ Was? „Ja, ich glaube Ihnen.“ Dass ich überrascht war, war gar kein Ausdruck. Ich hatte schon die Handschellen um meine Handgelenke klicken hören. „Aber… Warum?“ Die Worte hatten meinen Mund schneller verlassen als ich über sie nachdenken konnte. Hara blickte mich nun seinerseits einige Sekunden lang überrascht an, ehe er ein Schnauben verlauten ließ. Sein Blick zuckte hinter mich, zu Frau Sumida. Ein bitterer Zug ließ seine Mundwinkel verhärten. „Das ist nebensächlich. Nennen Sie es Eingebung, Niikura-San.“ Die Hand verschwand von meiner Schulter, griff dafür nach meinem Oberarm und zog mich mit sich nach oben, als er aus seiner Hocke erhob. Noch bevor ich weitere Fragen stellen konnte, fuhr er fort: „Sie verschwinden jetzt. Noch hat Sie hoffentlich keiner gesehen, was das Ganze sonst unnötig kompliziert machen würde.“ Er ließ meinen Arm los und holte ein Handy aus der Jackentasche hervor. „Ich muss meine Kollegen anrufen, dann wird‘s unangenehm.“ Sein Gesicht verfinsterte sich, während er wählte und das Handy ans Ohr hob. Einen Moment lang sah er mich mit gerunzelter Stirn an, doch ehe er noch etwas sagen konnte, wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen. In wenigen Sätzen schilderte Hara die Situation – ohne mich mit nur einer Silbe zu erwähnen – und legte wieder auf. „Los jetzt! Gehen Sie nach Hause und warten Sie dort!“ * Wie ich es ins Büro geschafft hatte, wusste ich nicht. Kaum hatte ich Frau Sumidas Wohnung verlassen, war alles erneut auf mich eingestürzt. Die Bilder, die Geräusche hatten mir die Sicht vernebelt, die Gedanken getrübt und dazwischen immer wieder die Frage nach dem Warum. Warum hatte ich es nicht verhindern können? Warum war ich nicht hineingestürmt? Und warum überhaupt das Alles? Nun saß ich hier an meinem Schreibtisch und starrte auf die Wand, die an einigen Stellen bereits ihren Putz verlor. Dass Rina ihren großen Kopf auf meinen Schoß gebettet hatte, bekam ich nur unterbewusst mit. In mir kämpften hilflose Leere und Wut um die Vorherrschaft, meine Gedanken rasten, ich konnte keinen von ihnen richtig greifen. Was für eine verfluchte Scheiße! Und zwischen dem ganzen Chaos in meinem Kopf tauchte ständig das Bild von Frau Sumidas leblosem Körper auf, das mir die Kehle zuschnürte. Es war nicht das erste Mal, dass mir der Tod begegnete, bei weitem nicht. Nur war es das erste Mal seit langem, dass er mir so nahe ging. Seit fünf Jahren um genau zu sein. Gewaltsam versuchte ich die Erinnerungen an Ren und Saki, das kleine Mädchen, zurückzudrängen, die unwillkürlich wieder in mir aufzusteigen drohten. Und dann auch noch Frau Sumida… Nein! Es reichte! Mit einem Ruck stand ich auf, so plötzlich, dass Rina erschrocken aufbellte und sich unter den Schreibtisch verzog. Ich musste irgendetwas tun, mich ablenken, bevor mich die Bilder der Vergangenheit zu ersticken drohten. Automatisch trat ich an die Kaffeemaschine, drückte den großen, runden Knopf, in der Hoffnung, mit meinem geliebten Heißgetränk wenigstens etwas meine Nerven beruhigen zu können. Nur machte ein klägliches Piepen mein Vorhaben zunichte. Augenblicklich fing meine Hand an zu zittern, als ich auf die Anzeige starrte, die auf den leeren Bohnenbehälter hinwies. Scheiße! Bittere Galle stieg in mir auf, ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, während Frau Sumidas milde lächelndes Gesicht vor meinem geistigen Auge auftauchte. Richtig, genau deshalb hatte ich mich ja erst auf den Weg zu ihr gemacht. So eine verfluchte Scheiße! Meine Augen brannten. Ich wollte nicht so reagieren, wollte nicht, dass mich jeder Gedanke daran aus der Bahn warf. Derart emotional war ich für gewöhnlich nicht, ich erkannte mich selbst kaum wieder. Bemüht tief durchatmend trat ich ans Fenster, riss es auf, um anschließend davor auf den Schreibtischstuhl zu sinken. Mein Blick irrte ziellos nach draußen. Für einen Moment erlaubte ich es mir, die Erinnerungen zuzulassen. Das Gefühl des Verlustes ließ mein Herz krampfen und machte mir das Atmen schwer. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie nah wir uns gestanden hatten. Frau Sumida war immer irgendwie dagewesen. Die ganzen Jahre über, seit ich hierhergezogen war. Auch wenn ich nicht viel über sie wusste, sie war eine Konstante in meinem Leben gewesen, wie ein Teil einer kleinen Familie. Und nun war sie weg. Mit einem Seufzen riss ich mich von dem grauen Regenwetter vor dem Fenster los und blickte auf Rina hinab, die leise winselnd neben mir saß und mich aus großen, treuen Hundeaugen ansah. Es war, als wüsste sie, was in mir vorging, und wollte mich nun trösten. Ein kleines, wehmütiges Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich mich etwas aufrichtete und ihr mit der Hand über den Kopf streichelte. „Ach, mein Mädchen… Du bleibst bei mir, oder?“ Das Winseln wurde lauter. Ich konnte nicht anders, als mich zu ihr hinab zu beugen, meine Arme um ihren Körper zu schlingen und das Gesicht dagegen zu drücken. Sie hielt ganz still, während ich die Augen schloss. Ach, das war doch alles Scheiße... * Es hatte länger gedauert, als ich gedacht hatte. Viel zu lange. Mittlerweile fing es bereits an, zu dämmern. Außer Atem blieb ich vor dem alten Backsteingebäude stehen und warf einen prüfenden Blick die Straße entlang, ehe ich die knarrende Eingangstür aufdrückte und mich schnell ins dunkle Treppenhaus schob. Erst jetzt gönnte ich mir ein paar Sekunden zum Durchatmen. Es hatte sich wie eine schiere Ewigkeit angefühlt, bis die Kollegen von der Mordermittlung und der Spurensicherung eingetroffen waren. Wenigstens hatte mir das genügend Zeit gegeben, Dai kurz über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen und meine Aufgekratztheit so weit wieder in Professionalität zu verwandeln, um Shiroyamas misstrauischen Blick zu entgehen. Hätte mir noch gefehlt, wenn der sich gleich als Erstes auf mich stürzte. Was musste der auch überall dabei sein? Glücklicherweise gab es am Tatort genug zu tun, um ihn zu beschäftigen und mich nicht zur Weißglut zu treiben. Seufzend löste ich mich von der Haustür, an der ich gelehnt hatte, und sah mich um. Bei meinem ersten Besuch hier hatte ich dafür kein Auge gehabt. Selbst im diffusen Licht, das durch die schmalen Fenster der Zwischenetage hineindrang, wirkte das Treppenhaus schäbig. Überall blätterte der Putz von der Decke. Dass die Lampen funktionierten, bezweifelte ich stark, weshalb ich gar nicht erst nach einem Lichtschalter Ausschau hielt. Hinter der Tür schräg links von mir klapperte es gedämpft, ansonsten war es still. Anscheinend der Vermieter, wenn ich mich recht erinnerte. Langsam setzte ich mich in Bewegung, nahm angespannt die ersten Stufen in die oberen Etagen. Da war selbst das Treppenhaus der alten Frau schöner gewesen. Automatisch glitten meine Gedanken wieder ab. Es war nicht der erste Tatort gewesen, zu dem ich gerufen worden war. Schließlich war das mein Job. Nur war das Ausmaß der Verwüstung ein anderes als üblich. Fast die komplette Wohnung war zerstört gewesen, kaum ein Möbelstück stand mehr dort, wo es hingehörte. Entweder hatte jemand große Freude an genereller Zerstörung gehabt oder nach etwas Bestimmtem gesucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Blieb die Frage, ob er es gefunden hatte. Doch was mich im Moment viel brennender interessierte: Was um Gottes Willen hatte Niikura dort gemacht? Es war ein kleiner Schock gewesen, als ich ihn neben der Leiche hatte knien sehen und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Schlimmste angenommen. Diese Befürchtung hatte sich glücklicherweise schnell wieder verflüchtigt. Der Chief hätte sicher drauf bestanden, ihn sofort wegen Mordes festzunehmen. Für ihn hätte es gereicht, dass sich Niikura überhaupt am Tatort befunden hatte. Aber scheinbar hatte ihn niemand gesehen, wie die ersten Befragungen der wenigen Nachbarn ergeben hatten, und diese Tatsache nahm mir wenigstens in diesem Punkt eine Teil der Last von den Schultern. Er konnte es nicht gewesen sein, davon war ich fest überzeugt. Nicht mit diesem Gesichtsausdruck, mit dem er mich angesehen hatte, als ich ihn fand. Das war kein Theater gewesen. Die Dielen unter meinen Schuhen knarrten, als ich den dunklen Gang im ersten Stock entlangging. Rechts von mir befand sich eine unauffällige Tür, die anscheinend zu einer weiteren Wohnung führte. Dahinter war es still. Bedächtigen Schrittes hielt ich auf die Tür am Ende des Ganges zu. Es fühlte sich an, als wären Monate vergangen, seit ich hier gewesen war, dabei war es gerade einmal eine Woche her. Eine gewisse Unruhe machte sich in mir breit, je näher ich kam. Schwacher Lichtschein drang durch die milchige Scheibe, auf der in großen Lettern ‚Detektei Niikura Kaoru‘ stand. Wie würde er reagieren? Ich konnte ihn gerade überhaupt nicht einschätzen. Bei unserer ersten, offiziellen Begegnung hatte sich das Bild, das ich seit Jahren von ihm hatte, bestätigt. Er war eine Kämpfernatur, auch wenn er das wohl von sich selbst nicht sagen würde. Aber seine aufbrausende Art und sein fester Blick trogen nicht. Er wirkte in dem, was er tat, aufrichtig. Und obwohl er Dai und mich an dem Tag vermutlich am liebsten achtkantig rausgeworfen hätte, konnte ich nicht anders, als ihn sympathisch zu finden. Auch wenn das sicher nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Ein flüchtiges Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln, das augenblicklich wieder verschwand, als ein anderes Bild in meinem Kopf erschien. Wie er dort neben der alten Frau gekniet hatte, inmitten des ganzen Chaos', die Augen leer, der Körper komplett unbeweglich. Er hatte so anders gewirkt, ein Schatten seiner Selbst – etwas, das ich nicht erwartet hatte und das eigentlich nur zeigte, das er dem Opfer sehr nahe gestanden haben musste. Zögerlich hob ich die Hand und klopfte. Ich hatte vom letzten Mal gelernt und noch einmal wollte ich nicht unvorbereitet dieser großen, zähnefletschenden Bulldogge gegenüberstehen. Doch wider Erwarten antwortete mir nur Schweigen. Stirnrunzelnd klopfte ich noch einmal, doch als weiterhin keine Reaktion kam, drückte ich einfach die Klinke runter. „Niikura-San?“ Ein Schwall kalter Luft mit einem Hauch von abgestandenen Zigaretten kam mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Noch im Eintreten sah ich mich flüchtig um, alles wirkte unverändert, auch wenn dieses Mal die Fenster sperrangelweit geöffnet waren. Der große Schreibtisch stand davor, dominierte den Raum, an den Wänden waren Regale angebracht, gefüllt mit allerlei Büchern und Ordnern. Von persönlichen Gegenständen fehlte jede Spur. Aber für gewöhnlich gehörte so etwas auch nicht in ein Büro und ich schätzte Niikura auch nicht so ein, dass er an solchen Dingen hing. Während ich die Tür umsichtig hinter mir schloss, blieb mein Blick an dem großen Hundekorb in der Ecke hängen, von wo aus mich die Bulldogge aus wachen Augen beobachtete und ein leises Winseln von sich gab. So ruhig hatte ich sie nicht in Erinnerung gehabt. Langsam – nicht, dass sie es sich bei einer unbedachten Bewegung noch einmal anders überlegte und doch über mich herfiel – ging ich auf den Schreibtisch zu, hinter dem mich Schweigen empfing. Etwas, dass mich noch eine Spur unruhiger machte. Von Niikura sah ich nur den Hinterkopf. Er hatte mir den Rücken zugedreht und starrte anscheinend aus dem Fenster. Die langen, dunklen Haare hingen wirr über die Stuhllehne, so als wäre er unzählige Male mit den Fingern hindurchgefahren. Die Stille, die im Raum herrschte, war drückend, doch wusste ich nichts Sinnvolles zu sagen, um sie zu brechen. Wäre ich zu einem offiziellen Hausbesuch oder Verhör hier aufgetaucht, wäre es etwas anderes gewesen. Nur war es das heute nicht – jedenfalls nicht in diesem Sinne – und mir fehlte gerade ein dazu passendes Konzept. Natürlich wollte ich herausfinden, was passiert war, wie Niikura in die nächste Sache, die ihm das Leben schwer machen konnte, hineingeraten war. Aber ich konnte ihn nicht wie einen Verdächtigen oder normalen Zeugen behandeln. Die letzten Tag und Monate hatten mir wieder einmal gezeigt, was in dieser Stadt nicht stimmte. Und dass ich das nicht mehr einfach so hinnehmen konnte und wollte. Und wenn das bedeutete, dass ich den offiziellen Weg verlassen musste, mich über meine Vorgesetzten hinwegsetzen oder ihnen bestimmte Details verschweigen musste, dann war das eben so. Sekundenlang stand ich unbeweglich herum, starrte auf Niikura Hinterkopf und wartete auf eine Reaktion. Doch entweder er war in seiner eigenen Welt gefangen und hatte mich gar nicht registriert, oder er ignorierte mich schlicht und ergreifend. Als nach einer kleinen Ewigkeit immer noch nichts geschah und ich mir schon langsam albern vorkam, gab ich mir einen Ruck und ging zu einem der Regale. Irgendetwas musste ich schließlich tun. Die etwas in Jahre gekommene Kaffeemaschine, die dort auf einem der Regalbretter thronte, war startklar für den nächsten Koffein Nachschub, eine Tasse stand bereits darunter. Doch als ich ungefragt die Rolle des Gastgebers übernehmen wollte und den An-Knopf betätigte, gab die Maschine nur ein klägliches Geräusch von sich und ein rotes Lämpchen blinkte auf. Die Bohnen waren leer. Da weit und breit kein Nachschub zu entdecken war, nahm ich alternativ zwei Gläser vom Brett darüber und eine halbleere Flasche Wasser und stellte sie geräuschvoll auf dem Schreibtisch ab. Das leichte Zucken, das durch Niikura ging, überging ich geflissentlich, schenkte uns dafür ein und ließ mich in einem der beiden Besuchersessel vor dem Schreibtisch nieder. Jetzt war er an der Reihe, etwas zu tun. Er konnte mich ja nicht ewig ignorieren. Es dauerte noch einige Herzschläge, ehe Niikura sich endlich umdrehte und mich aus matten Augen ansah. „Sie kommen spät.“ Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken, als ich nach meinem Glas griff. „Hat etwas länger gedauert, als ich wollte.“ Das Wasser schmeckte warm und abgestanden, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ruhig erwiderte ich seinen Blick über den Rand des Glases hinweg. Das schwache Licht der Schreibtischlampe konnte seine Erschöpfung nicht verbergen. Die Lippen waren zu zwei blutleeren Strichen zusammengepresst, unter den Augen lagen dunkle Schatten, die beim letzten Mal noch nicht da gewesen waren. Das „Tut mir leid“ verließ meinen Mund automatisch, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hatte. Ob es auf seinen Zustand, die Verspätung oder den Tod der alten Dame, die ihm unübersehbar nahe gestanden hatte, bezogen war, konnte ich selbst nicht sagen. Vielleicht auf alles. Aber anscheinend verstand er auch ohne weitere Erklärung, denn er sah mich nur ernst an, bevor er nickte und selbst einen Schluck Wasser trank. Sein angewiderter Gesichtsausdruck brachte mich zum Schmunzeln. Gleichzeitig merkte ich, wie sich der angespannte Knoten, der sich seit meinem Eintreffen hier in meiner Brust gehalten hatte, allmählich zu lösen begann. „Ich glaube, ich brauch etwas Stärkeres“, hörte ich ihn murmeln, doch anstatt aufzustehen und seinen Worten Taten folgen zu lassen, lehnte er sich seufzend zurück und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ungewollt blieben meine Augen an den dunklen Linien, die seine Handrücken zierten, hängen. Die Ärmel seines weiten Pullovers waren nach oben gerutscht und gaben noch mehr Muster und Bilder auf seiner Haut preis. Vorher waren sie mir nie bewusst aufgefallen, obwohl sie eigentlich kaum zu übersehen waren. Aber gut. Ich versteckte mein Schmunzeln hinter einem weiteren Schluck Wasser. Es passte zu ihm, verlieh ihm etwas rebellisch Verwegenes. Was meine bisherige Meinung von ihm verstärkte. Erst als er sich gänzlich zu mir wandte und mir einen langen Blick zuwarf, fuhr ich ertappt aus meiner Betrachtung. „Eigentlich hatte ich damit gerechnet, sofort Handschellen umgelegt zu bekommen, wenn Sie hier auftauchen.“ Ich stutzte. „Warum sollte ich? Ich habe doch bereits gesagt, dass ich Ihnen glaube.“ Er schnaubte. „Schon, aber Meinungen können sich ändern. Besonders wenn gewisse Vorgesetzte einen Einfluss draufhaben.“ Schweigend hielt ich seinem Blick stand, während ich überlegte, wie weit ich mich vorwagen sollte. Würde er mir überhaupt glauben? Gut, er wusste, wie es auf dem Revier lief und dass sich in den letzten fünf Jahren etwas geändert hatte, war eher unrealistisch. Aber das war kein Grund, dass er mir vertrauen würde – nicht, wenn ich seine Meinung über die Polizei richtig einschätzte. Aber wann sollte ich anfangen mit offenen Karten zu spielen, wenn nicht jetzt? „Die wissen ja auch nicht alles… und werden es nie erfahren, wenn es nach mir geht.“ Er wirkte überrascht. Seine linke Augenbraue zuckte, während er mich musterte. Es war, als würde er mich zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Ich ließ seine Musterung gelassen über mich ergehen. Das trockene „Aha“, das nach einem Moment der Stille folgte, klang nicht sonderlich überzeugt, aber ich hatte auch nichts Anderes erwartet. Ich musste das Ganze langsam angehen, besonders nach den letzten Tagen. „Hören Sie, Niikura-San: Wie ich schon sagte, ich glaube Ihnen. Und ich will Ihnen nichts Böses“, fügte ich noch schnell hinzu, obwohl es selbst in meinen Ohren lahm klang, aber irgendwie musste ich ja voran kommen. Erneut zuckte seine Augenbraue nach oben. „Ich bin inoffiziell hier, vielmehr aus privaten als aus beruflichen Gründen. Also wenn Sie mich irgendwo anschwärzen wollen, bekommen Sie jetzt die Gelegenheit dazu.“ Den Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, konnte ich nur schwer deuten. Irgendetwas zwischen Überraschung, Unglauben und Misstrauen. Dennoch löste sich der Knoten in mir weiter, denn bisher hatte er mich noch nicht rausgeworfen und hörte mir zu, was ich einfach als gutes Zeichen ansah. Nach einigen Sekunden Schweigen stellte er die Frage, die ich bereits erwartet hatte: „Wieso waren Sie eigentlich bei Frau Sumidas Haus? Das ist nicht unbedingt ein Ort, an dem Polizisten für gewöhnlich Streife laufen, oder nicht? Und Sie sind kein Streifenpolizist, richtig?“ Da hatte er recht. Unwillkürlich erinnerte ich mich an das ungute Gefühl, als ich diesen dunklen Wagen aus der Einfahrt hatte kommen und davonrasen sehen. Einen Wagen, der mir in seiner Art bekannt vorkam und in dieser Gegend für gewöhnlich nichts zu suchen hatte. Vielleicht war es eine Vorahnung oder auch sogenannter Polizisten-Instinkt gewesen. Egal, was es war, es hatte mich in diesen Hinterhof, durch die einzig offenstehende Tür bis in diese Wohnung geführt. „Nennen Sie es Zufall, aber ich hatte heute sowieso zu Ihnen gewollt.“ Kurz und knapp fasste ich das Geschehene zusammen. „Warum haben Sie mich nicht verhaftet? Ihre Kollegen hätten sicher nicht gezögert, sondern erst gehandelt und dann gefragt.“ Ich kam nicht umhin über seine Einschätzung zu schmunzeln. „Sicher, aber ich bin schließlich nicht meine Kollegen. Und ich brauche ihre Hilfe.“ Ich versuchte mir die aufkeimende Anspannung nicht anmerken zu lassen und schlug die Beine übereinander. Würde er darauf eingehen oder sofort abblocken? Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn es in diesem Moment draußen geblitzt und gedonnert hätte, so filmreif, wie wir uns gerade gegenübersaßen. Er starrte mich eine Weile an, ich merkte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann wandte er sich ab und sah wieder aus dem Fenster. Sein „Die hätte Frau Sumida auch gebraucht“ war so leise, dass es im beginnenden Prasseln des Regens, der die Fensterscheibe traf, beinahe unterging. Der Boden vor dem geöffneten Fenster fing in kürzester Zeit an, dunkel zu glänzen. Da Niikura nicht den Eindruck erweckte, als würde ihn das im Geringsten interessieren, erhob ich mich schnell, um das Fenster zu schließen. Augenblicklich wurde das Prasseln leiser. Ich wusste nicht, was mich dazu brachte, mich derart offen in einem fremden Büro zu bewegen und ich war mir auch sicher, dass die meisten Anderen so eine Aktion als unangebracht und unhöflich empfunden hätten. Denn prinzipiell konnte es mir egal sein, ob der Boden unter Wasser gesetzt wurde oder nicht, ich war nur Gast. Aber anscheinend störte Niikura mein Verhalten herzlich wenig. Er saß mit dem Rücken zu mir, starrte weiter aus dem Fenster. Unschlüssig blieb ich hinter ihm stehen, ehe ich mich seufzend gegen die Schreibtischkante lehnte und ebenfalls nach draußen sah. Oder es vielmehr versuchte, denn es war dunkel und alles, was ich sah, war mein eigenes Spiegelbild. Ich hatte das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Die Mauer, die Niikura um sich herum errichtet hatte, wirkte undurchdringlich. Aber dass ich gerade nicht sonderlich vorankam, lag durchaus an mir. Natürlich hatten Dai und ich einige Male darüber gesprochen, den offiziell vorgegebenen Pfad der Polizei zu verlassen. Wir wussten, dass im Revier etwas falsch lief, verschiedene Leute im Hintergrund ihre eigenen Fäden zogen, mit unbekanntem Ziel. Nur waren wir beide noch nicht bis auf den Kern des Ganzen vorgedrungen, hatten nicht einmal an der Oberfläche gekratzt, es dafür immer wieder vor uns hergeschoben. Doch dieser Fall des vermissten Terachi Shinya hatte etwas in uns zum Rollen gebracht, weshalb wir uns auch so reinknieten, ungeachtet der widersprüchlichen Befehle und Aussagen der oberen Etagen. Womöglich würde das Ganze unser persönlicher Feldzug werden, denn eines war klar: Wir wollten nichts mehr einfach so hinnehmen, hatten genug von dem Netz aus Intrigen und Korruption. Aber alleine konnten wir das nicht schaffen, das hatten die letzten Tage gezeigt. Wir brauchten Unterstützung von jemandem, der aus diesem Netz ausgebrochen war. Jemandem wie Niikura Kaoru. Allerdings hatte ich nicht gedacht, den Plan gleich heute anzugehen, sonst hätte ich mir vorher bereits passende Worte und Erklärungen zurechtgelegt. So stand ich nun da und verfluchte mich selbst dafür, dass in meinem Kopf gähnende Leere herrschte und mir jeder Ansatzpunkt als ungenügend erschien. Ich gab mir einen Ruck und sah meinem Spiegelbild fest in die Augen. „Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen, Niikura-San.“ Sein Schnauben klang zynisch. „Was wissen Sie schon?“ Er drehte sich so schnell in seinem Stuhl herum, dass ich nur mit Mühe ein Zusammenzucken verhindern konnte. „Waren Sie dabei, als sie erschossen wurde? Nein!“ Er war wütend, aber es schien, als würde sich die Wut vielmehr gegen ihn selbst richten. Finster sah er mich an und sah dennoch gleichzeitig durch mich hindurch. „Können Sie beurteilen, ob mich keine Schuld trifft? Nein! Also behaupten Sie nicht, dass ich mir keine Vorwürfe machen soll! Ich hätte eingreifen müssen, statt unbeweglich in einer dunklen Ecke zu hocken wie ein Feigling.“ Diese Worte spie er geradezu aus. „Ich hätte diese Kerle wenigstens ablenken sollen, dann wäre sie vielleicht noch am Leben." Ich ließ seine Wut an mir abprallen, schließlich war sie nicht für mich bestimmt. Stattdessen fragte ich ruhig: „Sie haben gesehen, was passiert ist?“ „Gehört.“ Er wandte den Blick ab, starrte nun ebenfalls auf sein Spiegelbild im Fenster. Ein harter Zug lag um seinen Mund, eine Hand war zur Faust geballt. „Ich hätte reinstürmen müssen, statt mich zu verstecken.“ „Niikura-San, Sie sind nicht mehr bei der Polizei. Sie waren unbewaffnet. Wie hätten Sie gegen – wie viele – Männer antreten wollen?“ „Drei… glaube ich.“ „Sehen Sie.“ Ich löste mich von meinem Platz an der Schreibtischkante und trat ein paar Schritte zur Seite, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Besser so, denn ich spürte, wie mich seine Emotionen einzunehmen drohten und das durfte nicht passieren. Nicht, wenn ich noch etwas Professionalität wahren wollte. Eine Armeslänge vom Hundekorb entfernt ließ ich mich in die Hocke sinken und streckte vorsichtig die Hand aus, um der Bulldogge die Möglichkeit zu geben, mich zu beschnüffeln. Sie hob zwar kurz den Kopf, wirkte aber reichlich uninteressiert an mir und blinzelte nur träge. Keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Dennoch blieb ich hocken und fuhr fort: „Schon in der Polizeischule lernt man, keine Alleingänge zu starten, egal, ob bewaffnet oder unbewaffnet. Das sollten Sie doch noch wissen.“ „Sie haben sich über mich informiert.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Schmunzelnd erhob ich mich, ging langsam um den Schreibtisch herum und ließ mich wieder auf meinen alten Platz fallen. Der Sessel gab gefährlich knarrende Geräusche von sich, die ich aber ignorierte und einfach hoffte, er möge mein Gewicht halten. „Nein, ich wusste es schon vorher.“ Erneut wanderte Niikuras Augenbraue nach oben. „Ach, hängt mittlerweile ein Steckbrief von mir im Revier oder wie?“ Ich musste grinsen. „Vielleicht beim Chief im Büro.“ Wider Erwarten zuckten seine Mundwinkel ebenfalls, als er nach dem Wasserglas griff. Sein Blick lag prüfend auf mir, während er einen Schluck trank. Die Wut schien verschwunden, er wirkte eher interessiert als misstrauisch, was mich innerlich aufatmen ließ. Obwohl ich die Wut und die vorherige Lethargie verstehen konnte, war ich dennoch erleichtert, dass diese Phasen anscheinend vorerst vorbei waren und ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Vielleicht war er sogar ein wenig neugierig darauf, wer hier wirklich vor ihm saß. Zumindest hoffte ich das. „Sie erinnern sich sicher nicht, aber wir sind uns vorher schon einmal begegnet.“ „An letzte Woche kann ich mich noch ziemlich genau erinnern.“ Ich lachte kurz auf. „Davon bin ich ausgegangen. Nein, ich meine, als Sie noch im Polizeidienst waren.“ Ratlos schaute er mich an, so fügte ich ein schnelles „Ich habe auch nicht erwartet, dass Sie sich erinnern.“ hinzu. Ich setzte mich ein Stück gerader hin und sah ihm fest in die Augen. „Vorschlag: Bevor ich Ihrer Erinnerung etwas auf die Sprünge helfe, warten wir auf Dai…“ Fragend sah er mich an, so ergänzte ich: „Andou Dai, mein Kollege. Und bis dahin finden Sie vielleicht etwas anderes in den Tiefen Ihrer Schränke als dieses abgestandene Leitungswasser." Ich schaute flüchtig auf meine Armbanduhr. „Ach und kurzer Tipp, ich bin für heute offiziell außer Dienst.“ Nachwort: Vielen lieben Dank zunächst an die liebe darkyamimaru, die sich der Korrektur der bisherigen Kapitel angenommen hat Dankööö. Und nun? Ich hoffe, das Kapitel war nicht zu langweilig. Ich kann das selbst immer so schlecht einschätzen. Könnt ihr dem Ganzen folgen? Ist Kaorus, aber auch Toshiyas Denken und Handeln bisher nachvollziehbar? Gibt's Vermutungen? Fragen über Fragen *lach* Es wäre wie immer ein Traum, wenn ihr mir eure Meinung als Feedback hinterlasst. Das ist immer sehr hilfreich ^^ Und ich stelle fest, Kaoru flucht sehr viel... aber sei's ihm in der Situation gegönnt. Wer würde da nicht fluchen? *lach* Liebe Grüße und bis zum nächsten Kapitel Luna Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)