Gruselige Kurzgeschichten-Eine Sammlung von Dharma_Montgomery ================================================================================ Kapitel 1: Geschichte 1 ----------------------- ‚Vielleicht hätte ich mir das mit gestern doch noch einmal überlegen sollen!‘ Stöhnend setzte ich mich in meinem Bett auf und hielt mir den Kopf. Das war eindeutig keine gute Idee gewesen. Doch dafür war es nun zu spät. Nächstes Mal würde er eindeutig auf ein mehrstündiges Training verzichten, wenn er sich nicht gut fühlte. Eigentlich sollte es ja nur ein kurzes Training werden, nur so, dass man eben nicht einrosten würde. Aber dann hatte er seinen Freund Dan getroffen und es ist ziemlich schnell in einen Wettkampf ausgeartet. ‚Selber schuld!‘ Aber jammern half nun nicht, er sollte nun erst einmal zusehen, dass er Schmerztabletten fand. Lange würde er das sonst nicht aushalten. Nach einem kurzen Besuch im Bad schlurfte ich immer noch leicht stöhnend den Flur entlang bis ins Wohnzimmer. Hier im Schrank hatte ich immer meine Medikamente. Schnell war etwas Passendes gefunden, also langsam zurück ins Bett. Mit dem Glas Wasser neben meinem Bett spülte ich schnell 2 Tabletten runter, dann legte ich mich direkt wieder hin. Ich fühlte an meine Stirn. Etwas warm, wahrscheinlich kein Fieber. Da die Tabletten aber auch bei Fieber wirken würden, fand ich mich doch ganz gut versorgt. Und obwohl ich gerade einmal im Bad und im Wohnzimmer gewesen war, fühlte es sich für meinen Körper wie ein ganzer Marathon an. So hatte ich mich nach einem Training noch nie gefühlt, egal wie anstrengend es war, oder wie sehr ich es mal wieder übertrieben hatte. Entweder ich wurde alt… oder ich war einfach nur doof. Ich wünschte jedenfalls innigst ich wäre gestern zu Hause geblieben. Meine Gedanken schweiften nicht mehr lange darum, was ich hätte anders machen sollen, denn ich war in null-komma-nichts wieder eingeschlafen. Am nächsten Morgen fühlte ich mich bedeutend besser. ‚War wohl doch nicht so schlimm, wie ich erst dachte!‘ Ich streckte mich, dann stand ich auf um duschen zu gehen. Danach fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Hatte wohl einfach übertrieben. Ich zuckte mit den Schultern und griff nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Mein Gott, hatte er sich so stark im Bett gewälzt, dass der ganze Staub der Wohnung aufgewirbelt wurde? Kopfschüttelnd wischte er die leichte Staubschicht vom Display. Nanu, der Fingersensor reagierte gar nicht? Er versuchte es noch einige Male, drückte einige Knöpfe, aber nichts. Anscheinend war der Akku komplett leer. Obwohl er doch die ganze Zeit geschlafen hatte und nichts damit gemacht hat… Aber ihn wunderte so langsam nichts mehr. Er hatte in letzter Zeit sowieso mehr als Pech gehabt. Erst hat ihn seine Freundin verlassen, dann hatte er sich etwas weggeholt, als er letztens von der Arbeit nach Hause auf den Bus warten musste. Im strömenden Regen. Weil der Bus einfach nicht kam und er auf den nächsten warten musste. Wo er doch extra eher Feierabend gemacht hatte… Dadurch hat er dann auch noch die Verabredung mit seinen Freunden nicht einhalten können, die haben umsonst auf ihn vor der Bar gewartet. Er hat gedacht seine Pechsträhne hätte bald einmal ein Ende, aber anscheinend musste er sich noch etwas gedulden. Seufzend zog er das Ladekabel aus der Schublade des Nachtisches. Er schloss das Handy an. Nichts…. Er fasste sich an den Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein, jetzt war auch noch das Ladekabel hin? Wütend schleuderte er es in die Ecke. Dann halt nicht, er hatte keine Lust nur deshalb jetzt extra raus zu gehen und sich eines zu kaufen. Zumal er, so gut er sich heute auch fühlte, nicht das Risiko eingehen wollte, dass er gesundheitlich einen Rückschlag erleiden würde. Nein, so wichtig war es nicht, das konnte nun auch noch warten. Er sollte erst einmal etwas essen. Also auf in die Küche! Doch auch hier holte ihn sein Pech erneut ein. Kein Brot, kein Obst, nichts im Kühlschrank. Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte zwar nie viel zu Essen im Haus, dafür reichte das Geld einfach nicht, aber er kam immer gut über die Runden. Er schaute in die Schränke, auch hier war es doch sehr leer. Wo waren alle seine Vorräte hin? Doch dann hatte er immerhin etwas Glück: Ganz hinten in einem Schrank, in der er eigentlich keine Lebensmittel lagerte, fand er eine eingestaubte Dose Ravioli. Also, noch mehr eingestaubt als seine Küche. Er nahm sich vor direkt nach dem Essen erst einmal Staub zu wischen. Er öffnete die Dose und schüttete sie in einen kleinen Topf. Dann geschwind auf den Herd gestellt und in ein paar Minuten war sein warmes Essen fertig! So war zumindest der Plan. Bis der Herd keinen Mucks von sich gab. ‚Ich kann nicht mehr! Was soll das? Einen neuen Herd kann ich mir doch gar nicht leisten!‘ Auch diesen Herd hatte er vor einigen Jahren geschenkt bekommen, als Freunde von ihm zusammengezogen waren und daher einen Herd übrighatten. Er hatte ansonsten nicht einmal eine Mikrowelle. ‚Naja, Augen zu und durch, es hilft ja jetzt doch nichts.‘ Er setzte sich auf den Küchenstuhl, nachdem er diesen kurz abgewischt hatte und aß die Ravioli kalt aus dem Topf. Schlimmer konnte es schon fast nicht mehr werden! Wie falsch er doch damit liegen sollte! Als er mit dem Essen fertig war wollte er sich kurz anziehen, doch die meisten seiner Sachen waren einfach nicht mehr da! Mit Mühe und Not fand er eine zerknitterte alte Jeanshose und ein ausgewaschenes T-Shirt. Beides roch leicht muffig, aber wenn er nicht den ganzen Tag in Unterwäsche herumlaufen wollte, musste er wohl in den sauren Apfel beißen. Vielleicht wäre es doch keine schlechte Idee raus zu gehen. Er hätte ja die Polizei gerufen, aber da sein Handy nicht funktionierte und er schon lange kein Festnetztelefon mehr hatte, konnte er das schlecht tun. War vielleicht besser, wenn er persönlich vorbeigehen würde, die würden ihn dort bestimmt eh nur für bescheuert halten. Wie sollte man auch erklären, dass einem fast alles gestohlen wurde, während man zu Hause war, aber nichts mitbekommen hat? Und am Telefon käme das ja noch merkwürdiger rüber! Ne, das hörte sich selbst für ihn komisch an. ‚Vor allem mein Handy haben Sie auch dagelassen!‘ Das verstand er jetzt tatsächlich so gar nicht, aber eigentlich verstand er heute eh gar nichts von dem was er erlebt hatte. Also war das auch nichts Neues mehr. Er saß gerade auf seinem Bett und zog die Schuhe an, als er plötzlich hörte, wie seine Wohnungstür aufgeschlossen wurde. ‚Was geht denn jetzt vor? Niemand außer mir hat einen Schlüssel! Am Ende sind das wieder die Einbrecher!‘ Wütend zog ich die Schuhe nur lose über und stapfte zur Wohnungstür. ‚Na wartet!‘ Er war entschlossen denjenigen, der sich gerade Zutritt verschaffte, zur Rede zu stellen! Als er an der Tür angekommen war, stutzte er jedoch. Also so hatte er sich Einbrecher jetzt nicht vorgestellt. Es war ein Mann im mittleren Alter, begleitet von einer jungen Dame, vielleicht eine Studentin. Vor Überraschung brachte ich zunächst kein Wort heraus, doch der Mann hatte eindeutig einen Schlüssel und kam wie selbst verständlich herein. Kaum war er hereingetreten, bat er mit einer einladenden Geste auch die junge Frau in die Wohnung herein. ‚Das kann nicht sein Ernst sein!‘ „Hallo, was glauben sie eigentlich, was sie da tun? Was haben sie hier in meiner Wohnung zu suchen?“ Während ich sprach war ich einige Schritte nähergekommen, doch anscheinend waren die Besucher abgebrühter als ich angenommen habe. Niemand beachtete mich. ‚Was für eine Frechheit!‘ Erneut ärgerte er sich, dass er nicht die Polizei rufen konnte. Wenn man sein Handy einmal brauchte, dann war es nicht da. Oder schon da, nur eben nicht zu benutzen… Wütend machte er noch weitere Schritte auf die beiden Eindringlinge zu. Niemand sah auch nur in seine Richtung. Die junge Dame sah sich aufmerksam in seiner Wohnung um, der ältere Herr immer grinsend und wohlwollend dabei. Ich fuchtelte vor Ihren Augen. Doch niemand nahm mich wahr. Plötzlich kam Bewegung in den Mann. „Wer hat das denn hier hingestellt? Ich hatte doch extra alles weggeräumt!“ Hastig nahm er meinen Topf, in dem noch mein Löffel stand und stellte ihn in die Spüle. „Entschuldigen Sie das bitte, dass muss einer meiner Kollegen gewesen sein!“ Er nahm sich ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass die Sachen hier noch rumstanden. Was zur Hölle ging hier nur vor sich? „Machen Sie sich keine Sorgen, das ist schon in Ordnung. Ich habe hier eh nicht damit gerechnet, dass es piko bello ist, insofern passt das schon!“ Die junge Frau wirkte ganz entspannt. Sie ging aus der Küche heraus und in Richtung Schlafzimmer. Ich hatte eindeutig etwas dagegen, dass meine Zimmer einfach so betreten wurden, ich stellte mich in den Weg. Doch wieder wurde ich ignoriert. Im Schlafzimmer angekommen sah sich die Frau erneut aufmerksam um. Eilig kam der ältere Mann hinterher. „Ich würde hier natürlich noch saubermachen, wenn es ihnen gefällt!“ ‚Wenn ihr was gefällt?‘ Ich war nun richtig wütend, aber ich war auch machtlos. Ich stand einfach nur noch daneben und beobachtete, was passierte. Die junge Frau wand sich nun an den Mann. „Eigentlich ist es ja nebensächlich, aber mich würde das schon interessieren… Was ist mit dem Vormieter denn passiert? Die Wohnung ist so günstig und es sind ja auch noch so viele Dinge hier, das macht mich schon neugierig.“ Ich merkte wie ich erstarrte, kaum noch Luft bekam… ich schaute den Mann an, der nun sichtlich mit der Antwort rang. „Nun, also eigentlich ist das nichts was ich gerne preisgebe, aber ich denke jetzt da Sie gefragt haben muss ich Ihnen auch antworten…“ Er seufzte schwer und fuhr sich wieder mit dem Taschentuch über die Stirn. „Genaueres weiß ich auch nicht, aber anscheinend wurde der junge Mann, der hier vorher gewohnt hat, Tod aufgefunden. Er war wohl krank gewesen, ist aber warum auch immer nicht ins Krankenhaus gefahren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mehr weiß ich auch nicht. Die Wohnung habe ich schon soweit ausgemistet, aber ich habe gedacht, dass vielleicht jemand die Möbel noch gebrauchen kann. Sie sind die erste, die sich ernster für die Wohnung interessiert. Der Staub hat sich nun schon ein Jahr gesammelt, aber wie gesagt könnten Sie die Möbel für wenig Geld mit erwerben.“ Wieder das Taschentuch. Ich stand nur da. ‚Gestorben? Wann soll jemand in meiner Wohnung gestorben sein?‘ Aber eigentlich wusste ich die Antwort schon. Deshalb war mein Handy aus. Deshalb der ganze Staub. Deshalb waren die meisten meiner Sachen weg. Und deshalb konnte mich auch niemand sehen. Ich schaute auf meine Hände herab. Dabei fühlte es sich doch ganz normal an. Vielleicht kälter als sonst, aber mir ging es doch gut! Vor allem… Wenn ich tot war, wieso war ich dann noch hier? Also irgendwie zumindest… „Das ist ja keine schöne Geschichte. Aber ich muss ehrlich sein: Ich kann mir nicht mehr Miete leisten und wenn Sie mich als Mieterin nehmen würden, dann wäre ich sehr glücklich. Ich habe sonst nichts finden können, und kann nun auch nicht mehr wählerisch sein.“ Schüchtern sah sie den Mann an. Anscheinend der Vermieter. Dieser lächelte. „Ja, natürlich. Wenn Sie die Wohnung nehmen wollen dann gerne! Ich hole nur schnell die Papiere, dann besprechen wir alles Weitere!“ Erneut strich er sich mit seinem Tuch über die Stirn ehe er aus der Wohnung herauseilte. Die junge Frau holte ihr Handy heraus und schien etwas über eine Suchmaschine einzugeben. Ich ging neugierig näher heran, ich verstand nicht was vor sich ging. Als ich ihr über die Schulter blickte, wurde es mir jedoch klar. Sie hatte die Adresse eingegeben, meine Adresse. Dazu hat sie einen Zeitungsartikel gefunden, mein Bild groß daneben. „Junger Mann auf natürlichem Weg verstorben. Also immerhin wirklich kein Verbrechen“, murmelte die Frau. Ich hörte sie nur noch aus der Ferne. Es war also wahr, ich war wirklich Tod! Die Erkenntnis traf mich so hart, so plötzlich, aber es war die Wahrheit. Ich habe es wirklich gesehen. Eine einzelne Träne rollte mein Gesicht herab. Ich spürte wie mein Körper immer schwereloser wurde und plötzlich wurde es immer heller… Kapitel 2: Geschichte 2 ----------------------- Es wurde schon kühler, man merkte, dass der Herbst bald vorbei sein würde. Susan zog sich die Jacke enger um die Schultern, dann lehnte sie sich vor um die Heizung des Autos anzumachen. „Heute war echt ein schöner Abend!“ Sie lächelte ihrem Mann Sam glücklich an. „Ja, das fand ich auch!“, antwortetet er ebenfalls lächelnd, ohne die Augen von der Straße zu nehmen. Es war schon längst dunkel geworden und sie waren viel später losgefahren, als geplant gewesen war. Aber es war so schön im Restaurant gewesen, dass sie bis zum Schluss an ihrem Tisch gesessen hatten. Erst als der Kellner kam und ihnen mitteilte, dass sie nun schließen würden, fiel ihnen auf wie spät es schon war. Die Scheinwerfer des Autos schienen nun kleine Regentropfen hell an. Sam musste sich konzentrieren, er hatte das Auto nicht lange und er musste sich noch daran gewöhnen, wie man es am Besten fuhr. Es war auch schon älter, hatte daher nicht die ganzen Annehmlichkeiten, die moderne Autos zu bieten hatten. Aber das war egal. Es war sein Wunschauto gewesen, schon seit ewigen Zeiten. Und als er dann diesen Mercedes Benz 300 SL Cabriolet von 1957 gesehen hat… Und das für den Preis! Er konnte es immer noch nicht glauben! Das Auto war makellos, er hat extra nachgefragt, ob es ein Unfallwagen wäre oder ob sonst etwas damit nicht stimmte, aber nichts davon stellte sich als wahr heraus. Einzig ein leichter Fleck auf den Polstern war das einzige, was er gefunden hat. Und der Fleck war nahezu unsichtbar, man nahm ihn nur wahr, wenn man wusste, dass er da war. Er hatte einmal im Leben ein riesiges Glück! Und seine Frau war sogar ebenfalls begeistert. Nicht nur, dass es ein Cabriolet war, auch der schöne rote Lack war ganz nach ihrem Geschmack. Auch diesem Schnäppchen hatten sie ihren wundervollen Abend heute zu verdanken. So entspannt und glücklich waren Sie schon lange nicht mehr gewesen! Er drehte die Musik lauter und sah kurz zu seiner Frau hinüber. Ihr rotes Kleid passte super zur Farbe des Wagens. Und schön knapp war es auch… „Schau lieber auf die Straße!“, lachend bewarf Susan ihn mit einer Packung Taschentüchern. „Ja, ist ja schon gut. Aber bei dem Anblick…“ Grinsend wand er seinen Blick wieder der Straße zu. Sie fuhren nun schon eine ganze Weile auf der Autobahn, er hatte auch schon mehrfach Fahrten mit dem Wagen gemacht, alles war in Ordnung gewesen. Aber nun… Manchmal reagierte der Wagen nicht mehr ganz so gut in den Kurven. Vielleicht lag es am Wagen, vielleicht lag es heute aber auch an ihm. Auch wenn er genau wusste, dass man es nicht sollte, hatte er sich heute doch einige Gläser Wein gegönnt. Er fuhr sich kurz mit der Hand über die Augen. Es war nicht mehr allzu weit bis nach Hause, aber ein Unfall war wirklich das letzte was er jetzt gebrauchen konnte. Er musste sich also noch eine Weile konzentrieren. Seine Hände umfassten das Lenkrad fester, seine Frau sollte nichts mitbekommen, schließlich hatte sie den Abend so genossen. Einige Abfahrten weiter, seine Frau war bereits auf ihrem Sitz eingedöst, merkte er wieder bei einer Kurve, dass das Auto ein wenig schlingerte. Auf einmal war er nüchtern. Was war denn bloß mit seinem Wagen los? Aber er musste durchhalten. Nur noch zwei Abfahrten, dann hatte er es geschafft. Genau das sagte er sich wie ein Mantra. Er war fast zu Hause. Und morgen würde er den Wagen erst mal zur Werkstatt bringen. Er hatte das Auto nicht mal einen ganzen Monat, schon musste er weiteres Geld investieren. Sam hatte den leisen Verdacht, dass ihm doch nicht alles zum Auto mitgeteilt worden war. Er schob die Gedanken beiseite, er musste sich nun noch ein wenig konzentrieren. Na also, die nächste Abfahrt lief wieder wie geschmiert! Vielleicht lag es doch etwas an seinem Zustand, dass der Wagen nicht so fuhr wie er sollte. Sicherheitshalber würde er aber trotzdem morgen in die Werkstatt. Susan hatte sich, soweit es mit ihrem Gurt möglich war, auf ihrem Sitz zusammen gekugelt und war nun fest eingeschlafen. Sam malte sich schon aus, wie er sie zu Hause ins Bett tragen würde. Dann würde er sich selbst noch kurz Bettfertig machen und sich dazu legen. Der Abend hätte seiner Meinung nach schöner ausklingen können, aber damit konnte er auch leben. Der Regen wurde nun immer heftiger und es war auch kälter als es sein sollte. Er war froh, dass Susan die Heizung vorhin hochgedreht hatte, so langsam bekam auch er eine Gänsehaut. Er freute sich auf zu Hause, noch mehr, als das Schild für die Abfahrt kurz darauf im hellen Licht zu sehen war. Kurz leuchtete das Schild auf, schon war er auf dem Weg die Abfahrt zu nehmen. Trotzdass er mittlerweile hochkonzentriert fuhr, begann der Wagen nun wieder zu schlingern. Zunächst sah es so aus, als könnte er es unter Kontrolle bringen. Doch bereits einige Meter weiter merkte er, wie der anhaltende, starke Regen das übrige dazu beitrug. Die Reifen hatten keinen Halt, sie glitten nur noch über die Wasserschicht. Was Sam auch tat, das Auto gehorchte nicht. Die Leitplanke kam näher, diese durchbrach der Wagen und kam erst zum Stehen, als kurz darauf auch noch ein Baum getroffen wurde. Susan ist erst beim Durchbruch der Leitplanke erwacht, der Horror stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sam konnte nur hilflos zusehen, wie der Wagen am Baum zusammengeschoben wurde. Die Scheibe zerbrach in gefühlte tausend Teile, immerhin war es bereits Sicherheitsglas. Die Scherben schnitten nicht in ihre Haut, aber es sah fast aus, als wäre etwas Schnee ins Auto gefallen. Für einen fürchterlichen Moment glaubte Sam gestorben zu sein. Doch dann kam der Schmerz. Er wurde mit dem Brustkorb auf das Lenkrad geschleudert, sein linker Arm wurde gegen die Innenausstattung gedrückt. Eines seiner Knie hatte sich ebenfalls gestoßen, doch ansonsten schien soweit alles in Ordnung. Er schien sich zumindest auf das erste Gefühl hin nichts gebrochen zu haben. Als er langsam wieder klar bei Sinnen war schaute er hinüber zu seiner Frau. Er hatte Angst, er wollte nicht an das schlimmste Glauben, fürchtete sich aber davor es dennoch zu sehen. Langsam drehte er seinen Kopf. Susan lag zusammengesackt auf dem Sitz, die Augen geschlossen. Blut lief ihr von der Stirn und aus einer Wunde an der Wange. Er schloss seine Augen. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein! Es fühlte sich an, als würde sein Herz aussetzen, doch dann… Er hörte wie Susan sich bewegte! Zuerst stöhnte sie auf, dann bewegte sie ganz langsam ihren Körper. Sie hatte gefühlt unzählige Prellungen und als sie an Ihre Stirn fasste merkte sie das Blut. Aber wie durch ein Wunder hatte sie augenscheinlich keine schwereren Verletzungen. Vielleicht eine Gehirnerschütterung, der Stärker der Kopfschmerzen nach könnte das sein. Sie schnallte sich los und half auch Sam seinen Gurt zu lösen, dann stiegen beide aus. Mühsam kamen sie überhaupt aus dem Wrack, aber es ging. Langsam, das ja. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten. Susan humpelte zu Sam hinüber und sie fielen sich erleichtert in die Arme. Als der erste Schock vorbei war rief Sam erst einmal die Rettungskräfte an. Die Polizei musste die Unfallstelle sperren, damit nicht noch mehr Menschen verletzt wurden. Außerdem brauchten sie unbedingt ärztliche Versorgung. Die gesamte Zeit, die sie mit warten verbrachten, hatte Sam seinen Arm um Susans Schulter gelegt. Das Wrack des Autos, es sah schrecklich aus. Es war sofort ersichtlich: es war ein Wunder, dass sie das überlebt hatten! Leise Tränen stahlen sich auf Susans Gesicht. Kurz darauf trafen die ersten Fahrzeuge ein. Ein Polizeiwagen, der ein Stück weiter zurück anhielt. Einer der Beamten kam direkt hinüber um sich zu vergewissern, dass niemand dringend Hilfe benötigte, der andere Beamte begann direkt damit, die Unfallstelle zu sichern. Nur einige Minuten später traf der Rettungswagen ein. Mittlerweile in Decken gehüllt gingen Susan und Sam zusammen hinüber, als der erste Sanitäter ausstieg. Zuerst wurde Susan untersucht, sie merkte, wie sehr sie fror. Zu ihrer aller Verwunderung kam als nächstes bereits ein Abschleppwagen. Die Polizisten hatten diesen bereits gerufen, als sie eingetroffen waren, denn normalerweise kann es einige Zeit dauern, bis ein Fahrzeug frei ist. Der Abschlepper arbeitete schnell, er hatte den Wagen aufgeladen ehe Sams Behandlung vorbei war. „Da hatten sie aber echt verdammtes Glück gehabt!“ Susan nickte nur. „Das kann man wohl laut sagen.“ Mehr brachte auch Sam nicht hervor. Mit einem Lappen wischte der Mechaniker sich die Hände sauber. „Ist ja schon ein Ding. Erst vor einigen Monaten war ich bei einem ähnlichen Unfall. Schlimme Sache…“ Er schüttelte Gedankenverloren den Kopf. Auf einmal sah er sehr müde aus. „Für beide Insassen kam es zu spät. War ganz ähnlich wie bei Ihnen, sogar die gleiche Automarke! Dabei sind die so selten…“ Verständnislos schüttelte er den Kopf. Doch Sam sah nun auf, auf einmal hellwach. „Vor einigen Monaten? Und das gleiche Modell? Aber davon gibt es doch kaum noch welche!“ Der Abschlepper zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Das war auch direkt mein Gedanke. Aber ja, gleicher Typ Mercedes, auch ein Cabrio, auch rot. Nur das das Ehepaar, das darin unterwegs war eben nicht so viel Glück hatte… Sie haben es nicht mehr aus dem Auto geschafft, sind noch auf Ihren Sitzen gestorben. Aber ich sollte sie nicht mit so etwas belasten, sie haben schon genug durchgemacht!“ Mit kurzen Worten des Abschieds stieg er in seinen Wagen und machte sich auf in die Nacht. Sam aber sah ihm mit offenem Mund hinterher. Wie kann das sein? Wie hoch stehen die Chancen dafür, dass so etwas geschah? Er sah zu Susan hinüber. Auch wenn Sie nicht so geschockt wirkte wie er selber, so machte sie sich doch ähnliche Gedanken. Einer der Beamten war an Susan herangetreten, beide hatten ihn nicht bemerkt. „Ich hätte da noch einige Fragen, zum Unfallhergang. Sind sie dazu in der Lage? Das Gespräch mit dem Abschlepper gerade hat sie augenscheinlich sehr mitgenommen.“ Sam fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht. „Ja, das hat es, aber es ist schon in Ordnung.“ Er blickte fragend zu Susan, diese nickte kurz. „Sie haben angegeben, dass ihr Auto auf einmal ins Schlingern geraten ist?“ Diesmal nickte auch Sam. „Ja, genau. Das hatte es vorher noch nie gemacht, allerdings habe ich dieses Auto auch noch nicht allzu lange. Ich hatte plötzlich keine Kontrolle mehr…“ Er seufzte erschöpft. Diese Sekunden wird er wohl nie wieder vergessen. „Ich konnte nicht umhin ihr Gespräch mit dem Abschlepper mit zu bekommen. Wissen sie… er hat da schon recht mitgehabt. Erst vor kurzem gab es einen ganz ähnlichen Vorfall. Gleiches Modell, gleiche Farbe, nur weniger glücklicher Ausgang. Aber das ist noch nicht alles…“ Susan und Sam hingen an seinen Worten. Ein Schauer lief ihnen über den Rücken. „Wissen Sie, ich sollte ihnen das eigentlich nicht sagen, aber sie haben so schon genug durchgemacht und… ich verstehe es auch nicht. Aber es war nicht der erste Unfall, den ich mit diesem Auto Modell bearbeitet habe. Es waren schon einige. Und keiner davon ist gut ausgegangen. Das Auto hatte immer einen Totalschaden, niemand hat den Unfall überlebt. Es war immer ein Ehepaar involviert.“ Er schüttelte den Kopf als könne er selber nicht glauben was er da erzählte. „Aber wie ist so etwas möglich?“ Sam konnte seine Gedanken gar nicht ordnen. Das konnte nicht sein, es gab nur wenige Autos dieses Modells, einige waren sogar Sammlerstücke die nie gefahren wurden. Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Bitte fragen sie mich das nicht, ich kann ihnen nur sagen, dass es wirklich so war. Aber ehrlich gesagt ist das noch nicht alles…“ Susan liefen jetzt schon die Tränen über die Wangen und ich konnte mich kaum noch konzentrieren. Das alles was zu viel. Was sollte denn bitteschön noch kommen? Doch was wir dann hörten sollte unser Leben für immer verändern… Der Polizist holte tief Luft ehe er zu sprechen begann. Für ihn war es alles andere als einfach, das merkte man ihm an. „Wir haben die Seriennummer des Wagens verglichen. Es ist die gleiche wie beim letzten Unfall. Und bei dem davor. Wir haben mindestens vier Unfälle, die angeblich alle in diesem Auto stattgefunden haben. Alle Totalschaden, aus den Autos hätte man nie mehr als Schrott machen können. Und dennoch… soll es immer das gleiche Auto gewesen sein. Ich habe erst geglaubt meine Kollegen hätten einen Fehler begangen, aber bei mindestens zwei Unfällen habe ich eigenhändig die Nummer abgelesen! Ich kann es mir nicht erklären, aber ich dachte, das sollten sie wenigstens wissen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und lief zurück zu seinem Wagen. Susan und ich sahen uns nur ungläubig an. Wir haben nie an so etwas geglaubt, aber diese Nacht hat etwas verändert. Vielleicht gibt es ja Dinge, die man nicht erklären kann. Wir verstehen nicht, warum ausgerechnet wir überlebt haben sollen, aber so ist es nun einmal. Wir sind jeden Tag dankbar dafür. Kapitel 3: Geschichte 3 ----------------------- Tom schlug die Augen auf. Er fuhr sich durch die Haare, sie waren ganz feucht von der Nacht. Viel Schlaf hatte er auch nicht bekommen. Nur unruhig hin und her gewälzt hatte er sich. ‚Vielleicht habe ich doch überreagiert gestern. Ich hätte das alles nicht sagen sollen!‘ Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. Er wusste ja selbst nicht so genau, weshalb er sich überhaupt so schlimm mit Steffi streiten musste. Und das wo sie doch eigentlich Ihren ersten Jahrestag feiern wollten. ‚Ich bin so ein Idiot!‘ Er drückte sich beide Fäuste auf die Augen, dann schlug er die Decke zurück und setzte sich auf. So einfach würde er sie nicht aufgeben, so viel stand fest! Als erstes stieg er in die Dusche, danach zog er die besten Sachen an, die er besaß. Er kämmte sich sogar die Haare, dass alleine zeigte schon wie wichtig ihm die Angelegenheit war. Jetzt musste er nur überlegen, wie er es rüberbringen sollte. So eine Entschuldigung war gar nicht so leicht. Aber er hatte sich wie ein Idiot benommen und das würde er auch unumwunden zugeben. Aber der Anfang wird nicht so leicht… Er zog eine dünne Jacke über, steckte seine Brieftasche ein und schnappte sich seinen Schlüssel. Am besten wäre es, wenn ihr eine Kleinigkeit mitbringt, so als Eisbrecher. Vielleicht würde das funktionieren. Sicher war er aber nicht, denn er wusste, dass wenn Steffi erst einmal richtig sauer war, dann war es gar nicht so einfach überhaupt mit ihr zu sprechen. Ihre Lieblingsblumen waren auf jeden Fall Tulpen, davon würde er schon einmal einen Strauß mitbringen und dann noch ein Schachtel Pralinen. Damit konnte er sicherlich nichts falsch machen, auch wenn das natürlich alle Klischees auf einmal erfüllte. Wäre seine Lage nicht so ernst gewesen, dann hätte ihn der Gedanke vielleicht zum Schmunzeln gebracht. So aber hatte er einfach nur Angst, dass es das gewesen sein könnte und er keine zweite Chance bekam. Er schüttelte den Kopf. So durfte er erst gar nicht denken, dann hatte er schon verloren! Die Verkäuferin im Laden war sehr freundlich. Schnell hatte sie einen schönen gemischten Strauß Tulpen zusammengestellt und auch bei den Pralinen hatte sie ein sicheres Händchen. Das würde Steffi hoffentlich erweichen. Zumindest soweit, dass sie sich zumindest anhören würde, was er ihr zu sagen hätte. Er bezahlte das Geld (es war doch schon eine Ecke mehr als er geplant hatte) und machte sich auf den Weg. Er war so tief in seinen Gedanken versunken, dass er kaum merkte das er schon fast da war. Tausendmal ging er in seinem Kopf durch, was er ihr sagen wollte. Legte sich Gegenargumente bereit. Er wusste, dass, sollte er die Chance bekommen, das Gespräch ganz anders verlaufen würde, aber es beruhigte ihn zumindest etwas zu üben. Er fühlte sich so nicht ganz so unvorbereitet. Einen Augenblick später stand er schon vor der Tür. Die schweißnasse Hand wischte er sich an der Hose ab, atmete noch einmal tief durch, dann klopfte er an die Tür. Und wartete. Klopfte noch einmal, wartete erneut. Aber nichts, niemand öffnete ihm die Tür. Er konnte hören, dass jemand da war, aber anscheinend wurde ihm die Tür nicht geöffnet. Enttäuscht ließ er seine Schultern hängen, die Hand fest um den Strauß Tulpen geschlossen. Sollte es das nun gewesen sein? Tom drehte sich bereits um, wollte einfach nur noch gehen, doch er konnte nicht. Er wollte so nicht aufgeben, er wollte wenigstens noch einmal mit ihr reden. War der Streit gestern so schlimm gewesen, dass Steffi die Beziehung jetzt ohne weiteres beendete? Er wollte mit ihr reden, er würde nicht einfach gehen, nicht jetzt. Dann hätte er verloren. Und dann fiel ihm wieder ein, dass Steffi ja einen Schlüssel im Blumentopf lagerte, nur für den Notfall. Das hatte sie ihm schon einige Male gesagt, damit er wusste wo er war, wenn etwas sein sollte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Und auch wenn es vielleicht eine doofe Idee war, vielleicht war es das, was das Fass zum Überlaufen brachte, aber er musste es versuchen. Er musste jetzt mit ihr reden. Er wusste genau, wenn er sich mehr Zeit ließ, dann hatte er keine Chance mehr. Sie würde alles in sich rein fressen und dann war ihre Meinung so fest gemeißelt, dagegen würde er nicht mehr ankommen. Außerdem wusste er, dass sie auf gewisse Art und Weise wollte, dass er den ersten Schritt machte. Weshalb sie nun nicht aufmachte verstand er nicht direkt, vielleicht war sie doch zu sauer. Trotzdem ging er zum Blumentopf neben der Tür. Der Schlüssel lag nicht darunter, sondern war in einer kleinen Tüte innen am Rand in die Erde gesteckt worden. Da hatte er ihn. Er strich die Erde vom Beutel, holte den Schlüssel raus und schloss schnell die Tür auf, ehe er es sich noch einmal anders überlegen konnte. „Steffi?“, rief er während er die Tür öffnete. Er wollte schließlich mit ihr reden und sie nicht erschrecken. Doch er bekam keine Antwort. „Steffi?“ Er schloss die Tür hinter sich und ging vorsichtig weiter in die Wohnung herein. In der Küche war sie schon einmal nicht. Ein Blick ins Wohnzimmer zeigte ihm, dass sie tatsächlich zu Hause war, denn sie saß still auf dem Sofa. Licht war zwar an, aber kein Fernseher und auch sonst war es fast gespenstisch still. „Steffi. Bitte sei mir nicht böse, dass ich einfach hereingekommen bin, aber ich muss mit dir reden. Es ist wirklich dringend!“ Steffi drehte den Kopf in seine Richtung, ihre Locken fielen sanft von der Schulter dabei. Stumm sah sie ihn an. Das verunsicherte ihn, aber er fasste seinen Mut zusammen und ging einige Schritte auf Sie zu. „Hier, das habe ich dir mitgebracht. Bitte fasse es nicht als Bestechung oder ähnliches auf, ich habe nur gedacht es wäre schön dir etwas mit zu bringen und…“ Er war so nervös, dass die Worte immer schneller aus seinem Mund fielen. Eher er sich noch um Kopf und Kragen redete, reichte er Steffi lieber die Geschenke. Er spürte wie er errötete. Steffi sah auf die Geschenke, nahm sie wortlos entgegen und legte sie auf den Tisch, der vor dem Sofa stand. Sollte er auf eine Reaktion gehofft haben, so wurde er enttäuscht. Das war es, nichts weiter kam von Steffi. Tom hatte seine Hände mittlerweile in die Hosentaschen geschoben, er fühlte sich fehl am Platz, aber er war nun auch nicht bereit einfach so wieder zu gehen. Redete sie halt nicht mit ihm, aber immerhin schrie sie ihn auch nicht an und das fasste er als gutes Zeichen auf. Vorsichtig ging er um den Wohnzimmertisch herum, auf die andere Seite. „Hättest du etwas dagegen, wenn ich mich setzen würde?“ Steffi hob den Blick, sagte jedoch nichts. Er zuckte mit den Schultern und setzte sich schüchtern, mit etwas Abstand, neben Steffi auf das Sofa. „Ich möchte einfach mit dir reden.“ Auch jetzt wartete er vergeblich auf eine Reaktion. Er bekam erneut nur einen leeren Blick, daher beschloss er sich nun endlich von der Seele zu reden, weshalb er hier war. „Es tut mir wirklich leid. Ich… ich weiß das ich überreagiert habe. Und ja, ich gebe zu, ich war sicherlich auch ein Arschloch! Ich weiß, dass dein Ex-Partner sehr kontrollierend war und trotzdem habe ich dir gesagt du sollst dich nicht mehr mit Stefan treffen. Es ist nicht so, das ich dir nicht vertraue, aber ich habe einfach Angst. Angst davor dich zu verlieren, denn du bist mir einfach zu wichtig. Ich habe scheiße gebaut und es war wirklich nicht in Ordnung. Du kennst Stefan schon so viel länger als mich. Ich verspreche dir, dass ich mich zurückhalten werde, wenn du mir noch einmal verzeihen kannst. Um mehr bitte ich dich gar nicht, aber tu mir den Gefallen!“ Er merkte, wie er leichte Tränen in den Augen hatte. Nun war das wichtigste gesagt, mehr konnte er erst einmal nicht machen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schaute ihr ins Gesicht, Steffi sah ihn auch an. Zumindest waren ihre Augen auf ihn gerichtet, der Blick jedoch schien geradewegs durch ihn hindurch zu sehen. Nichts weiter. Er schluckte hart und unterdrückte den Drang seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Das hier war anscheinend nicht der richtige Zeitpunkt für Gefühle. Er presste die Lippen aufeinander, stand auf und blickte noch einmal zu Steffi. Ihre Position hat sich fast nicht geändert und er wusste, was sie ihm damit mitteilen wollte. Er war schon halb auf dem Weg hinaus, als ihm einfiel, dass er immer noch den Schlüssel hatte, daher drehte er sich um und ging ein letztes Mal auf Steffi zu. Er konnte kaum schlucken, sein Hals war wie zugeschnürt. Steffi war mittlerweile aufgestanden, stand ihm nun gegenüber. „Hier, dein Schlüssel. Ich… Ich denke das heißt nun Abschied nehmen.“ Er suchte ein letztes Mal ihren Blick, während er ihr den Schlüssel hinhielt. Wortlos nahm sie ihm diesen ab. Als auch nun keine Reaktion kam, drehte sich Tom schnell um und verließ wortlos die Wohnung. Leise schloss er die Tür hinter sich, auch wenn ihm danach gewesen wäre diese zuzuknallen. Dafür hatte er keine Kraft mehr. Auch die Tränen schaffte er nun nicht mehr zurück zu halten. Den Nachhauseweg bekam er nur wie durch einen Schleier mit. Bei sich zu Hause angekommen machte er sich nicht einmal die Mühe sich auszuziehen, er setzte sich direkt auf seine Couch und das war es. Er hatte für nichts mehr Kraft, er wollte gerade nichts sehen und nichts hören. Am liebsten hätte er eine Decke über seinen Kopf gezogen und die Dunkelheit genossen, aber auch dafür fehlte ihm die Kraft. Stundenlang saß er so da. Als die Sonne unterging suchte er einmal das Badezimmer auf und zog seine Jacke aus, dann setzte er sich wieder auf die Couch. Wie sollte es nur weitergehen? Er wusste es nicht. Auch wusste er nicht wie lange er da nun schon so gesessen hatte. Irgendwann musste er jedenfalls eingeschlafen sein. Geweckt wurde er erst, als es an seiner Tür klingelte. Er wollte nicht aufmachen. Er wollte sitzen bleiben. Aber das Klingeln hörte nicht auf, im Gegenteil, es wurde immer fordernder. Er erhob sich wie taub von seinem Platz und schlurfte zur Tür. Er sollte wenigstens wütend sein, dass ihn jemand so derart störte, aber da war nichts. Mit tiefen, dunklen Schatten unter den Augen öffnete er die Tür. Und so sehr es ihm eigentlich egal war, ob er jemals wieder etwas fühlte, so konnte er nicht anders als überrascht zu sein. Steffi stand vor seiner Tür, sie lächelte ihn schüchtern an. „Hallo Tom.“ Bestimmt stand sein Mund offen. Er konnte sich nicht erklären, was sie von ihm wollte. Unmissverständlich hatte sie ihm mitgeteilt, dass es vorbei war, dass sie nicht einmal mehr mit ihm reden wollte. Und doch stand sie nun vor ihm. Unsicher trat sie von einem Fuß auf den anderen. „Wäre… Wäre es wohl möglich das ich reinkomme?“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Tom konnte kein Wort rausbringen, daher nickte er nur wortlos und machte ihr Platz zum Eintreten. Es musste einen Grund dafür geben, dass sie nun hier war und den wollte er wenigstens erfahren. Selbst wenn es kein schöner Grund war, es wäre angenehmer wenigstens angeschrien zu werden. Oder beleidigt oder irgendwas, nur Hauptsache nicht so still wie gestern… Steffi ging direkt bis ins Wohnzimmer durch. Als Tom ins Zimmer kam deutete er sie solle sich setzen, ehe er sich, ähnlich wie am Tag zuvor, in etwas Abstand ebenfalls setzte. Er blickte zu Ihr hinüber. Die Luft zwischen Ihnen fühlte sich dick an, wie Pudding. Sie sah auf ihre Hände hinab, die Finger nervöse miteinander spielend. Dann blickte sie zu ihm auf. Sein Mund war ganz trocken, er wünschte sich, er hätte etwas getrunken. Nun aber traute er sich nicht, aus Angst der Moment könne vorbei sein und alles wäre nur eine Einbildung gewesen. „Ich… Weißt du, es tut mir leid, Tom!“ Ihr Blick verriet, dass es ihr unangenehm war. Tat es ihr jetzt tatsächlich leid, dass es nun vorbei war? Tom konnte mit der Reaktion nichts anfangen. Steffi schaute ihn an, als er jedoch nichts sagte fuhr sie damit fort ihre Hände zu kneten. „Ich hätte dich nicht so anfahren sollen. Es war einfach total übertrieben, aber ich konnte einfach nicht anders… Ich hatte Angst du würdest mich einengen, auf einmal blieb mir die Luft weg. Ich hoffe du kannst mir verzeihen!“ Steffi blickte ihn geradezu flehend an. Tom Verstand die Welt nicht mehr. Steffis Ausdruck nach zu urteilen war ihm seine Verwirrung anzusehen. „Es… tut dir leid?“ Sie nickte und man konnte sehen, wie unangenehm es ihr war. Anscheinend wusste sie nicht, was sie nun noch sagen sollte. „Aber gestern hast du doch gar nicht mit mir geredet. Ich habe mich doch auch schon entschuldigt, aber von dir kam einfach… nichts. Also so gar nichts. Wieso…?“ Weitersprechen konnte er nicht, seine Augen wurden bereits nass, wenn er an das gestrige Gespräch dachte. Steffi sah ihn an, nun nicht mehr schüchtern, sondern ganz augenscheinlich verwirrt. „Gestern?“ Tom nickte und schluckte, er hatte einen richtigen Kloß im Hals. „Ja, als ich die die Blumen und Pralinen gebracht habe, die hast du wortlos angenommen. Und dann habe ich mich entschuldigt. Aber von dir kam einfach so gar nichts. Du hast keinen einzigen Ton von dir gegeben, hast mich einfach immer nur angeschaut und dann bin ich einfach nur noch gegangen. Ich hatte den Eindruck das du mich nicht mehr möchtest…“ Steffis Mund stand nun offen und sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber wovon redest du denn da, Tom? Ich war doch gestern gar nicht zu Hause!“ Sie hob eine Hand vor den Mund. „Wie meinst du das? Ich habe doch mit dir gesprochen… also irgendwie. Ich habe gesprochen und du warst doch auch da, das musst du doch noch wissen!“ Steffi war nun kalkweiß. „Das kann gar nicht sein Tom!“, sie schüttelte erneut ihren Kopf. „Ich war nach unserem Streit so sauer. Und da bin ich dann zu Stefan, ich wollte ihm erzählen was du gesagt hast und wie lachhaft deine Eifersucht ist. Aber dabei hat sich herausgestellt, dass es wohl doch nicht so lachhaft ist…“ Sie blickte nun wieder auf ihre Hände hinab. „Weißt du, Stefan hat gestern zugegeben, dass er etwas für mich empfindet. Das er sogar eifersüchtig auf dich ist, weil du mein Freund bist und nicht er… Wir haben uns gestern noch ganz schön gestritten, ich weiß gar nicht wie ich damit umgehen soll… Und danach bin ich dann zu Tina, ich konnte nicht nach Hause. Ich wäre doch alleine gewesen und ich hätte doch auch nicht gewusst was ich zu dir sagen soll… Ich war gestern den ganzen Tag nicht zu Hause!“ Nun war es Tom dessen Mund aufstand. „Das kann doch gar nicht sein!“ Er wollte schon sagen, dass er es satt hat verarscht zu werden. Doch die Verwirrung auf Steffis Gesicht war echt. Das war nicht gespielt. „Aber… Aber wenn du nicht da warst, wer war das dann? Was ist mit den Blumen und den Pralinen geschehen?“ Steffi zuckte mit den Schultern. „Ich weiß gar nicht wovon du redest. Ich bin gerade erst von Tina aufgebrochen, ich war noch gar nicht zu Hause.“ Sie blickte ihm in die Augen. „Aber, wenn das wirklich stimmt was du da sagst… Dann will ich nicht alleine zurück. Kommst du bitte mit?“ Tom wusste, dass die Angelegenheit immer noch nicht geklärt war, aber das war so gruselig… Er wollte Steffi definitiv nicht alleine gehen lassen, daher nickte er. „Ja, natürlich. Komm, lass uns direkt gehen, ich will wissen was das zu bedeuten hat!“ Er zog schnell wieder seine Jacke über und zusammen machten sie sich auf den Weg. Als sie vor Steffis Tür angekommen waren ging ihr Atem schnell, sie hatten sich beeilt. „Wie bist du denn überhaupt reingekommen, du hast doch keinen Schlüssel“, Steffi kramte in Ihrer Tasche, um ihren eigenen Schlüssel zu finden. Tom jedoch wurde rot. „Ja, weißt du, ich habe deinen Ersatzschlüssel benutzt…“ Beschämt blickte er zu Boden. Steffi hatte ihren Schlüssel endlich gefunden und sah ihn nun mit hochgezogener Augenbraue an. „Ja weißt du, du hast ja mehrfach gesagt wo er ist. Ich wollte nicht, dass wir so auseinandergehen, ich wollte so dringend mit dir reden… Da habe ich ihn aus seinem Versteck geholt.“ Tom wurde etwas aufgeregter. „Und den habe ich dir gestern bevor ich gegangen bin auch noch direkt wiedergegeben!“ Steffi hatte sich nun bereits dem Blumentopf gewidmet. Langsam stand sie auf, einen kleinen Beutel auf ihrer Handfläche, Blumenerde krümelig drum herum. Sie hielt ihm den Beutel hin, der Schlüssel ganz klar darin. „Was… wie kommt der denn dahin? Hast du ihn wieder da versteckt?“ Steffi schüttelte den Kopf. „Ich habe doch schon gesagt, dass ich gestern gar nicht hier war. Was soll ich denn bitte schön damit gemacht haben?“ Sie klang nun etwas gereizt. Eindeutig glaubte sie Tom nun nicht. Der Schlüssel war immerhin da, wo er hingehörte. Nichts war geschehen. Steffi steckte den Schlüssel wieder in die Erde, dann schloss sie die Tür zur Wohnung auf. „Auch, wenn sich das immer unglaubwürdiger anhört, komm bitte zur Sicherheit mit.“ Tom ließ die Schultern hängen. Er verstand ja auch nicht mehr, was hier geschah, wie sollte Steffi es dann erst verstehen? Das konnte er nicht verlangen. Steffi legte ihre Tasche auf den Schrank im Flur. „So, da wären wir, schauen wir uns einmal um.“ Tom war ihr gefolgt, zeigte nun aufs Wohnzimmer. „Wir waren im Wohnzimmer gewesen, da sollten wir schauen.“ Mit klopfendem Herzen ging Tom näher, direkt hinter Steffi her. Was sie dort sahen ließ ihnen den Atem stocken. Ein Strauß Tulpen und eine Schachtel Pralinen lag auf dem Tisch, genau wie Tom es beschrieben hatte. „Siehst du, ich habe doch gesagt, dass ich dir das mitgebracht habe. Du hast sie einfach da abgelegt.“ Sie waren beide sprachlos. Hätte Steffi Tom nicht so gut gekannt, sie hätte geglaubt er wäre eingebrochen und hätte es einfach für sie drapiert. Aber dann wären die Geschenke besser in Szene gesetzt gewesen. Nun aber lagen sie achtlos einfach auf dem Tisch, die Pralinen sogar halb vom Strauß verdeckt. Nein, sie glaubte ihm. Mit offenen Mündern sahen sie sich an. Erkläre konnten sie das definitiv nicht. Tom legte seinen Arm um Steffis Schulter. Aber eines war sicher: Sie würden sicherlich noch lange darüber reden. Kapitel 4: Geschichte 4 ----------------------- Nervös, ja das traf es schon ganz gut. Aber auch neugierig. Vielleicht auch etwas gruselig, wenn Kim sich so umsah. Das Zimmer in Dunkelheit gehüllt, umgeben von Kerzenlicht. Zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen, Hannah und Luisa, saß sie im Schneidersitz um den niedrigen Tisch in ihrem Zimmer. Luisa kicherte leise. Ja, ein wenig Spaß war sicherlich irgendwie dabei, aber eigentlich ging es Kim hier um ein sehr ernstes Thema. Mit zusammen gekniffenen Lippen starrte sie auf das Brett, das in ihrer Mitte drapiert war. So ganz wohl war ihr ja nicht… Stumm fuhr sie mit den Augen die Buchstaben und die Ziffern des Ouija-Bretts nach. Aber ein Blick auf ihre Freundinnen nahm ihr das ungute Gefühl. „Mensch, jetzt lasst uns so langsam mal anfangen!“ Hannah hatte es wie immer eilig und hibbelte schon beinahe ungeduldig auf ihrem Platz. Aber Kim gab ihr Recht, es wurde so langsam Zeit. Die Nervosität nahm sicherlich nicht ab, wenn sie es noch länger hinauszögern würden. Kim atmete noch einmal tief durch, dann sah sie erst Hannah, dann Luisa in die Augen. „Okay, ja, du hast recht. Seid ihr denn bereit?“ Nach einem kurzen nicken reichten sich die Freundinnen die Hände. „Ihr seid aber auch wirklich bereit, das mit mir zu machen, oder? Ich meine, im Internet stand viel Gutes, aber eben auch einige gruselige Vorkommnisse. Ich möchte nicht, dass ihr das nur meinetwegen macht…“ Sie sah ihre Freundinnen ernst an, aber sogar Luisa winkte direkt ab. „Ach was, das sind doch eh alles nur Geschichten! Was soll denn dabei schon geschehen! Außerdem ist es dir doch so wichtig, da ist es mir eben auch wichtig.“ Sie zuckte mit den Schultern. Hannah nickte zustimmend und lächelte Kim beruhigend an. „Na gut, dann los. Also, als erstes halten wir uns einige Zeit an den Händen. Wir sollten so ruhig sein wie irgendwie möglich. Wenn es soweit ist, werde ich eure Hände einmal drücken, dann öffnen wir unsere Augen wieder. Wir sollten nur sprechen, was unbedingt nötig ist, um die Energie nicht zu stören. Und wichtig ist, dass wir alle unsere Hände auf die Plakette legen und nicht loslassen, egal, was auch passiert. Habt ihr das verstanden?“ Erneut einstimmiges nicken. Kurze Zweifel kamen in Kim auf. War es wirklich richtig? Aber am Ende würde wahrscheinlich eh gar nichts passieren. „Nur noch eines: Das sprechen übernehme ich soweit. Es ist wichtig, dass einige Grundregeln eingehalten werden, damit wir uns nicht in Gefahr bringen. Aber nun genug geredet!“. Sie nickte ihren beiden Freundinnen zu und sofort schlossen alle die Augen. Sich weiter an den Händen haltend, atmeten sie so einige Minuten tief und ruhig ein und aus. Dann befand Kim, dass es an der Zeit war mit der eigentlichen Zeremonie zu beginnen. Sie drückte einmal kurz die Hände ihrer Freundinnen, dann öffnete sie vorsichtig die Augen. Auch Hannah und Luisa sahen entspannt aus. Wieder ein nicken von Kim, diesmal das Zeichen, dass alle ihre Hände auf die Plakette legen sollten. Fast synchron geschah es, die Atmosphäre fühlte sich irgendwie richtig unwirklich an. Kim holte noch einmal ein letztes Mal tief Luft, dann begann sie mit ruhiger, aber kräftiger Stimme zu sprechen. „Seelen der Anderswelt, hört uns an. Wir laden euch zu uns ein, antwortet auf unser Bitten.“ Als sie zu Ende gesprochen hatte, hielt sie unbewusst den Atem an. Es war totenstill im Raum. Auch ihre Freundinnen saßen wie erstarrt auf ihren Plätzen. Doch was auch immer sie erwartet haben, es passierte nichts. Nach einigen Sekunden der Stille redete Kim weiter. „Ich bitte um Kontakt zu Rosemarie Kunz. Bitte nehme heute Nacht mit uns Kontakt auf. Bist du da, Rosemarie?“ Kim sah in die Mitte des Ouija-Bretts, dort, wo die Plakette bewegungslos unter ihren Händen ruhte. Kim dachte nun ganz stark an ihre Großmutter, so wollte es die Anleitung. Auch Luisa und Hannah sahen auf die Plakette, doch nichts geschah. „Rosemarie, wenn du nun unter uns bist, gib uns ein Zeichen!“ Kim spürte wie ihr die Tränen kamen. Das war die letzte Möglichkeit, die sie gesehen hat um noch ein letztes Mal mit ihrer Großmutter zu reden. Ihr zu sagen, dass sie sie liebte und vermisste. Dass es ihr leidtat. Und nichts passierte. Nicht das sie wirklich daran geglaubt hatte, aber… Gerade als sie den Mut verlor sah sie, wie sich auf einmal Hannahs Augen weiteten. Sie blickte in die Richtung, auf die Plakette hinab. Wenn man genau hinsah, dann zitterte sie leicht. ‚Ist bestimmt nur Zufall. Wir sind aufgeregt, natürlich zittern wir.‘ Dennoch sah sie gespannt hinunter. War es Einbildung? Oder wurde das Zittern stärker. „Rosemarie, bist du hier?“ Und dann, ganz plötzlich, schob sich die Plakette ein Stück über das Brett. „Es sagt ‚Ja‘!“ Nun blieb ihr die Luft tatsächlich weg. Auch Luisa schluckte schwer. ‚Jetzt nicht aufgeben. Wir sind kurz davor!‘, dachte Kim und hoffte, dass ihre Hände nicht vor Schweiß abrutschen würden. „Wenn du wirklich Rosemarie bist, gib uns ein weiteres Zeichen!“ Sie erwartete, dass die Plakette sich erneut bewegen würde. Aber stattdessen fingen die Kerzen auf einmal zu flackern an. Alle Fenster waren geschlossen, es konnte nicht ziehen, aber dennoch flackerten sie. „Wie alt bist du, Rosemarie?“ Nun setzte sich die Plakette tatsächlich erneut in Bewegung. Erst zur sieben… dann weiter zur sechs. Kim merkte wie ihre Freundinnen sie fragend ansahen und nickte nur kurz. Ja, 76 Jahre alt ist ihre Großmutter geworden. Kurz bevor sie starb… Erneut standen Kim die Tränen in den Augen. Es konnte nicht sein, aber dennoch war es so. Sie wollte einfach daran glauben! „Großmutter…“ Sie brachte kaum noch ein Wort hervor, aber sie durfte nun nicht aufgeben. Sie räusperte sich kurz, dann fuhr sie fort. „Großmutter… Ich habe dich gerufen, weil ich dir noch einmal sagen wollte, dass ich dich liebe. Es tut mir leid, dass ich mich mit dir gestritten habe. Und es tut mir so leid, dass ich dir gesagt habe ich will dich nicht mehr sehen. Das stimmt nämlich nicht. Ich würde dich auch jetzt sehr gerne sehen. Ich vermisse dich so sehr!“ Kim war nun vollends in Tränen ausgebrochen. Hannah und Luisa betrachteten sie voller Mitleid, aber sie blieben ruhig in ihrer Position sitzen. Trösten konnten sie später immer noch, aber dieser Moment käme nie wieder. „Kannst du mir noch einmal verzeihen?“ Es war kaum mehr als ein schluchzen, dennoch bewegte sich die Plakette auf ‚Ja‘. Kim wollte sich schon die Tränen wegwischen, die immer noch ihr Gesicht hinab liefen, doch im letzten Moment erinnerte sie sich, dass sie ihre Hand nicht von der Plakette nehmen durfte. Sie zog kurz die Nase hoch, damit sie noch genug Luft bekam, versuchte sich zu beruhigen. „Hast du Schmerzen, da wo du jetzt bist?“ Die Plakette glitt ruhig bis auf ‚Nein‘. Das beruhigte sie doch schon etwas. Dann bewegte sich die Plakette erneut. L… I… E… B… E. Kim nickte. „Ich liebe dich auch Großmutter!“ Sie hatte sich die gesamte Zeit geborgen gefühlt, doch als sich die Plakette nun ein weiteres Mal in Bewegung setzte, änderte sich das plötzlich. Der Vorhang bauschte sich auf, die Plakette glitt über das Ouija-Brett. „G…E…F…A…H…R“, krächzte Kim nur noch hervor. Dann sah sie zu ihren Freundinnen. „Falls ihr das seid, das ist überhaupt nicht witzig!“ Doch ihre Gesichter zeigten genauso viel Verwirrung wie ihres. Nein, anscheinend hatten sie nichts damit zu tun. ‚Warum sollten sie auch, es sind schließlich deine Freundinnen!‘ Luisa schüttelte den Kopf. „Nein, wir… haben damit nichts zu tun. Ich denke wir sollten aufhören!“ Luisa wollte schon aufspringen. „Luisa, nicht!“ Die Warnung kam gerade rechtzeitig. Viel hätte nicht mehr gefehlt, dann hätte sich Luisas Hand gelöst. „Nicht, ich muss es richtig beenden!“ Luisa sah erschrocken aus, nickte aber mit blassem Gesicht und setzte sich wieder in ihre ursprüngliche Position. „Rosemarie. Vielen Dank für deine Antworten. Gehe nun zurück in deine Welt. Seelen der Anderswelt, danke für euren Besuch. Bitte kehrt nun zurück.“ Kim ließ einige Sekunden vergehen, dann atmete sie tief durch und nickten den anderen beiden zu. Langsam lösten sie ihre Hände von der Plakette. Kim wischte sich die Hände direkt an ihrer Hose ab, es war aufregender gewesen als sie erwartet hatte. Ihren Freundinnen ging es wohl ähnlich. Vor allem Luisa hatte eine ungesunde Farbe angenommen, aber sie war immer schon die schreckhaftere in ihrer Gruppe gewesen. Hannah klopfte sich auf die Oberschenkel, dann stand sie geschwind auf. „So, lieber mal die Kerzen ausmachen, was meint ihr?“ Sie ging schnellen Schrittes zum Lichtschalter und auf einmal war der Raum hell erleuchtet. Kim musste sogar etwas blinzeln. Die Kerzen hatten doch weniger Licht gespendet als sie angenommen hatte. Auch sie stand nun auf. Ihre Beine waren jedoch eingeschlafen, daher rieb sie über ihre Oberschenkel, um wieder ein Gefühl darin zu bekommen. Hannah begann bereits damit die ersten Kerzen zu löschen. Luisa hatte sich immer noch nicht erhoben und Kim ging besorgt einige Schritte näher. „Alles in Ordnung Luisa?“ Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter. Luisa war in Gedanken gewesen, nun zuckte sie erschrocken zusammen, begann jedoch tapfer zu lächeln als sie Kim erblickte. „Ja, alles in Ordnung. Es war nur so… unheimlich. Glaubst du das ist wirklich passiert?“ Kim überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Es hat sich schon echt angefühlt, aber ich denke man kann nicht ausschließen, dass eine von uns die Plakette unbewusst beeinflusst hat. Ich denke nicht, dass wir es jemals herausfinden werden.“ Kim lächelte nun. „Aber ich möchte gerne daran glauben. Auch wenn es zum Schluss richtig gruselig war, so möchte ich doch daran glauben, dass ich noch ein letztes Mal mit meiner Großmutter reden konnte…“ Luisa sah Kim nun fest in die Augen. „Ich bin sicher, dass sie das gehört hat, Kim!“ Luisa stand schnell auf und drückte Kim an sich. Auch wenn sie nicht so ein Typ Mensch war, der gerne Körperkontakt hatte, so war ihr die Umarmung in diesem Moment nicht unangenehm. Eher im Gegenteil, es beruhigte sie zu wissen, dass sie nicht alleine war und dass ihre Freundinnen zu ihr hielten. Behutsam löste sie sich von Luisa, dann drehte sie sich um und wollte Hannah bei den Kerzen helfen. Doch die war mal wieder schneller gewesen als gedacht. Nur noch eine letzte Kerze flackerte ruhig vor sich hin. Hannah beugte sich gerade hinab, um sie auch auszublasen, da flackerte sie kurz wild auf, nur um dann von alleine zu verlöschen. Hannah sah Kim erschrocken an, aber diese gab ihr schnell mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nichts sagen sollte. Luisa hatte das Ganze nicht bemerkt. Es handelte sich wahrscheinlich eh nur um einen Zufall und Luisa war sowieso schon verschreckt. Sie wollte nicht, dass sie sich noch weiter aufregte. Hannah verstand den Wink sofort und tat so, als wäre nichts gewesen. Die Mädchen versammelten sich noch einmal kurz, um die Geschehnisse zu besprechen. Sie sprachen Kim Mut zu, dass es bestimmt ihre Großmutter gewesen war, die mit ihnen gesprochen hatte. Außerdem waren sie sich sicher, dass der letzte Teil nichts zu bedeuten hatte. Da waren sicherlich nur ihre Nerven mit ihnen durchgegangen, nichts wovor man Angst haben müsste. Kurz darauf verabschiedete Kim die beiden bereits an der Tür. Es war schon spät und es war besser, wenn sie nicht zu lange blieben. Kims Eltern waren recht streng. Sie hatte schon Glück gehabt, dass ihre Eltern heute ausnahmsweise einmal ausgegangen waren. Sie hätte nie erlaubt, dass Kim mitten in der Woche Besuch empfing, schon gar nicht, wenn sie danach auch wieder früh in die Schule musste. So erfuhren sie hoffentlich nichts von dem heimlichen Treffen. Kim putzte sich schnell noch die Zähne, zog sich um und kroch dann unter ihre Bettdecke. Die heutigen Ereignisse waren doch etwas viel gewesen. Und auch wenn sie nicht wusste, was sie davon halten sollte, so übermannte sie doch die Müdigkeit ehe sie sich eine Meinung bilden konnte. Sie war schon fest am Schlafen, als sie spürte wie sich jemand auf die Kante ihres Bettes setzte. Sicher ihre Mutter, die nur sicherstellen wollte, dass sie auch wirklich schlief. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Kim derart kontrollierte. Sie versuchte wieder tiefer zu schlafen, aber es gelang ihr nicht. Sie liebte ihre Mutter, aber manchmal ging sie ihr doch auf die Nerven. Kim schlug die Decke etwas zurück und drehte sich zu ihrer Mutter herum. Erst dann öffnete sie die Augen… und erstarrte. Es war stockfinster. Das hatte ihre Mutter noch nie getan, sie ließ immer im Flur das Licht an, damit sie nicht gegen etwas stieß. Die Dunkelheit war nahezu bedrückend. Kim bekam ein so beklemmendes Gefühl, dass sie schnell nach der Lampe auf ihrem Nachttisch griff um Licht zu machen. Doch auch danach ging es ihr kein Stück besser. Auf ihrem Bett saß nicht ihre Mutter. Es saß vielmehr niemand dort. Sie fühlte den Druck auf ihrem Bett noch einige Momente lang, dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war. Sie konnte nichts sehen. Suchend blickte sie umher, aber ihr Zimmer war und blieb leer. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab. ‚Das konnte nicht wahr sein!‘ Sie schlug die Decke nun vollends zurück, schlüpfte in ihre Hausschuhe und stand auf. Es war sehr kühl im Raum. Fester zog sie ihr Oberteil um den Körper, aber trotzdem begann sie schnell zu frieren. So leise wie möglich schlurfte sie zum Zimmer ihrer Eltern. Die Tür stand offen, doch ihre Eltern lagen nicht im Bett. Auch im Wohnzimmer konnte sie niemanden finden. Anscheinend waren ihre Eltern immer noch nicht zu Hause. ‚So lange waren sie noch nie weg. Aber es ist ja auch ihr Silberner Hochzeitstag, da kann das sicherlich schon einmal vorkommen…‘ Kim wollte gerade beruhigt in ihr Bett zurückgehen, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. ‚Moment Mal! Wenn meine Eltern immer noch nicht wieder da sind, dann bedeutet das, das ich immer noch alleine bin. Aber wenn ich immer noch alleine bin… Wer war das gerade auf meinem Bett?‘ Panik überfiel sie. Sie wollte gerade auf keinen Fall alleine sein, konnte aber nicht ändern, dass es so war. Sie machte daher im ganzen Haus das Licht an, auch in ihrem Zimmer, erst dann setzte sie sich erneut auf ihr Bett. Sie rutsche bis nach hinten um sich anzulehnen und zog sich die Decke bis zum Kinn. Sie musste nur warten bis ihre Eltern kamen. Wie lange konnte das schon dauern? Kim sollte herausfinden, dass es noch eine ganze Ewigkeit dauerte. Zumindest fühlte es sich so an. Als sie endlich den Schlüssel im Schloss hörte stand sie schnell auf, die Decke rutschte auf den Boden, doch es war ihr egal. Sie eilte zur Tür, ihren Eltern entgegen. Diese erschraken, umarmte Kim sie doch noch ehe sie richtig durch die Tür hereingekommen waren. „Kim! Was machst du denn so spät noch hier? Du müsstest doch schon längst schlafen!“ Ihre Mutter kniff wütend die Lippen zusammen, doch Kim drückte sich so feste an sie, dass sie nicht lange böse sein konnte. „Was ist denn los?“ Ihre Mutter drückte sie ein Stück von sich weg, um Kim ins Gesicht sehen zu können. Zum zweiten Mal an diesem Tag rollten lautlose Tränen ihre Wangen hinab. „Ach süße, ist es immer noch wegen Oma?“ Kim nickte automatisch und drückte sich wieder in die Arme ihrer Mutter. Ja, es war auch wegen ihrer Großmutter. Das alles war ihr zu viel, heute Abend war zu viel passiert. Davon konnte sie ihrer Mutter natürlich nichts erzählen, aber das Kim mit den Nerven am Ende war merkte sie auch so. Sanft schiebend ging sie mit Kim in ihr Zimmer, setzte sich zusammen mit ihr auf die Bettkante und nahm Kims Gesicht zwischen ihre Hände. „Ich weiß es ist schlimm, das ist es für mich doch auch. Es war auch viel zu plötzlich… Aber so ist das Leben manchmal leider. Ich hatte geglaubt, dass du in deinem Alter besser damit zurechtgekommen wärst, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Am Besten gehst du jetzt erst einmal schlafen und morgen setzen wir uns noch einmal ganz in Ruhe zusammen, ja?“ Ihre Mutter legte die Stirn an ihre, auch ihr liefen nun einzelne Tränen das Gesicht hinab. Kim brachte nicht mehr als ein nicken zustande. Sie wollte nicht alleine sein, doch sie wollte ihrer Mutter auch nicht den ganzen Abend verderben. Sie löste sich behutsam von Ihrer Mutter und wischte sich schnell mit dem Ärmel ihres Schlafanzuges über die Wangen. „Ja Mama, das machen wir. Es geht mir schon besser, Dankeschön!“ Sie drückte ihrer Mutter noch einen Kuss auf die nasse Wange, ehe diese aufstand. Ein letztes Mal strich sie Kim über den Kopf, dann verließ sie langsam das Zimmer. „Ich lasse die Tür auf. Sollte noch etwas sein, dann weißt du wo du mich findest. Aber versuch bitte wenigstens noch etwas zu schlafen.“ Mit diesen Worten war sie auch schon durch die Tür gegangen, Kim konnte die leisen Schritte noch auf dem Flur hören. Das Licht hatte ihr Vater schon überall ausgemacht, nur in ihrem Zimmer leuchtete es noch. Kim stand auf und löschte das große Licht, die Lampe auf ihrem Nachttisch ließ sie jedoch brennen. Sie war zwar in ihrem Zimmer wieder alleine, aber alleine das Wissen, dass ihre Eltern nun wenigstens zu Hause waren, beruhigte sie. Kim lag noch eine Weile im Bett, doch irgendwann fielen ihr erneut die Augen zu. Die restliche Nacht verlief ohne Zwischenfälle. Mit dicken Schatten unter den Augen wachte Kim am nächsten Tag auf. Sie blinzelte, denn die Sonne fiel bereits in ihr Zimmer. ‚Die Sonne? Oh Nein!‘ , schoss es Kim noch durch den Kopf. Sie hatte verschlafen! Wie konnte das nur passieren? Wie eine Rakete sprang sie vom Bett auf und rannte ins Bad. „Kim? Bist du endlich wach?“ Ihre Mutter rief fragend aus der Küche zu ihr hinüber, doch Kim war bereits dabei ihre Zähne zu putzen. Ihre Mutter erschien in der Bad Tür, sie zog gerade ihre Jacke an. „Ich hatte schon Angst du würdest noch länger schlafen.“ Mit sicheren Bewegungen schloss sie ihre Jacke und nahm ihre Umhängetasche von der Garderobe. Kim wollte gerade etwas durch den Zahnpasta Schaum in ihrem Mund zu ihrer Mutter sagen, als diese schon wieder in der Tür stand. „Nein, Schätzchen, beeil dich nicht. Ich habe dich für heute krankgemeldet. Du warst gestern so fertig…“ Kim fiel fast die Zahnbürste aus der Hand. Das hatte ihre Mutter noch nie gemacht! Sie musste immer zur Schule, es sei denn sie war so krank, dass sie nicht aus dem Bett kam. „Ja, ich weiß, das ist nur eine Ausnahme, damit du das weißt!“ Mit erhobenen Zeigefinger sah sie Kim streng an. „Dein Vater ist schon auf der Arbeit, ich muss jetzt auch los. Wenn etwas ist ruf mich einfach an. Etwas zu essen habe ich dir in den Kühlschrank gestellt. Aber jetzt muss ich mich beeilen.“ Ihre Mutter gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange, dann war sie schon aus dem Haus geeilt. Kim konnte nur noch hören, wie die Tür ins Schloss fiel. Perplex sah sie hinterher, putzte sich dann aber schnell die Zähne zu Ende und ging in die Küche. Sie wusste gar nicht, was sie mit der neu gewonnenen Freizeit so anstellen sollte. Ihr knurrender Magen gab ihr zumindest schon mal eine Idee, womit sie beginnen sollte. Nach einem kurzen Frühstück (Hunger hatte sie zwar gehabt, aber keinen Appetit) zog sie sich schnell um, dann ging sie ins Wohnzimmer. Vielleicht sollte sie sich endlich einmal Zeit nehmen, um mal wieder ein Buch zu lesen. Suchend ließ sie den Blick über das Bücherregal wandern, zog hier und da ein Buch heraus, aber nichts traf so wirklich ihren Geschmack. Erst ganz unten, in der letzten Reihe, fand sie ein Buch, das sie schon vor einiger Zeit gekauft hatte, aber nie die Zeit gefunden hatte es auch zu lesen. Sie pustete die dünne Staubschicht die sich gesammelt hatte vom Einband, dann kuschelte sie sich aufs Sofa und begann zu lesen. Sie war tief versunken in die Geschichte, als Sie einen dumpfen Aufschlag vernahm. Verwirrt sah sie vom Buch auf. Sie war alleine, es konnte also niemand aus ihrer Familie gewesen sein. Sie horchte noch einige Sekunden, dann begann sie weiter zu lesen. Nur wenige Minuten später hörte sie erneut einen dumpfen Aufschlag. Es hörte sich so an, als würde es aus Richtung Flur kommen. Verwundert legte sie ihr Buch beiseite und stand auf. Langsam ging sie in den Flur und schaute in beide Richtungen, konnte aber nichts Auffälliges sehen. Auch im Wohnzimmer konnte sie zunächst nichts finden. Bis sie das Geräusch erneut hörte, diesmal ganz nahe. Sie blickte in die Richtung und sah, dass vor dem Bücherregal einige Bücher lagen. Hatte sie die nicht richtig zurückgestellt, waren sie deshalb herausgefallen? Kim wollte gerade auf das Regal zugehen, als vor Ihren Augen ein Buch aus dem Regal glitt und mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Teppich liegen blieb. Kim erstarrte mitten in der Bewegung. Sie blinzelte, dachte erst sie hätte es sich eingebildet, doch dann glitt das nächste Buch aus dem Regal. Und das nächste. Die Bücher purzelten nun alle nacheinander aus dem Regal, bildeten davor einen kleinen Haufen, der immer größer wurde. Unfähig sich zu bewegen konnte Kim nur weiterzusehen, bis es endlich aufhörte. Langsam und vorsichtig ging Kim zum Regal hin. Einigen Büchern musste sie ausweichen, dann stand sie vor einem komplett leer geräumten Regal. Alle Bücher waren davor verstreut. Trotz der Gänsehaut die Kim verspürte begann sie umgehend damit, die Bücher wieder einzuräumen. Erst langsam, dann immer schneller. Als sie das letzte Buch ins Regal gestellt hatte stand sie schnell auf und lief in ihr Zimmer. Die Tür schloss sie hinter sich, dann setzte sie sich wie am Tag zuvor aufs Bett. Sie zitterte, wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte und für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken ihre Mutter anzurufen. Doch das verwarf sie schnell wieder. Ihre Mutter hatte besseres zu tun, außerdem… Was sollte sie ihr schon erzählen? Das wie von Geisterhand alle Bücher aus dem Regal gefallen waren? Ja genau, das klingt logisch. Kim schüttelte den Kopf. Nein, das war sicherlich irgendwie logisch zu erklären. Bis ihr Vater nach Hause kam blieb sie in ihrem Zimmer. Auch den ganzen restlichen Abend verbrachte sie mit ihren Eltern zusammen. An diesem Abend passierte nichts mehr und Kim vergaß schon wieder, dass überhaupt etwas passiert war. Auch in der Schule am nächsten Tag war nichts Besonderes. Hannah und Luisa machten sich zwar Sorgen um Kim, da sie so erschöpft aussah, aber sie konnte die Sorgen ihrer Freundinnen schnell zerstreuen und gab vor, sich wohl etwas eingefangen zu haben. Zum Glück war bereits Freitag und das Wochenende stand bevor. Da hatte sie sicherlich genug Zeit sich zu erholen. Als sie am Nachmittag nach Hause kam war ihre Mutter schon mit dem Abendessen beschäftigt. „Mh, das riecht aber lecker!“ Kim fragte ob sie helfen konnte, doch ihre Mutter meinte sie solle erst mal zu Hause ankommen. „Außerdem ist das Essen eh schon fast fertig, es muss dann nur noch etwas kochen, da brauche ich dann keine Hilfe. Aber danke Schatz!“ Kim zuckte mit den Schultern, ging in ihr Zimmer und warf den Rucksack neben ihren Schreibtisch. Danach setzte sie sich kurz an ihren Computer, beantwortete ein paar E-Mails, doch ansonsten wusste sie nichts mit sich anzufangen. Sie begann daher damit Wäsche zusammen zu suchen, die gewaschen werden musste. Der Wäschekorb war gerade halb gefüllt, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten im Flur wahrnahm. ‚Oh, Papa ist heute aber früh zu Hause!‘ Noch einige Teile, dann wäre die Waschmaschine voll. Sie klemmte sich den Korb unter den Arm und ging zu ihrer Mutter in die Küche. „Papa ist heute aber früh zu Hause.“ Sie stopfte die Wäsche in die Waschmaschine, ihre Mutter war auf der anderen Seite der Küche immer noch mit dem Essen beschäftigt. „Was meinst du? Papa kommt doch erst… frühestens in einer Stunde.“ Kim wollte entgegnen, dass sie ihn doch gerade gesehen hatte, aber wahrscheinlich war es nur ihre Mutter gewesen, die kurz im Schlafzimmer etwas holen war. Kim stellte den Wäschekorb erst mal in die Abstellkammer, damit er aus dem Weg war. Gerade als sie die Tür zur Kammer schloss, nahm sie erneut einen dunklen Schatten wahr. Diesmal war sie sich ganz sicher, dass sie einen gesehen hat, auch wenn sie ihn wieder nur aus den Augenwinkeln gesehen hat. Schnell eilte sie in die Küche. Ihre Mutter saß mittlerweile am Küchentisch und blätterte in einer Zeitschrift. Sie konnte es definitiv nicht gewesen sein! ‚Was geht denn hier in letzter Zeit nur vor sich?‘ Kim fühlte den Grusel in sich hochsteigen. Doch so sehr sie ein ungutes Gefühl hatte, das ganze musste einfach eine Erklärung haben. Sie setzte sich in ihrem Zimmer auf den Schreibtischstuhl, so gedreht, dass sie einen guten Blick in den Flur hatte. So sehr sie starrte, der Schatten zeigte sich nicht noch einmal, weshalb sie der Angelegenheit nicht auf den Grund gehen konnte. Kurz darauf kam ihr Vater nach Hause und sie aßen zusammen in der Küche. Das ungute Gefühl, dass sich in Kim breitmachte konnte das familiäre Gefühl nicht verdrängen. Den nächsten Tag hatte Kim zumindest schon einmal besser geschlafen. Vielleicht hat sie sich das alles auch nur eingebildet, viel Schlaf hatte sie ja schließlich nicht bekommen. Und da ihre Eltern heute beide frei hatten, war sie immerhin auch nicht alleine zu Hause. Da konnte eh nichts passieren. Das beruhigte Kim ungemein. Endlich hatte sie auch den Kopf dafür mal wieder etwas für die Schule zu machen. Sie steckte gerade mitten in einem Text für den Deutschunterricht, als sie ihre Mutter nach ihr rufen hörte. Sie ließ die Sachen auf dem Tisch liegen und ging in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatte. Doch da war ihre Mutter nicht. Sie fand sie kurz darauf im Wohnzimmer, sie saß auf der Couch und war am Fernsehen. „Was ist denn Mama? Soll ich dir bei etwas helfen?“ Ihre Mutter blickte von ihrer Sendung auf und schaute verwirrt drein. „Helfen? Womit denn?“ Kim zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, du hast mich ja gerufen.“ Doch die Mutter schüttelte nur den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Ich schaue diese Sendung hier, die ist echt fesselnd.“ Damit wand sie sich wieder dem Bildschirm zu. Kim kratzte sich am Kopf, drehte dann jedoch um. Ihre Schulsachen warteten schließlich und solange sie motoviert war musste sie das ausnutzen! Schnellen Schrittes ging sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen. So, jetzt die Notizen fertigmachen, dann konnte sie sich Englisch widmen. Wo war denn nur der Stift? Sie schaute auf ihrem Heft, auf dem Buch, unter dem Buch, aber sie konnte den Stift nicht entdecken. Auch ins Etui hatte sie ihn anscheinend nicht zurückgesteckt. Mit gerunzelter Stirn zog sie einen anderen Stift hervor. ‚Der wird schon wieder auftauchen.‘ Sie hatte die Notizen gerade fertig geschrieben und kramte ihr Englischbuch aus dem Rucksack hervor, als sie wieder die Mutter rufen hörte. ‚Bestimmt will sie das ich ihr beim Essen machen helfe!‘ Sie legte das Englischbuch auf die Deutsch Sachen, die sie noch nicht wegstecken konnte und lief in die Küche. Doch sie brauchte gar nicht bis dahin gehen, ihre Mutter saß immer noch vor dem Fernseher. „Ja, was ist?“ Ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Was ist denn heute mit dir los? Ich glaube du brauchst wirklich einmal etwas Ruhe! Ich glaube kaum, dass ich das tatsächlich sage, aber ich möchte, dass du die Schulsachen morgen einfach einmal liegen lässt und dich ausspannst. Nimm doch ein Bad, was hältst du davon?“ Kim brachte nur ein nicken zustande. Und sie dachte, sie wäre ausgeruht, da hatte sie sich wohl getäuscht! Aber Englisch würde sie jetzt auf jeden Fall noch zu Ende machen. Sie betrat ihr Zimmer und wollte sich gerade wieder an ihren Schreibtisch setzen, als sie sah, dass alles auf dem Boden verteilt lag. Als hätte jemand einmal alles mit Schwung vom Schreibtisch gefegt. Doch es war niemand in ihrem Zimmer gewesen… Mit dicker Gänsehaut auf den Armen begann sie ihre Schulsachen aufzusammeln. Als alles im Rucksack verstaut war schloss sie diesen schnell und stellte ihn in den Kleiderschrank. Den wollte sie heute bestimmt nicht mehr sehen! Eigentlich wollte sie nun auch den Platz am Schreibtisch meiden, aber sie wartete noch auf eine dringende E-Mail. Mit Unwohlsein setzte sie sich vor Ihren PC. Die E-Mail war noch nicht da, aber ihr fiel noch etwas anderes Wichtiges ein. Ehe sie es sich versah war Zeit fürs Abendessen. Sie hatte doch viel mehr Zeit im Internet verbracht, als sie geplant hatte! Schnell fuhr sie den PC herunter und schaltete auch den Bildschirm aus. ‚Genug für heute!‘ Schnell setzte sie sich zu ihren Eltern und genoss den Abend, an dem ihre Eltern Geschichten aus ihrer Jugendzeit erzählten. Ziemlich spät fiel sie an diesem Abend in ihr Bett. Sie hatte einige Stunden erholsam geschlafen, aber nun hatte sie ein Geräusch geweckt. Sie konnte nicht sagen, was es genau war, aber sie hatte sofort wieder ein ungutes Gefühl. Zu viel war in letzter Zeit passiert und so langsam machte sie sich Gedanken, ob das mit dem Ouija-Brett vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. Sie starrte in die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkenn, aber es war so dunkel, sie hätte wahrscheinlich nicht einmal ihre Hand vor Augen gesehen. Probehalber hob sie diese. ‚Nein, nicht zu sehen.‘ Es musste also noch mitten in der Nacht sein. Sie überlegte gerade, ob sie ihre Lampe einschalten sollte, als plötzlich ein Licht bei ihrem Schreibtisch anging. Es war so hell, dass sie die Augen kurz schließen musste, sonst hätte sie nichts gesehen. Als sich die Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, machte sie vorsichtig ein Auge auf. Auf dem Stuhl, vor ihrem Schreibtisch, saß jemand. Sie konnte den Schatten ganz eindeutig sehen, er hielt das meiste vom Licht ab. Sie blinzelte, da war der Schatten auch schon verschwunden. Nun konnte sie sehen, was da so leuchtete: Ihr PC hatte sich von ganz alleine angeschaltet. ‚Wirklich von alleine?‘ Sie wusste nicht, ob sie sich den Schatten nur eingebildet hatte, aber der PC war eindeutig an. Dabei hatte sie den Bildschirm doch sogar extra zusätzlich ausgeschaltet! Nun machte sie doch ihre Lampe an. Das konnte doch gar nicht sein! Sie stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber. Tatsache! PC und Bildschirm waren beide an. Doch das war noch nicht das schlimmste… Jemand hatte die Textbearbeitung geöffnet und etwas geschrieben. Es waren zwar nur einige wenige Worte, aber Kim fühlte sich als hätte sie den Boden unter den Füßen verloren. „Du bist nicht allein. Ich kriege dich!“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Wie konnte so etwas sein? Sie las diese Zeilen immer und immer wieder, aber es änderte sich nichts. Sie trat einen Schritt näher, doch plötzlich war Bildschirm schwarz. Kim zuckte zusammen, hatte sie sich doch erschrocken. Langsam ging sie auf ihren Computer zu. Der Rechner war aus, es leuchtete kein Lämpchen. Auch der Bildschirm war wie tot. Probeweise drückte sie den Knopf zum anschalten am Bildschirm. Das Lämpchen blinkte sofort auf. ‚Der Bildschirm war also aus gewesen? Das kann doch gar nicht sein!‘ Kim hatte so langsam keine Kraft mehr für so etwas. Erlaubte sich da jemand einen üblen Scherz mit ihr? Aber wer sollte das sein? Und vor allem… wie sollte er das alles angestellt haben? Das war unmöglich! Das Grauen fraß sich in ihren Körper. Nun wusste sie gewiss, dass es nicht mit normalen Dingen vor sich ging! Die Nacht über fand sie keinen Schlaf mehr. Die Lampe ließ sie brennen, das störte nicht, war sie doch sowieso dabei mit dem Handy zu suchen. Hatten sie mit dem Ouija-Brett etwas falsch gemacht? Laut den Anleitungen konnte sie nichts finden, sie hatten die Plakette zu keiner Zeit losgelassen. Wie konnte das sein? Sie wollte doch nur mit Ihrer Großmutter sprechen. Aber ihre Großmutter würde so etwas niemals tun, da war sie sich sicher! Sie wollte die Suche schon enttäuscht aufgeben, als sie doch noch etwas Interessantes entdeckte. Eine Seite, in der Betroffene beschrieben, wie sie seltsame Begebenheiten hatten, nachdem sie mit einem Ouija-Brett Geister angerufen haben. Es waren ähnliche Vorfälle wie sie es erlebt hatte, aber es gab auch noch schlimmere Berichte. Manche Menschen sind sogar verletzt worden! Und das einzige was half, war die dunkle Macht zu vertreiben. Wenn sie den Berichten Glauben schenkte, so öffnete die Anrufung die Pforte nicht nur für die Geister der verstorbenen, mit denen man sprechen wollte, sondern auch für dunkle Geister und Dämonen. ‚Fast wie eine Pforte zur Hölle!‘ Kim schluckte. Das klang so ausgedacht… aber andernfalls hat sie ja nun selbst genug erlebt. Wie sollte sie jemanden finden, der prüfen konnte, ob sie etwas gerufen hatte, was sie nicht hier haben wollte? Sie konnte es nicht sagen… Nach dem ersten Forum fand sie weitere Seiten, die ähnliches berichteten. Es dauerte nicht lange, da hatte Kim sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, hatte aber immer noch keine Lösung gefunden. Am nächsten Tag fühlte sie sich richtig ausgelaugt und kraftlos. Sie hatte keine Lösung für ihr Problem. Ein Teil in ihr drin wollte Glauben, dass es nicht sein konnte, dass alles Einbildung war und es sich ganz einfach erklären ließ. Aber der größere Teil wusste das es nicht sein konnte. Sie musste alles sacken lassen, sie brauchte eine Lösung. Da kam ihr der Ratschlag ihrer Mutter in den Sinn. Ein Bad wäre jetzt vielleicht tatsächlich das richtige und das klang ungefährlich. Doch da sollte sich Kim täuschen… Sie hatte das Wasser eingelassen, und hatte auch schon den Badezusatz hinzugegeben. Nun ließ sie sich langsam in das warme Wasser gleiten, merkte wie es ihr guttat. Die Muskeln entspannten sich und sie schloss die Augen. Fast wäre sie eingeschlafen, so wohlig fühlte es sich an. Doch soweit kam es nicht mehr. Sie sah kleine Wellen auf der Wasseroberfläche, obwohl sie sich gar nicht bewegt hatte. Nervös setzte sie sich auf. ‚Nicht schon wieder, das durfte nicht wahr sein!‘ Sie konnte kaum noch atmen, die Luft war auf einmal viel zu dick. Gleichzeitig spürte sie wie eine eisige Kälte auf sie zu kroch. Sie schlang die Arme um die Schultern und wollte gerade aus der Badewanne aussteigen, doch etwas drückte sie zurück. Fast wäre sie in der Wanne ausgerutscht, doch sie konnte sich gerade so fangen, dass sie nicht unter Wasser geriet, sondern sitzen blieb. Panik stieg in ihr hoch, sie versuchte sich zu bewegen, doch es ging einfach nicht. Sie wollte um sich schlagen, doch es war als würde sie gegen unsichtbare Barrieren ankämpfen. Es hatte keinen Zweck sich zu wehren, aber Aufgeben würde sie deshalb noch lange nicht! Sie versuchte ein letztes Mal dagegen anzudrücken, ohne Erfolg. Stattdessen spürte sie mit einem Mal einen brennenden Schmerz auf ihrem Rücken. Noch ehe sie sich fragen konnte, was passiert war entwich ihr ein Schmerzensschrei und sie sah, wie sich das Wasser rot färbte. „Kim? Kim, was ist los?“ Die panische Stimme ihrer Mutter drang durch die Tür. Sie rüttelte an der Klinke, aber Kim hatte wie immer abgeschlossen, wenn sie baden oder duschen ging. Sie biss die Zähne zusammen und brachte ein glaubwürdiges „Nichts Mama, das Wasser war nur zu heiß!“ heraus, als sie spürte, dass die Barrieren sie nicht mehr hielten. „Wirklich? Dann ist in Ordnung Schatz, aber ruf, wenn etwas ist!“ Sie hörte die Sorge in der Stimme ihrer Mutter, aber sie konnte sie nicht damit belasten. Langsam erhob sie sich, dünne Rinnsale Blutes liefen an ihrem Körper hinab. Sie fasste sich ungelenk mit einer Hand an den Rücken. Die Finger tasteten lange, tiefe Kratzer, aus diesem trat das Blut heraus. Als sie die Hand wieder nach vorne streckte, war diese Blut getränkt. Kims Augen waren vor Schreck geweitet. ‚Das geht zu weit! So kann das nicht weitergehen!‘ Schnell wusch sie sich das Blut von den Händen und vom restlichen Körper, dann hüllte sie sich in ihren Bademantel. Diesen eng um sich geschlungen machte sie sich sofort auf in ihr Zimmer. Mit einem schnellen Griff schnappte sie sich ihr Handy vom Nachttisch. Sie musste nun sofort wissen, was sie tun konnte! Eine Weile und etliche Internetseiten später hatte sie einen groben Plan. Die Kratzer brannten zwar noch etwas, aber sie spürte, dass diese nicht weiter gefährlich waren. Vorsichtig zog sie sich um, ihre Eltern durften davon nichts erfahren! Jetzt, wo sie zumindest Ansatzweise wusste, was sie tun konnte, ging es ihr schon besser. Aber sie brauchte Zeit alleine. Hoffentlich gingen ihre Eltern heute wie immer gegen Nachmittag zum Spieleabend bei Freunden. Dann hätte die freie Bahn für ihren Plan. Unschuldig erkundigte sie sich bei ihren Eltern danach. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr, als diese den Spieleabend bestätigten. Nun hieß es nur noch abwarten! Sie konnte so nicht weiter machen, sie musste Angst haben, dass sie weitere Verletzungen davon tragen würde, wenn nicht sogar schlimmeres. Sollte ihr Plan nicht aufgehen, so nahm sie sich vor einen Exorzisten zu suchen. Das würde nicht einfach werden, aber das war dann ihre einzige verbleibende Chance… Nervös auf ihrem Schreibtischstuhl hin und her drehend wartete sie darauf, dass sich ihre Eltern endlich verabschiedeten. Als es dann soweit war atmete Kim erst einmal tief durch. Einige Dinge brauchte sie noch, dann konnte es losgehen. Sie hatte Glück, dass sie noch einige Räucherstäbchen mit weißem Salbei hatte, das war noch aus einer Phase, wo sie sich für Hexenkram und so etwas interessiert hatte. Nun kam es ihr zugute. Laut dem Internet sollte weißer Salbei eine reinigende Wirkung haben. Besser wären Bündel mit reinem Salbei gewesen, aber da kam sie jetzt so auf die Schnelle nicht dran. Das musste reichen. Sie zündete in jedem Raum ein Räucherstäbchen an, danach nahm sie eines zusätzlich in die Hand. Man sollte so alles im Haus ausräuchern. Jeder Raum, jede Stelle und vor allem auch jede Ecke sollte so ausgeräuchert werden. Sie fing vorne in der Wohnung an und arbeitete sich immer weiter. Leise das Vater unser aufsagend. Das Ave Maria hatte sie nie gelernt, was sie nun ärgerte. Ihr Zimmer war als letztes dran und sie betrat es mit klopfendem Herzen. Die ganze Atmosphäre hatte sich im Haus komisch angefühlt, aber in ihrem Zimmer war es am schlimmsten. Es war eisig kalt und sie konnte kaum atmen. Das kannte sie mittlerweile schon, aber es machte ihr dennoch Angst. Während der Räucherung wurde es schlimmer, sie hielt bis zum Schluss durch. Nun noch das letzte…. Sie holte das Ouija-Brett hervor, was sie mit ihren Freundinnen genutzt hatte und legte es in eine Feuerfeste Schale. Zusammen mit etwas Papier und Spiritusanzünder wollte sie es verbrennen. Das Feuerzeug brannte bereits, als sie einen merkwürdigen schwarzen Nebel vor der Schale entdeckte. Er sammelte sich, wurde immer größer und immer dunkler. Kim wurde so schlecht, dass sie aufpassen musste sich nicht zu übergeben. Kim biss sich auf die Lippe, sie durfte sich nicht ablenken lassen, musste es bis zum Ende durchziehen. Sonst hatte es keinen Zweck mehr. Vorsichtig senkte sie das Feuerzeug hinab, der Anzünder machte seine Arbeit gut. Schon bald brannte der Inhalt der Schale lichterloh. Erst da wurde Kim bewusst, dass es vielleicht gar nicht so eine gute Idee war das im Haus zu machen, aber nun war es zu spät. Je kräftiger die Flammen brannten, desto dunkler wurde der Schatten. Sie schaute hinauf, der Schatten war nun eine ganze Ecke größer als sie es war. Mit einem Mal sah sie Augen, so leuchtend rot wie glühende Kohle. Der Rauch war nun dicht, doch die Augen konnte sie ganz klar erkennen. Der Schatten stieß ein unheimliches Knurren aus, als würde es tief aus der Erde kommen. Kim wich zurück. Der Schatten wehrte sich, er wollte nicht ausgetrieben werden. Sie stemmte ihren Willen dagegen, sagte unaufhörlich das Vater Unser auf, doch sie kam nicht dagegen an. Ihr Blick verschwamm immer mehr, sie schaffte es nicht. Und das Feuer brannte noch… So hatte sie keine Chance, es war vorbei. Hoffentlich waren ihre Eltern wenigstens in Sicherheit. Sie konnte einfach nicht mehr. Mit Tränen in den Augen kam ihr der Gedanke, dass sie dann immerhin bald ihre Großmutter sehen würde, als sie ein gedämpftes Leuchten wahrnahm. Es war direkt neben ihr, es wurde immer heller und durchdrang sogar den Rauch. Der schwarze Schatten stieß nun ein wütendes Knurren aus. Was auch immer das Leuchten bedeutete, es gefiel dem Schatten ganz und gar nicht. Das Licht war nun so hell, dass Kim ihre Augen fast schließen musste. Doch mit ihrer letzten Kraft zwang sie sich zuzusehen. Das Licht schwebte nun auf den Schatten hinzu, er stemmte sich dagegen. Seine Wut steigerte sich, doch Kim hatte den Eindruck, dass sie nun auch Überraschung hörte. Erst schaffte der Schatten es das Licht zurück zudrängen, dann jedoch wurde das Licht wärmer. Kim konnte die Wärme auf ihrem Gesicht fühlen, es fühlte sich an wie die erste Sonne im Frühling. Angenehm. Sie konnte noch sehen, wie das Licht den Schatten in sich aufnahm, konnte das Schreien des Schattens hören, dass ihr durch Mark und Bein ging. Doch Kim sackte zusammen. Ihr Körper hatte keine Kraft mehr, sie aufrecht stehen zu lassen. Das letzte was sie hörte war eine sanfte Stimme. Sie klang wie ihre Großmutter. „Pass auf dich auf!“, dann war alles schwarz. Das nächste woran sie sich erinnerte, war das sie in einem Krankenhausbett aufwachte. Ihre Mutter saß neben ihr, das Gesicht Tränen überströmt. Kim konnte sich kaum rühren, ihr Körper war so schwer. Sie fasste unendlich langsam an ihr Gesicht, sie hatte eine Maske aus Plastik auf. „Nicht, Schatz! Das ist dein Sauerstoff, den brauchst du. Hol den Arzt, sie ist endlich wach!“ Mit einer aufgeregten Geste schickte sie ihren Mann los einen Arzt zu holen. „Oh endlich bist du wach!“ Immer mehr Tränen rannen von ihrem Gesicht. „Was… Was ist passiert?“ Ihre Stimme war rauh und kaum mehr als ein krächzen, jedes Wort tat weh wie tausend Nadelstiche. „Wie konntest du das nur tun? Was hast du dir dabei gedacht, einfach ein Feuer im Haus anzuzünden! Du hättest es fast abbrennen lassen. Und noch schlimmer, fast wärst du uns gestorben!“ Ihre Mutter schluchzte nun laut auf und umarmte Kim, so feste wie das mit den ganzen angeschlossenen Geräten möglich war. Kim erinnerte sich wieder etwas… An den Rauch… An den Schatten… „Wäre der Nachbar nicht gewesen! Er hat sofort die Feuerwehr gerufen als er den Rauch gesehen hat!“ Kim erinnerte sich an das Feuer. Hatte sie es einfach so angezündet? Nein, da war sie sich sicher. Der Schatten war zu real… Und dann war da dieses Licht, es war so schön. Aber war das alles wirklich passiert? Kim wusste, dass man bei einer Rauchvergiftung auch Halluzinationen bekam. Schließlich hatte man einen riesigen Sauerstoff Mangel. Sie würde niemals wissen, ob es tatsächlich geschehen ist. Aber für sie hat es sich real angefühlt, sie wusste, es war wirklich geschehen. Und sie wusste auch, dass es nun endlich vorbei war. Sie schloss die Augen und hörte die Stimme. ‚Pass auf dich auf!‘ Nein, das war wirklich passiert, da war sie sich sicher. Und über noch eines war sie sich sicher: Dass sie einen Schutzengel hatte. ‚Vielen Dank, Großmutter. Irgendwann werden wir uns wiedersehen!‘ Kapitel 5: Geschichte 5 ----------------------- Ich lag in meinem Bett und seufzte. Meinen Sohn konnte ich mal wieder bis in den Schlaf hinein hören. Ich schlug die Decke zurück, setzte mich im Bett auf und zog meine Pantoffel über die Füße. Rasch, aber leise, denn ich wollte nicht, dass auch mein Mann wach werden würde, schlüpfte ich in den Flur und ging zum Zimmer unseres Sohnes. Es lag auf der gleichen Ebene, direkt gegenüber von unserem Zimmer, aber am anderen Ende des Flurs. Ich drückte die Tür auf und machte das Licht an. Wie die Tage zuvor hatte er sich komplett unter die Decke gekugelt, so klein wie nur möglich. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, so hätte es vielleicht lustig ausgesehen, wie seine Decke einen Hügel bildete. Aber es war ernst, denn Felix hatte Angst. In letzter Zeit hatte er immer und vor allem und jedem Angst. Ich setzte mich vorsichtig auf die Bettkante und streichelte über die Decke. „Felix, was ist denn los mein Kleiner?“ Er schluchzte auf, kroch aber dann doch ein Stück weit unter der Decke hervor. „Er war wieder da!“ Tränen liefen ihm über das Gesicht. Ich streichelte seinen Kopf um ihn zu beruhigen. „Wir haben das doch schon besprochen, hier ist nichts, vor dem du Angst haben musst! Alles ist in Ordnung.“ Sein Blick verriet mir, dass nichts in Ordnung war. Und ich muss zugeben, dass ich so langsam nicht mehr weiter wusste. Felix war nun schon neun Jahre alt, fast zehn. Er sollte nicht mehr so schlimme Alpträume haben. Vor allem nicht immer mit einem „Schatten“, den er immer wieder sah und der ihm anscheinend eine heiden Angst einjagte. Ja, natürlich hat jeder Alpträume und natürlich hat man manchmal auch wiederkehrende Alpträume. Aber Felix war mittlerweile nicht mehr er selbst. Sonst war er immer sehr selbstbewusst gewesen und hatte vor fast nichts Angst. Jetzt durfte man teilweise nicht einmal mehr zu laut atmen. Ich drückte ihn fest an mich und blieb einige Minuten in der Pose. Als ich merkte, wie sein Atem wieder ruhiger wurde, deckte ich ihn richtig zu und schlich zurück ins Schlafzimmer. Ich zog gerade die Hausschuhe aus und wollte mich wieder zudecken, als mein Mann sich zu mir rumdrehte. „Was war denn schon wieder?“ Ich zog die zunächst die Decke bis zum Hals. Es war kühl und ich hatte eine Gänsehaut auf den Armen, weil mir so kühl war. „Du weißt schon, es war wieder wegen dem Schatten…“. Am liebsten wäre ich gar nicht darauf eingegangen, denn ich wusste jetzt schon, wie mein Mann reagieren würde. „Das kann doch gar nicht sein! Was ist mit ihm den nur falsch? Er soll sich nicht so anstellen!“ Ich musste ein Seufzen unterdrücken. Ich wollte seine Wut nicht auch noch auf mich lenken, aber es konnte so nicht weitergehen. „Weißt du, Bernd, vielleicht sollten wir doch mal zu einem Arzt gehen…“. Ich wusste, ich hatte damit eigentlich schon zu viel gesagt. „Zu einem Arzt? Denkst du etwa unser Junge hat sie nicht mehr alle? Der ist doch nicht Plemplem, der ist nur eine Memme! Wir sollten das wirklich nicht noch unterstützen, Erica!“ Da war sie wieder: Die Tour, die mein Mann bei diesem Thema immer an den Tag legte. Ich liebte ihn wirklich, und ja, bestimmt war er auch in einigen Dingen ein ziemlicher Macho, aber bei diesem Thema übertrieb er es wirklich. So kannte ich ihn überhaupt nicht und ich weiß nicht, was das bedeuten sollte. Ich schaute zu ihm herüber, aber er hatte sich schon wieder auf die andere Seite gedreht. Für ihn war die Sache damit erledigt. Sein Sohn brauchte keinen „Seelenklempner“, wie Bernd sich immer ausdrückte. Wenn ich an Felix dachte, war ich mir da aber nicht so sicher. Es ging nun schon einige Wochen so. Felix hat seitdem fast nie durchgeschlafen und die Nächte wurden immer schlimmer. Er wachte nicht nur auf, er hatte richtige Panik, er weinte, er versteckte sich. Jeden Tag sah er erschöpfter aus. Alles, was ich von meiner Seite aus tun konnte, hatte ich schon getan. Wie oft hatte ich mit Felix schon darüber gesprochen? Ich konnte es schon nicht mehr zählen. Er sagt er hatte keine Probleme in der Schule. Mit den Freunden auch nicht. Er hat mir genau erklärt, was er nachts „sah“. Es war wohl ein kleiner, sehr dunkler Schatten. Erst war er nicht so oft da, ging mal an der offenen Tür vorbei. Felix schloss sie jede Nacht, doch das half nicht. Plötzlich würde er wieder im Zimmer stehen. Zuerst stand er auch immer nur ruhig da, an einer Wand, in einer Ecke. Doch Felix meint, dass er sich immer mehr bewegen würde. Ich weiß nicht, warum er immer wieder diesen Schatten sah. Bei uns war nichts geschehen, niemand war gestorben, wir waren nicht umgezogen. Ich konnte mir nicht erklären, warum diese Alpträume so plötzlich kamen. Lange noch lag ich im Bett wach, den Blick zur Decke gerichtet. Die Gedanken schwammen in meinem Kopf, bis der Morgen schon anfing zu dämmern. Am Morgen sah ich nicht viel besser aus als Felix. Bernd war schon zur Arbeit, Felix hatte ich in der Schule krank gemeldet. So fertig würde ihm die Schule sowieso nichts bringen. Nun saß er am Frühstückstisch, stocherte lieblos in seinen Cornflakes herum, die langsam eher wie ein Brei aussahen und gab nichts von sich. Ich nippte an meinem Kaffee, stellte die Tasse dann auf den Tisch und sah ihn auffordernd an. „Felix. Was war denn letzte Nacht?“ Er schaute nicht auf, rührte nur weiter in der Schüssel und zuckte mit den Schultern. „Ich sehe doch, dass du total müde bist. Und du hattest die Nacht doch auch wieder Angst. Ich habe dich bis ins Schlafzimmer gehört! Mir kannst du es doch erzählen.“ Ich legte ihm meine Hand auf den Arm und nun blickte er doch auf. „Das würdest du mir ja doch nicht glauben…“. Er schob seine Unterlippe ein Stück vor und sah nun fast ein wenig trotzig aus. „Du kannst es ja mal versuchen.“ Mehr sagte ich nicht, ich wollte ihn auch nicht drängen. Nachdenklich verzog er das Gesicht. „Na gut. Aber du darfst nicht lachen und du musst mir glauben, dass es wirklich passiert ist!“ Ich nickte ernst, und er rang sich doch noch dazu durch sich mir anzuvertrauen. „Ok. Also… der Schatten… der war letzte Nacht wieder da. Zuerst stand er einfach nur da, in der Ecke neben meinem Schrank. Aber dann…“ Er rührte nun eifriger in seiner Schüssel, es war ihm sichtlich unangenehm darüber zu reden. „Weißt du, es klingt verrückt, aber seit einigen Tagen spricht er mit mir. Er sagt ganz schlimme Dinge. Auch letzte Nacht, da war er ganz nah an mir dran. Und er hat wieder ganz schlimme Dinge gesagt. Als ich dann angefangen habe zu weinen, haben seine Augen angefangen rot aufzuleuchten und er hat gelacht. Richtig boshaft… Ich habe mich unter der Decke versteckt, aber ich konnte das Lachen immer noch hören. Und dann… bist du rein gekommen, erst dann war er still.“ Sanft strich ich über seinen Kopf. „Ist es so schlimm was er gesagt hat?“ Felix nickte still. Dann kam ihm wohl ein Gedanke. „Hast du den Schatten nicht gesehen, als du rein gekommen bist?“ Er wirkte regelrecht etwas aufgeregt, ich konnte die Hoffnung spüren. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Nein, im Zimmer habe ich nur dich gesehen. Also, viel mehr den Berg unter der Decke, aber ansonsten war da nichts, tut mir leid.“ Sichtlich sackte Felix zusammen. Anscheinend hatte auch er Angst, dass er verrückt wurde. „Meinst du… Also was ich sagen möchte ist, vielleicht sollten wir mal zu einem Arzt gehen. Vielleicht kann der dir mit deinen Alpträumen helfen!“ Ich lächelte ihm aufmunternd zu, aber er wurde augenblicklich wütend. „Also glaubst du mir doch nicht! Das sind keine Alpträume, der Schatten ist wirklich da!“ Dann stand er auf, kippte außer sich vor Wut den Stuhl um und rannte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Kaffeetasse zwischen den Händen saß ich noch da, allein in der leeren, stillen Küche. Wusste, ich war es falsch angegangen. Wusste aber nicht, was ich anders, was ich besser hätte machen können. Und wieder starrte ich einfach nur ins leere und ließ den Gedanken freien Lauf, nicht zum ersten Mal. Auch ich war nervlich am Ende, das merkte ich. Mein Mann war mir keine Unterstützung, aber er war sowieso die meiste Zeit am Arbeiten, daher war ich viel allein zu Hause. Unser Sohn war auch nicht oft da, war er doch meistens in der Schule und wenn er nicht dort war bei einem seiner Freunde. Es hat mir nie so sonderlich viel ausgemacht, ich habe genug im Haushalt zu tun, genoss es spontan auch einfach mal eine Runde Laufen gehen zu können und freute mich so auch immer riesig auf meine beiden Männer. Es gab immer irgendetwas zu erzählen. Aber jetzt fühlte ich mich einsam, ja richtig allein gelassen. ‚Sollte ich doch einmal bei einem Arzt anrufen? Ich könnte mich ja zumindest beraten lassen. Vielleicht könnte die Praxis auch einschätzen, ob ein Besuch überhaupt nötig war, oder ich doch nur überreagiere.‘ Eigentlich war der Gedanke aufmunternd. Ich konnte mir Hilfe holen, vielleicht war ich doch nicht so alleine, wie ich dachte. Aber schnell kamen andere Gedanken dazu. ‚Das würde Bernd niemals mitmachen. Und wie es aussieht Felix auch nicht. Wie sollte das also funktionieren?‘ Frustriert schob ich meinen Stuhl zurück und spülte meine Tasse im Spülbecken aus. Danach räumte ich auf, putzte, saugte Staub, alles, nur ich wollte nicht weiter nachdenken müssen. Denn es brachte mir kein Ergebnis. Am Abend stand ein üppigeres Essen auf dem Tisch als sonst. Das Kochen hatte mich abgelenkt. Berns lobte es aus vollen Tönen, aber mehr als ein Lächeln brachte ich nicht zustande. Er wollte immer noch nicht über die Situation reden. Felix saß still an seinem Platz, lächelte aber einige Male seinem Vater zu, damit dieser ihn ansonsten in Ruhe ließ. Immer wieder stocherte ich lustlos in den Möhren und den Kartoffeln herum. Ich aß zwar den Teller leer, aber die letzten Bissen waren schon längst kalt. Eine zweite Portion kam gar nicht in Frage, das Essen wollte so schon kaum die Speiseröhre runterrutschen. Als alle fertig waren räumte ich das Geschirr weg, dann setzte ich mich zu Bernd auf das Sofa. Er schaute irgendeine Show, aber viel bekam ich nicht mit. Die Show interessierte mich nicht und ich hatte auch keinen Kopf für sowas. Nicht lange, da nahm ich mir lieber ein Buch mit nach oben, zog meine Schlafsachen an und las noch etwas im Bett. Das Buch war unverfänglich und leicht. Ich konnte mich zwar auch hier nicht so richtig konzentrieren, aber bei dem Buch war das verzeihlich. Gerade war ich in der Geschichte gefesselt, da hörte ich einen dumpfen Schlag aus dem Flur. Felix war ja schon seitdem Abendessen hier oben, ich ging also davon aus, dass er es war. Einige Seiten weiter erklang das Geräusch jedoch erneut. Mit in Falten gelegter Stirn legte ich das Buch auf das Nachttischchen und ging in den Flur. Das Licht war aus, daher konnte ich zunächst nichts sehen. Aber als ich das Licht anmachte konnte ich sehen… dass ebenfalls nichts da war. Felix Zimmertür stand offen, daher beschloss ich kurz zu ihm rein zusehen, ob alles in Ordnung war. Er lag auf seinem Bett und spielte mit Actionfiguren. Glücklicherweise hatte er das Geräusch anscheinend nicht mitbekommen, sonst hätte er sicherlich wieder fürchterliche Angst bekommen. Zufriedengestellt ging ich zu meinem Bett zurück, hier war alles soweit in Ordnung. Vielleicht hatte ich es mir ja doch nur eingebildet. ‚Du bist eindeutig zu gestresst!‘ Milde lächelnd rutschte ich mit den Füßen wieder unter die Decke, nahm das Buch erneut in die Hände und kuschelte mich ein. Etwas Entspannung konnte nicht schaden! Ich musste wohl so eingeschlafen sein, denn ich wachte erst mitten in der Nacht wieder auf. Bernd lag schon längst neben mir, tief und fest am Schlafen. Ich rieb mir kurz über die Augen, legte das Buch dann beiseite und wollte mich gerade wieder unter die Decke kuscheln, als ich wieder einen dumpfen Schlag hörte. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war eine Sache ein merkwürdiges Geräusch mitten am Tag zu hören, in der Nacht war es aber auf jeden Fall noch einmal etwas ganz Anderes. Und einmal mehr verfluchte ich, dass Bernd wie ein Stein schlief und mal wieder nichts mitbekam. Deshalb bekam er auch kaum mit, wenn Felix Alpträume hatte. Ich mein, das war ja auf einer Art und Weise auch gut, so konnte er Felix nicht noch mehr verunsichern, aber jetzt gerade hätte ich ihn gerne dabeigehabt. Wecken wollte ich ihn aber nicht. Er musste morgen früh wieder arbeiten, er brauchte seinen Schlaf. Ich war also auf mich alleine gestellt. Wäre es nur Felix, dann wäre ich auch im Dunkeln gegangen, da wusste ich ja worauf ich mich gefasst machen konnte. So nahm ich aber lieber die Taschenlampe aus meinem Nachttisch, so fühlte ich mich sicherer. Erst im Flur schaltete ich sie auch ein. Wieder nichts, der Flur war leer, ich konnte nichts entdecken, was für das Geräusch hätte verantwortlich sein können. Ich wollte gerade zurück ins Schlafzimmer als mein Blick auf Felix Zimmertür fiel. Sie war nicht wie sonst geschlossen, sondern stand weit auf. Mein Herz rutschte mir in die Hose, das war absolut nicht typisch für Felix. Ich ging vorsichtig näher, ich hatte Sorge, dass er wach wäre und sich erschrecken würde. Aber er lag in seinem Bett, war am Schlafen. Das beruhigte mich, hoffentlich hatte er heute nicht wieder einen Alptraum. Ich wollte gerade das Zimmer verlassen, da hörte ich ein Murmeln aus Felix Bett. Ich schaute noch einmal zu ihm hin und ja, sein Mund bewegte sich auch. Das hatte ich mir zumindest nicht eingebildet. Was genau er murmelte, das verstand ich nicht. Viel zu undeutlich sprach er. Vielleicht machte es auch gar keinen Sinn, schließlich sprach er im Schlaf. Ich zog die Decke vorsichtig ein Stück höher, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. ‚Hatte sich das gerade wie ein Lachen angehört?‘ Schnell drückte ich die Tür doch noch einmal auf, aber es war genauso wie vorher. Felix lag im Bett, murmelte vor sich hin und auch wenn ich das Gefühl hatte so langsam paranoid zu werden, leuchtete ich schnell das restliche Zimmer aus. Nein, alles leer, alles in Ordnung. ‚Nun die Tür zu und dann zurück ins Bett! Das ist mir doch zu gruselig!‘ Gedacht getan, wenig später lag ich wieder neben Bernd. Der natürlich nichts mitbekommen hat. Und auch wenn meine Gedanken wieder auf Wanderschaft gehen wollten, ich war so müde, dass meine Augen kurz danach wie von selbst zufielen. Am nächsten Tag stand ich früh auf. Felix konnte ich nicht schon wieder krank melden, da würde er zu viel verpassen. Müde schmierte ich ihm also Schnitten, Bernd war schon fertig und verabschiedete sich zur Arbeit. Ich weckte Felix, bereitete die restlichen Sachen vor, die er in der Schule brauchen würde und zog mich ebenfalls an. Ich würde ihn schnell zur Schule fahren, dann hatte er sicherlich nicht so einen Stress. Gesagt, getan. Kurze Zeit später saß ich schon wieder auf dem Sofa, schnaufte durch und überlegte, was ich heute unbedingt machen musste und was vielleicht noch warten konnte. Motiviert war ich heute gar nicht, da konnte ich von Glück reden, dass ich so fleißig vorgearbeitet hatte und nicht viel zu tun übrig blieb. Aber das konnte jetzt auch noch kurz warten. Ich legte die Füße hoch, schaltete den Fernseher ein und ließ mich berieseln. Das tat gut, ich hatte mich schon lange nicht mehr richtig auf etwas konzentrieren können, doch heute ging es. Nach der Sendung dann die Arbeiten erledigt, dann musste ich Felix auch schon fast wieder einsammeln. Ich sah auf die Uhr. ‚Ja, ich sollte so langsam los, sonst wird es nur wieder stressig.‘ Ich parkte in der Nähe der Schule, direkt davor war der Andrang immer extrem hoch und dem wollte ich mich nicht unnötig anschließen. Und da kam Felix ja auch schon um die Ecke, sein Freund Sven dabei. Aber freundschaftlich sah das nicht aus, anscheinend waren die beiden am Streiten. So gerne ich wollte, ich mischte mich lieber nicht ein. Oft stritt Felix sich nicht, aber er stand ja nun einmal neben sich und er würde sich wie sonst auch schon schnell wieder mit Sven vertragen. Dieser lief gerade wütend über die Straße, als Felix sich wie ein nasser Sack auf die Rückbank fallen ließ. Ich sah zu ihm hin, aber er ignorierte mich, daher machten wir uns still auf den Weg nach Hause. Dort angekommen verlangte ich von Felix, dass er erst einmal seine Hausaufgaben machte, während ich das Essen vorbereiten würde. „Sag mal, warum hast du dich mit Sven denn gestritten?“ Ich schaute kurz vom Gemüse schneiden auf, aber Felix seufzte genervt auf. „Wegen gar nichts. Geht dich auch nichts an.“ So eine pampige Antwort war ich nicht gewohnt, aber nun gut, das würde ich nicht an mich ranlassen. Das Essen war gleich fertig, notfalls würde ich diese Informationen auch von Svens Mutter erhalten. Und das auch noch früher, als ich erwartet habe. Gerade hatte ich das Essen auf den Tisch gestellt, Felix war zum Glück schon mit den Hausaufgeben fertig, da klingelte das Telefon. Als ich mich meldete hörte ich nur Svens Mutter, sie klang gar nicht begeistert. „Hör mal Erica, ich weiß ja das Felix es im Moment nicht so einfach hat, aber das geht nun wirklich zu weit!“ Sie klang wirklich wütend. „Was ist den passiert? Felix wollte mir nichts dazu sagen, aber das er sich mit Sven gestritten hat war offensichtlich gewesen.“ Ein lautes Schnaufen drang durch den Hörer. „Streit? Ja, so kann man das natürlich auch nennen! Felix hat Sven heute Morgen schon ziemlich schroff angefahren, obwohl der nur wissen wollte, ob er nun wieder gesund sei. Dann hat Felix ihm ein Trinkpäckchen über die ganzen Sachen gegossen und am Ende hat er ihn auch noch geboxt! Hör mal, ich weiß Felix geht es nicht gut, aber du musst das bitte mit ihm klären. Sven hat einen großen blauen Fleck auf dem Arm und will mit Felix nicht mehr reden.“ Das saß. Zuerst war ich sprachlos, ich musste diese Informationen erst mal verarbeiten. „Das soll Felix getan haben? Ach du je, nein, da hast du recht, das geht gar nicht. So kenne ich ihn aber auch gar nicht…“. „Ich ja auch nicht, aber ich habe Sven auch noch nie so wütend auf jemanden gesehen.“ Ich nickte, bemerkte dann aber, dass Svens Mutter diese Geste gar nicht sehen konnte. „Ja, das glaube ich dir. Ich kümmere mich darum. Richte Sven schon mal eine Entschuldigung aus, ich leg auf und kläre das jetzt erst mal mit Felix. Ich melde mich dann noch einmal bei dir.“ Die Verabschiedung fiel auch eher kühl aus, verstehen konnte ich das auf jeden Fall. Felix verstehen konnte ich nicht. Als ich in die Küche zurück kam hatte er sich bereits Nudeln auf den Teller geschaufelt. „Iss bitte auch etwas Gemüse, ich habe es vorhin frisch geschnitten für dich.“ Ich schob ihm die Schüssel über den Tisch hinüber. „Übrigens… Ich habe gerade mit Svens Mutter gesprochen. Was hast du dir denn dabei gedacht? Sven hat ein großes Hämatom am Arm!“ Ich blickte Felix direkt an, er versuchte jedoch meinem Blick auszuweichen. „Jetzt mal Klartext. Er ist doch dein Freund, was ist denn nur los mit dir?“ Felix zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht.“ Es war kaum mehr als ein flüstern, ich musste mich schon konzentrieren um ihn überhaupt zu verstehen. „Ich war auf einmal total wütend. Und irgendwie war Seven heute doof.“ Er schob sich eine volle Gabel Nudeln in den Mund, damit er nichts mehr sagen musste. Ich war sprachlos. „Also hast du ihn geschlagen, nur weil er heute doof war und du wütend?“ Felix sah genervt aus. „Ist doch auch egal.“ Ich schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein, das ist nicht egal. Ich will, dass du dich morgen bei Sven entschuldigst!“ Felix funkelte mich an „Das werde ich nicht. Warum sollte ich auch? Der kann mich mal!“ Felix sah nun richtig wütend aus. Könnte man Wut sehen, so wäre ich sicher, dass diese immer dunkler und größer brodeln um ihn herum zu sehen gewesen wäre. Er starrte mich extrem trotzig an, ich entschied zurück zu starren. Ich würde nicht so schnell klein beigeben, er konnte doch nicht einfach andere verletzen und nicht einmal einen Grund dafür haben! Felix biss nun sichtbar die Zähne aufeinander. Und dann geschah es ganz plötzlich: Die Schale mit Gemüse auf dem Tisch zersprang. Einmal glatt in der Mitte geteilt, mit einem lauten Pling. Ich zuckte richtig erschrocken zusammen. „Was…“. Felix zuckte nicht, das wunderte mich sehr, er starrte mich noch kurz an, dann nahm er seinen Rucksack. „Ich geh nach oben.“ Er war schon am Treppenabsatz, ehe ich wieder bei mir war. „Denk aber noch einmal über heute nach!“ Ich hörte noch ein brummeln, dann war er schon nicht mehr zu sehen. Ruhig nahm ich die Schüssel hoch, eine Hälfte in jeder Hand. ‚Wie kann das sein?‘ Ich starrte noch einige Sekunden mit offenem Mund darauf, aber ich fand keine Erklärung. Bestimmt hatte sie einfach vorher schon einen Riss und das war jetzt der Tropfen der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nachdem die Schale in den Müll gewandert war, räumte ich die Küche auf. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl, konnte aber nicht genau sagen warum. Am Abend schien alles normal, Bernd erzählte gerade eine lustige Geschichte von seiner Arbeit, Felix schien sogar interessiert zuzuhören. Es war sogar sehr schön, ich entspannte mich und auch Felix sah irgendwie etwas besser aus. Nicht mehr ganz so kraftlos. An diesem Abend ging ich ins Bett, zum ersten Mal seit langem mit dem Gefühl, dass es vielleicht doch einfach so wieder in Ordnung kommen wird. Aber da sollte ich falsch liegen. Felix sah zwar gesünder aus, aber die ganze nächste Zeit hat er immer wieder Streit mit seinen Freunden und auch Mitschülern angefangen, die er gar nicht kannte. Das hat er vorher nie gemacht, nun war ich ständig mit Eltern und Schuldirektor im Gespräch, warum er die anderen Verletzte. Zum Glück passierte nicht mehr als blaue Flecken, aber so konnte das nicht weiter gehen. Ich verstand es nicht, die Alpträume schienen weg zu sein. Ich wachte zwar häufig in der Nacht auf. In der Regel wegen dumpfer Schläge, ich bildete mir Schritte ein oder das jemand hinter mir war, ab und zu sah ich auch mal eine Bewegung. Aber immer lag Felix in seinem Bett. Häufig am Murmeln, aber ansonsten fest am Schlafen. Eigentlich hätte er besser drauf sein müssen, das war er aber nicht. Ich dagegen war immer schlechter zurecht. Ich schlief kaum noch, wurde wie gesagt ständig nachts geweckt, machte mir Sorgen wie es mit Felix weiter gehen sollte und hatte dazu Angst, dass ich bald mit Bernd darüber sprechen musste. Aber das musste jetzt erst mal bis zum Wochenende warten, dann musste er immerhin nicht auch noch auf die Arbeit. Besorgt war er schon. Mir war viel Geschirr herunter gefallen, wir mussten schon neues anschaffen, um die Lücken zu füllen. Anderes zerbrach so wie die Schale. Es zerbrachen Vasen, die fest auf Schränken standen. Es fielen Dinge von Schränken oder aus Regalen. Bilder fielen von der Wand. Ich war mit den Nerven am Ende. ‚Nur noch bis zum Wochenende, dann bist du nicht mehr alleine! Dann muss Bernd dir helfen!‘ Diese Worte wurden mein Mantra, die ganze Woche lang. Als es endlich Freitag war wusste ich, dass ich es fast geschafft hatte. Ich räumte am Nachmittag gerade einen zerbrochenen Teller weg, als Bernd hereinkam. Ich schüttete die Scherben schnell in den Mülleimer, dann ging ich ihm entgegen und lächelte ihn an. Sanft hauchte ich einen Kuss auf seine Wange, doch er verzog keine Miene. „Ich habe nicht so gute Neuigkeiten.“ Er schaute mich müde an. „Was ist denn passiert?“ Er versuchte zu lächeln. „Nichts wirklich Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Aber ich weiß ja, wie müde du in letzter Zeit bist. Und ausgerechnet jetzt hat mein Chef mich ganz kurzfristig übers Wochenende auf eine Geschäftsreise beordert.“ Es fühlte sich so an, als würde der Boden unter mir schwanken. „Ein Kollege hat sich krank gemeldet, es ist wirklich sehr wichtig für die Firma, ich konnte nicht ablehnen…“. Er sah mich entschuldigend mit einem Hundeblick an. Aber ich konnte nicht anders, als ihn fassungslos anstarren. Das konnte nicht wahr sein, ich hatte es fast geschafft. Und jetzt? ‚Noch eine Woche halte ich nicht durch!‘ Bernd nahm mich in den Arm und mir kamen die Tränen. „Ich weiß, dass es ein sehr schlechter Zeitpunkt ist. Montag und Dienstag habe ich frei als Ausgleich. Ich verspreche dir, dann nehmen wir uns Zeit für uns!“ Ich wischte die Tränen von meiner Wange und nickte. Ich versuchte zu lächeln, aber es sah sicherlich eher aus wie eine Grimasse. Es war zwar nicht mehr eine ganze Woche, aber es waren noch mal zwei ganze Tage mehr, die ich durchhalten musste. Und so langsam hatte ich keine Kraft mehr. Aber ich versicherte Bernd, dass es gut gehen würde. Natürlich tat ich das. Keine Ahnung, ob es die Wahrheit war, das musste ich noch herausfinden. Der übrige Abend verlief ereignislos, Felix schien es gleichgültig zu sein, ob sein Vater nun da war oder nicht. Das konnte man nicht ändern. Ich wälzte mich nachts ständig im Bett umher. Am Morgen war ich mal wieder wie gerädert, doch ich stand früh auf um Bernd wenigstens verabschieden zu können. Als er ins Auto stieg fühlte ich mich richtig leer. ‚Nur zwei Tage!‘, versuchte ich mir Mut zu machen. Dann können wir reden, dann finden wir eine Lösung. Das wird funktionieren. Den ganzen Tag war ich nicht ganz bei mir. Felix war ausnahmsweise nicht in seinem Zimmer, er saß unten und spielte auf seiner Konsole. Vielleicht war es ihm doch nicht so egal, dass sein Vater weg war, wie er tat. Es beruhigte mich ein wenig, aber nicht wirklich viel. Den ganzen Tag schaute ich immer wieder nervös über meine Schulter. Mehr als einmal dachte ich Felix würde hinter mir stehen, aber es war niemand da. Natürlich nicht. Felix war von seinem Spiel gefesselt, ich war nur über nervös. Als ich mich zum Abendessen nach einer Schüssel unten im Schrank bückte, hatte ich sogar das Gefühl etwas wäre an mir lang gestrichen. Ich konnte es eindeutig fühlen. Aber natürlich war da nichts. Ich lenkte mich mit Kochen ab, versuchte beim Abendessen ein Gespräch mit Felix zu führen, doch beides gelang mir nicht wirklich. Nach dem Abendessen ging er direkt in sein Zimmer, wahrscheinlich etwas genervt von seiner Mutter. Ich saß mal wieder alleine in der Küche. ‚Vielleicht sollte ich mein Buch weiter lesen? Aber so wirklich Lust habe ich da nicht drauf…‘ Ich wusste nichts mit mir anzufangen, beschloss dann aber immerhin doch schon mal nach oben zu gehen. Felix war zwar in seinem Zimmer, die Tür geschlossen, aber dennoch fühlte ich mich hier oben weniger allein, als es unten der Fall gewesen ist. Statt zu lesen spielte ich etwas am Handy herum, surfte im Internet, aber so wirklich befriedigend war nichts davon. Bevor ich ins Bett ging suchte ich noch einmal das Bad auf. Ich putzte die Zähne, wusch mir mein Gesicht. Wenigstens ein bisschen besser ging es mir dadurch. Auf dem Rückweg sah ich, dass Felix Zimmertür immer noch geschlossen war, ich hoffte diese Nacht würde auch ohne Alpträume bleiben, denn ich wüsste nicht, ob ich dafür die Kraft hätte. Bevor ich mich hinlegte öffnete ich noch ein Fenster auf Kippe, dann legte ich mich hin. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Warum auch immer war ich direkt mit Panik erfüllt, obwohl ich noch nicht einmal richtig wach war. Ich brauchte einen Moment, bevor ich meinen Körper bewegen konnte, dann machte ich erst einmal Licht an. Aber mein Zimmer war leer. Lediglich der Vorhang vor dem Fenster bauschte sich auf Grund des Winds draußen etwas auf. ‚Hatte ich das unbewusst wahrgenommen? Vielleicht habe ich mich ja wirklich davor erschreckt…‘ Ich saß nun aufrecht im Bett, ich war hundemüde und konnte die Augen kaum aufhalten. Das sollte sich im nächsten Moment ändern. Da war ein Geräusch, direkt hinter der Wand auf der anderen Seite des Zimmers. Erst konnte ich es nicht einordnen, aber dann wusste ich was es war: Ein Kratzen. Wie von einem Tier, dass eingesperrt war und versuchte sich zu befreien. Ich zog mir die Decke bis zum Kinn hoch, ich atmete schnell und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. ‚Wir haben keine Haustiere. Was soll das sein? Konnte ein Tier in die Wände gelangen?‘ Ich hatte so etwas schon mal gehört. Eichhörnchen oder Waschbären, manchmal Ratten, die durch undichte Stellen ins Haus kamen. Auf dem Dachboden, in den Wänden… Konnte das sein? War das die Erklärung? Ich konnte nicht aufstehen, das Kratzen wurde immer lauter, immer drängender. Das musste es doch sein, nicht wahr? Am liebsten wäre mir gewesen, dass die Nacht vorbei gewesen wäre, dass alles nur ein Traum war. Aber das war es nicht. Und dann kam mir ein Gedanke: ‚Was war mit Felix?‘ Das rüttelte mich wach. Das Kratzen war so laut, er hörte es bestimmt. Vielleicht waren es mehrere Tiere und bei ihm in der Wand gab es das gleiche Kratzen! Ich musste sofort rüber. In aller Hast schlüpfte ich in meine Pantoffel und lief durch den Flur zu seinem Zimmer hinüber. Die Tür war geschlossen, ich öffnete sie, machte Licht an und erstarrte. Das Bett war leer! ‚Wo ist Felix?‘ Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hatte er so viel Angst gehabt, dass er es nicht ausgehalten hat? Aber warum ist er dann nicht zu mir gekommen? Ich fasste mir mit der Hand vor den Mund. ‚Ich muss mich beruhigen. Ganz ruhig! Du gehst jetzt ganz ruhig und suchst ihn.‘ So ruhig, wie ich mir das gewünscht habe konnte es natürlich nicht ablaufen. Ich schaute noch einmal gründlich im Zimmer nach. Unter dem Bett, neben dem Schrank, in dem Schrank und in der Kommode. Hier war er schon einmal nicht. Auf dem Flur hörte ich das Kratzen wieder lauter. „Felix?“ ich rief so laut ich konnte und ich betete er würde mir antworten. „Felix, wo bist du?“ Ich horchte, ich versuchte mich zu konzentrieren, aber das Kratzen bohrte sich in jeden meiner Gedanken. Ich merkte wie mein Atem schneller ging, ich bekam kaum noch Luft. So schnell ich konnte lief ich nach unten, ich schaute in jedes Zimmer. Aber Felix tauchte nirgendwo auf. Also musste er oben sein. Alles in mir sträubte sich dagegen noch einmal nach oben zu gehen. Doch ich musste mich zusammen reißen. Der einzige Raum, der oben noch übrig blieb, war das Bad. Der Raum, aus dem das Kratzen drang. Als ich näher kam konnte ich ein knurren hören, leiser als das Kratzen, aber es war eindeutig da. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Tür, machte das Licht an und hatte das Gefühl mir bleibt das Herz stehen. Der Raum war leer und noch schlimmer, als ich das Licht angemacht habe, verstummte jegliches Geräusch. Es war Totenstill, was ich fast noch unheimlicher fand, als die Geräusche zuvor. Ich konnte nicht mehr, was zur Hölle war hier nur los? Wo ist Felix? Langsam ging ich aus dem Bad heraus, rückwärts, als könnte ich sonst etwas verpassen, etwas das mir alles erklären würde. Fast hätte ich zu spät gestoppt, ich spürte mit der Ferse des rechten Fußes schon die oberste Stufe der Treppe. Schnell zog ich den Fuß zurück. Ich zuckte zusammen. Erst flackerte das Licht langsam auf, dann schneller, dann erlosch es ganz. Einzig das Licht aus dem Bad spendete einen sanften Schimmer. Und dann sah ich ihn. Sah den Schatten, der in einer Ecke stand. Sah den Schatten, der langsam, fast wie mechanisch, immer näher kam. Ich wollte zurück weichen, aber erinnerte mich noch rechtzeitig, dass ich ja bereits an der Treppe stand. Das war keine Option, rückwärts würde ich die Treppe eher herabfallen als herunterlaufen, das wusste ich, vor allen bei den Lichtverhältnissen. Stumm mit weit aufgerissenem Mund und Augen starrte ich den Schatten an. Schritt für Schritt kam er näher. Erst als er noch knapp zwei Schritte entfernt war, blieb er stehen. Mir blieb die Luft weg. Und dann ging schlagartig das Licht wieder an. Vor Schreck zog ich die Luft heftig ein, Sterne tanzten mir vor den Augen wegen dem plötzlichen Lichtwechsel. Zuerst konnte ich gar nichts erkennen, doch die Gestalt vor mir wurde immer klarer. Ein beruhigter Seufzer entfuhr mir, Felix stand da vor mir im Flur. „Felix, wo warst du?“ Ich wollte gerade einen Schritt auf ihn zu machen, als mein Blick auf etwas fiel, dass mich zurückhielt. Seine Arme hingen schlaff an der Seite herab, die Hände… Sie waren vollkommen zerkratzt, ich konnte Blut entdecken, die Nägel schienen abgebrochen zu sein. Meine Brust fühlte sich an als wäre sie aus Zement gegossen. Nur mit Mühe konnte ich den Blick von den Händen abwenden. ‚Wenn seine Hände so aussehen… Heißt das Felix war das mit dem Kratzen?‘ Es war als würde gar nicht mein Gehirn diese Gedanken denken, so wirklich kamen sie nicht bei mir an. Doch als mein Blick bei seinem Gesicht ankam… Die Augen tiefschwarz. Und damit meinte ich tiefschwarz, es war als würde die Pupille das ganze Auge ausfüllen, man konnte nichts Weißes vom Auge mehr sehen. Doch fast noch beunruhigender war das dicke, satte Grinsen, das seinen Mund umspielte. Mir kamen die Tränen, ich konnte nicht verstehen was ich da sah. Sollte das tatsächlich mein Sohn sein? Das konnte doch nicht sein, oder? Und doch spürte ich, dass es so war. „Felix… Was… Was ist los mit dir?“ Meine Stimme war heiser und brach zwischendrin, ich konnte diese wenigen Worte nur mühsam hervorbringen. Statt einer Antwort hörte ich nur ein Lachen. Felix machte nun einen weiteren Schritt auf mich zu. „Hör auf damit, du machst mir Angst!“ Meine Angst verwandelte sich in Hysterie. Doch er schaute mich weiterhin aus seinen dunklen Augen an, belustigt. Eine dunkle, raue Stimme entwich seinem Mund. „Ich bekomme immer was ich haben möchte!“ Er machte einen Satz auf mich zu und das letzte woran ich mich erinnern kann, ist wie ich einen Schritt zurück machte. Der Fuß glitt ins leere, stimmt ja, ich stand ja schon am Rand der Stufe. Meine Hände, die nach dem Geländer suchen, es finden, aber nicht festhalten können, es nur streifen. Felix, wie er oben auf dem Treppenabsatz steht und immer kleiner wird. Dann nichts mehr. Das war es. Das war das letzte in meinem Leben, dass ich gesehen habe. Doch woher kommt dann dieser Schmerz? Er nagt an mir, ich kann ihn überall fühlen und doch nirgendwo so richtig. ‚War das richtig so? Fühlte es sich so nach dem Tod an? Würde es so bleiben?‘ Meine Gedanken waren unendlich träge. Noch bevor ich sie zu Ende gedacht hatte, tauchte ein Licht auf. Klein und unscharf und viel zu hell. Wie durch einen Schleier drang es zu mir, wurde größer. Gerade als ich dachte, dass es bestimmt das Licht sei, durch das man als letztes geht, durch das man auf die andere Seite gelangt, merkte ich, dass ich meine Augen öffnete. Ich war nicht Tod, ich war noch am Leben. Ich blinzelte, ganz langsam, und ich glaube ich spürte wie mir die Tränen vor Helligkeit meine Wangen herabliefen. Aber sicher war ich mir nicht. ‚Vielleicht ist auch alles nur Einbildung?‘ Ich sah den Kopf meines Mannes, wollte seinen Namen sagen, doch ich war zu schwach. Und noch ehe ich mehr fassen konnte, glitt ich auch schon wieder davon. Es musste schon viel später sein, die Schmerzen waren immer noch da, aber ich spürte sie dumpfer. Langsam, ganz langsam öffnete ich erneut die Augen. Ich konnte spüren, dass jemand meine Hand drückte und drehte meinen Kopf ganz langsam, unendlich langsam. Es war als gebe es eine Wand gegen die ich drücken musste, nur um meinen Kopf bewegen zu können. Aber ich schob, Stück für Stück. Bis ich meinen Kopf gedreht hatte konnte ich wieder klarer sehen. Ich schaute in Bernds besorgtes Gesicht. „Erica!“ Mehr brachte er nicht hervor, ich merkte wie erleichtert er war. Ich versuchte zu sprechen, aber meine Lippen waren zu trocken. Plötzlich merkte ich etwas kühles an den Lippen. Ich erkannte, dass es ein Glas war, und trank vorsichtig das kühle Wasser daraus. Langsam, um mich nicht zu verschlucken. Kurz darauf war das Glas schon wieder weg. Meine Lippen und auch mein Hals fühlten sich schon viel besser an. „Wo…“ Ich musste mich räuspern, ich brachte keinen Ton raus. Es war als hätte ich noch nie ein Wort gesprochen. Es kostete viel Kraft, aber ich schaffte es. „Wo ist… Felix?“ Bernd schüttelte den Kopf und ich glaubte mein Herz bleibt stehen. “Es tut mir leid Erica, ich hätte euch nicht alleine lassen dürfen!“ Er schniefte und fuhr sich mit den Händen über sein Gesicht. „Felix ist bei meinem Vater, ich hole ihn später ab wenn ich nach Hause gehe. Mach dir keine Sorgen, es geht ihm gut!“ Sanft strich er über meine Wange. „W… Was ist geschehen?“ Bernd nahm meine Hand und drückte sie an sein Gesicht. „Ich weiß nicht woran du dich alles erinnerst, deshalb kann es sein, dass es unglaublich für dich klingt. Ich hätte es eher sehen müssen, hätte es dir auch eher sagen müssen. Es ist alles meine Schuld! Schon als Felix nicht aufgehört hat immer und immer wieder von diesem Schatten zu sprechen, da hätte es mir klar sein müssen. Felix war besessen, von etwas bösem…“ Er konnte nicht weiterreden, seine Stimme klang heiser und ohne Energie. „Nicht… deine… Schuld!“ Presste ich hervor, aber er schüttelte nur den Kopf. „Nein, du verstehst das nicht, wie solltest du auch! Ich habe das schon einmal durch gemacht. Mein Bruder war damals auch besessen, vieles war genauso wie bei Felix jetzt. Ich hätte es eher sehen müssen, hätte mich drum kümmern müssen. Aber bei meinem Bruder war es nie so schlimm gewesen! Er hat nie jemanden verletzt.“ Er schluckte und ich wartete bis er bereit war, weiter zu sprechen. „Wir habend die Zeichen damals nicht erkannt. Wir hatten von Besessenheit keine Ahnung, wir haben es ignoriert. Aber irgendwann hatte er auch diese schwarzen Augen, wir konnten es nicht länger ignorieren. Und wir hatten damals Glück. Ein Verwandter konnte helfen, er hatte von so etwas schon einmal gehört und kannte einen Priester. Er hat das Böse ausgetrieben, aber schön war es nicht. Danach war er wieder normal, er konnte sich an nichts erinnern. Wir hätten uns eher darum kümmern sollen, aber es ging nicht. Aber bei Felix wäre es gegangen, ich wusste doch was geschah und wollte es nicht wahr haben!“ Tränen rannen über sein Gesicht. „Ich bin früher von der Geschäftsreise nach Hause gekommen, ich hatte ein ungutes Gefühl und bin direkt abgereist, eigentlich hätten wir bis zum nächsten Tag noch bezahlten Aufenthalt gehabt. Aber das war mir egal. Als ich dann reingekommen bin lagst du vor der Treppe, hast dich nicht bewegt… Ich dachte… Ich dachte erst du wärst Tod!“ Er wurde immer leiser je weiter er die Geschichte erzählte. Ich war so schwach, ich hätte ihn gerne ermutigt weiter zu sprechen, ich wollte wissen was passiert ist aber meine Kraft reichte nur dafür, zuzuhören. Bernd räusperte sich. „Ich bin sofort zu dir, du hattest Puls, da war ich etwas beruhigt, aber ich habe sofort einen Krankenwagen gerufen. Dann fiel mir ein, dass Felix ja auch da sein musste. Unten konnte ich ihn nicht finden, also bin ich nach oben… Dort kauerte er in einer Ecke, die Hände blutig, nicht ansprechbar. Als ich ihn zu mir drehte sah ich die schwarzen Augen, da wusste ich was ich für einen Fehler gemacht habe. Ich wartete bis der Krankenwagen mit dir abgefahren war, versicherte den Rettungskräften, dass ich nachkäme. Doch ich ging hoch. Ich holte Felix und wir fuhren zu dem Priester der auch damals geholfen hat. Diesmal war die Austreibung schwieriger, der Dämon hatte zu viel Zeit gehabt sich in Felix auszubreiten. Aber der Priester hat es geschafft.“ Ich sah ihn fragend an. „Felix ok?“ Bernd nickte. „Ja, Felix ist nun wieder in Ordnung. Er muss sich nur Ausruhen. Aber das ganze darf niemals mehr passieren. Ich hoffe du kannst mir noch einmal verzeihen!“ Mir ging so viel im Kopf herum. Was Bernd da sagte klang so ausgedacht, aber ich konnte mich ja an so vieles erinnern. Ich wusste er hatte recht. Ich wusste Felix war nicht mehr er selbst gewesen. Ich wusste auch, dass so etwas nicht mehr geschehen konnte. Nun würden wir immer zusammenhalten. Mein Gefühl sagte mir, dass alles wieder so werden würde wie früher. Wenn wir vielleicht auch etwas daran arbeiten mussten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)