Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 11: Curious endeavours. (All out.) ------------------------------------------ Es war noch dunkel, als Duke das erste Mal wach wurde. Kurz aktivierte er sein Handy, um festzustellen, dass es gerade einmal drei Uhr morgens war. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich zurück auf das Kissen fallen. In ungefähr drei Stunden würde Kaibas Wecker klingeln, also eigentlich genügend Zeit, um sich noch einmal herumzudrehen und weiter zu schlafen. Um ihn herum war es vollkommen still. … Bis auf die ganz leisen und gleichmäßigen Atemgeräusche rechts neben ihm. Sofort flammte die Neugier von vorletzter Nacht wieder in ihm auf. Das war seine Chance und er würde sie sich nicht entgehen lassen! Ganz langsam und vorsichtig drehte Duke sich auf die rechte Seite. Kaiba lag nicht mehr am äußersten Rand des Bettes (der absolute Maximalabstand hatte sich schon nach der ersten Nacht mehr oder weniger erledigt), sondern in fast schon unmittelbarer Nähe, vielleicht fünfzig Zentimeter von ihm entfernt und – er konnte sein Glück kaum fassen – tatsächlich mit dem Gesicht zu ihm gewandt. Ohne es zu merken unterdrückte Duke seinen eigenen Atem und lag da wie versteinert in der unbewussten Angst, jede noch so kleine Bewegung könnte den Brünetten wecken oder ihn veranlassen sich wegzudrehen. Seine Augen versuchten derweil im schwachen Licht des Mondes, das durch die Vorhänge drang, so viele Details zu erhaschen wie es nur ging: Kaibas Haare fielen ihm unordentlich ins Gesicht, das keine Spur seines über die Jahre so gut kultivierten, kalten und unnahbaren Ausdrucks erkennen ließ. Im Gegenteil, seine Augen waren sanft geschlossen und seine Züge vollkommen entspannt, beinahe friedlich. Zusammen mit dem gleichmäßigen Heben und Senken seiner Brust, das Duke in der Finsternis erahnen konnte, ging von der ganzen Szene eine unfassbar beruhigende Wirkung aus. Es war äußerst ungewohnt, den Brünetten so zu sehen, besonders auf jeden Fall und … schön, irgendwie. Eigentlich war es fast schon unglaublich: Dieser Anblick wurde ganz allein ihm zuteil! Duke biss sich sanft auf die Unterlippe, schüttelte leicht den Kopf und lächelte schließlich in sich hinein. Das hier war vermutlich ein einmaliger Moment und er wollte, nein, musste das einfach so lange wie möglich in sich aufnehmen. Nicht eine Sekunde wandte er seinen Blick von dem Schlafenden ab und für ein paar Minuten gelang es ihm tatsächlich, die Augen offen zu halten. Dann jedoch konnte er sich der Müdigkeit nicht länger erwehren und schlief mit einem warmen, wohligen Gefühl in der Brust wieder ein. Erst das Klimpergeräusch des Handyweckers ließ Duke das nächste Mal erwachen. Noch leicht verschlafen gähnte er und streckte sich kurz, blieb aber noch einen Moment auf dem Rücken liegen. Im Unterschied zu ihm schien Kaiba sofort komplett wach zu sein, streifte die Decke ab, setzte sich auf und stoppte den Wecker auf seinem Smartphone. Duke folgte aus dem Augenwinkel unauffällig jeder Bewegung des Brünetten, der mit dem Handy in der Hand und dem Rücken zu ihm gewandt auf der Bettkante sitzen blieb. Wie normal und menschlich Kaiba doch wirkte, wenn er so dasaß, in seinem T-Shirt und mit strubbeligen Haaren… Sicherlich konnte man sich ganz gut mit ihm verstehen, wenn er so wie gestern Abend mal etwas lockerer war. Vielleicht würden sich im Laufe der nächsten Tage ja noch mehr solcher Momente ergeben. Die Voraussetzungen waren jedenfalls da und Duke müsste lügen, wenn er behaupten würde, nicht neugierig zu sein. Kaiba war ein interessanter Mensch, das konnte niemand ernsthaft bestreiten und Duke hatte – vor allem, aber nicht erst – seit gestern definitiv Lust darauf bekommen, ihn besser kennen zu lernen. Mit einem Mal drehte sich der Brünette zu ihm um und sah ihn durchdringend an. Unwillkürlich fühlte er sich ertappt. Immer, wenn ihn diese blauen Augen so direkt und unmittelbar ansahen, erschien es Duke, als könne Kaiba Gedanken lesen oder zumindest instinktiv spüren, wenn über ihn nachgedacht wurde. Der Brünette seufzte einmal gedehnt und fragte sichtlich widerstrebend: „Devlin, so sehr ich die Tatsache verfluche, das fragen zu müssen, aber könntest du nachsehen, wie heute das Wetter werden soll?“ Der Angesprochene versuchte nach Kräften ein Grinsen zu unterdrücken und griff zu seinem eigenen Telefon. „Klar doch, Moment… Also: sonnig, ein bisschen Wind und maximal 18 Grad. Aber da wir ja noch ein Stück weiter in die Berge fahren, wahrscheinlich etwas kälter.“ Anstatt sich zu bedanken, nickte der Brünette nur, stand auf und suchte aus seinem Koffer die passende Kleidung heraus, bevor er sich wortlos in Richtung Badezimmer aufmachte. Versonnen sah Duke ihm nach, bis er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Mit einem leisen Seufzen ließ sich der Schwarzhaarige noch einmal auf sein Kissen zurücksinken und starrte an die Decke. Wenn er so darüber nachdachte, hatte sich seine Wahrnehmung von Seto Kaiba in den letzten Tagen schon ziemlich verändert. Zum Teil war das durchaus logisch nachvollziehbar, wie beispielsweise die Tatsache, dass er sich auf einmal sehr für das Arbeitsverhalten des Brünetten interessierte, jetzt, wo er selbst davon profitierte; andere Aspekte erschienen ihm aber nach wie vor rätselhaft: seine unleugbare Schwäche für Kaibas Parfüm zum Beispiel, oder seine ungewöhnliche Nervosität, wenn er dem Brünetten näher kam. In der ersten Nacht mit ihm in diesem Bett aus der Hölle war das ja noch verständlich gewesen, aber dass der kurze Zusammenstoß in der U-Bahn gestern bei ihm noch so lange nachgewirkt hatte oder ihn der Anblick des schlafenden Kaiba letzte Nacht regelrecht … verzückt hatte (man musste es wohl ehrlicherweise so ausdrücken), ließ doch noch einige Fragen offen. Er würde das weiter im Auge behalten müssen… Schließlich setzte Duke den Grübeleien ein Ende, atmete noch einmal tief durch und erhob sich ebenfalls. Er war gerade dabei, Klamotten aus seiner Tasche herauszusuchen, als er hörte, wie die Badtür wieder entriegelt wurde und sah kurz auf, als Kaiba heraustrat. Offensichtlich hatte der Brünette seine Kleidung heute zumindest graduell dem Anlass angepasst und auf Hemd, Manschettenknöpfe und den edlen Kaschmirpullover verzichtet. Stattdessen hatte er eines seiner schlichten schwarzen Rollkragen-Shirts angezogen, wie er sie sonst auch unter seinem obligatorischen weißen Mantel zu tragen pflegte. Die schmal geschnittene, graue Jeans hatte er beibehalten; vermutlich hatte er effizient gepackt und gar keine andere Hose dabei (wie man es eben machte, wenn man Geschäftsreisen mit wenig Gepäck gewohnt war, wie Duke nur zu gut aus eigener Erfahrung wusste). Nachdem der Brünette seine Schlafsachen ordentlich zusammen- und auf seinen geöffneten Koffer gelegt hatte, setzte er sich noch einmal auf die Bettkante, um seine knöchelhohen, braunen Lederschuhe anzuziehen. Für einen Moment fragte Duke sich, ob das wirklich geeignete Schuhe für einen Wanderausflug waren, aber andererseits würden sie heute vermutlich auch nicht gerade bergsteigen und so, wie sie aussahen, waren die teuren, mutmaßlich handgefertigten, italienischen Herrenschuhe mit Sicherheit so bequem, dass man es problemlos einen ganzen Tag in ihnen aushalten konnte. Bevor Duke ebenfalls im Bad verschwand, um sich anzuziehen und fertig zu machen, kam er nicht umhin noch einmal zu bemerken, wie krass der Unterschied zwischen dem vollkommen entspannten Gesichtsausdruck des schlafenden Kaiba letzte Nacht und der kontrollierten, kühlen Maske war, die er im wachen Zustand zur Schau trug. Ob man Kaiba auch so mal dazu bringen konnte, sie fallen zu lassen – und sei es auch nur für einen kurzen Moment? Mit dem Dino-Block hatte er es ja schon einmal ansatzweise geschafft, ebenso wie gestern Abend mit seinem kleinen „Interview“. Hm, ihm blieben ja noch ein paar Tage, um es zu versuchen … und einer guten Herausforderung war er nur selten abgeneigt… Wie am Tag zuvor saß Kaiba bereits mit seinem Kaffee an einem Tisch im Speisesaal, als Duke zum Frühstück herunterkam. Von der lächelnden Küchenfrau bekam er am Tresen einen dampfenden Becher Kaffee in die Hand gedrückt (bei Kaiba hatte sie sicher nicht so geschaut), versorgte sich am Buffet mit etwas zu Essen und setzte sich schließlich zu seinen Freunden an den Tisch, wo erst einmal die üblichen Fragen zu den letzten Aktivitäten gestern Abend sowie der Qualität der Nachtruhe ausgetauscht wurden. Nachdem sie diese Themen weitestgehend abgeschlossen hatten, schob sich Joey einen großen Bissen in den Mund und blickte fragend zu Duke. „Fag mal, Duke, wie ifft eff denn…“ Tea entließ ein entrüstetes Schnauben und unterbrach ihn mit strenger Stimme: „Joey, meine Güte, könntest du bitte erst kauen und dann sprechen?! Ich hab keine Lust, dass die Hälfte deines vorgekauten Essens auf meiner Bluse landet! Manchmal glaube ich wirklich, selbst die elementarsten Grundregeln der Erziehung sind bei euch zum linken Ohr rein und zum rechten gleich wieder rausgekommen!“ „Hey, kein Grund zu Verallgemeinern!“, protestierte Tristan neben ihr entrüstet. Der Blonde wiederum verdrehte nur die Augen, gehorchte aber widerwillig und schluckte sein Essen hinunter („Jetzt zufrieden, Miss Knigge?“), bevor er seine Frage an Duke wiederholte: „Also nochmal, das wollte ich schon die ganze Zeit wissen: Wie ist denn nun eigentlich mit dem Eisklotz im gleichen Zimmer zu schlafen?“ Duke sah Joey leicht verdutzt an. Worauf wollte er denn damit nun wieder hinaus? Von dem Ehebett wussten seine Freunde nichts, das konnte es also immerhin schon mal nicht sein. Schließlich zuckte der Schwarzhaarige nur mit den Schultern und antwortete ganz nüchtern: „Wie soll es schon sein? Er schläft, ich schlafe. Punkt.“ Joey verdrehte die Augen. „Ja, aber macht er merkwürdige Sachen? Schnarcht er? Redet er im Schlaf oder sowas?“ „Nein.“ Aha, daher wehte also der Wind. Genau wie er es schon in den letzten Tagen vermutet hatte: Der „Spionage-Auftrag“ war für Joey natürlich wesentlich mehr als der bloße Running Gag, als der er ihn versucht hatte zu tarnen. „Okay. Schade.“, schmollte Joey, „Aber du versprichst mir, dass du mir sagst, wenn was spannendes passiert?“ Duke seufzte ergeben. „Wenn Dinge geschehen sollten, von denen ich meine, dass sie für deine Zwecke geeignet sind, dann werde ich es dir schon sagen.“ Der Blonde nickte zufrieden und schien für den Moment wieder glücklich zu sein. Sehr schön, dachte Duke, das war salomonisch genug gewesen, um Joey nicht zu enttäuschen, beließ aber die Abwägung darüber, welche Informationen über Kaiba „geeignet“ waren, immer noch bei ihm selbst. Trotzdem hoffte er inständig, dass es nicht zu weiteren Situationen kommen würde, die ihn vor diese Entscheidung stellen würden, denn wie er bereits gestern ansatzweise gemerkt hatte, brachten sie ein enormes Potential mit sich, es sich mit sämtlichen beteiligten Parteien zu verscherzen. (Und zumindest mit einer der beiden Parteien konnte er sich das im Moment absolut nicht leisten.) Etwa eine halbe Stunde später hatten sich alle Schüler vor der Herberge eingefunden und warteten darauf, in den Bus steigen zu dürfen, der sie zum Startpunkt der Wanderung bringen würde. Als das Fahrzeug auf dem Vorplatz zum Stillstand gekommen war, öffneten sich die Türen und nach und nach schoben sich die Schüler hinein. Duke folgte seinen Freunden, die sich wie schon auf der Hinfahrt zielstrebig auf die Rückbank zubewegten. Diesmal blieb dort jedoch kein Platz für ihn frei, sodass er sich gemeinsam mit Tea eine Reihe weiter vorne niederließ und – Gentleman, der er war – natürlich der Dame den Fensterplatz überließ. Gemeinsam mit Tea unterhielt er sich nach hinten gewandt mit den anderen, während der Bus langsam anfuhr und vom Vorplatz der Herberge rollte. Der Busfahrer machte eine kurze Ansage, die er vermutlich als einziger für furchtbar witzig und einfallsreich hielt und die in der Hauptsache die Aufforderung zum Inhalt hatte, dass alle sich anschnallen sollten, und die Fahrzeit etwas mehr als eine anderthalbe Stunde betragen würde. Als ihr Gespräch nach etwa zwanzig Minuten Fahrt zum ersten Mal verebbt war, ließ Duke seinen Blick gelangweilt durch den Bus schweifen. Dabei kam er nicht umhin festzustellen, dass sein Gangplatz auch gewisse Vorzüge hatte, denn in der Reihe direkt vor ihnen hatte sich Kaiba auf dem Fensterplatz niedergelassen; auf dem Sitz neben ihm ruhten lediglich seine Tasche und sein Mantel. Durch den Spalt zwischen den Sitzen erhaschte Duke, wie der Brünette seine Tasche öffnete und mit gezieltem Griff den Block und den Stift herauszog. Sofort fokussierte sich Dukes ganze Aufmerksamkeit nur noch auf das Geschehen vor ihm. Das war ja noch besser als gestern in der U-Bahn! Mit etwas Glück würde er gleich endlich einen ersten Blick auf die Duel-Disk-Pläne werfen können! Konzentriert folgte er jeder Handbewegung des Brünetten, um ja nichts zu verpassen: Kaiba drückte mit dem Daumen zwei Mal auf den Kopf des Druckbleistiftes, um die Mine freizugeben, öffnete dann den Block und blättere einige Seiten um; zu Dukes Leidwesen jedoch so schnell, dass er nichts als ein paar wirre Bleistiftstriche hatte erkennen können. Schließlich schien Kaiba die nächste leere Seite gefunden zu haben. Er warf noch einmal einen prüfenden Blick auf das gegenüberliegende Blatt, wo sich offenbar bereits eine beschriftete Zeichnung befand. So wie der Brünette den Block hielt, konnte Duke sie allerdings von seinem Platz aus nicht wirklich erkennen. Wenn er nur etwas weiter nach rechts … So dezent wie möglich versuchte er seinen Kopf zu recken, um einen besseren Winkel zu bekommen. Ach Mist, das reichte nicht! Bemüht unauffällig rückte er etwas näher zu Tea, aber immer noch konnte er nur das untere Viertel der bereits gefüllten Seite in dem Dino-Block sehen. Neugier und Vorsicht stritten in ihm um die Vorherrschaft und schließlich gewann erstere die Oberhand. Stück für Stück lehnte Duke sich immer weiter nach rechts, sodass sein Kopf am Ende beinahe auf Teas Schulter lag. Da! Jetzt konnte er mehr sehen! Das war ganz klar eine … „Duke, was um alles in der Welt soll das werden, wenn es fertig ist?!“, riss ihn Teas verwunderte Stimme ruckartig aus dem kurzen Rausch seines Erfolges. Verdammt, natürlich hatte Kaiba das auch gehört! Blitzschnell schloss der Brünette den Block ein Stück und hielt ihn enger vor sich, fuhr herum und sah mit tödlichem Blick zwischen den Sitzen hindurch zu ihm nach hinten. Mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen zuckte der gewissermaßen auf frischer Tat Ertappte nur mit den Schultern. Was sollte er denn machen, er konnte nun einmal nicht anders! Immerhin war es praktisch sein bisheriges Lebenswerk (Nein, das war ganz und gar nicht übertrieben!), mit dem sich Kaiba da so intensiv beschäftigte. Was war er auch für ein absoluter Dilettant! 007 hätte sich gewiss nicht so dämlich angestellt und sich von seiner Neugier überwältigen lassen. Entgegen seiner Vorsätze schaffte er es in den letzten Tagen aber auch wirklich immer wieder, mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit dem Menschen auf die Nerven zu fallen, von dem im Moment der größte Teil seiner geschäftlichen Zukunft als Spieleentwickler abhing. Am liebsten hätte Duke einmal schwer geseufzt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Als Reaktion auf seine entschuldigende Geste rollte Kaiba nur genervt mit den Augen, sah Duke schräg durch die Sitze hindurch noch einmal durchdringend an und schüttelte verständnislos tadelnd den Kopf. Aber halt! War es Einbildung oder hatten Kaibas Augen dabei tatsächlich kurz amüsiert aufgeblitzt? Hm, es war zwar mehr ein Gefühl, aber Duke war sich mit einem Mal ziemlich sicher, dass der Brünette ihm nicht wirklich böse war. So lächelte er noch einmal leicht verschmitzt zurück, bevor Kaiba sich wieder umdrehte und in einer veränderten Haltung, die ihm mehr Privatsphäre verhieß, weiter zeichnete. Nicht, dass Duke jetzt noch ernsthaft versucht hätte, weiter zu spionieren – zumal er Joeys sensationshungrigen Blick regelrecht in seinem Rücken spüren konnte, was ihn zusätzlich alarmierte. Nach knapp zwei Stunden Fahrt kam der Bus endlich auf einem gut ausgebauten Parkplatz zum Stehen. Als alle ausgestiegen waren und sich im Halbkreis um sie versammelt hatten, begann Frau Kobayashi mit einer kleinen Einführung: „Meine Damen und Herren, wir durchwandern heute das berühmte Kamikochi-Gebiet. Die meiste Zeit werden wir am Fluss entlanglaufen, dabei mehrere wunderschöne, alte Brücken überqueren und großartige Ausblicke auf die Berge und die einzigartige Natur erleben. Um die Mittagszeit kehren wir in einer Gaststätte ein und wandern dann am Nachmittag wieder hier her zurück. Ich hoffe, Sie genießen die gute Luft und die Stille als willkommene Abwechslung zu der urbanen Hektik, der Sie normalerweise ausgesetzt sind. Und wie immer gilt: bleiben Sie zivilisiert und verhalten Sie sich ruhig! Es gibt hier eine Menge seltener Tiere und die wollen wir doch nicht stören, oder? Also dann, auf geht’s!“ Voller Energie schritt sie voran und die Schüler folgten ihr gemächlich, einige mehr, einige weniger motiviert. Joey gehörte definitiv der letzteren Gruppe an. „Hat sie vor dem Trip den Reiseführer aufgegessen oder warum klingt sie die ganze Zeit wie ein wandelndes Werbeprospekt?!“ Yugi unternahm einen zaghaften Versuch seinen Freund aufzumuntern: „Joey, jetzt hab’ dich doch mal nicht so. Es wird bestimmt schön!“ Tea zeigte nach vorn und fügte hinzu: „Ja, sieh mal, da hinten kommt ein echt toller See!“ Joey schien diese Aussicht nicht in gleichem Maße zu begeistern. „Der See wäre an sich ja ganz wunderbar, aber ihr habt eine ganz entscheidende Tatsache vergessen, Leute: Es ist Mitte Oktober und hier oben ist es arschkalt und windig, sodass man leider nicht schwimmen kann. Und selbst wenn 32 Grad im Schatten wären, würde Frau Lonely Planet da vorne sicherlich trotzdem einfach nur drumrum laufen, anstatt uns da reinhüpfen zu lassen. Wir könnten ja womöglich Spaß haben!“ Tristan versuchte gar nicht erst weiter, seinen Freund zu überzeugen und riet auch den anderen: „Leute, vergesst es, es hat doch keinen Zweck! Joey wird sich so oder so den ganzen Tag beschweren und wenn wir nicht bald aufhören dagegen anzureden, wird es nur noch schlimmer.“ Der Blonde konterte das wortlos mit herausgestreckter Zunge und Mittelfinger, was Duke nur grinsend kommentierte: „Aber Joey, was sind das denn für Manieren? Du hast doch Kobayashi-sensei gehört: Bleib bitte zivilisiert!“ Auch die anderen lachten, während der Blonde ihn oder vielmehr die Lehrerin zur Erwiderung nachäffte: „Bitte bleiben Sie zivilisiert! Ja, Zivilisation hätte ich jetzt wirklich gern! Eine Spielhalle, ein Kino oder Netflix oder so…“ Seine Freunde seufzten nur und schüttelten die Köpfe, doch Joey ließ nicht locker: „Ach, kommt schon, Leute! Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass euch das hier Spaß macht?!“ Die Diskussion setzte sich noch eine Weile so fort und driftete schließlich weiter zu anderen Themen, während sie am Seeufer entlangliefen, danach eine alte Holzbrücke überquerten und auf einen Naturwanderpfad abbogen. Extra dafür gebaute Holzstege führten sie durch dichten Wald, bis die Bäume schließlich zum ersten Mal einer Lichtung und einem weiten Ausblick auf die umliegenden, schneebedeckten Berge Platz machten. Frau Kobayashi nahm das zum Anlass für einen kurzen Halt, erläuterte, dass es sich um das Hotake-Gebirge handelte und warf mit ein paar Namen einzelner Berge und deren Höhenangaben um sich. Als sie sich nach dem Stopp wieder in Bewegung gesetzt hatten, wurde Duke auf einmal praktisch hinterrücks von Tea am Jackenärmel gegriffen und ein Stück zur Seite gezogen. Irritiert blickte er sie an, während sie sich etwas mehr zu ihm hinüber beugte und in einem verschwörerischen Flüsterton erkundigte: „Sag mal, was war das eigentlich vorhin im Bus für eine Aktion mit Kaiba? Warum wolltest du so dringend sehen, an was er da arbeitet?“ Duke war sofort alarmiert und wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber Tea sprach weiter: „Wenn das wegen Joeys bescheuerter Spionage-Masche war, dann muss ich dich doch hoffentlich nicht darauf hinweisen, dass solche Aktionen von ihm selten zu einem guten Ende führen, oder?“ In seiner Erleichterung über ihre Theorie lachte Duke kurz auf. „Keine Angst, Tea, das ist mir schon bewusst. Es… war auch nicht wirklich ernst gemeint, ich … wollte nur, dass Joey sieht, dass ich mich wirklich anstrenge“, er machte kleine Gänsefüßchen in die Luft, „und dass ich ganz auf seiner Seite bin.“ Tea nickte und atmete auf: „Na, dann ist ja gut. Ich dachte schon kurz…“ „Nein, nein, mach dir mal keine Gedanken!“, beruhigte er sie, „Ich hab alles im Griff! Wir müssen einfach nur vermeiden, dass Joey irgendwie enttäuscht wird, weil ich ihm nichts spannendes berichten kann, und er womöglich noch auf die Idee kommt, zu drastischeren Mitteln zu greifen.“ „Absolut. Aber irgendwie sehe ich es trotzdem kommen, dass am Ende wieder alles aus dem Ruder läuft. Es ist immer noch Joey.“ Duke schüttelte den Kopf und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter: „Das werden wir schon zu verhindern wissen.“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“, seufzte Tea und lächelte noch einmal zaghaft, bevor sie sich unauffällig an ein paar Mitschülern vorbei zurück zu den anderen schoben. Puh, das war ja gerade nochmal gut gegangen! Man konnte sagen, was man wollte, aber in den letzten paar Tagen war er ein regelrechter Profi im Sich-aus-der-Affäre-Ziehen geworden. Nichtsdestotrotz führte kein Weg daran vorbei, dass er vorsichtiger in seinen Interaktionen mit Kaiba sein musste – und sich langsam anstrengen musste, den Überblick über all die Halbwahrheiten zu behalten, die er seinen Freunden auf dieser Klassenfahrt schon aufgetischt hatte. Seto war anfangs durchaus skeptisch gewesen. Als der Bus zum Stehen gekommen war und er den Block schließen und wegpacken hatte müssen, war er nicht umhin gekommen zu denken, dass das der Beginn eines weiteren verlorenen Vormittags war. Es würde noch mindestens bis zum Mittagessen dauern, bis er wieder arbeiten konnte und einmal mehr spürte er dieses ungewohnte und unangenehme Gefühl in sich aufsteigen: Unsicherheit. Auf seine Arbeit zu verzichten – gezwungenermaßen oder nicht – war nach wie vor weitgehend unbekanntes Terrain für ihn und ehrlicherweise musste er zugeben, dass er in diesen Situationen nicht recht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Besonders, wenn er sich, wie jetzt auf dieser Wanderung, noch nicht einmal anderweitig beschäftigen oder durch pausenloses, uninteressantes Geschwafel von Frau Kobayashi ablenken lassen konnte. Wie mittlerweile fast schon üblich lief Seto allein und mit gebührendem Abstand ganz am Ende der Kolonne, wo die Gespräche seiner Mitschüler nurmehr entferntes Gemurmel waren und ihn nicht weiter stören konnten. Wenn man einmal von der alles in allem minderwertigen Gesellschaft und der gesammelten Irrelevanz ihrer meist viel zu lauten Unterhaltungen absah, dann war es hier wider Erwarten durchaus auszuhalten. Die Herbstfarben in den Bäumen, die Spiegelung des Sonnenlichts auf dem See, das Rauschen des Flusses und das des Windes in den Blättern, das Zwitschern der Vögel… Solche Eindrücke hatte er schon sehr lange nicht mehr in dieser Klarheit wahrgenommen und sie lösten ein merkwürdig vertrautes Gefühl in ihm aus, das er sich nicht recht erklären konnte. Er atmete einmal tief durch. Vielleicht war es ja das gewesen, was Mokuba gemeint hatte mit dem „Herauskommen“ und „etwas anderes Sehen“. Denn eines war nicht von der Hand zu weisen: Mit seiner sonstigen Lebensrealität (in der „urbanen Hektik“, wie Frau Kobayashi es ausgedrückt hatte), hatte das hier im Grunde überhaupt nichts mehr gemein. Wann genau war er eigentlich zum letzten Mal draußen gewesen? Und das nicht nur in einer seiner experimentellen, virtuellen Welten, sondern wirklich in der freien Natur, ohne Hochhäuser, Autos und Straßenlärm um sich? Hm, er wusste es nicht zu sagen. Wenn er es genau betrachtete, dann verbrachte er selbst auf seinen Geschäftsreisen seine Zeit immer nur in Hotels, wechselnden Büros und Konferenzräumen, die, wenn man mal ehrlich war, im Grunde allesamt überall gleich aussahen – ob in Domino, New York, London oder sonst irgendwo. Seto mochte es nur ungern zugeben, aber die Abwechslung war tatsächlich ganz angenehm. „Was ist das denn für ein abgebrochener Pfadfinder?“, durchbrach Wheelers nervtötende Stimme seine ungewohnt versöhnlichen Gedanken. Frau Kobayashi hatte vor einem Denkmal mit Erklärungstafel Halt gemacht, das am Weg in die Felsen eingelassen worden war. „Das, Mr. Wheeler, ist Walter Weston, ein Pionier des modernen Bergsteigens hier in Japan. Ohne ihn hätte wahrscheinlich bis heute noch kaum jemand die Gipfel dieser wundervollen Berge bestiegen!“, erläuterte die Lehrerin mit säuerlichem Unterton, ob Joeys so unverhohlen zur Schau gestellten Desinteresses. Der verdrehte nur die Augen und zu seinen Freunden gewandt kommentierte er leise: „Also der ist an allem schuld, ja?“ „Joey!“, ermahnte ihn Tea, während Yugi, Duke und Ryou über die Bemerkung und Joeys unreifen Protest nur lächelnd den Kopf schüttelten. Seto ließ diese Gelegenheit für einen hämischen Kommentar ungenutzt verstreichen, fehlte ihm doch im Moment jeglicher Sinn für solche Kindereien. Das seltsame Gefühl von Vertrautheit manifestierte sich auf dem weiteren Weg immer stärker und nahm fast seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Irgendetwas an dieser ganzen Sache hier kam ihm bekannt vor und schien etwas in ihm zu rühren, aber er konnte einfach nicht mit dem Finger darauf zeigen, was das war. Ganz entgegen seiner sonst so rationalen Grundeinstellung spürte er jedoch mehr, als er wusste, dass es … nicht gut war. Die Ursache dieses intuitiven Gefühls wiederum war ihm ebenfalls vollkommen schleierhaft. Auf jeden Fall, so konstatierte er, ließ sich langsam ein psychologisches Muster erkennen, das ihm nicht im Geringsten zusagte: Kaum konnte er auf dieser Fahrt nicht arbeiten, regten sich merkwürdige Gedanken und Gefühle in ihm, von denen er eigentlich gehofft hatte, sie niemals haben zu müssen. Erst die ganze Sache mit Devlin gestern; jetzt das hier. Beim Gedanken an den Schwarzhaarigen wanderte Setos Blick unwillkürlich durch die Reihen der anderen Schüler nach vorne. Gerade waren sie an einer großen Hängebrücke angekommen, die Frau Kobayashi noch nicht toterklärt hatte. Devlin lief mit dem Rest des Kindergartens ein ganzes Stück weiter vorne und blieb etwa in der Mitte der Brücke kurz stehen. Er beugte sich über das Geländer auf der rechten Seite und blickte sanft lächelnd auf den rauschenden Fluss hinunter. Einen Moment später hob er den Kopf, schloss die Augen und ließ sich genussvoll die Sonne ins Gesicht scheinen, während der Wind seine schwarz glänzenden Haare sanft um sein Gesicht wirbelte. Erst nach einigen Sekunden wurde Seto gewahr, dass er Devlin schon wieder anstarrte wie der letzte Idiot und schnell riss er sich wieder zusammen. Himmel, das war ja unmöglich! Da alle vor ihm gegangen waren, hatte hoffentlich niemand seinen kurzen Ausfall bemerkt. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er sich endlich wieder irgendwo hinsetzen und arbeiten konnte! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)