Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 18: Truth or dare. (Or truth.) -------------------------------------- „Duke?“ Tea blickte ihn besorgt von der Seite an und er schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Hm?“ „Was ist los?“ Ihre Stimme klang ehrlich besorgt. Duke zwang ein Lächeln auf sein Gesicht und versuchte sein Bestes, um möglichst normal zu wirken. Schon wieder beschlich ihn das Gefühl ertappt worden zu sein. „Ähm, nichts, wieso?“ „Weil du gerade ausgesehen hast, als hättest du einen Geist gesehen.“ „Oh, nein, alles in Ordnung! Vielleicht mein Kreislauf oder so.“, winkte er mit einem lockeren Lächeln ab. „Hm, wenn du meinst.“ Noch einmal musterte Tea ihn eindringlich, wurde aber dann von Frau Kobayashi unterbrochen, die ankündigte, wie es weitergehen sollte: „Also dann, Herrschaften, wie besprochen: Da wir nicht noch eine sportliche Disziplin haben, fällt die Pause etwas länger aus, sodass Sie alle duschen und sich frischmachen können. Wir sehen uns dann in einer halben Stunde, also um 17 Uhr, im Gemeinschaftsraum.“ Zumindest für den Moment kehrte Duke in die Realität zurück und er und seine Freunde erhoben sich. Sein Blick wanderte unfreiwillig zu Kaiba, der ein Stück vor ihnen aus der Tür ging, und sein Puls beschleunigte sich sofort wieder. Das ist doch ganz normal, wenn man … verliebt ist. Bis zur allerletzten Minute klammerte sich Duke regelrecht an seine Freunde, während sie sich mit allen anderen Schülern beider Klassen durch das Treppenhaus und die Gänge nach oben schoben. Erst an der Zimmertür der Jungs verabschiedete Duke sich gezwungenermaßen von ihnen, bevor er allein und mit bebendem Herzen die letzten Meter weiter nach hinten zu seinem Zimmer ging. Ihrem Zimmer. Auf dem kurzen Weg spielte er im Kopf schon einmal verschiedene Varianten durch, wie er gleich möglichst normal auf Kaiba reagieren könnte, verwarf sie aber alle direkt wieder – Spontaneität war doch immer noch eine seiner größten Stärken. Mit angehaltenem Atem öffnete er die Tür. Der Raum war leer. Augenblicklich entließ er die angestaute Luft aus seiner Lunge und vernahm das Anspringen der Lüftung im Bad sowie das Zuschieben der Duschtür. Sehr gut, damit hatte Kaiba ihm sogar auch das unangenehme Gespräch über die Frage erspart, wer zuerst duschen durfte. Aber Kaiba brauchte dafür in der Regel nicht lange, wie Duke mittlerweile nur zu gut wusste. Er konnte praktisch jede Minute wieder hinauskommen! Hektisch begann Duke, schon einmal frische Sachen zusammen zu sammeln. Auf der Suche nach diesem einen ganz bestimmten T-Shirt durchwühlte er fast seine komplette Tasche, nur um, als er es gefunden hatte, durch den latenten Cola-Geruch daran erinnert zu werden, dass er es bereits am Montag getragen hatte. Dann also doch ein anderes. Ein wirklich frisches schwarzes Shirt war dann doch schnell gefunden, dazu seine Hose, neue Unterwäsche und Socken, sodass ihm wesentlich schneller als erhofft nichts anderes mehr übrig blieb, als sich auf die Bettkante zu setzen und zu warten. Seine Füße still zu halten, wäre ihm wohl nicht einmal dann gelungen, wenn er es wirklich versucht hätte. Nervös knetete er wechselnd das T-Shirt und die Hose in seiner Hand oder spielte mit der auffälligen Schnalle des Gürtels herum. Unvollendete Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf und wurden von immer neuen verdrängt. Solange Kaiba jeden Moment aus dem Bad kommen konnte, traute Duke sich kaum, über sein Problem auch nur ansatzweise nachzudenken, wenngleich sich sein ruheloser Geist gerade nach nichts mehr sehnte, als endlich die verwirrenden Eindrücke und Erkenntnisse zu sortieren. Aber dann würden diese verdammt blauen Augen wieder direkt in ihn hineinschauen und Kaiba vermutlich seine Gedanken lesen können, und das war das absolut allerletzte, was er in diesem Moment wollte. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag stand Seto unter der Dusche und es war wohl der beste Ausweis für die absolut chaotische Natur dieses Tages, dass er nicht darauf wetten wollen würde, dass es das letzte Mal war. Eigentlich hatte er ja gehofft, sich nach diesem dämlichen Lauf endlich wieder aus allem raushalten zu können, aber nein, die werte Frau Lehrerin hatte ja andere Pläne gehabt. Und warum musste sich dieser Idiot Ginta auch noch freiwillig fürs Kopfrechnen melden? Das wäre ihm rückblickend zumindest noch etwas lieber gewesen als Basketball und er hätte nicht noch ein weiteres T-Shirt opfern müssen. Mit einem Seufzen griff er zu seinem Duschgel. Aber gut, so war er immerhin an Kaffee gekommen und hatte sich im gleichen Zuge auch bei Devlin revanchieren können. Warmes Kribbeln erfüllte seine Magengegend als er daran dachte, wie Devlin ihm lächelnd zugeprostet hatte. Vielleicht hatte es sich ja doch irgendwie gelohnt, dieses eine Mal seinen inneren Widerstand aufzugeben und sich auf diese Sache einzulassen. Einerseits war es von einem eher wissenschaftlichen Standpunkt durchaus interessant zu beobachten, was das physisch und psychisch in seinem System auslöste, andererseits musste er ganz ehrlich zugeben: Die Zwischenbestandsaufnahme fiel überraschend positiv aus. Devlins Reaktion auf die Kaffee-Aktion hätte nicht besser sein können und irgendwie fühlte es sich … gut an, dass sie Dinge miteinander teilten, die niemand sonst wissen oder nachvollziehen konnte. So betrachtet musste man auch das Basketballspiel anders bewerten. Anfangs war seine Motivation praktisch nicht existent gewesen und Wheelers Anwesenheit (als dem Hauptverantwortlichen dafür, dass er sich dem überhaupt aussetzen musste) hatte dazu ihr Übriges beigetragen. Spätestens nach seinem Dreipunktewurf hatte er sich dann jedoch nicht mehr so raushalten können wie zuvor, das wäre ihm irgendwie … falsch erschienen. Außerdem war, sozusagen als netter Bonus, Wheeler nicht mehr auf dem Feld gewesen und so war Devlin ganz automatisch wieder mehr in seinen Fokus gerückt. Man konnte sagen, was man wollte, sie hatten wirklich gut harmoniert und fantastisch miteinander funktioniert. So perfekt, dass er für ein paar Minuten sogar fast so etwas wie Spaß gehabt hatte. Bis zu diesem verhängnisvollen Foul. Devlins ausgestreckte Hand war im Grunde ein Wackelkontakt mit Ansage gewesen und wie zu erwarten hatte danach genau gar nichts mehr funktioniert. Während er aus der Dusche trat und sich nach seinem Handtuch streckte, wurde er jedoch noch einmal schmerzhaft daran erinnert, dass auch Wheeler daran zumindest eine Teilschuld trug. Insgesamt überwogen aber im Moment die positiven Eindrücke tatsächlich die negativen. War am Ende an dieser ganzen „Darauf-Einlassen“-Sache wirklich etwas dran? Unwillkürlich kam ihm das Buch auf seinem Nachttisch wieder in den Sinn. Nun, auch Dr. Jekyll hatte sich, wenn man so wollte, immer mehr „darauf eingelassen“ und es würde nicht gut für ihn enden, das wusste Seto jetzt schon. Am Ende würde nur noch Mr. Hyde übrig bleiben und der alte Dr. Jekyll nie mehr zurückkehren. Er war für immer verändert. Konnte so etwas auch mit ihm passieren, wenn er so weitermachte? Würde er sich verändern, vielleicht sogar … dauerhaft? Zum ‚Guten‘ oder zum ‚Schlechten‘? Und was bedeutete das überhaupt in diesem Zusammenhang? … Aber vielleicht zog er auch schon wieder viel zu viele Parallelen zwischen einem fiktiven Werk und der Realität. Er schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen darauf, sich anzuziehen und wieder präsentabel herzurichten. Endlich hatte Dukes qualvolles Warten ein Ende. Die Badtür öffnete sich und Kaiba trat heraus: sauber, wieder in Hemd, Pullover und Jeans, leider noch immer enorm gutaussehend, die dreckige Sporthose und das verschwitzte T-Shirt in der Hand. Nur für eine Millisekunde begegnete Dukes Blick den blauen Augen. Sollte er irgendetwas sagen? Seit ihrer letzten Begegnung zu zweit vor dem Orientierungslauf war so viel passiert … Kaffee. Lächeln. Blicke. Berührung. Er hatte den Mund schon geöffnet, doch seine Kehle fühlte sich mit einem Mal staubtrocken an und in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. So viel zum Thema Spontaneität. Schnell überlegte Duke es sich anders, stand eilig auf und verschwand wortlos und mit gesenktem Blick im Badezimmer. Kaum hatte er den Schlüssel im Schloss herumgedreht, lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür, ließ leicht seinen Kopf dagegen fallen und entließ einen tiefen Seufzer. Fuck, fuck, fuck! Nach ein paar Sekunden löste er sich schließlich, legte seine frischen Sachen und die Jeans auf der Heizung ab und begann damit, seinen Schmuck abzunehmen und sich auszuziehen. Noch immer waberte warmer Wasserdampf durch den Raum, gemischt mit dem Duft, dem Duke im Moment am liebsten entflohen wäre, obwohl (oder gerade weil) er doch so unfassbar anziehend war. Das ist doch ganz normal, wenn man … verliebt ist. Warmes Wasser prasselte auf seinen Kopf und seinen Körper hinunter. Mit einem neuerlichen Seufzen stützte Duke sich mit der Hand an den Fliesen ab. Das war … neu. Weniger die Tatsache, dass er sich ganz offensichtlich in einen Mann verguckt hatte. Er war schon hin und wieder von Typen angeflirtet worden und hatte sich nie viel dabei gedacht. Manchmal, wenn derjenige sympathisch ausgesehen hatte, hatte er es sogar erwidert. Die Vorstellung so mit einem Kerl zusammen zu sein, hatte ihn auch nie abgestoßen. Im Gegenteil, er hatte sie immer als durchaus interessant und reizvoll empfunden. Zwar war die Initiative in einer solchen Konstellation bisher nie von ihm ausgegangen, aber das spielte ja nun wirklich keine Rolle. Nein, das war nichts Weltbewegendes. Neu war, dass er zum ersten Mal solche Dinge fühlte – die Nervosität, die Unsicherheit, das pochende Herz, die schwitzigen Hände, das Flattern überall – obwohl er in der Vergangenheit schon häufiger behauptet hätte, verliebt oder zumindest verknallt gewesen zu sein. Zuletzt in … Serenity. Bei ihr war es anders gewesen, als bei den vielen anderen Mädchen. Zumindest hatte er das bis jetzt gedacht. Es musste anders sein, schon allein deshalb, weil sie Joeys Schwester war und der ihn andernfalls umgebracht hätte. Aber doch, mit ihr hatte er es, im Gegensatz zu so vielen anderen, immer ernst gemeint, hatte sie wirklich unbedingt für sich erobern wollen. Doch so wie das hier war es mit ihr nie gewesen. Zu keinem Zeitpunkt. Er war immer ganz Herr der Lage gewesen, gewohnt selbstsicher, hatte noch Tristan verarschen können, … im krassen Unterschied zu dem Nervenbündel, das er gerade war. Aber wenn es ja nun offensichtlich nicht Verliebtheit war, das ihn da angetrieben hatte, was war es dann? Das Gefühl des Erfolgs, sie für sich gewonnen zu haben? Die Bestätigung, dass er jedes Mädchen haben konnte, wenn er es nur wollte – noch dadurch gesteigert, dass es sich um ein Mädchen handelte, das Tristan wirklich mochte? Ihm wurde ein wenig übel. War er wirklich so eingebildet und egozentrisch? Falls ja, war das wohl noch eine Gemeinsamkeit, die er mit Kaiba hatte, auch wenn er stark hoffte, dass sie bei ihm wenigstens nicht ganz so stark ausgeprägt war wie bei dem Brünetten. Aber nein, das konnte zumindest nicht alles sein. Serenity war so süß, auf so eine ehrliche Art offen, so naiv … so anders als er. Vielleicht hatte er sich auch einfach an eine Illusion geklammert: dass da dieses unschuldige Mädchen war, das zu ihm aufblickte, das – einfach so, ganz ohne sein Zutun – erkennen würde, wie er wirklich war, wer er wirklich war, und ihn genauso akzeptieren würde … und das vielleicht irgendwann einmal mehr in ihm sehen würde, als die Fassade, die er tagein, tagaus der Welt präsentierte. Er stellte das Wasser ab, um sich einzuseifen. So oder so, er würde nicht mehr damit weitermachen können. Jetzt nicht mehr. Einerseits, weil es ihm nur noch hohl und falsch vorkam, jetzt, wo er wusste, wie es sich wirklich anfühlen musste, andererseits, weil er nicht mehr länger mit den Gefühlen von gleich drei Leuten spielen konnte, die ihm am Herzen lagen (Serenity, Tristan und am Ende auch Joey), nur um auf die eine oder andere Weise etwas für sich zu tun. Das war aber natürlich noch lange nicht die Lösung für sein Hauptproblem: Er war verliebt in Seto Kaiba. Ihm entfuhr unwillkürlich ein zynisches Schnauben. Wie lächerlich sich alleine schon der Gedanke anhörte! Vollkommen vergeblich, von Anfang an! Mit beiden Händen rieb er sich übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Wie sollte da jemals etwas laufen? Es war ja noch nicht einmal klar, ob Kaiba überhaupt auf Männer stand … oder auch nur irgendein materielles Wesen. Ja, sie verstanden sich scheinbar ganz gut und Kaiba war ihm gegenüber im Rahmen seiner Möglichkeiten ein wenig aufgetaut, aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass Kaiba ihn auch … so mochte. Allein der Versuch sich das auszumalen, brachte Dukes Vorstellungskraft an ihre Grenzen. Mit einem tiefen Seufzen drehte er das Wasser wieder auf. Wunderbar! Im noch unsicheren Terrain seines eigenen Geschlechts schaffte er es natürlich wieder einmal zielsicher, genau auf dem unsichersten Teil von allen zu landen! Als stünde er zum ersten Mal auf Skiern und könnte nur über eine Sprungschanze mit angeschlossener schwarzer Piste den Berg wieder hinunter kommen. Wenn das Verliebtheit war, was fand die Menschheit nur daran? Man war so schwach, so machtlos, so verwundbar. Seinen eigenen Gefühlen und vor allem deren Ziel gnadenlos ausgeliefert. Das war normalerweise nicht die Seite der Gleichung, auf der er sich aufhielt. Aber genug gejammert! Was konnte er tun? Da er sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin keine großen Hoffnungen machen konnte, war es vermutlich das Beste, es einfach zu überspielen und möglichst normal weiter zu machen – eine Disziplin, in der er spätestens seit dieser Woche praktisch Weltmeister war. Sein Spiel stand kurz vor dem Aus? Niemand hatte es mitbekommen! Er und Kaiba teilten sich ein Ehebett? Niemand hatte es mitbekommen! Ihre Abmachung über die DDM-Duel Disk? Niemand hatte es mitbekommen! Er hatte Gefühle für Kaiba? Niemand würde es mitbekommen – auch und vor allem Kaiba nicht. Wie schwer konnte das schon sein? Mit diesem Vorsatz stellte er das Wasser ab und trat trotz allem erleichtert aus der Dusche. Wenigstens hatte er jetzt einen Plan. Seine rebellische Seite (vermutlich im Verbund mit der egozentrischen) sträubte sich zwar dagegen aufzugeben, bevor das Spiel überhaupt angefangen hatte, aber er brachte die innere Stimme zum Schweigen. Warum ein Risiko eingehen, wenn etwas schon von vornherein so aussichtslos war? Als Duke wieder innerlich gefestigt und nach außen gewohnt selbstbewusst aus dem Bad trat, fand er das Zimmer erneut leer vor. Kaiba war wohl schon runtergegangen. Umso besser. Er hängte seine verschwitzten Sachen noch schnell zum Trocknen auf, steckte sein Handy ein und ging hinunter in den Gemeinschaftsraum, wo das Schachspiel stattfinden sollte. Dort herrschte bereits reges Gewusel. Die Privatschüler hatten sich rund um den Billardtisch versammelt, während die Schüler der Domino-High in der entgegengesetzten Ecke des Raumes an diversen Tischen verteilt saßen. In der Mitte war auf einem Tisch bereits ein Schachbrett aufgebaut worden und Frau Kobayashi und Herr Takeda beratschlagten angeregt über den besten Spielmodus. Wie von selbst fand Dukes Blick auch Kaiba, der auf einem von zwei abgenutzten Sesseln ein Stück weiter abseits saß und das Buch las, das in den letzten Tagen ein eher unbeachtetes Dasein auf seinem Nachtschränkchen gefristet hatte. Aber bei so vielen Leuten, die andernfalls den Dino-Block, oder schlimmer noch, dessen Inhalt, zu Gesicht bekommen könnten, war das wohl auch besser so. Alarmiert sah Duke aus dem Augenwinkel, wie seine Freunde sich just in diesem Moment erhoben und sich angeführt von Joey ganz eindeutig in Richtung des Brünetten aufmachten. Schnell schloss er sich ihnen an, um zu sehen, was das nun wieder werden sollte und nötigenfalls Schlimmeres zu verhindern. Kaiba sah erst von dem Buch auf, als sich Joey fest entschlossen vor ihm aufgebaut hatte und ihn mit energischer Stimme aufforderte: „Also dann, Geldsack, ich würde mal sagen, du bist dran!“ Ein amüsiertes Schmunzeln umspielte Kaibas Lippen. Er klappte das Buch zu, hielt aber mit einem Finger noch die aktuelle Seite offen. „Interessant! Und wie kommst du zu der Annahme, wenn ich fragen darf?“ „Öhm, naja …“ Den offensichtlichen Grund wollte Joey wohl nicht aussprechen, nämlich, dass Kaiba von den ihrerseits Anwesenden im Schach nun einmal der Beste war. Offenbar war ihm aber eine Alternative eingefallen: „Also, ich denke, nachdem du uns beim Orientierungslauf den Sieg gekostet hast, ist es nur angebracht, wenn du ihn uns auch wiederholst!“ Kaibas perfekt geschwungene Augenbrauen wanderten nach oben. „Ich habe was?!“ „Na, wer ist denn daran schuld, dass die Karte durchgerissen ist, hm?“ Joey stemmte die Hände in die Hüften und nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. Der Brünette hingegen schüttelte den Kopf. „Wheeler, du scheinst vergessen zu haben, dass du es warst, der unbedingt seine Navigationsfähigkeiten unter Beweis stellen wollte! Und das, obwohl du hättest wissen oder zumindest ahnen können, wie miserabel es um sie bestellt ist.“ Bereits hier schienen Joey langsam die Argumente auszugehen. „Du … hättest mich ja abhalten können!“ Kaiba lachte spöttisch auf. „Und verpassen, wie du dich lächerlich machst, Köter?! Nein, eine solche Gelegenheit kann ich doch nicht einfach verstreichen lassen. So gut müsstest du mich eigentlich mittlerweile kennen!“ „Du bist aber nun mal der Einzige hier, der das richtig spielen kann!“, grätschte Tristan dazwischen, denn so führte diese Diskussion zu nichts und im Gegensatz zu Joey hatte er kein Problem damit, das Offensichtliche auszusprechen. Kaibas kalter Blick wanderte zu ihm. „Soll ich mich jetzt geehrt fühlen?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich kann mir außerdem keinen Grund vorstellen, warum Muto hier nicht auch gut im Schach sein sollte.“ Yugi lächelte verlegen und fuhr sich mit der Hand in den Nacken. „Aber doch bei weitem nicht … i-ich hab mich nie damit beschäftigt.“ Kaiba schnaubte spöttisch und erwiderte spitz: „Wann hat dich das jemals aufgehalten, Yugi?“ „Naja, also …“ „Mit Dungeon Dice Monsters“, sein Blick streifte Duke, „hattest du dich auch noch nie beschäftigt und hast trotzdem schon beim allerersten Mal den Erfinder des Spiels geschlagen. Und das, obwohl dir Devlin noch das halbe Regelwerk vorenthalten hat.“ Ein kühl-amüsiertes Blitzen lag in Kaibas Augen und er ließ eine kurze Pause, um sein Argument wirken zu lassen. Duke hingegen sah nur zur Seite – nachdem seine kurze innerliche Anspannung durch den Blickkontakt abgeflaut war – und verdrehte die Augen. Wie oft würde Kaiba das denn noch wieder rausholen? Schließlich frage der Brünette eher rhetorisch weiter: „Ich nehme an, die Schachregeln kennst du?“ Reflexhaft nickte Yugi. „Na, dann hast du doch schon beste Voraussetzungen!“ Nun schaltete sich auch Tea ein: „Ja, aber Kaiba …“ Der überging den Einwurf kurzerhand, so als hätte er ihn gar nicht gehört: „Ich finde das sogar äußerst passend: Wer könnte das ‚königliche Spiel‘ besser spielen, als der ‚König der Spiele‘?!“ Seine Lippen umspielte ein selbstzufriedenes, hämisches Grinsen ob des gelungenen Wortspiels. „Aber Kaiba, …“, versuchte es Yugi noch einmal. Der Brünette seufzte und seine zuvor noch leicht amüsierten Züge versteinerten sich augenblicklich. „Gut, nochmal ganz langsam, damit auch alle Kindergartenkinder es verstehen: Ich. denke. nicht. mal. daran!“ „Ach ja?! Mal sehen, was Kobayashi-sensei dazu sagt!“, konterte Joey siegessicher. Scheinbar war ihm diese Möglichkeit zwischenzeitlich noch eingefallen und er hatte sie sich bewusst bis zuletzt aufgespart. Sofort kehrte das süffisante Lächeln auf Kaibas Lippen zurück. „Natürlich, ihr hofft, dass sie mich zum Spielen verdonnert, so wie beim Basketball.Tja, sollte sie das versuchen, wird sie erfahren, dass ich dem Direktor bedauerlicherweise mitteilen muss, dass aus meiner geplanten großzügigen Spende für die Sanierung der Turnhalle leider nichts werden wird. Mal sehen, ob sie mich dann immer noch überreden möchte.“ „Du … !“ Joeys Gesicht färbte sich langsam rot und er ballte die Hände zu Fäusten. „Komm Joey, das hat doch keinen Zweck!“, versuchte Tea routiniert ihn zu beruhigen und gemeinsam mit Tristan zog sie ihn an den Armen weg. Duke folgte seinen Freunden, drehte sich aber noch einmal um, nur um zu sehen, wie Kaiba noch einmal kurz den Kopf schüttelte, dann das Buch wieder öffnete und weiter las. Wenig später trat Frau Kobayashi zu ihren Schülern. „Nun denn, wer von Ihnen wird antreten – und hoffentlich gewinnen?“ Zögerlich meldete sich Yugi. „Sehr gut, Mr. Muto, ich danke Ihnen jetzt schon! Dann los, gehen wir vor und sehen, dass wir wen auch immer schlagen können, den uns dieser … den uns Takeda-san vor die Nase setzt!“ Schon an Yugis Gesicht war zu erkennen, dass er sich nicht sicher war, ob das gelingen würde und auch Duke hatte so seine Zweifel, auch wenn Yugi natürlich sein Bestes geben würde. Aber Schach war nun einmal so vollkommen anders als Duel Monsters oder DDM: Alle Informationen lagen von Anfang an offen auf dem Tisch, Glück spielte keinerlei Rolle, beide Spieler hatten die gleichen Voraussetzungen. Trat man als Anfänger gegen jemanden an, der sich auch nur etwas mehr eingearbeitet hatte, sah man schon ziemlich alt aus, es sei denn, man war ein menschlicher Computer, der mindestens die nächsten fünf Züge spontan, schnell und perfekt vorausberechnen konnte. Und das war Yugi bei allem Können nun wirklich nicht, im Gegenteil. Seine sehr intuitive, gefühlsbetonte, manchmal fast schon spirituelle Herangehensweise an Spiele würde ihm beim Schach vermutlich recht wenig nützen. Auch die Schüler der anderen Klasse sammelten sich jetzt um das Brett. Als Kenta Duke, Tristan und die anderen erspähte, die sich eng um Yugi gruppiert hatten, packte er einen etwas kleineren, schmalen Jungen mit Brille rabiat an den Schultern und schob ihn mit sich nach vorne. Sein herausfordernder Blick blieb ganz besonders auf Tristan geheftet, während er großspurig verkündete: „Für uns wird Toshi hier antreten. Toshi hat sich diese Disziplin auch gewünscht. Er ist nämlich zufälligerweise im Schachverein. Und er hat schon einige Turniere gewonnen!“ Mit einem demonstrativen Nicken sah er sich im Kreise seiner Mitschüler um, die ihm die implizit gewünschte Bestätigung gaben. Dann wandte er sich doch noch einmal kurz an den sichtlich eingeschüchterten Jungen und verstärkte den Griff um dessen Schulter: „Du hast doch schon Turniere gewonnen, oder?“ Ähnlich wie zuvor für Ginta schien es auch für Toshi äußerst gewöhnungsbedürftig zu sein, dass sich auf einmal Leute für ihn interessierten, die ihn sonst entweder nicht beachteten, hänselten oder anderweitig runtermachten. So nickte er nur zögernd und bestätigte leise: „I-ich bin der Landesmeister in meiner Altersgruppe.“ Yugis Augen wurden groß und auch Dukes und Tristans Blicke trafen sich. Die Aussichten auf einen Sieg hatten sich gerade noch einmal dramatisch verschlechtert. Gerade wollte Kenta noch einen weiteren Kommentar abgeben, da legte ihm Herr Takeda die Hand auf die Schulter. „Sie entschuldigen, Matsuda, aber ich glaube, jetzt bin ich dran!“ Kenta senkte den Blick unter den strengen Augen des Lehrers und schwieg. An alle gerichtet fuhr Herr Takeda fort: „Zum Spielmodus: Es werden maximal drei Partien gespielt, allesamt mit Zeitbegrenzung, wir wollen ja nicht den ganzen Abend hier sitzen, nicht wahr?“ Wieder einmal lachte er altväterlich. „Vielen Dank an Mr. Nakamura hier,“, er wies mit der Hand auf Toshi, „der uns ein wenig beraten hat, was sich in unserem Rahmen für so einen Wettbewerb anbietet: Erst einmal werden zwei Partien gespielt, in denen beide Gegner jeweils fünfzehn Minuten Bedenkzeit haben, wobei jeder ein Mal mit Weiß, ein Mal mit Schwarz spielen wird. Sollte es danach einen Gleichstand geben, werden wir noch eine dritte Partie mit nur fünf Minuten Bedenkzeit spielen und zwar im etablierten … Armageddon-Modus?“ Er rückversicherte sich noch einmal mit einem Blick bei Toshi, der ihm mit einem Nicken bestätigte, dass er es richtig gesagt hatte. „Das bedeutet, dass, bei einem Unentschieden automatisch Schwarz gewinnt, da Weiß ja über den Anfangsvorteil verfügt. Somit gibt es am Ende auf jeden Fall eine Entscheidung. Aber Mr. Nakamura hat mir versichert, dass die meisten derartigen Spiele schon vorher anders entschieden werden und diese Regel daher oftmals gar nicht erst zur Anwendung kommen muss.“ Er ließ eine kurze Pause, offensichtlich zufrieden mit sich und seiner fachmännischen Erklärung. Dann klatschte er in die Hände. „Also dann, starten wir!“ Die Farben für die erste Partie wurden mit Hilfe zweier Figuren ausgelost. Yugi würde mit Schwarz beginnen. Erst blickte er ein wenig enttäuscht drein, zuckte dann aber in Richtung seiner Freunde lächelnd mit den Schultern. „Ist ja nicht so, dass ich mit Weiß so viel mehr hätte anfangen können!“ Die beiden Spieler nahmen am Tisch Platz und die Partie begann. Nach allem, was Duke sagen konnte, schien sich Yugi zumindest wacker zu schlagen, wobei auffiel, dass er schon in den ersten Zügen wesentlich mehr Zeit verbrauchte als Toshi. Yugis Seite der Uhr – als solche diente das Tablet eines Privatschülers, auf das kurzerhand eine Schachuhr-App geladen worden war – zeigte nur noch zehn Minuten, während Toshi gerade einmal dreißig Sekunden seiner Zeit verbraucht hatte und sich schon bald sichtlich langweilte, wenn Yugi am Zug war. Egal, wie verschüchtert Toshi sonst vielleicht sein mochte, kaum hatte er sich an das Schachbrett gesetzt, strahlte er absolutes Selbstbewusstsein und Konzentration aus. Das hier war ganz klar sein Element. In den nächsten Minuten geriet Yugi immer weiter ins Hintertreffen und verlor eine Figur nach der anderen. Zwei Minuten waren auf seiner Uhr noch übrig, Toshi hatte noch knapp über zehn. Angespannte Stille erfüllte den Raum. Wenn überhaupt geredet wurde, beschränkte es sich auf ein gedämpftes Flüstern, um die Konzentration der Spieler nicht zu stören. „Schach Matt!“ Es waren die ersten Worte seit längerem in normaler Lautstärke und so war nicht nur Yugi kurz zusammengezuckt, sondern auch einige der Zuschauer. Nun sah es auch Duke: Toshi hatte seinen Turm auf Yugis Grundlinie gezogen, wo dessen König noch immer vermeintlich sicher hinter allen drei Rand-Bauern stand, damit jedoch kein Feld hatte, auf das er ausweichen konnte, um nicht im nächsten Zug geschlagen zu werden. Frau Kobayashi schüttelte nur den Kopf und massierte sich die Stirn. „Glückwunsch!“ Yugi zwang sich zu einem Lächeln und Toshi nickte nur stumm. „Hervorragend, Nakamura!“, freute sich Herr Takeda sichtlich und klopfte dem Angesprochenen auf die Schulter, bevor er über den Applaus seiner Schüler hinweg auch Yugi mit adressierte: „Dann bauen Sie doch gleich die Figuren wieder auf, sodass Sie mit umgekehrten Farben spielen.“ Routiniert setzte Toshi jetzt die schwarzen Figuren auf seiner Seite an ihre Plätze und stellte die Uhr zurück, während Yugi sich die weißen Figuren schnappte und vor sich aufbaute. Die zweite Partie eröffnete somit Yugi, aber auch einem unerfahrenen Zuschauer musste recht schnell klar sein, dass Toshi mit jedem Zug ein wenig besser stand. Immer wieder übersah Yugi trotz aller Anstrengungen Drohungen komplett oder bemerkte sie erst, als es bereits zu spät war. Duke las in den Gesichtern seiner Freunde, dass sie alle wussten, dass es wahrscheinlich nicht gut enden würde, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Als er Tristans Augen begegnete, seufzte der nur leise und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Noch einmal wanderte Dukes Blick zu der einzigen Person ihres „Lagers“, die wirklich Ahnung von Schach hatte. Kaiba wäre wahrscheinlich im Handumdrehen in der Lage, das alles noch zu retten, aber nein, er zog es ja stattdessen vor, weiter ganz entspannt zu lesen und freute sich vermutlich noch darüber, dass es trotz der vielen Leute so schön still im Raum war. Und das, während der arme Yugi, der so gut wie keine Ahnung von Schach hatte und sich praktisch für sie geopfert hatte, hier von einem Landesmeister regelrecht auseinander gepflückt wurde. Warum genau hatte er sich nochmal in so einen Arsch verknallt? Nein, korrigierte er sich gedanklich, wer Kaiba so abstempelte, machte es sich zu leicht. Spätestens nach der Sache am See musste das klar sein. Es musste einen Grund dafür geben, dass Kaiba nicht spielen wollte. Wenn er in irgendetwas klar überlegen war, ließ er doch sonst auch selten eine Gelegenheit aus, das aller Welt mitzuteilen. Nun gut, mit Sicherheit spielte hier auch Motivation eine Rolle. Ein Sieg ihrer Klasse bei diesem sinnlosen Wettbewerb brachte Kaiba selbst rein gar nichts. Hm … und wenn man nun dafür sorgte, dass es ihm etwas brachte? Aber was konnte man jemandem wie Kaiba anbieten? Ihm, der angesichts seines finanziellen, geschäftlichen, schulischen Erfolgs im Grunde bereits alles hatte? Duke dachte noch einmal an die vergangenen Stunden zurück, und seine Gedanken blieben beim Tischtennis hängen, wo Kaiba ihm anscheinend durchaus interessiert zugehört und nachgefragt hatte, als er ein wenig von sich erzählt hatte. Informationen … einer der wertvollsten Vorteile, die man haben konnte, das hatte auch Max ihm immer wieder eingetrichtert. Aber war es wirklich klug, Kaiba auch nur irgendetwas zu offenbaren? Zumal in seiner aktuellen Lage? Was, wenn er dabei versehentlich mehr über sich verriet, als er wollte? Noch einmal sah Duke auf das Schachbrett. Yugi hatte schon wieder einige wertvolle Figuren eingebüßt und gerade nur um Haaresbreite seine Dame retten können. Seine Uhr zeigte noch fünf Minuten, die von Toshi elf. Hinter letzterem stand Kenta mit verschränkten Armen und lächelte zufrieden in sich hinein, den Sieg offenbar schon vor Augen. Unbewusst schüttelte Duke kurz den Kopf. Was hatten die vergangenen Tage nur aus ihm gemacht? Er war Duke Devlin, verdammt! Seit wann drückte er sich denn bitte vor einer guten Herausforderung? Ein kleiner Tanz auf seinen eigenen Grenzen – warum denn nicht?! Die Sache mit Kaiba war ja ohnehin aussichtslos. Also, was sollte schon passieren? Rebell-Duke und Ego-Duke brachen in Jubel aus. Die Aufmerksamkeit (fast) aller Menschen im Raum war fest auf dem Schachbrett, sodass es ihm problemlos gelang, sich unbemerkt aus der Gruppe zu lösen. Seine trotz allem leicht schwitzigen Hände locker in den Hosentaschen vergraben ging er zielstrebig auf den einzigen besetzten Sessel zu. Wie aus dem Nichts wurde Seto unsanft aus seiner Lektüre gerissen, als ihm vollkommen unvermittelt das Buch aus der Hand genommen und mit den Seiten nach unten auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt wurde. Gleich darauf stützten sich zwei fremde Hände entschlossen links und rechts auf die Armlehnen des Sessels. Setos anfängliche Verwunderung schlug sofort um zu eiskalter Wut. Wer wagte es …?! Sein tödlicher Blick traf auf grüne Augen, in denen ein herausforderndes Blitzen lag. Devlin, ausgerechnet! Was sollte das denn jetzt werden? Noch bevor Seto die Frage laut aussprechen konnte, beugte sich der Schwarzhaarige etwas weiter vor, sodass sein Kopf nur Zentimeter links neben Setos war. Augenblicklich beschleunigte sich sein Herzschlag und seine Sinne waren geschärft für selbst die kleinsten Nuancen und Eindrücke von Dukes Präsenz. Hätte man ihn vor wenigen Tagen noch gefragt, Seto hätte sich für vollkommen immun gegen Devlins provokante, stark physisch geprägte und in seinen Augen billige Art der Einflussnahme erklärt. Stattdessen blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als sich einmal mehr einzugestehen, wie mühelos es dem Schwarzhaarigen gelang, ihn vollständig in seinen Bann zu ziehen. „Hör mal, Kaiba, ich hab ein Angebot für dich!“, flüsterte Duke ihm verschwörerisch zu und warmer Atem streifte sanft sein Ohr und seinen Hals. Unwillkürlich stellten sich Setos Nackenhaare auf, aber noch behielt er die Kontrolle und sein Blick blieb stur an Duke vorbei nach vorne gerichtet. „Ich höre.“ Der Würfel-Ohrring wackelte, als sich Dukes Kopf minimal bewegte, und touchierte einmal kurz Setos Wange. Ein Schauer überlief ihn, als zu allem Überfluss auch noch ein paar der pechschwarzen, weichen Haare ganz leicht eine besonders empfindliche Stelle an seinem Hals kitzelten. Mit jedem Atemzug nahm er fast schon begierig ihren angenehmen Duft auf … nach Zitrone und … Meer. „Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß.“ Seto musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um Dukes Worten zu folgen und sich nicht vollständig in seinen Sinneseindrücken zu verlieren. Schnell fokussierte er sich wieder auf das Gesagte und seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Hm, etwas, das niemand anderes über Devlin wusste? Das konnte durchaus interessant und wertvoll sein. Nicht einmal nur aufgrund seiner unsäglichen hormonellen Situation, sondern auch aus geschäftlicher Sicht. Devlin war eben im Gegensatz zu seinen kleinen Freunden ganz und gar nicht dumm – ein Geschäftsmann, genau wie er, der wusste, dass man ohne eine gute Gegenleistung niemanden dazu bringen konnte, etwas zu tun, was er nicht wollte. „Und wenn ich es nicht tue oder … verliere?“, fragte Seto scheinbar gleichgültig zurück und versuchte sich nicht zu sehr von Dukes Anhänger ablenken zu lassen, der durch dessen vornübergebeugte Haltung immer wieder gegen seine Brust baumelte. Darüber hatte Duke gar nicht nachgedacht. Als Wette war seine fixe Idee eigentlich nicht konzipiert gewesen. Aber gut, in Kaiba steckte auch ein Spieler und wenn er unbedingt eine Wette wollte – warum nicht? Dann gab es sogar noch eine minimale Chance, dass auch für ihn selbst noch etwas dabei heraussprang. Duke überlegte einen kurzen Moment, dem Brünetten dabei noch immer so nahe, dass es fast schon an Masochismus grenzte. Kaibas Duft stieg unablässig in seine Nase, er konnte die Körperwärme spüren, die von seinem Gegenüber ausging und musste außerdem gegen den inneren Drang ankämpfen, mit seiner Hand durch die haselnussfarbenen Haare zu fahren, um herauszufinden, ob sie wirklich so weich waren, wie sie aussahen. „Mhm, dann darf ich dir eine beliebige Frage stellen und du musst sie mir wahrheitsgemäß beantworten.“, schlug er schließlich vor und ergänzte eine Sekunde später noch: „Natürlich nichts, was mit sensiblen Geschäftsdaten zu tun hat, versteht sich.“ Das wäre ja auch langweilig. Ihn würde viel mehr interessieren, was Kaiba am See so aus dem Tritt gebracht hatte, ob es noch andere Gründe dafür gab, dass er nicht hatte Schach spielen wollen … oder vielleicht sogar, ob und wenn ja, auf welche Art von materiellen Wesen Kaiba tatsächlich stand. Aber das konnte er sich ja gegebenenfalls noch überlegen. Information gegen Information, das war nur fair, dachte Seto. Man konnte ja nie wissen, wann sie sich mal als nützlich erweisen würden … Als er den Kopf nun doch ein wenig zur Seite drehte, zog der Schwarzhaarige sich etwas zurück, sah ihm geradewegs in die Augen und hielt Setos prüfendem Blick mit Leichtigkeit stand. Hm, Devlin meinte es offenbar wirklich ernst. So nickte Seto kaum merklich und fragte nur sachlich: „Wann wird der Einsatz eingelöst?“ Nicht eine Sekunde zweifelte er daran, dass er es sein würde, der die Information über Devlin erhielt. Es ging immerhin um Schach. Ein zufriedenes Grinsen umspielte Dukes Lippen. Er bekam eben immer, was er wollte – und wenn es sein musste, fand er sich auch auf dem unsichersten Terrain zurecht. „Gleich heute Abend, wenn du möchtest. Haben wir also einen Deal?“ Statt einer verbalen Antwort machte Kaiba Anstalten sich zu erheben, sodass Duke sich wieder aufrichtete und ihn aus dem Sessel freiließ. Zielstrebig ging der Brünette zum Schachbrett, wo Yugi mittlerweile ziemlich verzweifelt auf seinem Stuhl hin und her rutschte, während die Uhr unablässig weiter nach unten tickte. Noch zwei Minuten. Auch Duke kehrte nur eine Sekunde später wieder zurück zum Zentrum des Geschehens. Voller Überraschung und leise tuschelnd hatten seine Mitschüler Kaiba zügig Platz gemacht, der nun direkt hinter Yugi stand und einen prüfenden Blick auf das Spiel warf. Kopfschüttelnd und mit einem genervten Seufzen kam er zu dem Ergebnis: „Immerhin hast du noch nicht alles kaputt gemacht, Yugi.“ Der sah voller Hoffnung zu ihm auf. „Willst du jetzt etwa doch spielen?“ Der Brünette verdrehte die Augen. Zähneknirschend forderte er den Kleineren auf: „Wenn du mir Platz machen würdest, dann könnte ich auch.“ Sofort erhob sich Yugi, atmete erleichtert auf und überließ Seto seinen Stuhl. „Ja, klar doch, Hauptsache, ich muss nicht mehr!“ Sichtlich erlöst gesellte sich der Kleine wieder zu seinen Freunden und sah nun wie sie gespannt auf das Brett. Kenta kommentierte den unerwarteten Wechsel spöttisch vom Rand: „Ach, jetzt soll Bohnenstange versuchen, das Trauerspiel noch zu retten?!“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr kommt hier nicht mehr raus! Dein Zug, Ersatzmann, die Zeit läuft!“ Kaibas Augenbrauen wanderten nach oben. Anscheinend überlegte er kurz, ob er Kenta etwas entgegnen sollte, kam aber offenbar zu dem Ergebnis, dass das unter seiner Würde war. Stattdessen setzte er sich seelenruhig mit verschränkten Armen und übereinander geschlagenen Beinen auf den Stuhl und ließ die Uhr noch ein paar Sekunden weiter hinunter ticken, während er die Stellung genauer betrachtete. Schließlich lehnte er sich zurück, bewegte seinen verbliebenen Springer und betätigte den Button auf dem Tablet. Duke verstand nur einen Bruchteil dessen, was in den nächsten Minuten auf dem karierten Brett passierte. Auffällig war aber, dass auch Toshi jetzt teilweise eine halbe oder ganze Minute seiner Zeit verbrauchte, bevor er einen Zug machte. Fahrig spielte er mit einem der geschlagenen weißen Bauern herum und biss sich beim Überlegen auf die Lippen, während Kaiba ihm mit regungsloser Miene nach und nach zwei Bauern und einen Turm abnahm, bis sie sowohl im Hinblick auf die Figuren als auch in puncto Zeit gleichauf waren. Danach ging alles ganz schnell. Die ganze Zeit über hatte der Brünette nicht ein Wort gesprochen und seinen Gegner keines Blickes gewürdigt. Umso überraschender kam es, als er schließlich den Blick hob und Toshi direkt ansah. Der starrte noch immer völlig perplex auf das Brett. Sichtlich verstimmt tippte Kenta ihn an. „Hey, was ist, Tosh? Warum ziehst du nicht?“ Langsam schüttelte „Tosh“ den Kopf, dann drehte er sich ruckartig um und herrschte Kenta an: „Weil ich Schach Matt gesetzt wurde, Idiot! Die Partie ist vorbei!“ „Woah, sorry!“ Kenta zog die Augenbrauen hoch und hob verteidigend die Hände. Dann drehte er sich zu seinem Kumpel Taki um, verdrehte die Augen und murmelte halblaut: „So kennt man ihn ja gar nicht.“ Leise kicherten sie, dann wurden sie wieder ernst und der Rugby-Spieler bedachte Toshi mit einem drohenden Blick. „Dann streng dich bei der letzten Partie besser etwas mehr an!“ Für besagte letzte Partie – diesmal mit nur fünf Minuten Zeit pro Spieler – bekam Kaiba nach dem Auslosen die schwarzen Figuren und Toshi die weißen. Letzterer atmete noch einmal tief durch, bevor er seinen ersten Zug, Bauer auf E4, machte und die Uhr betätigte. Kaiba erwiderte sofort mit E5 und die Partie nahm ihren Lauf. Die Figuren wurden blitzschnell hin und her gezogen, die Uhr gedrückt, keiner der Zuschauer begriff zur Gänze, was da passierte, aber alle sahen gefesselt zu. Selbst Kaiba saß nun nicht mehr zurückgelehnt da, sondern hatte die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt und war vollkommen auf das Spiel fokussiert. Als sich die Zeit dem Ende näherte und beide Spieler nur noch etwa zwanzig Sekunden hatten, wurden Toshis Bewegungen immer hektischer und Schweißperlen standen sichtbar auf seiner Stirn. Kaiba hingegen sah so gefasst aus wie eh und je. Seine und auch Toshis Hände schossen jetzt regelrecht über den Tisch: Figur, Uhr, Figur, Uhr, Figur, Uhr. Schließlich erschraken sämtliche Zuschauer, als Toshi mit der rechten Faust hart auf den Tisch schlug, sodass alles darauf hörbar schepperte. Wieder Schach Matt. Kaiba hatte gewonnen. Toshi brauchte offenbar noch einen Moment, um vollends zu begreifen, was gerade schief gelaufen war. Währenddessen war Seto bereits aufgestanden, sah ebenfalls noch einmal abschätzig auf das Brett und schüttelte den Kopf. Während Toshis Klassenkameraden sich sichtlich ärgerten und vor allem Kenta von der Seite auf Toshi einschimpfte, bis er von Herrn Takeda gestoppt wurde, feierten die Schüler der Domino High lautstark ihren Sieg. Frau Kobayashi kam regelrecht auf Seto zugestürmt und schüttelte ihm aufgeregt die Hand – zu seinem Leidwesen konnte er sich dem dieses Mal nicht entziehen. „Vielen, vielen Dank, Mr. Kaiba, ohne Ihre Mithilfe hätten wir den Wettbewerb nicht gewonnen!“ Er nickte nur, ohne eine Miene zu verziehen. Nichts konnte ihm egaler sein und selten war es ihm so unangenehm gewesen, im Mittelpunkt zu stehen – normalerweise gern, aber nur unter seinen Bedingungen. Auch Tristan trat auf ihn zu und Seto konnte ihn mit einem drohenden Blick gerade noch davon abhalten, ihm auf die Schulter zu klopfen. So schluckte Tristan nur und beeilte sich nur zu sagen: „Vielen Dank, dass du eingesprungen bist, Kaiba! Das war echt ne richtig starke Nummer!“ Eiskalt und kurz angebunden gab Seto nur zurück: „Bedankt euch bei Devlin! Ich verschwinde.“, und wandte sich zum Gehen. Da meldete sich überraschenderweise Toshi noch einmal zu Wort: „Moment mal, habe ich das richtig gehört: ‚Kaiba‘? Wie in ‚Gozaburo Kaiba’? Dem ehemaligen Schach-Weltmeister?“ Seto drehte sich noch einmal um und sah ihn von oben herab kühl an. Über diesen Umweg war er tatsächlich bis dato noch nie erkannt worden. Toshi nahm sein Schweigen als Ja und schluckte, bevor er sich kurz verbeugte: „Es war mir eine Ehre, Kaiba-sama!“ „Von mir aus.“ erwiderte Seto abgeklärt mit einem letzten Augenrollen und verließ den Gemeinschaftsraum. Als Duke und seine Freunde ebenfalls hinausgingen, um vor dem Abendessen noch einmal frische Luft zu schnappen, ließ Tristan es sich nicht nehmen, noch einmal an Kenta vorbeizugehen, der in ein Gespräch mit seinen Freundinnen vertieft war, und ihn so stark er konnte mit der Schulter anzurempeln. „Tja, ich würde mal sagen, das war die letzte Disziplin, Flasche!“, warf er ihm im Vorbeigehen zu und hob mit einem breiten Grinsen die Hand zu einem letzten Gruß mit dem Mittelfinger. Auch Frau Kobayashi konnte es nicht lassen, Herrn Takeda ihren Sieg lang und breit unter die Nase zu reiben. Bevor sie den Raum verließen, hörte Duke noch ganz deutlich Sätze wie „Drittklassig also, ja?!“, „Vielleicht kommen Sie mal zu uns hospitieren und schauen sich an, wie eine gute Ausbildung aussieht!“, „Wessen Schüler sind jetzt besser, hm?!“, und er hatte fast schon Mitleid mit Herrn Takeda. Aber auch nur fast. Immerhin hatte er sich einen soliden Teil davon ja selbst eingebrockt. Beim Abendessen saß Duke wie üblich mit seinen Freunden an ihrem gemeinsamen Tisch. Gerade hatte Frau Kobayashi angekündigt, dass morgen wieder ein Ausflug auf dem Programm stehen würde: Zur Matsushiro-Burg sollte es gehen und wie schon zur Wanderung war ein zeitiger Start anberaumt. Nicht einmal von Joey kamen jedoch diesmal Beschwerden über die Agenda, im Gegenteil, ließ doch die Burg vor allem in ihm und Tristan schon lebhafte Samurai-Fantasien aufkeimen. Während letztere von den beiden immer detaillierter ausgeschmückt wurden, wandte sich Tea mit unverhohlener Neugier an Duke. „Sag mal, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte: Was meinte Kaiba vorhin eigentlich mit ‚Bedankt euch bei Devlin‘?“ Auch Yugi horchte interessiert auf. „Genau, was hast du ihm gesagt, dass er seine Meinung geändert hat?“ Mit einem verlegenen Lächeln fügte er sogleich noch hinzu: „Außerdem hat er Recht: Ich muss mich wirklich bei dir bedanken! Wäre ich da sitzen geblieben, hätten wir mit Sicherheit nicht gewonnen …“ Duke winkte scheinbar gleichgültig ab. „Ach, kein Ding. Ich kenne solche Leute einfach zur Genüge. Jemand wie Kaiba macht nichts für umsonst. Also hab ich ihm ein Angebot gemacht.“ Tea legte den Kopf schief. „Dass du bei ihm warst, hab ich gar nicht mitbekommen. Was hast du ihm denn angeboten?“ „Informationen.“, gab Duke nur unspezifisch zurück. Viel genauer ins Detail wollte und würde er auch nicht gehen, egal wie sehr sie vielleicht nachbohren würden. Auch das war eine Sache nur zwischen Kaiba und ihm. Seine Freunde sahen ihn in der Tat äußerst skeptisch an. „Jetzt guckt nicht so, Leute! Ich weiß schon, was ich tue!“, verteidigte er sich noch einmal und lachte betont selbstbewusst. Und das stimmte ja auch. Abgesehen vielleicht von der winzigen Einschränkung, dass er noch keinen blassen Schimmer hatte, was genau er Kaiba erzählen sollte. Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß. Er hatte vorhin einfach improvisiert – da war sie gewesen, seine vielgerühmte Spontaneität – in der Hoffnung, dass es Kaiba ausreichend neugierig machen würde, damit er sich ans Schachbrett bequemte und den Tag rettete. Nicht ohne eine Spur Ironie stellte Duke fest, dass er sich mit Kaiba gewissermaßen auf eine Runde ‚Wahrheit oder Pflicht‘ eingelassen hatte – allerdings mit wesentlich mehr ‚Wahrheit‘ auf seiner Seite. Und das, wo er bei ‚Wahrheit oder Pflicht‘ doch eigentlich immer und ausschließlich ‚Pflicht‘ wählte. Aber hey, ihm blieben ja noch gute drei Stunden, um sich etwas zu überlegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)