Crescent von Tiaiel (Deep Red) ================================================================================ Kapitel 1: Memento Mori ----------------------- Es war schon erstaunlich, dass Jonouchi einen so lukrativen Job ergattern konnte und das gleich nachdem die Bar namens Crescent eröffnet hatte. Gut, es war etwas heikel, da es sich dabei um eine Nachtlokal handelte, in der er eigentlich nicht arbeiten durfte. Immerhin war er noch nicht volljährig und obendrein noch Schüler. Sollte er hier erwischt werden, gäbe es einen ganzen Haufen Ärger, nicht zuletzt mit seinem Vater, und den konnte er sicher nicht gebrauchen. Bisher konnte er seine neue Samstagabendbeschäftigung auch gut vor seinen Freunden verbergen, indem er einen Aushilfsjob beim Pizzadienst vorschob. Blieb nur zu hoffen, dass seine Freunde niemals Pizza essen gehen würden in dem Laden am anderen Ende der Stadt, den er ihnen genannt hatte. Natürlich fiel dann der beste freie Abend der Woche weg, aber das war es ihm wert.    Alle Angestellten im Crescent trugen kunstvolle Masken mit unterschiedlichen Mustern sowie die Namen von berühmten Barkeepern auf Ihren Namensschildern, was sie tatsächlich ein wenig geheimnisvoll erscheinen ließen. Die einzige Ausnahme war der Blonde, der den Namen Zack erhielt, benannt nach einem Cocktailshaker. Der Chef, Trader Vic genannt, hatte durchaus Humor. Ungeachtet dessen sprachen sie sich untereinander zumeist mit Spitznamen an, die aus ihrem Pseudonym rührten. Generell eine für Jonouchi sehr praktische Tatsache, denn so musste er sich wenigstens keine Gedanken darüber machen, dass ihn jemand anhand seines Namens oder Aussehens sofort erkennen konnte.    Die meiste Zeit bediente er die Gäste und zwischendurch brachte ihm sein Kollege Dante hinter der Theke ein paar einfache Drinks bei. Allerding hatte er davon bis dato aus bereits genannten Gründen keinen probiert. Mit Ausnahme des Virgin Sunrise, den er letzte Woche gemixt hatte, und der, wie der Name es schon sagte, alkoholfrei war und ihm von seinem Lehrmeister mit einem kleinen Schmunzeln untergeschoben wurde. Auch in seiner Freizeit beschäftigte er sich zumindest theoretisch mit dem Mixen von Getränken. So war es nicht verwunderlich, dass er bald die gängigsten Drinks herstellen und hinter der Theke aushelfen konnte, sollte es denn von Nöten sein.    Wie er diesen Wahnsinnsjob ergattert hatte? Er war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort und brachte das ein oder andere Können mit, welches dem Barbesitzer kurz nach der Eröffnung erheblich aus der Misere geholfen hatte. Außerdem leistete er gute Arbeit und lernte schnell. Deswegen sah dieser auch großzügig darüber hinweg, dass der Blonde bei seinem Alter ein klein wenig geflunkert hatte. Im Schutz der Maskerade war dabei auch nicht zu erkennen, dass es sich bei ihm um einen Schüler, geschweige denn Jonouchi handelte. Und tatsächlich zeigte sich nur wenige Wochen später der Vorteil dieser besonderen Berufsbekleidung. Denn als hätte Fortuna es von Anfang an so geplant, trat natürlich ausgerechnet Seto Kaiba, mit dem er tagtäglich im Clinch lag, durch die Tür. Offenbar war er zu einem Geschäftstermin verabredet, denn er bewegte sich zielstrebig zu einem der Tische, an dem ein älterer Mann und eine junge Frau, die hoffentlich dessen Tochter war, saßen.    Aus Angst, doch unter der Maske von ihm erkannt zu werden, bat er seine Kollegin Ada diesen Tisch zu übernehmen, während er wiederum versuchte, die Nähe des Brünetten so gut es ging zu meiden. Dennoch wanderte sein Blick immer öfter zu dem Jungunternehmer und er hoffte inständig, dass er nicht allzu lang hier verweilen würde. Zu seiner Freude leerte sich nach gut einer Stunde die Lounge weitestgehend, da die Musiker, eine bekannte Band, die Ihre Wurzeln hier in der Gegend hatte, ihren Auftritt vor wenigen Minuten beendet hatten. Auch Kaiba und sein Geschäftstermin standen endlich auf und begaben sich zum Ausgang. Die junge Schönheit hatte bereits den ganzen Abend mit dem Brünetten geliebäugelt. Bahnte sich da vielleicht etwas an? Innerlich knurrte der Blonde, als ihm der Gedanke durch den Kopf ging. Zugegeben, sie war wirklich sehr hübsch und entlockte dem sonst so mürrischen Firmenchef tatsächlich das ein oder andere Lächeln, auch wenn es eher aufgesetzt wirkte.    Ja, der Blonde interessierte sich wohl schon eine Weile auf eine etwas andere Art für den ewigen Rivalen, der ihn nur allzu gern piesackte. Ihm fielen derlei Dinge, wie ein gekünsteltes Lächeln, im Gegensatz zu anderen eben auf. Jedoch konnte er sich auch nicht erinnern, wann er den Brünetten jemals ehrlich hatte lachen sehen. Vermutlich war das, wenn überhaupt, nur Mokuba vorbehalten. Als er sie nicht mehr im Blick hatte und nur noch die Gespräche der Angestellten im Saal zu hören waren, kam der junge Aushilfs-Barkeeper hinter der Theke hervor, öffnete die Schleife seiner Schürze und legte sie auf einem der Stühle ab. Sein Ziel war das Piano, denn er hatte nach Absprache mit der Obrigkeit die Erlaubnis, nach Ladenschluss darauf spielen zu dürfen. Er setzte sich auf die Klavierbank, fuhr mit den Fingern federleicht über die Tasten und spielte dabei einige Zufällige Töne aus seinem gedanklich ausgewählten Stück. Der Klang erfüllte den menschenleeren Raum, bis er schließlich darin verstummte, ebenso wie die Gespräche seiner Kollegen. Jonouchi straffte seinen Körper, während er noch einmal tief durchatmete, einen Augenblick inne hielt und schließlich sein Klavierspiel begann.    Ohne einen weiteren Gedanken an den Ort und die Zeit zu verschwenden, schlug er die Tasten wie in Trance an und verlor sich sogleich in der Melodie. Es war überwältigend, endlich wieder Klavier spielen zu können. Jeden Samstag genoss er dieses Privileg, das ihm dieser Job unverhofft eingebracht hatte. Seine Finger glitten über die Tasten und er spielte, als wenn es kein Morgen geben würde. In diesem Moment existierte für ihn nur noch seine eigene wunderbare Welt, in der die Zeit ihre eigene Geschwindigkeit besaß und er sie nach Belieben ändern konnte. Diesmal schien sie jedoch spürbar still zu stehen und in Ihrem Stillstand beherbergte sie eine unendlich wirkende Traurigkeit, die jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer, der sich  darin auftat, letztendlich doch restlos verschlang.   Seine Barkollegen an der Theke unterbrachen ihr geschäftiges Treiben für diesen Moment und lauschten der Elegie seines Herzens, dass sich so verzweifelt nach Etwas sehnte, das bislang unerfüllt geblieben war. Auch wenn das Klavierstück heute besonders schwermütig klang, genossen sie allesamt dieses außergewöhnliche Ritual an den Samstagabenden, am meisten tat es jedoch Jonouchi selbst. Denn das Klavier gab ihm ein einzigartiges Gefühl von Freiheit. Mit ihm konnte er alle Sorgen, Freuden und Gefühle ausdrücken, die im normalen Leben keinen Platz fanden und schlicht nicht in Worte gefasst werden konnten. Vielleicht würde irgendwann auch der unnahbare Firmenchef ihn einmal so spielen hören. Und vielleicht, aber nur vielleicht würde er die Botschaft hinter seinem Spiel erkennen.    Und tatsächlich schien ihn die Schicksalsgöttin zu erhören. Denn genau eine Woche später staunte der Blonde nicht schlecht, als Kaiba das Lokal zum wiederholten Mal betrat und das zu allem Überfluss auch noch erstaunlich früh. Doch Jonouchi war noch nicht bereit für diese Konfrontation. Zu groß war die Angst, erwischt zu werden und sein geliebtes Klavierspiel jeden Samstagabend aufgeben zu müssen. Denn das hätte die Enttarnung durch seinen heimlichen Lieblingsfirmenchef unweigerlich zur Folge gehabt. Also verschwand er unauffällig hinter der Theke und seufzte hörbar. Natürlich fiel das sonderbare Verhalten direkt auf. "Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirst doch nicht etwa zu tief ins Glas geschaut haben“, witzelte Dante über den Jüngeren, wohlwissend, dass dem nicht so war. "Wenn es nur so wäre“, schmunzelte der Blonde gequält zurück. "Ich mache kurz Pause, okay?“ "Ist in Ordnung“, nickte der Meister-Barkeeper ab und Jonouchi verschwand nach hinten.    Von dort aus begab er sich nach oben auf den ersten Rang, der nur für besondere Gäste geöffnet wurde und am heutigen Abend geschlossen war. Verstohlen schaute er nach unten zur Theke, an die sich der Brünette soeben gesetzt hatte und einen Drink bestellte. Es war eindeutig ein Gin Fizz, den Dante kurz darauf über die Theke schob, und Jonouchi war stolz auf sich, dass er das sofort erkannt hatte. Allerdings interessierte ihn der Cocktail nur zweitrangig, denn hier gab es eindeutig wichtigere Dinge zu klären. Zum Beispiel hätte er nicht gedacht, dass Kaiba ein relativ süßes Getränk bestellen würde. In seiner Vorstellung sah er den Brünetten stets mit einem Bourbon on the rocks oder etwas Ähnlichem cool an der Bar sitzen. Er hing förmlich an den Lippen des Älteren und hätte nur zu gern mit dem Getränk in dessen Hand den Platz getauscht.    In dem Augenblick realisierte er, dass er doch gerade tatsächlich ins, wie nannte man es noch gleich, “schwärmen“ geraten war. Es war unerhört, was seine Gedanken ihm da gerade wieder versuchten einzureden. Immerhin könnte er genauso gut jetzt da unten sein und ihm höchstpersönlich sein Wunschgetränk servieren. Oder eben auch nicht. Er musste unbedingt zeitnahe etwas unternehmen, denn er konnte seinen Job nicht nur allein durch Kaibas Anwesenheit gefährden. Mal ganz abgesehen davon, dass sein Interesse an ihm sich nicht nur im Duel Monsters-Bereich oder während ihrer Streitereien abspielte. Und letztendlich musste er sich ihm irgendwann stellen oder alternativ bald kündigen und Letzteres kam für ihn definitiv nicht in Frage.    Seine Augen folgten dem Blick des CEO, der offensichtlich auf den hinteren Teil des Raumes fiel. Genau dort, wo das Klavier stand. Interessierte sich der Herr Firmenchef etwa für Musik? Wieder hatte Jonouchi vermeintlich etwas Neues erfahren. Etwas über den Seto Kaiba, der sonst so stoisch und unnahbar war. Sicher musste man in gewissen Kreisen auch in klassischer Musik bewandert sein. Doch das schien diesmal nicht die Intention dahinter zu sein. Sein Blick schweifte durch den Raum bis er sich, nach scheinbar erfolgloser Suche, an seinen Kollegen und Barkeeper Dante hinter der Theke wandte. Kaibas Blick und dem darauffolgenden Kopfschütteln nach zu urteilen, erhielt er von diesem jedoch nicht die gewünschte Antwort, sodass er kurz darauf seinen Drink bezahlte und die Bar schließlich wieder verließ. Der Blonde atmete erleichtert auf und gesellte sich wenige Momente später wieder nach unten, um die vorgeschobene Pause zu beenden und mit seiner Arbeit fortfahren.   "Sag mal, kann es sein, dass du was mit Seto Kaiba zu schaffen hast?“,  flüsterte Dante ungehört der anderen Kollegen, als Jonouchi von seiner ungeplanten Flucht zurückkehrte. Er war der einzige Angestellte, der wusste, dass der blonde Chaot eigentlich noch zu jung für diesen Job war. Nicht zuletzt wegen der nicht geringen Menge Alkohol, die hier allabendlich über die Theke ging. Und irgendwie wollte er das Schäfchen wohl auch vor den bösen Wölfen, die ab und an auch hier mal zu Gast waren, beschützen. "Kann man so sagen. Wir sind Klassenkameraden“, seufzte der Gefragte leise zurück, “Und er hätte mich mit absoluter Sicherheit sofort erkannt. Schon allein meine Haarfarbe fällt hier auf. Ada mit ihren roten Haaren sticht natürlich noch wesentlich mehr raus.“ "Verstehe. Nun, ich hätte da eine bessere Idee als dich zu verstecken. Besorg dir doch ein paar farbige Kontaktlinsen. Zusammen mit der Maske, wird dich nicht einmal deine Freundin wiedererkennen”, schmunzelte der Meister-Barkeeper und sinnierte kurz, während er seinen Schützling musterte. “Ein Bart kommt wohl eher nicht in Frage“, sprach er seine Gedanken laut aus und die Anspielung auf sein Alter ließ den Blonden mürrisch aufbegehren. Aber es war eine Überlegung wert und er würde sich direkt am Montag darum kümmern, auch wenn er stark bezweifelte, dass Kaiba wusste, welche Farbe seinen Augen besaßen, während Jonouchi selbst bei jedem Zusammentreffen beinahe in den blauen Meeren des anderen versank.    Der weitere Abend verlief ereignislos, wie all die anderen Wochen zuvor auch. Und am Ende des Tages, diesmal spät in der Nacht, verließen schließlich auch die letzten Gäste das Lokal und Jonouchi durfte, wie sonst auch, die wunderbaren Töne des Klaviers noch einmal aufleben lassen. Diesmal spielte er eines der Lieder, welches sie bereits am frühen Abend gehört hatten. Doch es klang beinahe völlig anders, wenn er es spielte. Und wie sonst auch, lauschten die Angestellten sowie der Barbesitzer, der heute mehrfach hinter der Bar anzutreffen war, dem beruhigenden Klang seines Aushilfspianisten. Dieses Stück mochte der Blonde ganz besonders, da es ihn an seine unbeschwerte Kindheit erinnerte. Auch Dante bemerkte die besondere Hingabe im Spiel und sprach ihn direkt darauf an, nachdem der letzte warme Ton des Instruments verstummte.   "Du kanntest dieses Lied, hab ich Recht?“  "Ja, ich habe es früher oft zusammen mit meiner kleinen Schwester gespielt. Besser gesagt: ich habe gespielt, während sie dazu gesungen hat.“ "Verstehe. Deswegen hatte es diesen warmherzigen Klang. Ich freue mich schon darauf, wenn du mal wieder für unsere Gäste spielst“, lächelte der Weißhaarige wohlwollend.  "Das wird wohl vorerst nicht nochmal passieren. Damals war es auch nur Zufall. Immerhin bin ich ja kein Meister meines Fachs so wie du hinter der Theke“, witzelte der Blonde und sah verlegen zu seinem Kollegen. Dann schafften Sie im Lokal noch Ordnung und dieser unverhofft nervenaufreibende Tag ging auch für Jonouchi endlich zu Ende.    To Be Continued… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)