Crescent von Tiaiel (Deep Red) ================================================================================ Kapitel 4: To Zanarkand ----------------------- Die darauffolgende Woche begann und der Blonde konnte bereits am Montag kaum mehr ihr Ende erwarten. Beinahe würde er die Stunden zählen, bis er das Crescent wieder betreten konnte. Denn nebst der Tatsache, dass er dort mit seinem heimlichen Schwarm mühelos in Kontakt treten konnte, wurde für den kommenden Samstag ein VIP-Abend angekündigt und ein besonderer Gast zum Auftritt geladen. Und diesen verehrte der Blonde besonders, gerade für dessen atemberaubendes Klavierspiel. Diese überschwängliche Freude hielt noch bis zum Mittwoch an und fiel natürlich auch seinen Freunden überdeutlich auf, die daraufhin versuchten, was auch immer es war, aus Jonouchi herauszukitzeln.    „Irgendwas ist doch bei dir schon wieder im Busch“, zog Honda ihn auf und stieß ihn an der Schulter an, als sie gerade über den Flur der Schule liefen. „Ich weiß gar nicht, was du hast. Alles ist wie immer“, winkte der Blonde eiligst ab. Doch das nahm er ihm natürlich nicht ab, denn dafür kannten sie sich einfach schon viel zu lange. „Das sieht ein Blinder mit ‘nem Krückstock, dass du schon wieder irgendwas ausheckst. Oder verheimlichst du etwa was vor uns? Na los, jetzt spuck‘s schon aus“, drängelte sein ehemaliger Raufkumpane ihn weiter und Jonouchi hatte Mühe, ihn wieder von dem Thema abzubringen. Der Rest der Truppe war natürlich nicht minder an einer wahrheitsgemäßen Antwort interessiert. Ein (un)glücklicher Zufall sollte ihm allerdings unerwartet beim Themenwechsel behilflich sein. Durch das Herumgeschubse und Gedrängel von Honda stolperte er unbeabsichtigt in jemanden hinein und riss ihn mit sich zu Boden. Unverhofft kam ja bekanntlich oft, denn der unter ihm Liegende war wiederum einer der beiden Gründe für seine freudige Tagträumerei. Als er das realisierte, funkelte ihn der Unterlegene bereits erbost an und zischte ihm ein scharfes „Geh sofort von mir runter“ entgegen. In die Realität zurückgekehrt, sprang der Angesprochene auch augenblicklich  auf.    Vorbei war der Moment, in dem er die nicht traute Zweisamkeit genießen konnte. Was legte Kaiba doch heute wieder für einen unfreundlichen Ton auf. Ein wenig trübsinnig über den immer gleichen Verlauf ihres Aufeinandertreffens, sammelte sich der Blonde kurz, legte sein übliches Du-kannst-mir-den-Buckel-runterrutschen-Gesicht auf und pfefferte eine freche Antwort zurück: “Als wenn das meine Schuld wäre. Seit Tagen rennst du mich schon um und entschuldigst dich noch nicht mal dafür“, plusterte er sich vor dem Älteren auf und trat dabei ein Stück näher an ihn heran, während dieser die Nase rümpfte und einen abschätzigen Blick auf den Blonden warf. Untypischerweise verzichtete der Firmenchef jedoch auf einen weiteren Kommentar. Eigentlich mochte Jonouchi diese kleinen Streitereien zwischen ihnen beiden. Doch jetzt, wo er erfahren hatte, wie viel angenehmer eine normale, wenn auch bisher nur kurze Unterhaltung mit dem Älteren sein konnte, konnte er für diese Art der Aufmerksamkeit plötzlich keine wirkliche Freude mehr empfinden. Es war eher das Gegenteil der Fall. Also reagierte er entsprechend seinem Gefühl mit einem für Kaiba unhörbaren „Ach, was solls“, brach das aufgekommene Streitgespräch abrupt ab und wandte sich, während er für einen Bruchteil einer Sekunde sein sorgsam aufgesetztes Pokerface fallen ließ, wieder lächelnd seinen Freunden zu.    Diese Reaktion war mehr als untypisch für den impulsiven Hitzkopf und spätestens jetzt waren sich alle Anwesenden sicher, dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmte. Das Jonouchi von Null auf Hundert hochschnellen konnte, war längst bekannt, aber das eben Gesehene war tatsächlich so noch nie vorgekommen. Er gab bei Kaiba einfach so klein bei ohne wirkliche Gegenwehr und ließ ihn diesen Schlagabtausch somit kampflos gewinnen. Den Firmenchef selbst schien dies weniger zu interessieren, da er bereits wieder seines Weges ging, ohne ihm in irgendeiner Form weitere Aufmerksamkeit beizumessen.   Den Rest des Tages legte der Blonde eine fröhliche Miene auf und scherzte scheinbar ausgelassen mit seinen Freunden, so wie er es auch sonst immer tat. Doch das ungute Gefühl, dass der Zwist zwischen ihm und dem Brünetten ausgelöst hatte, ließ sich damit nicht abschütteln. Heute war er passenderweise im Klassendienst eingeteilt, also konnte er seine Freunde, ohne sich eine aus den Haaren herbeigezogene Ausrede einfallen lassen zu müssen, einfach vertrösten und direkt danach seinem liebsten Hobby nachgehen, um die unliebsamen Gedanken zu vertreiben. Nachdem die Arbeit erledigt war, begab er sich sogleich auf den Weg in die obere Etage, in der sein geliebtes Klavier bereits auf ihn wartete. Bedächtig ließ er seine Hand über das dunkle Fichtenholz gleiten und nahm wie jeden Mittwoch auf der Pianobank Platz.   Gedankenverloren starrte er auf seine Hände, die reglos direkt über den weißen Klaviertasten schwebten und zögerte einen Moment ehe er sie sanft darauf ablegte. Seine Augen schlossen sich beinahe automatisch, als er seinen Kopf senkte und einen tiefen Atemzug nahm. Dabei versuchte er, diese unschöne Begegnung mit Kaiba am Morgen so weit es ging zu verdrängen. Dass es ihn nicht fröhlich stimmte, war leider nicht zu ändern. Dafür waren sie wohl einfach zu festgefahren in ihren Gewohnheiten. Was jedoch ebenso stet blieb wie die ewigen Zankereien, war seine unausgesprochene Liebe für das Piano und dessen wunderbaren Klang. Also verbannte er die negativen Gedanken, öffnete seine Augen, die auf einmal einen gewissen Glanz innehatten, und begann sein traumhaftes Spiel.    Liebliche Töne erklangen in diesem publikumslosen Raum und erfüllten die Leere mit einem Klang so wunderbar hell und klar, dass er wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser funkelte und von dort aus in die Welt zurückgeworfen wurden. Unvergessene Erinnerungen an längst vergangene Tage kehrten wieder zurück. Jene Tage, die von lachenden Gesichtern und überschwänglicher Freunde geprägt waren. Besonders das fröhliche Kichern seiner kleinen Schwester hallte noch genau wie damals in seinen Ohren wieder. Dabei war es bereits viele Jahre her, dass sie beide Kinder gewesen waren und sie wie eine richtige Familie mit ihren Eltern zusammengelebt hatten. In dieser sorglosen Zeit hatte Jonouchi auf Geheiß seiner Eltern das Klavierspielen erlernt und war dafür zweimal in der Woche zu einem Privatlehrer gegangen. Oft hatte Shizuka ihn damals dorthin begleitet und saß still und leise im Raum, um der Musik ihres Bruders zu lauschen. Es war, als hätte ein unsichtbarer Zauber in den Noten gelegen, die er nur für sie zu spielen schien. Sie hatten sie immer wieder aufs Neue in eine schöne Traumwelt entführt, hatten sie Abenteuer erleben lassen oder ihr Trost gespendet, wenn die Eltern wieder einen Streit ausgefochten hatten.    Und bald darauf war dieser so flüchtig wirkende Moment der heilen Welt plötzlich einfach so vorbei gewesen und die einst so harmonisch wirkende Familie nur wenige Monate später entzweit. Nicht zuletzt waren die Geschwister durch die Meinungsverschiedenheiten der Eltern, ohne dass sie bei der Entscheidung einbezogen worden waren, voneinander getrennt worden. Shizuka war von ihrer Mutter mitgenommen worden, während Jonouchi bei seinem Vater geblieben war. Dieser hatte sich daraufhin seiner Alkoholsucht hingegeben, sodass sie bald in einen finanziellen Engpass geraten waren, der noch bis heute anhielt. Geld war mit einem Mal rar gewesen und private Klavierlehrer waren nunmal äußerst kostspielig. So hatte Jonouchi gezwungenermaßen alles aufgeben müssen, was er damals so sehr geliebt hatte. Das Piano, das sie besessen hatten, war verkauft worden und seine Schwester hatte er in den letzten Jahren meist nur sporadisch und zu allem Überfluss auch nur sehr kurz gesehen, da seine Mutter den Umgang für nicht angemessen gehalten hatte.    Doch inzwischen waren sie keine kleinen Kinder mehr und konnten allein entscheiden, welchen Umgang sie pflegten. An der Leidenschaft zur Musik, die sie stets miteinander verband und sie immer wieder zusammen führte, änderte sich über die Jahre hinweg jedenfalls nichts. Seine Freunde wussten wiederum nichts von Jonouchis verborgenem Talent am Klavier, denn es war etwas, was er nur mit seiner Schwester, die ihm nach wie vor wichtiger als jeder andere Mensch auf dieser Welt war, teilte. Zudem bestand kein Grund, es seinen Freunden zu erzählen, die ihn lediglich als impulsiven Irrwisch kannten. Und auch wenn Fortuna für ihn nur eine unerwiderte Liebe bereithielt, war er dankbar für all die Menschen um ihn herum und die wunderbaren Melodien im Herzen jedes einzelnen von ihnen.    Eigentlich gab es gar keinen vernünftigen Grund, Trübsal zu blasen. Andererseits, wann waren Gefühle schon vernünftig? Das Leben war schlicht zu kurz und viel zu schön, um es sich unnötig schwer zu machen. Und diese Wahrheit ließ er in seinem einzigartigen Spiel nur für sich ganz allein und ungehört aller deutlich im Raum erklingen. Jeder Ton trug seine eigene unvergessliche Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit, die ihn dennoch außerordentlich geprägt hatte und schließlich zu dem Menschen gemacht hatte, der er heute war. Auch wenn er selbst, wenn er ganz ehrlich sein sollte, momentan viel lieber ein ganz normaler Kellner in einer beschaulichen Pianobar sein hätte wollen.   To Be Continued… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)