Until the End von bakura-fan ================================================================================ Kapitel 6: Plötzliche Verwandtschaft ------------------------------------ Als Kiryu an diesem Abend im Bett lag, musste er wieder an seine erste Begegnung mit Hanako und Frau Kyoura denken. Er wohnte jetzt fast ein Jahr hier. Durch Zufall hatte er diese Wohnung gefunden. Am Tag seines Einzuges hatte irgendwann ein kleines Mädchen angefangen ihn zu beobachten. Und als er dabei war seine Sachen einzuräumen, kam dieses Mädchen einfach in seine Wohnung – die Tür hatte die ganze Zeit offen gestanden, weil er immer wieder Kisten raus und wieder rein räumte – und setzte sich auf sein Bett. „Hör mal, Kind, du gehst besser nach Hause.“ Kiryu war nicht gerade freundlich gewesen. Als Yuito und Haru noch anwesend waren, hatte sie sich bloß bis zu seiner Wohnungstür getraut. Aber kaum waren sie weg, war sie mutiger geworden. „Wie heißt du?“, fragte das Mädchen stattdessen. Kiryu seufzte, sagte ihr dann aber seinen Namen. „Ich heiße Hanako.“ „Schön, und jetzt geh nach Hause.“ Doch Hanako ließ sich so einfach nicht vertreiben. Sie erzählte Kiryu, dass sie mit ihrer Mutter nebenan wohnte, dass ihre Wohnung größer war als Kiryus und vieles andere, bei dem Kiryu schon gar nicht mehr zuhörte. Er war langsam genervt, sortierte aber weiter seine Sachen ohne etwas zu sagen. Nach und nach konnte er immer mehr leere Kisten vor die Tür stellen. „Hast du schlechte Laune?“, fragte ihn Hanako dann unvermittelt. Kiryu seufzte erneut, dann antwortete er: „Ich habe zu tun. Warum gehst du nicht nach Hause? Deine Eltern suchen dich doch bestimmt?!“ Doch er bekam keine Antwort. Also hielt er in seiner Tätigkeit kurz inne und sah zu Hanako. Die Kleine fragte fast weinend: „Warum bist du böse auf mich?“ Da hatte er ja etwas angerichtet. Kiryu war überfordert. Was sollte er denn jetzt machen? Kurzer Hand hockte er sich vor Hanako und sprach auf sie ein: „Hey, nicht weinen. Ich bin nicht böse. Ich muss einfach nur...“ Er seufzte erneut, dann reichte er Hanako ein Tetrapack Kakao. Sie nahm es dankbar an und beruhigte sich schnell wieder. Zum Glück hatte sich Haru ein paar Päckchen Kakao mitgebracht. Und zu Kiryus noch größerem Glück hatte er die restlichen bei ihm gelassen. Kurz darauf klopfte jemand an seine Wohnungstür. Als Kiryu öffnete, stand er einer kleinen Frau gegenüber. Hanako lief sofort freudestrahlend auf sie zu. „Oh, entschuldigen Sie vielmals. Mein Name ist Hitomi Kyoura. Hanako hat Ihnen hoffentlich keinen Ärger gemacht? Ich war kurz eingenickt, da hat sie sich aus der Wohnung geschlichen.“ „Nein, keine Sorge“, antwortete ihr Kiryu schnell. Dann verabschiedete er sich von Frau Kyoura und Hanako so schnell es ging. Er hatte keine Lust auf Smalltalk. „Bis bald, Kiri-nii-san“, rief ihm die Kleine beim Gehen noch zu. Kiryu fürchtete, dass er noch öfter das Vergnügen haben sollte auf Hanako aufzupassen. Doch im Moment war er einfach nur erleichtert wieder allein zu sein. Frau Kyoura stand vor seiner Tür. Sie schien in Eile zu sein. Hanako hielt sie an der Hand. „Herr...“, sie warf schnell einen Blick auf sein Türschild. „Herr Sugawa, könnten Sie kurz auf Hanako aufpassen? Der Babysitter hat mir abgesagt und...“ „Kiri-nii-san, du passt heute auf mich auf, ja?“ Hanako schien diese Entscheidung bereits getroffen zu haben. Kiryu nickte nur stumm, Hanako ging sofort in seine Wohnung und setzte sich aufs Bett. „Vielen Dank, Herr Sugawa. Ich versuche in einer Stunde wieder da zu sein“, sagte ihm Frau Kyoura noch, dann verschwand sie. Kiryu kratzte sich am Hinterkopf und ging ratlos zu Hanako. In einer Stunde... Was sollte er denn die ganze Zeit machen? Eigentlich wollte er den Nachmittag nutzen, um sich nach einem Job umzusehen. Nach einem Aushilfsjob könnte er auch direkt in einem Café oder Laden fragen. Aber das musste erst mal warten. Hanako sah sich in Kiryus winziger Wohnung um, dann stellte sie fest: „Dein Zimmer sieht leer aus, Kiri-nii-san.“ Er und Hanako musterten sich einen Augenblick gegenseitig. „Ich bin ja auch erst letzte Woche hier eingezogen.“ Er wusste immer noch nicht wie er die Zeit, bis Frau Kyoura wieder da war, totschlagen sollte. Doch Kiryu musste sich darüber keinen Kopf machen, weil sich Hanako hingelegt hatte und fast eingeschlafen war. Er deckte sie zu und setzte sich dann an den Tisch. Dann würde er sich jetzt eben um den liegengebliebenen Papierkram kümmern. Eineinhalb Stunden waren vergangen, bis es wieder an Kiryus Tür klopfte. Hanako schlief noch, also stand er vorsichtig auf, um zur Tür zu gehen. „Herr Sugawa, ich hoffe, Hanako hat Ihnen keine Probleme bereitet. Sie ist manchmal etwas... wählerisch bei ihren Babysittern.“ „Naja, sie hat eigentlich die ganze Zeit geschlafen.“ Eine sehr überraschte Frau Kyoura sah ihn an. „So? Wo ist sie denn?“ Kiryu bat sie herein. Hanako blickte beide aus verschlafenen Augen an. „Hallo, mein Schatz. Komm, wir gehen nach Hause.“ Als Frau Kyoura wieder Kiryu gegenüberstand, Hanako auf dem Arm haltend, sagte sie noch einmal: „Vielen Dank, Herr Sugawa. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.“ „Ach, kein Problem, wirklich“, erwiderte er verlegen. So vergingen die Wochen. Kiryu hatte immer wieder auf Hanako aufgepasst. Meistens lief es so ab wie an jenem ersten Nachmittag. Oder aber Hanako erzählte pausenlos über alles Mögliche. Es schien ihr egal zu sein, ob Kiryu richtig zuhörte. Aber einmal, als er über einem neuen Text brütete, kletterte sie plötzlich auf seinen Schoß und fragte mit Blick auf das Blatt: „Was machst du da?“ „Ich schreibe...“, sagte er, unschlüssig, was er sonst darauf hätte antworten sollen. Hanako konnte weder lesen noch schreiben, schließlich war sie erst fünf Jahre alt. Und bis sie Kanji lesen könnte, würde es noch viele Jahre dauern. Aber diese düsteren Texte wollte er ihr auch nicht vorlesen... „Mama schreibt auch viel. Aber das da sieht anders aus als das von Mama“, stellte sie fest. Kiryu wusste immer noch nichts zu antworten, deshalb wechselte er das Thema: „Hast du Lust raus zu gehen?“ Schnell bejahte sie es, sprang auf ihre Füße und rannte zur Tür. Kiryu lief ihr nach, schnappte sich im Gehen seine Schlüssel und ging mit Hanako nach draußen. Er würde heute ja doch nicht mehr dazu kommen seinen Text zu überarbeiten. Als Kiryu und Hanako wieder zurückkamen, erwartete sie bereits Frau Kyoura. „Ah, Herr Sugawa – Kiryu, kann ich gleich noch mit Ihnen reden?“ „Ja, klar“, sagte er bloß darauf. Ein paar Minuten später stand Frau Kyoura wieder vor seiner Tür. Diesmal ohne Hanako. „Kiryu, es geht im Ihre Miete.“ Kiryu ahnte Schlimmes. Er war mit der Miete im Rückstand. Und dadurch, dass er nur einen Aushilfsjob hatte, würde das wohl noch öfter vorkommen. Er konnte mit Geld einfach nicht gut umgehen... Mit dem wenigen, das er hatte, erst recht nicht. „Sie sind mit der Miete im Rückstand.“ „Ja, ich weiß. Es ist nur...“ „Keine Sorge, Kiryu. Ich will Ihnen ein Angebot machen“, erklärte sie nüchtern. Das Angebot bestand darin, dass Kiryu ab und an auf Hanako aufpassen sollte. Manchmal auch kurzfristig. Im Gegenzug müsste er nichts zu befürchten haben, wenn er die Miete einmal nicht pünktlich zahlen konnte. Kiryu fand das Angebot verlockend, wollte aber dennoch wissen wieso er es überhaupt bekam. „Hanako ist gegenüber ihrer Babysitter immer sehr schwierig. Bei Ihnen allerdings... Sie betrachtet sie quasi als ihren Bruder. Normalerweise ist sie nicht so. Glauben Sie mir, sie hat schon mehr Babysitter vertrieben, als Sie ahnen.“ Kiryu bekam eine Ahnung, was der wirkliche Grund für Frau Kyouras Anfrage vor einigen Wochen war. Der Babysitter hatte vielleicht nicht kurzfristig abgesagt, sondern Frau Kyoura hatte einfach niemanden finden können, der auf Hanako aufpasste? Aber das waren nur Kiryus Vermutungen. „Ja, das habe ich gemerkt.“ „Bitte tun Sie mir den Gefallen“, wurde der Ton von Frau Kyoura fast flehend. „Lassen Sie mich darüber nachdenken, okay?“ „Na gut. Aber bitte nicht zu lange, ja?“ Kiryu würde ihr morgen, bevor er zur Arbeit ging, sagen wie er sich entschieden hatte. Am liebsten hätte er zwar sofort zugesagt, aber etwas hielt ihn zurück. Bis jetzt waren Hanako und er gut miteinander ausgekommen. Im Grunde stand einer Zusage nichts im Wege. Nachteile hätte er davon jedenfalls nicht. Kiryu saß im Wohnzimmer von Frau Kyoura. Hanako schlief neben ihm auf dem Sofa. Als sich die Wohnungstür öffnete, trat Frau Kyoura auch gleich mit einer Entschuldigung ein: „Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Diese Versammlungen ziehen sich immer so in die Länge.“ „Hallo, Frau Kyoura.“, antwortete er bloß darauf. Dann trat er ihr auch schon entgegen. Er hatte den ganzen Abend auf Hanako aufgepasst. Irgendwann war sie auf dem Sofa eingeschlafen und er konnte sich um einige Texte kümmern. Bei manchen war immer noch der Wurm drin. Sie klangen... nicht flüssig. Da Frau Kyoura in mehr als einem Haus Wohnungen besaß, musste sie das auch verwalten. Es kam oft kurzfristig zu Terminen, die dann auch bis in die Nacht dauerten. Für Kiryu war das meistens kein Problem. Wenn Frau Kyoura abends einen dieser Termine hatte, passte Kiryu immer in Frau Kyouras Wohnung auf Hanako auf. Es war schon eine merkwürdige Beziehung zwischen ihnen dreien. Da es bis jetzt aber noch keine Nachteile für Kiryu gegeben hatte, beschwerte er sich auch nicht. Von der Band wusste niemand von seinem Babysitter-Job. Wenn er auf Hanako aufpassen musste und die Band wollte proben, sagte er ihnen, dass er arbeiten musste. Es war zwar nicht sein eigentlicher Job, ganz falsch war die Aussage aber auch nicht. Er scheute sich davor den anderen zu sagen, dass er ab und zu auf Hanako aufpasste. Wieso das so war, konnte er allerdings nicht sagen. Vielleicht aus Angst, dass sie sich über ihn lustig machen würden: Er, der sein eigenes Leben kaum auf die Reihe bekam, sollte auf ein kleines Kind aufpassen?! Das klang selbst in seinen Ohren lächerlich. Eines nachmittags traf er auf dem Heimweg allerdings auf Haru. Kiryu war die Begegnung äußerst unangenehm, da er ein Geschenk für Hanako dabei hatte. Es waren nur ein paar Mochis in einer süßen Verpackung. Aber das warf bei Haru einige Fragen auf, das konnte ihm Kiryu vom Gesicht ablesen. „Hi, Kiryu. Hast du heute frei?“ „Hi, Haru. Ja, wie es aussieht schon.“ „Klasse! Dann haben heute ja alle Zeit zum Proben.“ Und mit Blick auf das Geschenk in Kiryus Händen fragte er: „Ist das für deine Freundin?“ „Nein, ich... äh...“ Kiryu atmete einmal tief ein und erzählte dann von Hanako. Haru war sichtlich beeindruckt und gestand ihm schließlich: „Wow, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ „Ich mir auch nicht.“ Taro und Ryo erfuhren am selben Abend von Kiryus Zweitjob. Überrascht waren sie alle, aber niemand hatte einen dämlichen Spruch heraus gehauen, wofür Kiryu sehr dankbar war. Und jetzt konnte er endlich offen sagen, wenn er auf Hanako aufpassen musste. Das machte vieles unkomplizierter. Die letzten zwölf Monate waren schnell vergangen. Hanako war inzwischen ein fester Teil seines Lebens – oder vielmehr: Er war ein fester Teil von Hanakos Leben. Manchmal fragte er sich allerdings, ob es wirklich so gut für die Kleine wäre, dass sie so viel Zeit mit ihm verbrachte. Er konnte sich geradeso diese winzige Wohnung leisten, war trotzdem meistens klamm bei Kasse und hatte keinen festen Job – kein sonderlich gutes Vorbild. Aber Hanako mochte ihn trotzdem. Sie konnte das alles noch gar nicht begreifen und fand es einfach nur großartig, dass ihr Wahlbruder so viel Zeit für sie hatte. Die Kleine hatte wirklich einen Narren an ihm gefressen. Die ersten Wochen hatte es Kiryu gestört von Hanako so bezeichnet zu werden. Inzwischen fand er diese plötzliche Verwandtschaft gar nicht so schlecht. Denn oft genug wurde er dadurch aus einer Schleife der immer gleichen Gedanken gerissen. Und besser als seine eigentliche Verwandtschaft war es allemahl. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)