Reboot von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 3: Defragmentation -------------------------- 3. Defragmentation „Und was genau hast du jetzt vor?“, fragte Yugi sein ehemaliges Alter Ego, als er am Wochenende mit ihm und Ryou zusammen in einem kleinen Café platzgenommen hatte. „Was genau meinst du?“, erkundigte sich Atemu in gespieltem Unwissen. „Na, in Bezug auf Kaiba. Wie willst du jetzt an die Sache rangehen? Was genau willst du ausprobieren, um seine Erinnerungen zurückzuholen?“ „Ich … dachte, das entscheide ich relativ spontan“, der ehemalige Pharao rührte elegant in seinem Cappuccino, sein Blick jedoch haftete angestrengt auf seiner Tasse, „Mokuba hat da wohl etwas für uns organisiert, einen Tisch in einem Restaurant. Und den Rest können wir gemeinsam entscheiden, sobald wir miteinander warmgeworden sind.“ Yugi und Ryou warfen sich einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu, der Atemu nicht entging. Entnervt atmete er aus und rollte mit den Augen. „Was? Was genau ist euer Problem? Nun rückt endlich raus mit der Sprache, statt nur um den heißen Brei herumzureden.“ Yugi seufzte. „Nichts, nur … ich denke, es wäre vielleicht besser, du würdest dich nicht weiter in diese Geschichte einmischen.“ Nun richteten sich Atemus herrschaftliche Augen auf ihn. „Ach ja, und was spricht deiner Meinung nach dagegen?“, fragte er pikiert, aber ruhig. „Ich weiß, du erhoffst dir hiervon viel“, mischte sich nun Ryou in das Gespräch ein, „und ich verstehe dich ja irgendwo auch. Aber … der ganzen Sache ist nicht zu trauen. Ihm ist nicht zu trauen. Das weißt du doch genauso gut wie wir. Und du weißt ebenfalls, dass es nicht so bleiben kann, wie es jetzt ist. Kaiba wird wieder zu dem zurückkehren müssen, was er vorher war. Was er im Grunde nach wie vor ist.“ „Wir möchten doch nur nicht, dass du verletzt wirst“, fügte Yugi hinzu, während sein warmer Blick fürsorglich auf dem Pharao lag, „oder dass jemand anderes durch all das hier verletzt wird.“ Mit einem unangenehmen Quietschen schob Atemu seinen Stuhl zurück und erhob sich abrupt. „Ich bin heute nicht hergekommen, um mir eure Moralpredigten anzuhören“, sagte er mit Stolz in seiner sonst so sanften und warmen Stimme, „wenn ihr sonst nichts zu sagen habt, dann entschuldigt mich bitte. Ich habe einen Termin mit Kaiba wahrzunehmen.“ „Atemu, bitte! So sehr du dich auch dagegen wehrst, du musst …!“ Doch den Rest hörte Atemu bereits nicht mehr. Er nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Luft und versuchte, sein Gemüt zu beruhigen. Erinnerungen an Ereignisse der letzten Jahre übermannten ihn mit einem Mal. Schließlich beschloss er kurzerhand, vor seinem Treffen mit Seto Kaiba noch einen Abstecher in den Park zu machen, um seine Gedanken zu ordnen. ~*~ „Yugi!“, Atemu drehte sich um, als er Setos kalte, schnarrende Stimme hinter sich vernahm. Obwohl nicht sein eigener Name gefallen war, wusste der Pharao, dass er der Angesprochene war. Der Firmenbesitzer, der zuvor abseitsgestanden hatte, war an die kleine Gruppe herangetreten, die gerade ihren Sieg über Dartz und die Freude über die abgewendete Bedrohung auskostete. Atemu blickte seinem Rivalen mit offener Haltung entgegen. So, wie er es immer tat. So, wie bei ihrem ersten Duell in der heutigen Zeit, bei dem er sich gezwungen gesehen hatte, Setos Seele zu zersplittern, um dem Geschäftsmann einen neuen Zugang zu sich selbst zu eröffnen. So wie in dem Moment, in dem sie sich im BattleCity-Halbfinale erneut gegenübergestanden hatten und in dem ihrer beider Gedanken zu den Ereignissen im alten Ägypten zurückbefördert worden waren. Und so wie bei all den Kämpfen, die sie Seite an Seite bestritten hatten. „Ich stehe schon wieder in deiner Schuld und das gefällt mir nicht“, eröffnete Kaiba ihm trocken, „danke jedenfalls, dass du das Duell für mich zu Ende gespielt hast.“ Atemu nickte. Er mochte es selbst ebenfalls nicht, wenn man anderen etwas schuldig blieb, obwohl es für ihn heute selbstverständlich gewesen war, Kaiba zu helfen. „Kein Grund, mir zu danken. Unsere Decks haben sich heute wirklich hervorragend ergänzt“, sagte er lächelnd. Er zögerte einen Augenblick und atmete einmal tief durch, bevor er sich ein Herz fasste und mit sanfter Stimme und etwas leiser hinzufügte: „Aber – wenn du dich so dringend bei mir revanchieren willst: Wie wäre es, wenn wir diese Karten-Kombos bei Gelegenheit mal etwas ausfeilen, wenn es nicht darum geht, die Welt zu retten?“ Mit einem Mal pochte sein Herz heftig gegen seine Brust und er versuchte, aus Setos eisblauen Augen zu lesen, wie dieser seinen unerwarteten Vorschlag aufnahm. In seinen versteinerten Zügen versuchte er, auch nur die geringste Regung zu erhaschen. Doch Kaibas Blick blieb hart und sein Mund verzog sich zu einem überheblichen Grinsen. „Denkst du allen Ernstes, ich habe Interesse daran, dir mehr Einblick in meine Strategien zu geben, als es heute nötig war, und dir damit einen Vorteil gegen mich zu verschaffen? Das könnte dir so passen! Das nächste Mal, wenn unsere Karten im selben Raum zum Einsatz kommen, wird es bei meiner Revanche gegen dich sein, lass dir das gesagt sein!“ Damit wandte er sich abrupt ab und kehrte zu seinem Bruder zurück. Atemu sah ihm mit einem wehmütigen Gefühl nach. Es war nicht direkt Enttäuschung, die er verspürte. Nein, im Grunde hatte er gar nichts anderes erwartet. Und doch war da jedes Mal, wenn sie miteinander zu tun hatten, dieser unvermittelte Wunsch, Kaiba näher zu sein, als er es bisher war. Diese Neugier darauf, was für ein Mensch zum Vorschein kam, wenn man die unüberwindbare Barriere aus vorgetäuschter Unantastbarkeit durchbrach. Und ein unbändiger Ehrgeiz erwachte ihn ihm, derjenige zu sein, dem dieses Meisterstück gelang. Ein Ehrgeiz, der lange absolut absurd schien, da er selbst für Seto als eigenständige Person unsichtbar war. Da es in seinen Augen nur Yugi Muto gab. Deshalb hatte Atemu lange nicht die geringste Möglichkeit gesehen, wie sein Vorhaben für ihn zu bewerkstelligen war. Ja, nicht einmal, nachdem er endlich einen eigenen Körper und damit ein eigenes Leben gewonnen hatte und Seto hatte erkennen müssen, dass Atemu als eigenständige Persönlichkeit neben Yugi existierte und dass uralte Verstrickungen sie beide verbanden. Bis zum heutigen Tag. Denn von einem auf den anderen Moment hatte sich plötzlich diese Möglichkeit aufgetan. Ein lange verschlossene Tür hatte sich für ihn geöffnet. Und nun lag es ganz in seiner Hand, was er daraus machte. Und auch wenn ihm Setos heftige Reaktion auf sein Erscheinen zuerst einen großen Schrecken eingejagt und viele Zweifel heraufbeschworen hatte und es sein erster Impuls gewesen war, die Sache auf sich beruhen zu lassen – insgeheim wusste er, dass er zu entschlossen war, um diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Ganz egal, wie viele Warnungen Yugi oder Ryou auch aussprachen und welche Konsequenzen sein Handeln nach sich ziehen würde. Mit dieser Entschlossenheit erreichte er schließlich nach einem kleinen Umweg das Kaiba-Anwesen und zögerte nicht, an dem mächtigen, beeindruckenden Tor klingeln. ~*~ Draußen dämmerte es bereits, als sie einander in einem mehr als noblen Restaurant gegenübersaßen und ein Kellner ihnen eine Vorspeise brachte, die man auf dem Teller mit der Lupe suchen musste und deren Namen sie beide nicht einmal hatten aussprechen können. „Weißt du“, entschuldigte sich Seto ein wenig verlegen, „Mokuba hat das hier ausgesucht. Ich bin mir nicht so sicher, was er sich dabei gedacht hat. Ich weiß, dass ich in meinem neuen … in meinem jetzigen Leben – finanziell gut aufgestellt bin. Trotzdem fühlt sich das hier für mich momentan genauso ungewohnt an wie für dich auch.“ „Vermutlich“, äußerte Atemu einen Verdacht, „wollte dein Bruder einfach nicht, dass man dich in einem normalen Laden ausfindig macht und es noch mehr Schlagzeilen über dich gibt als ohnehin in den letzten Tagen schon.“ „Das ist gut möglich“, nickte Seto und malte nervös mit dem Finger Kreise auf seiner Stoffserviette. Atemu wusste, es war jetzt an ihm, die Initiative zu ergreifen und dafür zu sorgen, dass Seto sich wohlfühlte. Erst in den Sekunden, bevor ihm das Tor des Anwesens geöffnet worden und er über das Gelände zur Kaibavilla geschritten war, war ihm bewusst geworden, wie sehr er sich davor fürchtete, dass Setos Reaktion auf seinen Besuch dieses Mal ähnlich ausfallen würde wie beim letzten Mal. Doch glücklicherweise waren die körperlichen Symptome ihres ersten Kontakts diesmal ausgeblieben. Allein das ließ Atemu Mut schöpfen. „Also schön, dann schieß mal los: Woher kennen wir beide uns nun, wenn nicht aus der Schule? Nachdem es mich bei unserem ersten Treffen buchstäblich umgehauen hat, bin ich natürlich mehr als neugierig.“ Der Firmenchef lächelte nun schüchtern und hob den Blick, was dem Pharao ein flattriges, warmes Gefühl in der Magengegend bescherte. „Bist du denn bereit für die ganze Geschichte?“, fragte er schmunzelnd und in seinen Augen blitzte ein verschmitzter Funke auf. „Tja, schwer zu sagen ohne den geringsten Anhaltspunkt“, seufzte Seto, „aber was solls. Rück schon raus damit. Ich möchte alles wissen, was mir helfen kann. Und bitte lass nichts aus.“ Etwa zehn Minuten später beendete Atemu seinen Bericht. Während er geredet hatte, hatte er die ganze Zeit über aufmerksam Setos Gebaren beobachtet. Aber weder hatte es den Anschein erweckt, dass seine Worte bei seinem Gegenüber irgendwelche Erinnerungen an die Oberfläche befördert hätten, noch wirkte Seto von dem eben Gehörten sonderlich verblüfft oder aus der Bahn geworfen. „Und … du sagst also, ein Vorfahre von mir war ein Hohepriester im alten Ägypten? Und das ist der Grund, warum unsere Leben auch in der Gegenwart eng miteinander verwoben sind?“ „Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können“, bestätigte Atemu beklommen was Seto wiederholt hatte und fügte dann hinzu: „Du wirkst nicht sonderlich überrascht. Die Geschichte ist wohl zu abstrus, um sie überhaupt ernstzunehmen, was?“ „Nein, das … das ist es nicht“, Seto schüttelte langsam den Kopf, „es ist nur: Bisher habe ich zu wenig Informationen, um mir eine Meinung darüber zu bilden. Ich habe jedenfalls noch keine Anhaltspunkte, die deiner Aussage widersprechen. Außerdem scheint Mokuba an das zu glauben, was du sagst, was ebenfalls dafürspricht, dass es damit eine Bewandtnis hat.“ Atemu lächelte. Innerlich hatte er sich bereits auf heftigen Protest von Setos Seite eingestellt. Dass dieser seinen Behauptungen so offen gegenüberstand, erschien ihm wie ein abstruser Traum. Viel zu surreal, um wahr zu sein. Für einige Sekunden sahen sie sich einfach nur an, während das eben Gehörte bedeutungsschwanger zwischen ihnen im Raum stand. Atemus mysteriöse Augen strahlten nun eine Wärme aus, die auch Seto nicht kaltzulassen schien. Jedenfalls ließ der Firmenbesitzer abwesend sein Glas sinken und musterte den Pharao neugierig von seiner Seite des Tisches aus. „Weißt du“, ergriff Atemu erneut das Wort, „ich war vor einigen Jahren in einer ganz ähnlichen Situation wie du jetzt. Ich konnte mich nämlich an meine Vergangenheit als antiker Herrscher lange nicht erinnern.“ „Ach“, Seto zeigte sich überrascht. Atemu nickte. „Ja und deshalb kann ich sehr gut nachvollziehen, wie du dich fühlst. Diese Unruhe und das Gefühl, dass alle anderen besser zu wissen glauben, wer man ist, als man es selbst weiß.“ „Ja, das trifft es tatsächlich verdammt gut“, gab Seto verwundert zu. „In dieser Situation wurde ich von Yugis Schulfreundin Téa auf ein ähnliches Treffen geschleift wie du heute von mir“, lächelte der Pharao, „und nach einigen peinlichen Abstechern auf der Shopping-Meile und in der Spielhalle gab es dann tatsächlich doch noch einen Programmpunkt, der mir sehr geholfen hat.“ „Und welcher war das?“, fragte Seto interessiert. „Ich würde es dir gerne zeigen, wenn du damit einverstanden bist“, entgegnete Atemu. ~*~ Dreißig Minuten später standen sie im Domino-Museum in derselben Halle, in der Atemu und Téa an ebenjenem Abend gestanden hatten, als Kaiba seinerzeit den Start des BattleCity-Turniers verkündet hatte. Vor ihnen befand sich die riesige Steintafel, die auch Atemu damals erste Anhaltspunkte zu seiner Vergangenheit hatte geben können. Und zu seiner Verbindung mit Kaiba, die seine Vergangenheit und Zukunft bestimmte. Wie damals war der Raum wie ausgestorben und ihre Schritte hallten an den Wänden wider. „Ich bin dir vielleicht keine große Unterstützung, wenn es um die Erinnerungen an deine Jugend geht. Dabei kann dein Bruder dir sicher besser helfen. Aber ich kann dazu beitragen, dass du besser verstehst, warum einige Dinge in deinem Leben geschehen sind“, sagte Atemu leise. Er stand dicht neben Seto, der mit offenem und analytischem Blick die Gravuren auf dem Stein begutachtete. „Das hier bist tatsächlich eindeutig du“, stellte er fest, indem er auf Atemus steinernes Abbild zeigte, „aber was ihn hier betrifft“, er machte eine Handbewegung in Richtung des Kontrahenten des Pharaos, „bin ich mir weniger sicher. Im Grunde könnte das jeden darstellen. Und trotzdem …“ Atemu wandte den Kopf zu ihm um und versuchte aufmerksam, seine Züge zu lesen. Langsam fuhr Seto fort: „... trotzdem fühlt es sich an, als hättest du Recht mit dem, was du sagst.“ Atemu nickte bedächtig. In seinen Erinnerungen flackerte der Moment auf, als er selbst damals an Téas Seite hier gestanden hatte. Da war eine innere Stimme gewesen, die ihm gesagt hatte, dass all das, was er hier sah, tatsächlich mit seinem eigenen Leben verknüpft war. Und insgeheim hatte er sich erhofft, dass Seto heute genau diese Stimme in sich entdecken würde. Glücklicherweise schien er damit nicht zu hoch gepokert zu haben. Ganz behutsam streckte er seinen Arm aus und berührte mit seinem Zeigefinger Setos kühle Hand, wartete anschließend ab, ob dieser vor seiner Geste zurückschreckte. Aber nichts geschah. Also legte er schließlich seine eigene Hand über Setos. „Ich werde alles versuchen, um dir zu helfen, herauszufinden, wer du in den letzten Jahren – und Jahrtausenden – warst“, sagte er. Und er wollte es wirklich, wollte Seto diese Bürde nehmen, die so schwer auf dessen Gemüt lag und ohne die er sich wieder vollständig fühlen konnte. Und gleichzeitig fürchtete Atemu sich vor dem Augenblick, an dem mit all den Erinnerungen auch Setos dicker Schutzwall zurückkehren würde. Er war sich sehr genau darüber bewusst, dass jedes weitere Detail, das er an den Firmenchef herntrug, binnen kürzester Zeit alles zerstören konnte, was er durch diese Situation gewonnen hatte. Die Augenlider des Firmeninhabers flatterten jetzt ein paar Mal, bevor er sich Atemu zuwandte. „Danke“, sagte er, „ich denke, das bedeutet mir etwas.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)