Reboot von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 15: Data Leaks ---------------------- 15. Data Leaks „Du hast mir letztens nicht die ganze Wahrheit erzählt“, begann Zigfried unvermittelt, als er neben Seto im Aufzug stand und darauf wartete, dass dieser in der obersten Etage der KaibaCorporation angelangte. „Wie bitte?“, entgegnete Seto verwirrt und in Gedanken bereits bei seiner Arbeit, „was soll das nun wieder heißen?“ „Na, du hast mir gesagt, dass du mal mit diesem Atemu liiert warst –“ „Du meinst, du hast es unter Folter aus mir herausgequetscht“, warf Seto knurrend ein, doch Zigfried ignorierte den Einwand, „– und dass ihr euch am Ende auseinandergelebt habt“, beendete er seinen Satz. Bei den letzten Worten zeigte er virtuelle Anführungszeichen in der Luft. „Korrekt“, nickte Seto, „und was soll daran bitte nicht stimmen?“ Zigfried wandte sich ihm nun zu und musterte ihn eindringlich von der Seite. Der Besitzer der Schroeder-Corp. trug heute einen türkisfarbenen Anzug und dazu eine bauschige rosa Schleife, die die Farbe seines Haars aufgriff. Dieses wiederum wurde mit einer zweiten Schleife in der Farbe des Anzugs in einem Zopf zusammengehalten. Nichts an seinem Erscheinungsbild war dem Zufall überlassen oder imperfekt. Was diese Dinge betraf, steckte Zigfried ebenso viel Aufwand ins Detail wie es Seto bei seinen technischen Produkten tat. Sicherlich war sein Blick deshalb gut geschult für die kleinen Teile, die fehlten, um jedes Puzzle zu vervollständigen. „Ich habe ein wenig über deinen Ex recherchiert“, sagte er jetzt trocken. Seto wurde es etwas wärmer im Gesicht, da er ahnte, dass „ein wenig“ hier eine starke Untertreibung war und Zigfried diese Arbeit gründlich erledigt haben musste. Was würde er ihm also jetzt unterbreiten? Trotzdem antwortete er lediglich mit einem unbeeindruckten „So so.“ „Er hat einen Laden gemietet mit einem gewissen Bakura, über den ich ebenfalls recherchiert habe. Und es ist geradezu faszinierend: Stell dir vor, beide werden erst vor fünf Jahren zum ersten Mal aktenkundig. Vorher scheinen sie in der bürokratischen Welt nicht zu existieren. Keine Steuer-ID, keine Sozialversicherungsnummer, keine Geburtsurkunde, keine Ausweispapiere, kein Wohnsitz, kein …“ „Ja, schon gut. Ich bin im Bilde!“, unterbrach ihn Seto rüde. „Jedenfalls“, fuhr Zigfried fort, „habe ich mich dann in das System der Steuerbehörde gehackt und herausgefunden, dass einige Einnahmen der beiden unterm Radar durchgehen. Und da dieser Atemu davon gesprochen hat, dass du etwas von ihm haben wolltest …“ Setos Mobiltelefon klingelte in seiner Tasche und er atmete dankbar auf. Eine Fügung des Schicksals hatte Zigfrieds wohldurchdachten Elevator Pitch unterbrochen. Schnell zog er das klingelnde Gerät hervor, doch noch bevor er auf dem Display nach rechts wischen konnte, fischte es ihm Zigfried aus der Hand und schaltete es aus. Dann fuhr er fort, als wäre nichts geschehen: „Ich habe außerdem mit Leon geredet und erfahren, dass Mokuba ihm erzählt hat, du und dieser Atemu hättet euch nicht ‚auseinandergelebt‘, sondern euch im Streit getrennt.“ „Zigfried, was ist dein Punkt?!“, nun riss dem Chef der KaibaCorp. endgültig der Geduldsfaden und er funkelte seinen Geschäftspartner herausfordernd an. „Mein Punkt ist“, griff Zigfried die Formulierung auf, „du hattest eine Partnerschaft, über die du bisher kein Wort verloren hast.“ „Weil es darüber nichts zu sagen gibt!“, zischte Seto ihm entgegen, „und weil es dich auch nicht das Geringste angeht!“ Der verletzte Ausdruck, der über Zigfrieds Gesicht huschte, entging ihm keineswegs, doch der rosahaarige CEO schien sich schnell wieder zu fangen. „Würdest du mir wenigstens bis zum Ende zuhören? Danke. Also, ich persönlich hätte nicht geglaubt, dass du überhaupt an einer festen Partnerschaft interessiert bist. Aber nun, da ich weiß, dass es eine gab, denke ich, dass dir eine solche Partnerschaft gerade in der aktuellen Situation guttäte. Und mir drängt sich der Eindruck auf, dass du trotz was auch immer zwischen dir und diesem Zwerg passiert ist, du nach wie vor Gefühle für ihn hast. Deshalb – und tut mir leid, wenn ich dir damit zu nahetrete – frage ich mich, ob du ihn nicht kontaktieren und herausfinden solltest, was da zwischen euch noch ist oder sein könnte!“ „Zigfried, das hier geht entschieden zu weit!!“, blaffte Seto ihn jetzt ungehalten an. Wäre ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur, hätte er Zigfried nach diesen Äußerungen in hohem Bogen von der Security aus dem Gebäude befördern lassen, „und noch dazu ist es absoluter Blödsinn! Für mich ist diese Sache schon seit Ewigkeiten abgehakt. Und was bildest du dir überhaupt ein, dich auf so anmaßende Weise in mein Privatleben einzumischen?! Ich hätte wirklich mehr Taktgefühl und Benehmen von dir erwartet, Zigfried. Seit wann führst du dich auf wie der letzte Neandertaler?!“ Das melodische Pling des Aufzugs ertönte und die elektrische Tür öffnete sich fast geräuschlos. Sie waren in der obersten Etage angekommen, aber keiner der beiden schien es wahrzunehmen oder Anstalten zu machen, die fahrende Kabine zu verlassen. Stattdessen trat Zigfried einen Schritt auf Seto zu, sodass sich ihre Gesichter fast berührten. Seine Miene war so grimmig und ernsthaft, wie Seto sie noch nie zuvor gesehen hatte. „Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass ich hier meine sozialen Befugnisse überschreite“, sagte er und es war kaum mehr als ein Flüstern, „aber drastische Situationen erfordern manchmal drastische Maßnahmen. Und mir ist es ein dringendes Anliegen, dass du herausfindest, was du für diesen Atemu empfindest. Denn wie ich schon sagte, glaube ich, dass eine Partnerschaft dir guttäte – und ich glaube obendrein, dass ich ein wesentlich besserer Partner für dich wäre als dieser Atemu es jemals sein könnte. Dennoch werde ich keine weiteren Schritte dahingehend unternehmen, wenn du nicht dein vorheriges Beziehungsleben entwirrt und jeden Faden dahin gekappt hast. Denn alles andere wäre unter meiner Würde! Sollte sich also herausstellen, dass du mit diesem Atemu glücklich werden kannst, dann freue ich mich aufrichtig für dich. Aber sollte sich zeigen, dass diese Beziehung toxisch ist und er dich lediglich mit seiner mystischen Art um seinen Finger wickelt, dann kann ich dir nur eindringlich raten, dass du die Sache mit ihm abhakst – und zwar ohne Schlupfloch. Und dass du dir jemanden suchst, der es ernst mit dir meint!“ Mit diesen Worten drehte er sich elegant auf dem Absatz um und verließ mit einem „Und nun zum Geschäftlichen“ den Aufzug in Richtung Setos Büro. Es war einer der wenigen Momente in Setos Karriere, in denen ihm tatsächlich der Mund offenstand. Zigfrieds erschütternde Ehrlichkeit hatte ihm für einige Sekunden die Sprache verschlagen und in seinem Inneren kämpften Ärger und Respekt um die Oberhand. Es kostete schon viel Mut, die eigenen Absichten so offen zu äußern. Wenn es um die Verbalisierung seiner Gefühle ging, konnte sich Seto mit einer solchen Offenheit selbst nicht gerade rühmen. Zigfried schien einen heißen Draht zu sich selbst zu haben und sich über seine eigenen Emotionen ganz genau bewusst zu sein. Vielleicht war dieses dämliche Meditieren doch für irgendwas nütze. ~*~ Eine undefinierbare, nicht aggregierte, dunkle Materie umhüllte fast schmeichlerisch Bakuras linke Hand, während er in seiner rechten eine kleine bauchige Phiole festhielt. Gekonnt ließ er mit der Linken einen kleinen Teil der manifestierten Magie in das Behältnis fließen, verkorkte es dann routiniert und griff sich ein weiteres, um den Vorgang zu wiederholen. Einige dieser Gefäße mit herumwabernder Magie reihten sich bereits auf dem Esstisch der kleinen WG. Atemu saß neben Bakura und füllte Pralinenförmchen zur Hälfte mit Schokolade, die er aus einer Aluminiumkanne goss. Schließlich stellte er die Kanne weg und konzentrierte sich auf den Zauber, der die Pralinen wortwörtlich füllen sollte, bevor sie mit einer weiteren Schicht Schokolade verschlossen wurden. Es war fast ein allabendliches Ritual geworden, dass die beiden so beeinandersaßen und konsumierfreundliche Magie herstellten. Atemu blendete alles um sich herum aus, bis er nur noch die Magie spürte, die er durch sein Milleniumspuzzle in seinem Körper freisetzen und durch ihn in der realen Welt manifestieren konnte. Bakura konnte seine Zauber bereits völlig ohne die Hilfe seines Milleniumsgegenstands wirken, aber Atemu schien noch nicht die Zuversicht zu haben, dass diese Kraft wirklich aus ihm selbst entsprang und der Gegenstand nur als Katalysator diente. Als nächstes musste er sich darauf fokussieren, was seine Kräfte in der Welt bewirken sollten. Doch heute fiel ihm das zusehends schwer. Ständig drängten sich ungewollte Gedanken und Fragen in seinem Inneren auf und störten die intentionale Präzision, die der Zauber voraussetzte. Verärgert und ungeduldig begann er schließlich dennoch, die Magie aus seiner Fingerspitze in die erste Praline fließen zu lassen, als plötzlich sein Handgelenk gepackt wurde und der magische Strom abrupt versiegte. Atemu öffnete überrascht seine Augen. „Willst du deine Kunden vergiften? Was du ds produzierst ist der letzte Schmu!“, herrschte Bakura ihn grimmig an und ließ sein Handgelenk los. Der Pharao senkte zerknirscht den Kopf. „Du hast Recht. Ich bin heute irgendwie unkonzentriert“, gab er zu und schob die Förmchen beiseite. Vermutlich hatte es heute wirklich keinen Zweck mehr, sein Werk zu beenden. „Und warum das?“, fragte Bakura, doch in seinem Ton schwang mit, dass er nicht wirklich erpicht darauf war, die Antwort zu erfahren. Der ehemalige Pharao gab sie ihm dennoch, einfach weil er das Bedürfnis hatte, sich jemandem mitzuteilen und Bakura immer seine erste Anlaufstelle dafür war: „Seto hat mich für morgen um ein Treffen gebeten.“ „Aha“, stellte Bakura frostig fest. „Ich weiß, du wirst nicht begeistert von der Idee sein –“ „Das hast du gut erkannt“, warf Bakura knurrend ein, „– aber so ganz verstehe ich es eigentlich nicht“, beendete Atemu den Satz, „ich meine immerhin warst du doch derjenige, der damals schon nicht über meinen Erinnerungszauber geurteilt hat. Wieso spielst du jetzt plötzlich den Moralapostel?“ „Das stimmt wohl“, entgegnete Bakura, während er eine weitere Phiole füllte und seinen Blick auf ihr geheftet ließ, „aber das heißt ja nicht, dass ich dich dieses Mal nicht davor warnen kann, die dieselbe Falle zu tappen. Du hattest deinen Spaß mit Kaiba, du hast ihn einmal für dich erobert, mithilfe von etwas Magie. Brauchst du das jetzt wirklich noch ein zweites Mal? Verstehst du nicht, dass du nur wieder eine Gelegenheit witterst, ihm nochmal dein Schmetterlingsnetz überzuwerfen und dir zu beweisen, dass du es auch ohne Zauber kannst? Warum sonst bist du ihm hinterhergerannt und hast ihm dieses Amulett gebracht – das ganz nebenbei mir gehört hat.“ „Du meinst, das du aus einem Grab entwendet hast, nachdem es eigentlich jemand anderem gehört hat?“, korrigierte ihn Atemu streng. „Wie auch immer. Das ist doch jetzt völlig unwichtig“, wischte der Dieb den Einwand weg, „jedenfalls ist es doch völlig leicht vorherzusagen, was passieren wird: Kaiba wird sich morgen bei dir bedanken, weil dein kleiner Schutzzauber seinem Bruder geholfen hat. Dann wirst du ihm sagen, dass du dich freuen würdest, wenn ihr in Zukunft wieder friedlich koexistieren könntet. Kaiba wird dich, von deinem Charme und seiner jahrtausendelangen, tiefgreifenden Anziehung zu dir geblendet, zum Essen einladen oder irgendwas in der Art. Und schon geht der Eroberungszug von vorne los.“ „Und wenn es so wäre?!“, wurde Atemu nun lauter, „wieso sollte das denn unbedingt etwas Schlechtes sein? Warum kann aus dem Wunsch, jemanden für sich zu gewinnen, nicht eine stabile Beziehung erwachsen!?“ Bakura stellte nun das Glasgefäß weg, das er soeben zur Hand genommen hatte, und richtete seinen Blick auf den ehemaligen Pharao. Atemu spürte sofort, dass die Atmosphäre im Raum sich abrupt veränderte. Wild und mit unstetem Blick funkelte ihn der Ringgeist an und die Magie, die seine Hand zuvor nur hatte mystisch glimmen lassen, loderte jetzt als dunkle, hungrige Flamme in seiner Handfläche auf. Diese schien von Bakuras Zorn genährt zu werden und schnell zu wachsen. „Weil es zu nichts führt und weil es so viele andere Dinge für dich gibt, die dich der Mensch sein lassen, der du wirklich bist!“, erhob der Grabräuber nun seine Stimme, „und es macht mich so unsagbar wütend, dass du das noch nicht selbst erkannt hast nach all diesen Monaten! Und nach allem, was wir uns aufgebaut haben! Ich kann nicht glauben, dass du das einfach so wegwerfen willst!“ Der ehemalige Pharao hatte seinen Mitbewohner nie so bewegt gesehen. Bakura war sonst stehts gefasst, zynisch, fast gleichgültig. Die jetzige Situation bildete einen krassen Kontrast dazu. Durch seine warmen rotbraunen Augen war nie zuvor so viel von seinem Inneren gedrungen wie in diesem Moment, in dem sich ihre Blicke ineinander verhakten. „Aber das will ich doch gar nicht!“, protestierte Atemu nun, „Ich verstehe nicht, wie du darauf kommst, dass diese Dinge sich gegenseitig ausschließen. Es ist doch nicht so, dass nicht beides einen Platz in meinem Leben haben kann.“ „Doch, genauso ist es!“, widersprach Bakura lautstark, „du kannst nicht tun, was du jetzt tust, und gleichzeitig in Dominos ehrenwerter High Society verkehren. Sei doch nicht so naiv und mach endlich die Augen auf!! Sei ein einziges Mal ehrlich mit dir selbst! Im Grunde ist es dir immer noch wichtig, gesellschaftlich rehabilitiert zu werden. Obwohl ich es absolut nicht verstehe! Ich meine, was erhoffst du dir davon? Was soll am Ende dabei herauskommen?! Willst du dein gesamtes restliches Leben mit Kaiba in einer Villa residieren und la dolce Vita genießen? Wenn du ein solcher Heuchler bist und es die ganze Zeit über das war, was du wolltest, dann kannst du dich auch gleich aus dem Staub machen! Dann sind wir fertig miteinander!“ Nicht nur Bakuras Hand, sondern sein gesamter Körper glomm nun unheilverheißend und eine feindselige, wilde und ungezähmte Magie schlug dem Pharao entgegen, die offenbar von Bakuras aufgewühlten Gefühlen entfesselt worden war. Und vielleicht von etwas anderem. Plötzlich begriff Atemu, wie verwundbar Bakura im Grunde doch war. Und diese Erkenntnis hinderte ihn daran, weiter mit ihm zu streiten. Statt weiter zu widersprechen oder Bakuras Aufforderung nachzukommen tat er das Erste, was ihm in den Sinn kam. Er streckte beide Hände nach seinem Freund aus und schloss sie um dessen Hand, auf der noch immer bedrohlich die dunkle Flamme züngelte. Wie ein Blitzschlag zuckte es durch Atemus Körper, als er mit Bakuras mächtiger Magie in Berührung kam. Unverkennbar nahm er dessen magische Signatur wahr und realisierte gleichzeitig, wie ähnlich seine eigene ihr bereits war, wie sehr sie sich in den letzten Monaten aufeinander eingestimmt hatten. Durch diese magische Verbindung fühlte er jetzt mehr und mehr Nuancen von Bakuras Gefühlswelt. Wie bei einem Wein, der in Mund langsam sein aussagekräftiges Aroma entfaltet. Und trotzdem ließ er nicht los. Durch die lodernde ausschlagende Kraft hindurch umschloss er Bakuras Hand fest mit seinen beiden Händen, bis er durch die dunkle Kulmination dessen warme Haut spüren konnte. Lautlos leckten die Flammen an ihrer beider Hände hinauf und versuchten, sich freizukämpfen. Doch Atemu ließ sich nicht beirren und blieb ruhig sitzen. Mit seinem Daumen strich er über Bakuras Handrücken. Und ganz allmählich verebbte die finsterr Macht, zog sich unter Bakuras Haut zurück, bis schließlich nichts mehr davon sichtbar war. Seine Emotionen schienen sich wieder in sein Innerstes zurückgezogen zu haben. Noch immer hielt Atemu Bakuras Hand, bis dieser sie ihm schließlich abrupt entwand, sich erhob und die Küche verließ. Auf seinem Zimmer trat der ehemalige Grabräuber ans Fenster und brauchte einen Moment, um sich zu sortieren. Er begriff selbst nicht, was eigentlich in ihn gefahren war. Im Grunde war es ihm vollkommen egal, wer sich für ihn interessierte oder sich mit ihm abgab. Er hatte nie jemanden gebraucht und arbeitete gerne allein. Er war es gewohnt, von allen misstrauisch und angewidert beäugt zu werden, und fand sogar Gefallen daran, dass alle ihn fürchteten. Dass ausgerechnet der ehemalige Pharao ein Teil seines Lebens geworden war, war absolut nicht geplant gewesen. Dennoch war es passiert. In seinen verletzlichen, tiefgründigen Augen hatte Bakura plötzlich dieselbe Verlorenheit und Missverstandenheit wahrgenommen, die er selbst sein Leben lang mit sich trug. Er hatte gespürt, dass sie verwandte Seelen waren, weit weg von ihrer Heimat. Und er hatte es mit dem Angebot einer Geschäftspartnerschaft auf einen verrückten Versuch ankommen lassen. Und es hatte funktioniert. Und nun hatte er sich irgendwie an Atemus Anwesenheit gewöhnt. Er hatte Gefallen daran gefunden, dass da jemand war, der ihn nicht abschätzig und furchtsam ansah, sondern wie einen gewöhnlichen Menschen. Dass Atemu ihn betrachtete wie jemanden, der es wert war, sich mit ihm abzugeben, und den man vielleicht sogar gernhaben konnte. Und der Gedanke, dies alles wieder zu verlieren – und somit wieder zu dem menschenunwürdigen, verhassten Wesen zu werden – zerriss ihn innerlich geradezu. Aber am schlimmsten war die Erkenntnis, dass er selbst und das Leben, das sie führten, Atemu offenbar nie würden genügen können. Denn dadurch fühlte er sich wertloser denn je. Er begriff nicht, was dem Pharao in seiner Existenz noch fehlte. Denn Bakura konnte deutlich sehen, dass es ihm seit seiner Trennung von Kaiba bessering und dass er mehr in sich ruhte. Warum wollte er also jetzt plötzlich etwas daran ändern, nur um diesem nichtssagenden Eiswürfel wieder näher zu sein, der Atemu im Grunde gar nicht kannte und ihn auch niemals würde auch nur im Geringsten verstehen können? Bakura widerte es selbst an, dass er solche Gedanken hegte. Er begriff nicht, wie es hatte so weit kommen können, wie er seine Schilde so hatte sinken lassen. Nun bekam er die Quittung dafür und vielleicht hatte er sie verdient. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er Angst davor hatte, wieder allein zu sein. Entsetzliche Angst. ~*~ Sie saßen einander im Konferenzsaal der KaibaCorporation gegenüber. An den beiden kurzen Enden des Konferenztisches. Seto und Zigfried. Zwei hochgewachsene Männer in aufrechter Haltung. Bereit zu verhandeln. „Also, was wolltest du mit mir bereden?“, fragte Zigfried. Ihr Gespräch im Aufzug lag bereits einige Tage zurück. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Seto räusperte sich vernehmlich, dann legte er beide Hände flach auf den Tisch vor sich. „Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht“, sagte er schließlich sachlich und kühl, wie bei einer Geschäftsverhandlung, „und du hattest Recht. Ich habe nach wie vor Gefühle für Atemu. Auch wenn ich es mir nicht erklären kann. Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer ist mir geworden, dass ich mich bei meinem Besuch in seinem Laden noch immer zu ihm hingezogen gefühlt habe. Und ich muss gestehen, es ist mir mehr als lästig. Aber dennoch kann ich es nicht ändern.“ Zigfried schlug lässig die Beine übereinander. „Tja, willkommen in der Welt der Menschen, Seto. Wir sind nun mal nicht immer rational. Also schön. Verstehe ich das richtig? Haben wir demnach einen Deal?“, fragte er ebenso nüchtern. „Ja“, entgegnete Seto, „den haben wir. Ich kläre diese Angelegenheit ein für alle Mal. Und sollte ich unter die Sache mit Atemu für mich selbst einen Schlussstrich ziehen können, werde ich dich wegen eines Rendezvous kontaktieren.“ „In einem Restaurant, das meiner würdig ist, nehme ich doch an.“ „Korrekt“, bestätigte Seto. „Also gut“, sagte Zigfried, „ich gebe dir exakt einen Monat. Solltest du mir bis dahin keinen Termin für unser erstes Date nennen oder solltest du mir stattdessen mitteilen, dass du in einer erfolgreichen Beziehung mit deinem Ex bist, ist die Sache abgehakt und wir kehren zum Status Quo zurück. Wie klingt das?“ „Unkompliziert und ganz nach meinem Geschmack“, bestätigte Seto, „ziehst du es vor, dass wir einen schriftlichen Vertrag aufsetzen?“ „Nein, schon gut. Dein Wort reicht mir, wenn dir meines ebenfalls reicht.“ Vortrefflich. Das war leichter gewesen als erwartet. da Zigfried erfreulich sachlich an die Dinge heranging und geradeheraus war. Der nächste Schritt bereitete Seto wesentlich mehr Kopfzerbrechen. Und so breitete sich dieses unangenehm ungewisse Gefühl immer weiter in seinem Magen aus, je näher der Tag sich dem Ende neigte. Denn heute nach der Arbeit würde er Atemu treffen. Er hatte ihn selbst um diese Zusammenkunft gebeten und der Pharao hatte eingewilligt. Anfangs hatte Zigfrieds offene Ansprache im Lift Seto wütend gemacht und aufgewühlt. Doch je mehr Zeit ins Land strich, desto mehr hatte ihm imponiert, wie einfach die Dinge für Zigfried waren, weil er sich vollkommen klar über seine Ziele und Gedanken war. Rational betrachtet wusste er, dass er in Zigfried wohl einen zuverlässigen Partner auf Augenhöhe finden würde, sollte er auf seine Avancen eingehen. Und warum sollte er es nicht tun? Es ergab alles erstaunlich viel Sinn. Das Problem bei der Sache hatte Zigfried ebenfalls treffsicher identifiziert: Der einzige Mensch, der ihm emotional bisher den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, war der Pharao. Natürlich hatte er es versucht zu ignorieren – was auch sonst – aber Zigfried hatte den Finger in die Wunde gelegt. Diese Gefühle existierten nach wie vor. Nachdem der Kontakt zwischen ihm und Atemu abgerissen und Seto von Abscheu und Enttäuschung gegenüber Atemu eingenommen war, waren sie abgekühlt und er hatte angenommen, sie seien für immer verschwunden. Er hatte sich anderen Dingen gewidmet und sein Leben war weitergegangen. Aus den Augen aus dem Sinn. Aber die Zeit hatte dafür gesorgt, dass mittlerweile all die negativen Gefühle verblasst waren. Und nun, da sie wieder Platz für andere geschaffen hatten, war auch die Anziehung und Faszination für den Pharao zurückgekehrt. Und zwar exakt in dem Moment, als er ihn in diesem ranzigen Loch aufgesucht hatte – und erneut, als der Pharao ihm das Amulett übergeben hatte. Nun versuchte er sich ein Beispiel an Zigfried zu nehmen und zu dem vorzudringen, was er wirklich empfand. Egal, wie unangenehm der Weg dorthin war. Es war, wie wenn man ein Pflaster abzog. Zuerst tat es weh, aber danach stellte sich Erleichterung ein. So fand er schließlich heraus, dass er die Fehler des Pharaos heute anders und sachlicher bewertete als damals. Natürlich hatte er aus niederen, selbstsüchtigen Motiven gehandelt. Aber wer tat das nicht? Und konnte es nicht sein, dass der Pharao trotz allem dieselbe Zuneigung für ihn empfand, die auch Seto empfand? Warum sonst war er noch einmal zurückgekehrt und hatte ihm seine Hilfe in Form des Schutzzaubers angeboten? Ja, wenn er zum Kern der Dinge vordrang, dann wünschte er sich eigentlich, dass er Atemu nach wie vor wichtig war. Und wenn Zigfried die Dinge so deutlich beim Namen nennen konnte, dann konnte er selbst heute auch da hingehen und dasselbe tun. Er war es nicht nur sich selbst schuldig, sondern auch Zigfried, mit dem er einen bindenden Vertrag geschlossen hatte. Mit dieser angenehmen Klarheit in der Brust schritt er schließlich auf die schmale Silhouette zu, die bereits am Ufer der Halma wartete. „Hallo“, sagte er. „Hi“, grüßte Atemu zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)