Letzte Wiederkehr von MizunaStardust ================================================================================ V - V Als Seto müde in sein Bett fiel, hatte ihn ein seltsames Gefühl übermannt. Er verspürte ein unangenehmes Ziehen in seinem Bauch. Dennoch hatte er den vagen Verdacht, dass das kein Grund war, um einen Arzt aufzusuchen, sondern dass sich – und wenn es noch so abwegig schien – sein Gewissen bemerkbar machte. Womöglich war er mit seinen harschen Worten dem Pharao gegenüber doch ein wenig zu ausfallend gewesen. So ganz wusste er selbst nicht, was in ihn gefahren war. Er war wohl schlichtweg übermüdet gewesen und dieser Kerl hatte ihn einfach aufgestachelt mit seinen impertinenten Fragen. Er konnte es nicht erklären, aber seit jeher brachte ihn die Anwesenheit von Yugis anderem Ich innerlich zum Kochen. Eine tiefe Unruhe befiel ihn jedes Mal, wenn er in seiner Nähe war, und er wusste nicht, warum. Er hatte so sehr gehofft, dass er dieses Gefühl endlich würde abschütteln können, wenn er diesen langersehnten Sieg gegen ihn errang. Aber davon schien er nun ebenfalls weit entfernt, da Atem die Tragweite von Duel Monsters einfach nicht zu begreifen schien – oder sie sogar mit Absicht dementierte, um ihn zu ärgern. Und dann waren da die beiden Karten, auf die Atem ihn aufmerksam gemacht hatte. Seit die infantile Rasselbande am Nachmittag die Villa verlassen und Seto sich in sein Büro zurückgezogen hatte, lagen sie auf seinem Schreibtisch und schienen irgendwie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seto konnte das Gefühl nicht beschreiben, das ihn überlief, wenn er die Schrift betrachtete, so vertraut und doch fremdartig. Ein ähnliches Gefühl hatte er auch damals gehabt, als er den Text auf dem Geflügelten Drachen des Ra hatte entziffern können, als Bakura ihm das Milleniumsauge überlassen hatte und schließlich als sein Geist in die Erinnerungen des Pharao gezogen worden war. Eigentlich in allen Situationen, in denen der Pharao zugegen gewesen war, ob bei ihrem gemeinsamen Duell gegen Dartz oder bei dem gegen Anubis. Zum letzten Mal hatte er es dann beim finalen Spiel zwischen Yugi und dem Pharao wahrgenommen. Danach war es lange ferngeblieben und Seto hatte sich gefühlt, als habe man ihm einen Teil seines Lebens entrissen. Diese dämliche antike Magie, so verhasst sie ihm auch war, war tatsächlich zu einem Teil von ihm geworden. Als er schließlich das Milleniumspuzzle zurückgeholt hatte, war es gewesen wie nach Hause kommen. Als ob die Dinge plötzlich wieder zurechtgerückt waren. Er hatte sich vollständig gefühlt. Und dieses Gefühl hielt an, seit er Atem in seinem Haus untergebracht hatte. Als er beim Arbeiten diese Karten angestarrt hatte, war diese rätselhafte Magie schließlich wieder dagewesen. Die Zeichen auf dem Papier waren so lebendig gewesen, als wollten sie ausgesprochen werden. Er verabscheute die Existenz dieser Karten, aber gleichzeitig wurde er magnetisch von ihnen angezogen. Er wusste nicht, wie lange er ins Grübeln versunken gewesen war und die beiden Spielkarten taxiert hatte. Endlich hatte er realisiert, dass er so nicht weiterkam, wenn er an diesem Tag noch irgendwie produktiv sein wollte. Deshalb hatte er einen Entschluss gefasst: Er würde versuchen, mehr über diese Unbekannten im Duel Monsters-Universum herauszufinden. Vielleicht konnte er in Erfahrung bringen, welche Bewandtnis es mit ihnen hatte und warum sie bei ihm aufgetaucht waren. Und er wusste auch genau, wo er mit seiner Suche beginnen musste. Aber alles zu seiner Zeit. Nachdem er dies entschieden hatte, hatte er sich besser gefühlt und sich wieder konzentriert seiner Arbeit widmen können. So hatte er nicht wahrgenommen, wie spät es bereits geworden war, bis Atem schließlich hereingeplatzt war. Nachdem sie in dieser Nacht nicht gerade im Guten auseinandergegangen waren, beschloss er, das Grübeln für heute lieber sein zu lassen und seine Energie auf den morgigen Tag zu konzentrieren. *** „Du darfst dich gleich nicht erschrecken“, sagte Seto ungerührt, während er den Gurt um Atems Mitte festzog. Dann ließ er sich auf dem Sitz neben ihm wieder und drückte willkürlich, wie es Atem schien, auf einige der Knöpfe, die sich vor ihm befanden. „Was könnte mich jetzt noch erschrecken?“, murmelte sein Gast zynisch. Nachdem er die Fahrt in der Limousine überstanden hatte, hatte er den Eindruck, ihn könne so schnell nichts mehr schocken. In einem fahrenden Haus an vielen anderen fahrenden Häusern durch eine Stadt zu rollen, die aus vielen seltsam geformten Pyramiden bestand, die endlos in den Himmel ragten, war so ziemlich das Verrückteste, was man erleben konnte. Viel schlimmer konnte es nicht mehr kommen, oder? Oh doch. Es konnte. Atem saß mit einem Mal wie versteinert und krallte mit aller Kraft seine Hände in die Armlehnen, als Seto einen Hebel nach hinten zog, das Gefährt unter ihnen monströs zu jaulen und zu knurren begann und schließlich, als es ein schwindelerregendes Tempo erreicht hatte, in Schräglage ging, mit der Schnauze nach oben den sicheren Boden verließ und in den Himmel aufstieg. Noch dazu sah ihr fliegender Untergrund haargenau aus wie ein großes, blausilbernes Ungeheuer mit Flügeln. Befanden sie sich etwa in einem lebenden Geschöpf? Seto warf einen Seitenblick zu seinem Passagier hinüber, der trotz seines dunklen Teints leichenblass geworden war. „Bei den Göttern“, wisperte er, „das ist Blasphemie! Wir können nicht nach dem streben, was nur den Göttern gestattet ist!“ Seto konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Und ob ich das kann!“, feixte er, „Es gibt nämlich nichts, was ein Kaiba nicht kann! Meine Genialität und die entsprechende Technik machen es möglich!“ Atem hielt sich mittlerweile die Augen zu. „Sag mir einfach, wenn es vorbei ist“, presste er hervor. Seto lachte laut auf. „Ich sagte doch, wir machen einen Ausflug!“ „Woher sollte ich wissen, dass das wörtlich zu verstehen ist?!“, murmelte Atem. „Du solltest lieber die schöne Aussicht genießen. Hier kannst du richtig was von unserer Welt sehen. Bis wir da sind, dauert es ohnehin eine ganze Weile. Also arrangiere dich lieber mit der Situation“, riet ihm der Besitzer der Kaibacorp. „Meldet euch, wenn ihr ankommt!“, rief Mokuba ihnen von unten durch zum Trichter geformten Hände zu. Seto winkte ihm zur Bestätigung, dann wurde der jüngere Kaiba immer kleiner und kleiner und war schließlich nur mehr ein winziger Punkt. Erst nachdem Atem sich nach und nach ein wenig entspannt und seine verkrampfte Haltung abgelegt hatte, schien ihm einzufallen, dass sie ja in der gestrigen Nacht in so etwas wie einem Streit auseinandergegangen waren und er Seto die Dinge noch immer übelnahm, die er ihm an den Kopf geworfen hatte. „Wo wollen wir eigentlich hin?“, fragte er deshalb mürrisch und betont desinteressiert. „Dahin, wo wir etwas über diese beiden Karten rausfinden können“, antwortete Seto fast beschwingt. Atem blinzelte ihn verblüfft an. „Oder willst du etwa nicht wissen, was es mit ihnen auf sich hat?“ „Dann spürst du also auch, dass es damit eine Bewandtnis hat?“, fragte Atem ernst. „Blödsinn!“, log Seto, „Ich hatte nur den Eindruck, dass du gestern besorgt warst deswegen. Warum sonst hast du die Karten für Yugi und vor diesem Zausel Bakura vertuscht?“ „Ich verstehe dich nicht“, sagte der Pharao kopfschüttelnd, „jetzt ganz plötzlich tust du mir einen Gefallen, obwohl du doch eine Firma zu leiten hast? Aber warum, wenn du doch von alldem nichts wissen willst und angeblich auch nichts Ungewöhnliches spürst?“ „Naja“, sagte Seto nüchtern, „betrachte es als Investment. Wenn ich dir entgegenkomme, vielleicht bist du dann ja doch bereit, dich auf unser Duell vorzubereiten.“ Atem verdrehte genervt die Augen. „Geht das wieder los.“ Dann jedoch schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. „Warte mal: Wenn ich’s mir recht überlege: Heißt das etwa, ich habe dich in der Hand und kann alles von dir verlangen, nach was mir der Sinn steht?“ „Werd nicht übermütig“, knurrte Seto und schluckte, verunsichert darüber, wie er Atems Aussage zu verstehen hatte. „Schau lieber mal aus dem Fenster, du verpasst sonst was!“, wechselte er geschickt das Thema. Atem blinzelte hinaus und sofort stand ihm der Mund offen. Tatsächlich hatte er über ihre Diskussion seine anfängliche Todesangst vollkommen vergessen. Jetzt gerade flogen sie in gleißende Sonnenstrahlen, die sich unter ihnen in einem Fluss brachen, der sich durch eine saftig grüne Bergkette zog. Um ihr Gefährt schmiegten sich watteweiche Wolken. Atem hatte das Gefühl, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben. „Unglaublich!“, flüsterte er ehrfürchtig, „und alles sieht so anders aus als in Ägypten!“ Seto musste unwillkürlich lächeln. Die Ästhetik dieser Flüge war für ihn bereits Routine und er hatte fast vergessen, was sie in anderen auslösen konnte. Eine Weile blickte Atem stumm aus dem Fenster, völlig absorbiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Irgendwann jedoch begann er erneut ein Gespräch mit seinem Gastgeber und vergaß darüber ganz die Zeit. Er hätte nicht sagen können, wie lange sie schon unterwegs waren. *** Für Seto gab es nichts Entspannenderes, als seinen Jet zu fliegen. Leider kam er viel zu selten dazu, deshalb genoss er es jetzt umso mehr, eine längere Strecke am Steuer zu sitzen und einfach seine Gedanken schweifen zu lassen. Viele hatten sich schon über die plakative und gewöhnungsbedürftige Form seines Weißer-Drachen-Jets lustiggemacht, das war ihm bewusst. Aber das prallte von ihm ab. Er liebte Technik in einzigartiger Optik. „Alles klar. Und … wie viele Zauber- und Fallenkarten sollte man denn in einem Deck haben?“, wollte Atem gerade interessiert wissen. „Naja“, sagte Seto, „das kommt aufs Deck an. Aber die Faustregel ist: Ein Viertel Zauber- und Fallen zusammengenommen kommen auf drei Viertel Monster. Du siehst nämlich alt aus, wenn du ein Blatt ohne Monster hast. Das solltest du um jeden Preis vermeiden. Bei einem normalen Deck zumindest, nicht bei einem speziellen Structure Deck.“ Der Pharao nickte. „Verstehe. So ist das.“ Ein Lächeln schlich sich auf Setos Lippen. „Siehst du, nun weißt du doch schon einiges über die Regeln. Und du kannst es nicht wieder aus deinem Gedächtnis löschen.“ Im Laufe des Fluges hatte er seinen Erzrivalen geschickt in ein Gespräch über Duel Monsters verwickelt und sich schon zu den Grundregeln vorgearbeitet, obwohl er sich eigentlich sicher war, dass dieser es bemerkt, aber ihn nicht daran gehindert hatte. Atem lächelte nun ebenfalls verschmitzt und Setos Herz schlug ein wenig schneller, wofür er sich innerlich sofort schalt. „Nur weil ich die Regeln kenne, muss ich noch nicht gleich spielen. Ich habe ja auch gelernt, wie man kämpft, und muss deshalb noch lange keinen Krieg führen.“ „Und was machst du eigentlich den ganzen Tag so als Pharao, wenn du keine Kriege führst?“, rutschte es Seto heraus. Jetzt lachte Atem. „Ich höre Bittsteller an, prüfe Verträge, verhandle mit Gaufürsten, übe mich im Kampf, bilde mich politisch und kulturell weiter, veranstalte Feste und berate mit meinen Leibwächtern, zum Beispiel mit meinem obersten Hohepriester.“ „Seth, richtig?“, wollte Seto wissen. Bei dem Gedanken an den hochgewachsenen Hohepriester, der sein Gesicht trug, wurde ihm seltsam mulmig zu Mute. „Ja, ganz recht“, sagte Atem und ein wehmütiger Schleier legte sich kurz über seinen Blick. Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Wie auch immer – wir sind gleich da“, räusperte Seto sich. Atems Blick schnellte nach vorn. Sie steuerten jetzt auf ein Stück Land zu, das mitten im Wasser lag. Eine Insel, wurde dem Pharao klar. Etwa wie Zypern, mit dem er schon Handel getrieben hatte. „Und wo ist denn nun ‚da‘?“, wollte er fordernd wissen. „Wir statten dem Mann einen Besuch ab“, sagte Seto, „der das Kartenspiel erfunden hat.“ „Ein erwachsener Mann hat sich das ausgedacht?“, fragte Atem ungläubig. „Ob er besonders erwachsen ist, sei mal dahingestellt“, frotzelte Seto, „und wundere dich nicht. Er ist ein wenig … speziell.“ »Aber im Grunde ist das ja jeder von uns«, fügte er noch in Gedanken hinzu. Wenige Minuten später setzte Seto den Jet gekonnt sanft auf dem Boden auf. Sie hatten wieder Land unter den Füßen. Atem blickte staunend zu den endlosen Stufen hinauf, die zu einem riesigen Gebäudekomplex führten. „Ein Palast. Ist er etwa ein König?!“ „Ein selbsternannter vielleicht. Das hier nennt er zumindest das Königreich der Duellanten.“ Hoch über ihnen öffnete sich jetzt bereits das große Eingangstor und von Weitem sahen sie, wie ein Mann mit langem, silbernem Haar, gekleidet in einen weißen Anzug, heraustrat. „Sieh einer an! Wenn das nicht der kleine Kaiba ist – und der verloren geglaubte Pharao-Boy!“, rief er ihnen zu. Begeistert breitete er beide Arme aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)