Homecomer von CaroZ (Bound in Darkness 2) ================================================================================ Kapitel 3: Fracht ----------------- „Dimensionenschwingungssprengköpfe“, murmelte Yama. Er hatte geglaubt, mit diesen schrecklichen, hochzerstörerischen Waffen nie wieder etwas zu tun haben zu müssen. In ihrer besonderen Bedeutung symbolisierten sie für ihn vergangene Momente des Leids, des Vertrauensverlustes, des Endes seines früheren Lebens. Er wollte sie nicht sehen; sein Magen drehte sich schon um, wenn er nur an sie dachte. Und noch immer lag der Zünder in seinem Quartier unter dem Nachttisch, eingewickelt in ein Handtuch. Unnötig und beinahe abergläubisch hielt Yama Erschütterungen von dem Gerät fern, obwohl es blanker Unsinn war. „Naja, einen haben wir ja fast vor der Tür“, sagte Yattaran munter. „Den von der Erde können wir ohne Probleme einsacken. Klemmen ihn wieder in das Tragraster, koppeln es wieder ans Schiff …“ „Und der zweite?“, erinnerte ihn Kei. „Wenn wir jetzt das Sonnensystem verlassen, um auf Tizmah ein Trionisches Netz zu besorgen – du weißt doch genau, wo dann der nächste Sprengkopf ist, den wir installiert haben.“ Sie streifte Yamas Blick mit ihrem, ohne ihn richtig anzusehen. Das verriet ihm den Ort sofort. „Tokarga“, murmelte er. Yattaran nickte gewichtig. „Dein Lieblingsplanet, genau.“ Es gab kaum einen Planeten, den Yama mehr hasste als Tokarga. Und dann wieder war es ein besonderer Ort gewesen. Er hätte dort sterben sollen, aber Harlock hatte ihn zurück ins Leben getreten. „Wie wir den Sprengkopf bergen, steht auf einem anderen Blatt“, sinnierte Yattaran weiter, „aber es sollte möglich sein. Tokargas Oberfläche ist ständig aktiv, wir müssen einfach vor Ort schauen, wo er gerade steckt.“ Yama traf eine Entscheidung. „Also gut. Tizmah als erstes, und wenn wir dort kein Glück haben, dann Themeisias. Und danach … Tokarga.“ Erneut nickte Yattaran bedeutungsvoll und tänzelte zu seinem Posten. „An alle!“, trompetete er ins Intercom. „Die Brücke wieder bemannen! Wir setzen Kurs aufs Euphrates-System!“ Yama wandte sich an Harlock. „Können wir den In-Skip-Modus nutzen?“ „Für Teile des Weges, ja. Wenn das Schiff einen Kurs einmal beflogen und die Route im Computer gespeichert hat, lassen sich Skip-In- mit Skip-out-Koordinaten verknüpfen. Bei Tizmah werden wir sehr schnell sein.“ Harlock musterte Yama ruhig, sein Auge dunkel und forschend. Es war gut zu sehen, dass der frühere Captain aufgehört hatte, allein im Salon seine finsteren Gedanken in Hochprozentiges einzulegen. Yama brauchte Harlock, wie er niemanden sonst auf diesem Schiff brauchte, mit Ausnahme vielleicht von Miime. So wenig Fortschritte ihr Kampftraining auch brachte, Harlocks Nähe war … wohltuend. Vielleicht auch nicht nur das, wenn er es sich recht überlegte. Doch dieser Gedanke hatte gerade nirgends Platz. „Lass mich und Yattaran das Trionische Netz suchen“, bat Kei, als sie nach einigen Stunden in den Orbit von Tizmah einschwenkten. „Wir sind nicht zum ersten Mal da, und wenn uns jemand blöd kommt, wissen wir das zu händeln. Außerdem kann Yattaran die Schrotthändler bis auf die Unterhosen runterhandeln.“ „In Ordnung.“ Yama entließ sie mit einem Nicken. „Erstattet halbstündlich Bericht.“ „Verstanden.“ Der Handelsplanet sah bereits aus dem Weltall kunterbunt aus; eine der wenigen Welten, auf denen die Lebensbedingungen für Menschen noch akzeptabel waren. Was vielleicht daran lag, dass hier niemand wirklich sesshaft wurde: Man traf sich, um zu kaufen, zu verkaufen, zu tauschen und zu feilschen; kaum ein Händler lebte auf Tizmah. Er sah zu, wie Kei und Yattaran von der Brücke trotteten, während Alonso und Cervus ihre Posten für den Notfall besetzten. Für Yama eine gute Gelegenheit, etwas Ablenkung zu suchen. Er hatte befürchtet, sich selbst auf Tizmah durch die viele Meilen langen Basare pflügen und Händler aushorchen zu müssen. Sicher nicht seine Lieblingsbeschäftigung. Harlock saß auf seinem Thron, auf dessen Lehne Tori hockte, den langen Schnabel zum Schlafen unter den Flügel geschoben. Keine Weltraumschlacht konnte diesen Vogel wecken, wenn er schlief. Yama fing Harlocks Blick auf. „Noch eine Übungsstunde, bis wir Meldung bekommen?“ „Wann immer du möchtest.“ Wie üblich war Harlocks Ton leidenschaftslos, als er sich mit einem Rascheln seines Umhangs erhob. „Ich erwarte, dass Kei und Yattaran mindestens zwei Stunden beschäftigt sein werden. Reichlich Zeit für ein paar Lektionen.“ Wie üblich bereute Yama es schnell, Harlock um Nachhilfe dieser Art gebeten zu haben. Er brauchte das Training, das war ihm schmerzlich bewusst, doch zugleich gab es nichts, das mehr an seinem Selbstvertrauen nagte als die mühelosen Niederlagen gegen Harlocks Anpirschmanöver. Diesmal hielt Harlock eine ungeladene Plasmapistole am Lauf und tippte Yama mit dem Griffstück an, um ihn wissen zu lassen, wann er tot war. Jetzt zum Beispiel. „Tot“, seufzte Harlock, und Yama riss aus seiner Reichweite aus, eine Ewigkeit zu spät. Das konnte doch nicht sein! Harlock brauchte ihm jetzt viel weniger nahe zu kommen, um ihn zu berühren, doch es machte überhaupt keinen verdammten Unterschied! Harlock sah Yamas verletzten, flammenden Blick und schüttelte nur den Kopf. „Du tust es immer noch.“ „Was tue ich?“, fragte Yama hitzig. „Du wartest ab. Du hoffst, dass dein Gehör dich warnt, aber das wird es nicht.“ Mühsam versuchte Yama, seine keuchende Atmung zu beruhigen. Mit dem Ärmel wischte er sich über die schweißfeuchten Schläfen. „Aber mein Gehör ist doch das Einzige, was mein Leben retten kann, wo ich nichts sehe!“ „Genau das ist ein Trugschluss. Dein Ohr wird sich nicht in ein Auge verwandeln, egal wie sehr du versuchst, damit zu sehen.“ „Aber du machst es doch auch so! Ich habe gesehen, wie du kämpfst.“ „So kämpfe ich jetzt“, sagte Harlock ruhig. „Aber es hat Jahre gedauert, bis ich es konnte. Damit andere Sinne einen fehlenden Sinn kompensieren können, muss sich dein Gehirn umstrukturieren.“ „Und was hast du bis dahin gemacht? Was mache ich bis dahin?“ „Ganz einfach, du drehst den Kopf.“ Yama sah ihn ungläubig an. „Das soll alles sein?“ „Genügt dir das nicht? Um ein eingeschränktes Sichtfeld auszugleichen, musst du ständig in Bewegung bleiben, deine Agilität und deine Reflexe verfeinern. Du darfst deinen Gegner nie aus dem Auge verlieren, oder er wird deine blinde Seite gnadenlos ausnutzen.“ Yama seufzte. Das klang nicht gerade nach einem realistischen Ziel. „Irgendwann“, fuhr Harlock fort, „wirst du feststellen, dass dein Gehör dir hilft. Dass es vielleicht schneller ist als dein gutes Auge. Aber das wird sehr lange dauern.“ „Und was ist mit der Dunklen Materie?“, fragte Yama hoffnungsvoll. Über Harlocks Züge glitt der Anflug eines Lächelns. „Das ist noch etwas anderes. Wenn sie dir Impulse gibt, setz sie um, nutze sie. Aber verlass dich auf keinen Fall auf sie. Niemals.“ „Aber was ist mit … du weißt schon. Der Unsterblichkeit. Was bedeutet sie?“ Daraufhin verfiel Harlock einen Moment in Schweigen. Schließlich sagte er: „Das habe ich nie ganz ergründet. Eins weiß ich, nämlich dass du keinesfalls unverwundbar bist. Dass der Körper nicht mehr altert, ist die eine Sache, sehr offensichtlich … aber ob die Dunkle Materie einen gewaltsamen Tod verhindern würde, kann ich dir schlicht nicht sagen. Ich bin nie tödlich verwundet worden. Irgendwann habe ich spekuliert, dass das vielleicht ein Teil dieser Unsterblichkeit ist … eine Art schicksalhaftes Tabu. Dass keine Kugel mich ins Herz treffen, keine Klinge mir die Kehle durchschneiden soll. Ich habe vieles geglaubt und vieles vermutet in diesen über hundert Jahren, und Gott weiß, ich habe es herausgefordert – den Tod. Eingetreten ist diese Situation nie. Tatsache ist, ich möchte nicht darauf vertrauen, dass der Tod dir ausweichen wird, Yama. Ich will, dass du ihm begegnen kannst, wenn du musst.“ Sie betrachteten einander, und Yamas Herz wurde eng in der Stille. Einen Augenblick lang glaubte er zu spüren, was die Ewigkeit, die Harlock mit sich trug, bedeutete. Natürlich hatte Harlock den Tod gesucht, wie könnte er nicht … Doch der irrwitzige Glaube an etwas Unmögliches hatte ihn, die Arcadia und den Fluch am Leben erhalten. Yama ließ das Kinn auf die Brust sinken. Mit einem Mal fühlte er sich müde und unzulänglich. Harlock versuchte ihn zu schützen, ihn auf wirklich bedrohliche Situationen vorzubereiten, und Yama schaffte es nicht einmal, einem verdammten Pistolengriff auszuweichen. „Es tut mir leid, dass ich dich enttäusche, Harlock“, sagte er aufrichtig. „Es tut mir leid, dass ich nicht der bin, den du –“ Er stockte, denn im selben Moment sah er Harlocks Handbewegung, direkt auf seine blinde Seite zu. Blitzschnell drehte er den Kopf – – und dann lag seine Wange an Harlocks Handfläche. Yama schloss den Mund und rührte keinen Muskel. Wärme drang durch den Handschuh an seine Haut. Er sah in Harlocks Auge, dunkel und verschlossen, und spürte, wie der Daumen federleicht über das dünne, vernarbte Gewebe unmittelbar unter seiner Augenklappe strich. Dass Harlock ihn berührte, auf eine sanfte Weise, war nicht mehr vorgekommen seit – … seit dem Ritual, natürlich. Sie hatten so viele zärtliche Berührungen ausgetauscht in dieser kurzen Zeitspanne, die nur ihnen gehört hatte, doch bis jetzt war nichts mehr davon übrig gewesen. Dabei fehlte es. Verdammt, so vieles fehlte. Yama schloss das Auge und lehnte sich vorsichtig gegen Harlocks Hand. Wie im Traum hörte er sich sagen: „Du weißt, außer dir … habe ich einfach nichts mehr. Wenn du dich entscheidest, mich aufzugeben, weil ich nicht gut genug bin, dann … bin ich allein.“ Er kniff das Auge zusammen, und die Lippen gleich mit. Bloß keine Tränen. Er wollte nicht mehr vor Harlock schwach wirken. Damit musste endlich Schluss sein. Doch wie er mit den aufsteigenden Gefühlen rang, fühlte er auf einmal Harlocks Atem auf seinen Lippen. Und dann … … oh. Harlock küsste ihn weich und etwas keusch, eher fragend als fordernd. Yama hielt still, und Wärme stieg aus seiner Brust herauf. Das war … unerwartet. Das seltsame Gefühl kehrte zurück, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie damals, als es die Dunkle Materie selbst gewesen war, die einen Zustand der Vereinigung zwischen ihnen erzwingen wollte; einen Moment des perfekten Einklangs, um ihre Machtübergabe zu Ende zu bringen. Es war wie jetzt. Es war auf dieselbe Weise wohltuend, und Yama war nicht erstaunt, als seine Ängste sich unter der Berührung von Harlocks Lippen zu zerstreuen begannen. An ihren Platz trat eine Art Erwartung, ein leises Flattern in der Brust, das ihn den Kopf neigen und zaghaft die Lippen öffnen ließ. Doch in diesem Moment löste Harlock den Kuss und trat zurück. „Das ist meine Antwort“, sagte er, Yama fest ins Auge sehend. „Allein zu sein ist eine Entscheidung, kein Schicksal.“ Yama schluckte hart. Er zuckte zusammen, als Keis Stimme über den offenen Com-Kanal die Stille zerriss. „Captain Eins und Captain Zwei, wir kommen zurück an Bord. Es hat keinen Sinn. Auf dem ganzen verdammten Planeten gibt es keinen einzigen verdammten Händler, der ein einziges verdammtes Trionisches Netz im Bestand hat.“ Yama schluckte wieder. Wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde nur ein Krächzen herauskommen. „Verstanden“, übernahm Harlock. „Sobald ihr an Bord seid, werden wir Themeisisas anfliegen.“ Sein Blick wanderte wieder zu Yama. Yama hustete krampfhaft, um den angehaltenen Atem herauszubringen. Halbwegs kontrolliert stellte er die Distanz zwischen ihnen wieder her und nahm Haltung an. „Gut, dann … setzen wir wohl Kurs auf das Gamero-System.“ „Themeisias ist ein unangenehmer Ort“, merkte Harlock an. „Kann er denn schlimmer sein als Tokarga?“ „Das wird sich zeigen.“ Yama drängte ein nervöses Lachen zurück. Harlock sah abgrundtief unglücklich aus. Sie wussten beide, was auf Tokarga auf sie wartete. „Harlock, ich … ich weiß, was ich damit anrichte. Du weißt schon.“ Den Sprengkopf zu bergen bedeutete, dass ein Neustart des Univerums endgültig keine Option mehr war. Und nie wieder sein würde. Na und – ist das nicht etwas Gutes? „Ich weiß, dass ich damit deinen Lebenstraum zerstöre“, endete er leise. Harlock schnaubte. „Nenn es ist nicht Lebenstraum. Es war der irrsinnige Plan eines verzweifelten Narren.“ „Ich weiß.“ Unnötig, es zu leugnen. „Aber ich hatte vor, deine Sorge um die Erde zu respektieren und die Sprengköpfe zu lassen, wo sie sind. Doch jetzt …“ Entschieden schüttelte Harlock den Kopf. „Nichts mehr davon. Wir haben jetzt einen neuen, gemeinsamen Lebenstraum, Yama. Hol die Sprengköpfe …“ Wieder streckte er die Hand aus, doch nun war Yama außer Reichweite, sodass er sie wieder sinken ließ. „… und dann geh nach Hause.“ *** Alle Monitore zeigten das Landeshuttle mit Kei und Yattaran an Bord, das auf die Arcadia zusteuerte, als Harlock hinter Yama die Brücke betrat. Er fühlte sich seltsam – eine Mischung aus Verwirrung und Erleichterung darüber, wie undramatisch es ihm gelungen war, Yama einen Teil seiner Gefühle zu offenbaren. Er hatte nicht vorgehabt, ihn zu küssen; vor allem deshalb, weil er damit gerechnet hatte, dass Yama sich bestürzt vor ihm zurückziehen würde. Dass das nicht passiert war, ließ ihn etwas planlos zurück. Üblicherweise war Yamas Verhalten eher vorhersehbar. Er würde später darüber nachdenken. „Captain“, sagte Cervus, zwischen ihnen beiden hin und her sehend. „Vielleicht müssen wir doch nicht nach Themeisias. Die Sensoren detektieren ein Schiff im direkten Kurs auf Tizmah, Voltaire-Klasse vier. Ein alter Kasten, aber er dürfte ein Trionisches Netz haben.“ „Ein Schmuggler“, vermutete Yama und trat ans Ruder. Währenddessen meldete eine der internen Anzeigen das Öffnen der Luftschleuse im Hangardeck, um das Shuttle an Bord zu lassen. „Hat es eine Kennung?“ „Nein. Wird kein Händler der Allianz sein, die fliegen registrierte Schiffe. Modernere, vor allem.“ Harlock beobachtete Yama. Die Lösung des Problems lag nahe. Voltaire-Schiffe waren keine Frachter im eigentlichen Sinne, aber auch keine Schlachtschiffe; ihr Einsatzgebiet war beschränkt gewesen auf Forschungs- und Bergungsmissionen. Mit ihren großen Frachträumen und ihrer vergleichsweise effektiven Bewaffnung waren sie heute beliebt bei Händlern abseits des legalen Markts. Dass das jeder wusste, war nicht unbedingt ein Nachteil für die Kapitäne. „Yama!“, meldete sich jäh Yattarans aufgeregte Stimme übers Com-System. „Wenn du das Voltaire-Schiff haben willst, dann hops los! Sobald die uns entdecken, sind sie weg!“ „Das Schiff ist In-Skip-fähig?“, folgerte Yama, bereits beide Hände am Steuerrad. „Klar, hat garantiert einen Vanishing-Antrieb! Sagte ich ja, bestens kompatibel mit moderner Technik! Mach schnell. Kei und ich sind gleich oben!“ Eine weitere Ermunterung brauchte Yama nicht. Harlock lächelte grimmig, als er sah, wie Yama sein Auge zukniff, um in den Rapport mit der Dunklen Materie zu gehen. Bald würde diese angestrengte Mimik verschwinden, weil Yama in der Herstellung der Verbindung mehr Übung bekam. Aber noch war es … entzückend. „Miime, aktiviere das Dunkle-Materie-System. Bereitmachen zum Sprung.“ Hinter ihnen ließ Miime den pulsierenden Ball aus Licht unter ihren Händen wachsen; die schwarzen Räder rotierten, und dunkle Gaswolken strömten aus dem Schiffskörper, hüllten die Arcadia in ihre undurchdringlichen Schatten. Ein kurzes Schaudern durchlief das Schiff, kaum mehr als das Zucken elektrischer Entladungen in durchnervten Muskeln; dann wechselte die Arcadia blitzschnell ihren Standort, und unmittelbar vor ihnen schwebte das Heck eines Voltaire-Klasse-IV-Schiffes. Verblasste Markierungen waren auf der grauen Hülle zu erahnen, eine unleserliche Seriennummer nebst zahllosen geflickten Hüllenschäden. Falls Harlock je bezweifelt hatte, dass dieses Schiff einem Schmuggler gehörte, so waren diese Zweifel nun ausgeräumt. Die Reaktion auf ihr erfolgreiches Anpirschmanöver kam prompt: Binnen einer Sekunde verschwand das Schiff aus dem Sichtfeld und von allen Sensoren. „Tarnkappen-Funktion“, stellte Alonso fest. „Yattaran hat eben immer Recht bei so was!“ „Bereitmachen zum Auswerfen der Gravitationsanker.“ Yamas Auge war noch immer geschlossen, doch nun war seine Miene ruhig und hochkonzentriert. „Äh, Captain, wir werden also nicht – ?“ Die Arcadia kippte zur Seite, als Yama hart am Steuer riss. Er fühlte das andere Schiff, weil die Dunkle Materie den Raum um es herum durchdrungen hatte. Es blind zu beschießen war nicht nötig; das Schiff würde eine unbemerkte Flucht versuchen, und die geringe Distanz schloss ein Feuergefecht bereits aus. Harlock genoss es zu beobachten, wie glatt und zielgerichtet Yama sich unter der Führung der Dunklen Materie bewegte. Ein weiterer Sprung durch die Schatten, dann waren sie direkt vor dem Schmugglerschiff, das nur Yama sehen konnte. Mit allem Schwung, den er aufbringen konnte, drehte er das Rad und ließ es los. Volle drei Sekunden lang rotierte es wie wild. Dann – eine Erschütterung, der lautlose Aufprall. Sofort flirrte der Raum vor den Fenstern, und flackernd erlosch die Tarnung des Voltaire-Schiffes und gab es dem Auge preis. Die Sensoren schlugen Alarm. Hüllenstücke blätterten vom Schiffsrumpf und trieben wie Ascheteilchen im Wind durch den Raum; der Rammkopf am Bug der Arcadia zog sich langsam aus der gerissenen Wunde zurück. „Gravitationsanker auswerfen“, befahl Yama. Dann legte er den Kopf zurück und nahm einen tiefen, erleichterten Atemzug. *** Er hatte erwartet, dass Harlock versuchen würde, ihn aufzuhalten, als er zusammen mit der Entercrew zu den Rüstungsstationen eilte. Der Platz eines Captains war auf der Brücke, doch Yama empfand es als seine Pflicht, in dieser Sache selbst vor Ort zu sein. Ein Schmuggler war kein Feind erster Güte. Kei und Yattaran schlossen sich ebenfalls mit Freuden an und glitten in ihre Panzeranzüge. Die Suche auf Tizmah musste sie zu Tode gelangweilt haben. Es war seltsam, wieder eine Pistole und eine Schlagwaffe zu tragen; die Rüstung immerhin war leichter als erwartet und folgte all seinen Bewegungen mit Leichtigkeit. Yama fragte sich, wer sie entworfen hatte. Woher stammte überhaupt das bemerkenswerte Design der transformierten Arcadia? Als sie die Brücke des Voltaire-Schiffes stürmten, ergab sich deren Besatzung postwendend und widerstandslos. Kein Blutvergießen war nötig. Kei hielt den Kapitän der Schmugglerbande in Schach, einen großen, übergewichtigen Mann mit kahlem Schädel in einer langen, goldbestickten Robe, die für den Nahkampf denkbar ungeeignet war. „Lasst uns gehen“, bat er in flehendem Ton, die puderweichen Hände fortwährend vor seinem ausladenden Bauch ringend. „Wir haben nichts verbrochen, wir sind nur Händler. Nehmt, was ihr wollt, aber tut meiner Crew nichts an.“ „Deine Fracht interessiert mich nicht“, erklärte ihm Yama. „Ich brauche ein Stück deiner Schiffstechnik.“ „Meiner Schiffstechnik?“ Der Captain blinzelte eingeschüchtert. Yama nickte Yattaran zu. „Du weißt, wo sich das Trionische Netz befindet und wie man es ausbaut.“ „Worauf du wetten kannst“, bestätigte der Erste Maat, gedämpft durch das Visier seines Panzerhelms. „Dann geh es holen. Wie lange wird das dauern?“ „Zehn Minuten, ah?“ „Schaffst du es in fünf?“ „Fünf mein Arsch. Maji? Abmarsch.“ Yattaran und sein Chefingenieur stapften von der Brücke, während sich Yamas übrige Männer nicht ablenken ließen. Es drängten sich mehr Crewmitglieder von der Arcadia als von dem Schmugglerschiff selbst um den engen Kommandostand. „Gestattest du mir die Frage, was ihr damit vorhabt?“ Der Captain blickte nervös um sich, in Schach gehalten von mindestens drei Plasmakanonen aus verschiedenen Richtungen. „Leider nicht“, antwortete Yama. „Noch nie war jemand hinter einem veralteten Stück Technologie her, das ist sehr verwunderlich … Üblicherweise sind es die Frachträume, die die Piraten interessieren.“ „Und woraus besteht deine Fracht?“ Im Gesicht des Schmugglers war zu lesen, wie er sich plötzlich selbst dafür schalt, Yamas Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben. „Nichts Besonderes. Das Übliche. Dieses und jenes …“ „Ich will einen Blick darauf werfen“, beschloss Kei und sah Yama an, um Erlaubnis bittend. „Was meinst du? Wir sind genug Leute hier oben.“ Yama nickte. „Sieh nach, ob du was findest, das wir nötig brauchen. Alles andere lassen wir hier.“ Kei ging, und der Captain verzog unglücklich das Gesicht. „Ich versichere, da findet sich nichts Spannendes. Nur der übliche Plunder, der sich auf Tizmah gut an die Besserverdienenden verkaufen lässt. Keine hochwertigen Dinge …“ Yama hörte mit halbem Ohr zu, wie er aufzuzählen begann, was sich in seinen Frachträumen alles befand; welche Art von Antiquitäten und Metallen, ein paar Nutztiere von besiedelten Planeten, eine Handvoll Passagiere, die illegal von ihren sterbenden Welten auf andere umsiedeln wollten und für den Transport horrende Summen zahlten, außerdem ein gut erhaltenes Teleskop aus einem gesprengten Labor aus der Venus-Basis, und oh, auch ein paar Waffen und Munition aus ausgeschlachteten Wracks, vielleicht war etwas Cygnus-Plasma dabei, man hatte noch nicht so genau nachgeschaut … Ohne dass er es wollte, drifteten Yamas Gedanken zurück zu Harlock. Zu dem Moment im Salon. Sie hatten sich geküsst … Warum eigentlich? Was hatte dazu geführt? Und war es nicht … irgendwie unangebracht? Yamas Aufmerksamkeit schaltete erst dann wieder in den Vollbetrieb, als Keis Stimme durch den Funkeingang in seinen Helm drang. „Yama! Komm in Frachtraum drei, aber schnell. Das musst du einfach sehen!“ Yama schaute wieder zu dem Captain, der blass wie ein Laken geworden war. „Ich bin unterwegs. Cervus, du übernimmst hier.“ „Aye.“ Cervus bestätigte mit einem Nicken und hob ostentativ den Lauf seiner Waffe ein wenig höher, zum Gesicht des Captains hin. „Keine Spielchen versuchen, Kumpel.“ Als Yama den von Kei genannten Frachtraum erreicht hatte, war er auf vieles vorbereitet gewesen. Auf alles, eigentlich. Nur auf das nicht. Kei stand bei einer Reihe großer Metallkisten, und von derjenigen neben ihr, auf die sie mit triumphierender Geste deutete, hatte sie den Deckel abgesprengt. Yama sah Objekte darin, als er herantrat; Früchte waren es, rund, leicht herzförmig, mit glatter Schale in Schattierungen aus Rot, Gelb und Grün. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte nicht sein. Das waren – „Äpfel!“, sagte Kei mit fast entrückter Stimme. „Ist das zu fassen? Zwanzig Kisten voller Äpfel!“ Yama konnte nicht sofort antworten; zu groß war die Überraschung. Einen Apfel hatte er zuletzt als Kind gesehen. Sie traten nicht in derart großen Mengen auf. Sie waren heilig. „Ich dachte erst, es sind vielleicht ähnliche Früchte von anderen Welten“, fuhr Kei aufgeregt fort, „aber dann hab ich sie gerochen.“ Sie beugte sich über die offene Kiste und atmete tief ein. „Sie duften wie das Paradies. Echte Erdenäpfel!“ „Das kann nicht sein“, schaltete sich Yamas Verstand ein. „Kei, die Gaia Sanction verdient mit Früchten von der Erde ein Vermögen – es gibt nichts, das sie reicher macht als Obst, das auf anderen Planeten nicht angebaut werden kann.“ Nicht mal seltene Erden waren so teuer wie Äpfel. Nur ein winziger Teil der Oberschicht konnte sich einen solchen Luxus leisten. Es war einfach nicht möglich, dass ein Schmuggler kistenweise davon an Bord hatte. „Ich weiß, aber sieh doch selbst.“ Kei nahm einen Apfel in die Hand und schnupperte daran. „Ich möchte reinbeißen … Ich möchte wissen, wie es ist, etwas zu schmecken, das drei Generationen meiner Familie nicht bezahlen könnten.“ Allmählich hörte Yamas Ratio auf, die Unmöglichkeit eines solchen Fundes zu behaupten. Fast ehrfürchtig trat er neben Kei, und aus der offenen Kiste schlug ihm der süße, rosenartige Duft entgegen. Erinnerungen an seine frühe Kindheit flammten auf, Bilder aus unbeschwerten Tagen – an Feiertagen oder zu besonderen Anlässen hatte seine Mutter manchmal ihm und Isora einen Apfel mitgebracht, oder eine Birne, oder eine Aprikose, oder eine Handvoll Kirschen oder Pflaumen … Jedes Mal hatte sie ihnen ausgemalt, wie selten und wunderbar diese Geschenke ihrer Heimatwelt waren, wie nichts diese Früchte ersetzen konnte und wie die Gaia Sanction das alleinige Anrecht auf ihren Anbau beanspruchte. Heilige Lebensmittel. Eine Erinnerung an die verlorene Welt, die die Menschheit geboren hatte. Vielleicht geht es der Gaia Sanction jetzt schlecht genug, sinnierte Yama. Er musste unbedingt mehr darüber wissen. Der Kapitän reagierte wie erwartet, als Yama und Kei auf die Brücke zurückkehrten. Er sah den Apfel in Keis lässiger Hand und brach in Zittern aus. „Das ist nichts“, erklärte er. „Gypta-Früchte, mehr nicht. Lächerlich billig …“ „Und ihr habt zwanzig Kisten voll“, merkte Kei an. „Im Übrigen sind Gypta-Früchte hart und trocken, aber das hier … Ich wette, wenn ich meine Zähne da reinschlage, läuft mir süßer Saft in den Mund … Verdammt, Yama, darf ich endlich?“ „Bitte, nur zu“, willigte er ein, den dicken Schmuggler nicht aus dem Auge lassend. Kei biss herzhaft in den Apfel. Ein klebrig-klarer Tropfen rann von ihrer Unterlippe über ihr Kinn, und ein fast obszönes Stöhnen begleitete die ersten Kaubewegungen. „Gaia“, seufzte sie mit vollem Mund. „So schmeckt also das wahre Leben.“ Sie hielt den Apfel hoch, zeigte die angebissene Stelle der Crew. Dezent breitete sich der unverkennbare Duft aus. Endlich begriffen Yamas Männer, dass sie nicht hereingelegt wurden. Bestürzte Blicke wurden ausgetauscht. „Sag mir, woher die Äpfel stammen“, verlangte Yama. Vor ihm warf sich der Captain vor Angst fast in den Staub. „Ich weiß es nicht, Sir. Ich bin nur ein Zwischenhändler.“ „Wer hat sie dir gegeben und was hattest du damit vor?“ „Was sollte ich schon damit vorhaben?“, klagte der Mann. „Verkaufen natürlich! Fifty-fifty! Sie wissen doch selbst, wie Gaia sich über all die Jahrzehnte eine goldene Nase an Erdenfrüchten verdient hat. Jetzt, da ihr Betrug enthüllt ist, sollen alle ein Stück vom Kuchen bekommen! Sehen Sie das nicht auch so?“ Yama bezweifelte, dass der Schmuggler die Äpfel zu einem Spottpreis an die ärmeren Planeten abgeben wollte wie eine mobile Armenspeisung. Doch zum Teufel damit. „Natürlich sehe ich das so. Nur glaube ich nicht, dass die Gaia Sanction ihr lukrativstes Gut plötzlich über illegale Zwischenhändler in Umlauf bringt.“ „Nun ja, nun ja. Die Bürgerkriege tun Gaia nicht besonders gut, wenn Sie verstehen …“ Yama verstand durchaus. Doch es war nicht wirklich wichtig. Wo die Äpfel ursprünglich herkamen, war ihm vollkommen klar, und das war es, was ihn beschäftigte. Er aktivierte die Funkverbindung. „Yattaran, wie weit seid ihr mit dem Trionischen Netz?“ „Das haben wir inzwischen in Geschenkpapier und Schleifchen gewickelt, so viel Zeit hatten wir. Was ist denn los bei euch?“ „Alles erledigt. Gute Arbeit. Wir treffen uns auf der Arcadia.“ Er sah zu Kei und fing ihren Blick auf. Sie war damit beschäfigt, sich die Finger sauberzulecken, um ja nichts von dem Apfel zu verschwenden; offenbar hatte sie sogar das Kerngehäuse mit verputzt. „Kei, wir gehen.“ „Willst du die Äpfel etwa hierlassen?“, protestierte sie. „Nimm einen für jedes unserer Crewmitglieder mit. Lass ihnen den Rest.“ Er machte eine Kopfbewegung zum Kapitän hin, der aussah, als wollte er vor Dankbarkeit auf die Knie fallen. Keis Miene trübte sich ein wenig. „Du bist zu nett, Captain. Ich kriege keinen neuen Apfel, oder?“ „Ausnahmsweise. Weil du sie gefunden hast … und ich zu nett bin.“ Daraufhin lächelte Kei versöhnt, zwinkerte ihm zu und bedeutete einigen der Männer, ihr zu folgen. Yama kehrte dem Schmugglerboss den Rücken und hörte diesen leise sagen: „Nun, ihr … habt unser Schiff beschädigt, und ohne das Trionische Netz wird es nie wieder vernünftig fliegen können. Man kann sagen, es ist ein Totalschaden …“ Ich bin wirklich zu nett, dachte Yama und drehte sich noch einmal. „In deinem Frachtraum liegt ein Vermögen. Kauf dir ein neues Schiff.“ „Oh … Ja, natürlich.“ Das letzte heischende Blitzen in den Augen des Schmugglers verschwand, und er hob die Hände, was seine Crewmitglieder ihm zögerlich gleich taten. Gegenwehr war nicht zu erwarten. Einmal noch musterte der Captain Yama und legte den Kopf schief, ehe er fragte: „Sie sind es … nicht wahr? Sie sind Captain Harlock.“ Kurz dachte Yama darüber nach, die Frage zu beantworten; dann ließ er es bleiben und ging, seine Männer im Gefolge, zurück auf die Arcadia. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)