Homecomer von CaroZ (Bound in Darkness 2) ================================================================================ Kapitel 4: Träume ----------------- Harlock wusste augenblicklich, was er vor sich hatte, doch sein Verstand weigerte sich, es zu glauben. Stumm starrte er hinunter in die Metallkiste, die Yattaran und Cervus auf die Brücke getragen hatten. Echte Äpfel. Früchte von der Erde. Der Ursprung vom ungeheuren Reichtum der Gaia Sanction. Als sich herausgestellt hatte, dass einige Obstsorten auf fremden Planeten nicht kultiviert werden konnten, hatten sie dieses Obst für heilig erklärt und den Zugriff darauf genauso verboten wie das Betreten der Erde selbst. Nur Gaia produzierte und vertrieb Früchte wie Äpfel, Kirschen und Pfirsiche, aber niemand wusste, wo. Auf der Erde wohl kaum. Yama, der ihn aufgeregt beobachtet hatte und auf eine Reaktion wartete, beeilte sich zu erklären: „Wenn sich die Gaia Sanction von ihren Reichtümern trennt, kann das nur ein gutes Zeichen für uns sein. Entweder geben sie das Obst freiwillig her, oder es ist inzwischen möglich geworden, es ihnen wegzunehmen. So oder so scheinen die Rebellionen Wirkung zu zeigen.“ Harlock sagte nichts; fast beklommen betrachtete er die Äpfel. Er hatte lange keine gesehen, selbst mit der Arcadia hatten sie nur äußerst selten heilige Früchte erbeutet. „Meinst du, wir können noch mehr finden?“, fragte Kei. „Yama, wir müssen rausfinden, wo sie herkommen.“ „Wird nicht einfach“, stellte Yattaran fest, die Nase krausziehend. „Gaia hat das Geheimnis, wo sie Obst von der Erde anbauen, immer gut behütet. Natürlich munkelte man immer, dieser Ort wäre auf der Erde, aber da das nicht möglich ist … Tja, niemand weiß, wo es herkommt. Nicht mal der Captain, ah, Harlock hat das je rausgefunden, und er hatte verdammt viel Zeit, richtig?“ Er schenkte Harlock ein breites, aber trauriges Lächeln. Harlock schüttelte den Kopf. „Leider hast du damit Recht.“ Fast beiläufig sagte Yama: „Das Obst stammt von Garfudias, im Kikya-System.“ Sofort erstarrten alle Gesichter. Sämtliche Blicke waren voller Verblüffung auf Yama gerichtet. „Augenblick“, sagte Kei scharf, „du weißt, wo das verdammte Obst herkommt? Gaia hält doch sogar die eigenen Leute im Dunkeln, um das Geheimnis zu hüten!“ „Naja, sie können nicht alle Leute von diesem Wissen ausschließen“, erklärte Yama fast entschuldigend. „Meine Mutter hat an den Plantagen auf Garfudias gearbeitet, bis sie zu krank dafür wurde. Es gibt nicht viele Botaniker, die sich auf Pflanzen von der Erde spezialisiert haben. Manchmal war sie monatelang dort.“ Die Erkenntnis traf Harlock unvermittelt. Botaniker, die auf Erdenpflanzen spezialisiert waren … Natürlich. Dafür brauchten sie sie. Die allermeisten Nutzpflanzen hatten sich nach ausreichend Terraforming-Maßnahmen auf jedem neu besiedelten Planeten heranziehen lassen – zumindes eine Zeitlang. Gemüse, Getreide, Reis oder Pflanzen zur Textilherstellung, sogar einige wenige Beeren waren mit strengen Selektionsmaßnahmen umgezüchtet worden, um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden, und schließlich hatte auch jede neu besiedelte Welt ihre eigene heimische Flora beigesteuert, bis eine nie dagewesene Fülle und Vielfalt an Nutzpflanzen zwischen den menschlichen Kolonien im ganzen All ausgetauscht wurde. Einige Pflanzen von der Erde jedoch hatten sich als nahezu unmöglich zu kultivieren erwiesen … Wenn Harlock sich recht entsann, gehörte dazu auch eine seit jeher sehr geschätzte Zierpflanze namens Rose, die er selbst nur von sehr alten Gemälden und Fotografien kannte. „Rosaceae“, sagte Yama, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Das ist die Pflanzenfamilie, die nicht auf anderen Planeten gedeihen kann. Dazu gehören auch die Gattungen Malus, Pyrus und Prunus … also Äpfel, Kirschen, Mandeln, Pfir–“ Kei unterbrach ihn: „Yama, wenn diese Früchte nur auf der Erde wachsen können, warum bitte wachsen sie dann auf Garfudias? Das liegt fast am äußersten Saum des kartographierten Alls, weiter von der Erde entfernt kann ein Planet kaum sein!“ „Es ist trotzdem der Planet, der der Erde am ähnlichsten ist“, antwortete Yama. „Der Boden und die Luft stellen fast die gleichen Bedingungen an Lebewesen.“ „Bullshit“, sagte Yattaran. Yama blinzelte. „Nein, es ist wahr. Das hat meine Mutter gesagt. Das haben sie ihr gesagt.“ „Es ist trotzdem Bullshit“, behauptete Yattaran und rückte seine Brille zurecht. „Ich weiß, Yama, du bist der Captain und alles, aber ich muss dir widersprechen. Garfudias ist nicht besser für irgendwas als, keine Ahnung, Mesillas, oder wo wir dich aufgeklaubt haben.“ „Das kann nicht sein. Warum sollten dann dort Äpfel wachsen? Dass Rosengewächse auf anderen Planeten kaum gedeihen, war schon lange vor der Gründung der Gaia Sanction bekannt. Sie waren nur diejenigen, die es schließlich verboten haben.“ „Und die offenbar wussten, wie es doch funktioniert“, merkte Kei an. „Warum hat Gaia dann ihren Sitz auf dem Mars und nicht auf Garfudias, wenn es da so ist wie auf der Erde?“ „Weil der Mars der nächste bewohnbare Planet in der Nähe der Erde ist. Warum sonst? Sie wollten die Erde im Auge behalten und jeden davon abhalten, sie zu betreten, das ist das erklärte höchste Ziel der Gaia Sanction. Es macht keinen Sinn, die Erde von Garfudias aus zu bewachen.“ Yama war sichtlich überzeugt von seinen Antworten, und sie klangen auch plausibel. Trotzdem hatte Harlock das Gefühl, dass hier Informationen fehlten. Nach allem, was er über Garfudias wusste, waren die Umweltbedingungen dort, abgesehen von einer atembaren Atmosphäre, nicht allzu erdähnlich. „Yama“, sagte er sanft. „Lass uns nachsehen, was wir darüber herausfinden können.“ Nur kurz schien Yama ablehnen zu wollen, dann begriff er, was Harlock im Sinn hatte. „Cervus, übernimm das Ruder, in Ordnung? Yattaran, du übernimmst die Verantwortung für das Trionische Netz. Bei dir ist diese Aufgabe am besten aufgehoben.“ „Stimmt genau“, nickte Yattaran. „Setzen wir Kurs auf Tokarga?“, fragte Cervus, sichtlich erfreut darüber, wieder einmal das Ruder führen zu dürfen. „Jetzt noch nicht.“ Yama zögerte, den Blick nachdenklich auf die Kiste mit den Äpfeln gerichtet. Schließlich griff er hinein und nahm einen heraus, dann trat er neben Harlock. „Gehen wir.“ Harlock schenkte ihm ein knappes Lächeln. Sie verstanden einander. *** Yama folgte Harlock durch den schwach beleuchteten Korridor, den Apfel schwer in der Hand. Das Aufmischen des Schmugglerschiffs hatte ihn erfolgreich davon abgelenkt, was passiert war, als er zuletzt mit Harlock allein gewesen war. Jetzt kehrten die Gefühle wie eine Flutwelle zurück, und seine Kehle wurde eng. Er empfand doch nicht wirklich etwas für Harlock, oder? Das waren nur Nachwirkungen des Rituals, ein Relikt der starken Verbundenheit während dieses Moments. Es konnte nichts anderes sein. Aber er konnte das unangenehm heftige Klopfen seines Herzens nicht beruhigen, als er Harlock tief ins Innere des Schiffes folgte. Bis zum Herzen der Arcadia – dem Raum des Zentralcomputers. Hier war es wärmer als sonst irgendwo auf dem Schiff, denn die zahllosen simultanen Rechenoperationen erzeugten eine Menge Abwärme; umso mehr fühlte es sich an, als wäre die baumähnliche Struktur auf dem Plateau in der Mitte des hohen Raumes ein atmender, lebender Organismus. Ehrfürchtig nahm Yama das Aufflackern der verschiedenen Lichtsignale auf, die für ihn keiner sichtbaren Struktur folgten. Harlock jedoch beobachtete sie mit höchster Aufmerksamkeit. „Mein Freund“, sagte er schließlich in der bekannten sanften, fast liebevollen Stimme. „Wir brauchen deine Hilfe. Sag uns alles, was du über Garfudias weißt.“ Lichter glommen auf und erloschen wieder; einige langsam und weich, andere in schneller Folge, begleitet von blechernen Geräuschen, die für Yama nicht wie Worte klangen. Harlock jedoch schien sie deuten zu können. „Salzhaltig … Ich verstehe. Gibt es nennenswerte Gemeinsamkeiten mit der Erde?“ Der Wechsel von einer bunten in eine einheitlich rote Beleuchtung war selbst für Yama nicht misszuverstehen. Nein. „Hältst du es für möglich, dass dort Rosengewächse wachsen?“ Nein. Yama hielt den Apfel hoch. „Wir haben Äpfel auf einem Schmugglerschiff gefunden, und ich weiß, dass sie von Garfudias stammen. Dort stehen die Obstplantagen der Gaia Sanction.“ Nun begannen die Lichter hektisch durcheinander zu leuchten. Ein wahres Blitzgewitter erhellte den Raum, ließ die armdicken Kabel, die über die Wände liefen, kunterbunt reflektieren. „Wie kann es sein, dass das Obst dort wächst?“, fragte Harlock. „Du musst doch eine Idee haben.“ Yama beobachtete das Lichtflackern angestrengt. Es wirkte konfus auf ihn; aufgeregt, aber ratlos. Harlocks Freund freute sich, hatte aber keine Ahnung. „Harlock … Welcher Wissenschaft genau ist dein Freund nachgegangen? Tut mir leid, ich bin noch nicht so weit, dass ich alles verstehe.“ „Er war Bioingenieur“, antwortete Harlock. „Natürlich verstand er dadurch auch viel von Pflanzen. An vielen Projekten zur genetischen Verbesserung von Nutzpflanzen war er beteiligt. Wie du weißt, ist er auch derjenige, der versucht hat, Miimes Volk zu retten.“ Harlock lächelte traurig. „Die Wissenschaft war Tochiros einzige große Leidenschaft. Mit vielen anderen Fachbereichen hat er sich aus reiner Freude beschäftigt. Es gibt wenig, das er nicht weiß. Und alles Wissen, das wir mit der Arcadia sammeln, speichert er im Zentralcomputer ab. Seine Kapazitäten sind fast unerschöpflich.“ Ein sanftes weißes Leuchten schwoll ab und erlosch dann wieder. Es wirkte auf dieselbe Weise liebevoll wie Harlocks Worte, und Yama kam sich beinahe wie ein Eindringling vor. Kaum jemals verirrte sich ein Mitglied der Crew hierher, in Tochiros Reich. Er war sehr viel allein. „Er hat alle Daten, die er über Garfudias gesammelt hat, für dich zusammengestellt, Yama. Außerdem einen direkten Vergleich mit den Umweltbedingungen, die auf der Erde herrschen. Wenn du dich damit beschäftigst, kannst du vielleicht herausfinden, warum wirklich auf Garfudias heilige Früchte wachsen.“ „Das werde ich tun“, versprach Yama. „Gleich, vor dem Schlafengehen. Sonst wird es mir keine Ruhe lassen.“ Er wandte sich um, blieb dann aber doch noch einmal stehen, als er sich des Gewichts in seiner Hand bewusst wurde. „Ähm … hier, Harlock.“ Etwas linkisch hielt er seinem Gegenüber den Apfel hin. „Der ist für dich.“ Harlock nahm den Apfel vorsichtig entgegen, als hätte er Angst, diesen wertvollen Schatz fallen zu lassen. Dann betrachtete er Yama mit einem schimmernden Auge, als wäre Yama und nicht der Apfel die verbotene Frucht, die er nicht haben durfte. „Ähm. Wir sehen uns dann morgen früh“, sagte Yama etwas unbehaglich. „Aber ja. Ruh dich aus.“ Als Yama den Computerraum verließ und in die kühle, gefilterte Luft des Hauptkorridors hinaustrat, hörte er hinter sich das unverkennbare Geräusch eines herzhaften Bisses ins Fleisch des Apfels, gefolgt von einem leisen, genussvollen Seufzen. In dieser Nacht hatte Yama einen ziemlich unangemessenen Traum. Er war zurück in Harlocks Quartier. Jedes Detail des Raums war ihm noch in Erinnerung, obwohl er nach dem Ritual nie wieder dort gewesen war; nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, diesen privaten Bereich des Captains für sich zu beanspruchen, auch wenn er Harlock auf diesem Posten abgelöst hatte. Es war ohnehin kein großer Unterschied zu seiner eigenen Offizierskabine, nur … das kleine Sofa, auf dem Miime diesmal nicht lag … was …? War dies nun der Moment, in dem sie für das Ritual zusammenkamen und …? Yama blickte zum Schreibtisch, und dort stand das geklebte Becherglas mit der Erde darin. Nur jetzt ragte ein kleiner grüner Keimling daraus hervor. Plötzlich lag er auf Harlocks Bett, ausgestreckt auf der Überdecke aus grober Wolle. Er roch Harlock, fühlte seine Wärme, als wäre der andere gerade erst aus dem Bett aufgestanden … „Yama.“ Harlock ließ sich auf der Bettkante nieder und schaute verschmitzt auf ihn herab. Er war voll bekleidet. Noch. „Hattest du nicht für jeden von der Crew einen mitgebracht? Dieser hier ist für dich.“ Und er hielt Yama einen Apfel hin, reif und rosig. „Oh. Danke.“ Richtig. Er hatte für jeden einen mitgenommen, also auch für sich selbst … richtig? Yama nahm den Apfel entgegen und betrachtete ihn, seine makellose, glänzende Schale, den hölzernen Stiel und auf der Unterseite die kleine Rosette, die einst die Apfelblüte gewesen war. Sollte er ihn jetzt essen? Es war lange her, dass er einen genossen hatte … Harlock schaute ruhig auf ihn herab. „Du musst dich entscheiden, Yama. Du weißt, wofür ich mich entschieden habe.“ Ja, richtig. Harlock hatte sich entschieden, den Apfel zu essen. Also konnte Yama seinen auch essen, oder nicht? Er führte die Frucht an die Lippen, atmete den Geruch ein. Unverkennbar. Keine Frucht von irgendeinem Planeten roch wie ein Apfel von der Erde. In Yamas Nase mischte sich der Duft mit dem von Harlock, der ihn umgab. „Ich werde dich nicht drängen“, sagte Harlock sanft. „Ich werde dich nie zu etwas drängen.“ Yama berührte die Schale mit den Lippen, die kühl war, aber nicht kalt; dann drückte er die oberen Schneidezähne hinein. Sie durchbrachen die Haut und drangen in das süße Fleisch. Herrlich süßer Saft quoll ihm auf die Zunge, und dann … … dann war es nicht mehr der Apfel, den er schmeckte, sondern Harlock. Sie lagen einander zugewandt auf dem Bett und küssten sich langsam und … sanft und … voller Ehrfurcht voreinander … Yama wollte mehr davon, viel mehr. Der Geschmack allein reichte nicht. Er schlang beide Arme um Harlock, drängte sich an ihn, bis sie eng Haut an Haut lagen, erhitzt und etwas feucht, und zuletzt drückte er auch seine Hüfte gegen die von Harlock, rieb sich an seinem – Das Stöhnen war zu laut, zu real. Yama schlug die Augen auf und fand sich in seinem Quartier wieder, nassgeschwitzt unter der Decke, mit hämmerndem Puls. Hatte ihn etwa sein eigenes Stöhnen geweckt? „Wirklich?“, murmelte er. „Was soll das?“ Zwischen seinen Beinen hatte sich jede Körperzelle zur Startposition für ein Feuerwerk begeben. Alles stand stramm und wartete nur noch auf den Zündbefehl. Yama murrte und drückte sein Gesicht ins Kissen. Musste das sein? Hau ab, dachte er. Das ist nicht richtig. Er hat dich geküsst. Warum soll das nicht richtig sein?, fragte ein unschuldiger Gedanke aus seinem Unterbewusstsein. Aber es ist nicht – … Ich bin doch nicht – … Du hast von ihm geträumt. Yama kniff die Augen zusammen. Aber das war wegen des Rituals. Weil ich – … Wir MUSSTEN doch, verdammt, es ging nicht anders! Und jetzt ist das in meinem Kopf, es kommt nicht aus mir selbst! So? Selbst wenn das so wäre … Würde es eine Rolle spielen? Ist es nicht völlig egal, woher es kommt? Darauf hatte er keine Antwort. Einige Minuten lang lag er mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit und lauschte auf das Pochen in seiner Leistengegend, das einfach nicht nachlassen wollte. Der Apfel, Harlock, das Bett, die Gerüche … Hyperrealistisch, eine erotisch aufgeladene Kombination wie das Werk eines Künstlers. Seit wann hatte er so etwas in sich? Schließlich entschied er, dass er, wenn er heute noch vernünftig Schlaf finden wollte, es zu Ende bringen musste. Sonst erledigte vielleicht der nächste Traum die Angelegenheit, und er hatte keine Lust, als erstes das Bett frisch zu beziehen. Obwohl, so geschwitzt, wie er war, wäre das sowieso fällig. Waren im Nachttisch noch Taschentücher? Ja. Es war nicht so, als würde er häufig eins brauchen. Jedes Quartier auf jedem Langstreckenschiff hatte Taschentücher im Nachttisch, das war auch bei der Gaia-Flotte so, und jeder wusste ganz genau, warum. Na los, tu dir was Gutes. Vielleicht ist das auch nur ein Denkzettel deines Körpers, weil du dich seit mehr als drei Wochen überhaupt nicht mehr um ihn gekümmert hast. Ja, das war es wahrscheinlich. Harlock war einfach nur das leichteste Ziel, auf das sich sein aufgestautes Verlangen ausrichten konnte. Yama ergab sich, legte sich bequem hin und schob die Hand unter den Saum seiner Boxershorts. Hier würde nicht viel Arbeit nötig sein. Etwas schüchtern kehrten seine Gedanken zurück zu dem Traum. Mit Harlock auf dem Bett und … das Gefühl seiner warmen Haut … Nein. Nein, das ging wirklich nicht, das war einfach zu unangebracht. Harlock sollte ihn nicht auf diese Weise erregen. Yama hatte bis zu dem Unfall, der sein Leben zerstört hatte, nur mit Mädchen geschlafen. Manchmal hatte er seine Partnerinnen nicht einmal besonders gut gekannt. Danach waren seine wilden Jahre schlagartig vorbei gewesen … aber das hieß ja nicht, dass Mädchen sein Blut nicht mehr in Wallung bringen konnten. An Mädchen zu denken war sehr viel sicherer und sehr viel mehr in Ordnung. Nur mit einem Mädchen hatte er nie geschlafen, demjenigen Mädchen, das er am besten kannte und das seine älteste Freundin war. Vielleicht war genau das der Grund; ihr gegenüber war er zu schüchtern gewesen, jemals einen kühnen Vorstoß zu wagen. Insgeheim wussten sie beide, dass sie Gefühle füreinander hegten, doch es kam nie zu mehr als Händchenhalten oder einem scheuen Kuss auf die Wange. Nami … Plötzlich kehrten die Gefühle der Schuld und des Verlustes zurück. Nami war tot. Isora hatte sie getötet, aber Yama hatte sie bereits davor getötet. Sie war zweimal gestorben, beide Male für seine Dummheit. Seine Hand erstarb in der Bewegung. Die Hitze verebbte, die Feuchtigkeit begann zu trocknen. Er hatte Nami nie mit ins Bett genommen, aber er hätte es tun sollen. Er liebte sie noch immer. Sie hätte so viel Liebe verdient gehabt, alle Liebe, die er geben konnte. Isora und Nami waren verheiratet gewesen, hatten aber nie miteinander schlafen können. Dafür hatte Yama gesorgt. War er nicht ein treu sorgender Bruder und Freund? Gönnte er den Menschen, die er am meisten liebte, nicht alles? Er hatte es verdient, Nami nicht zu bekommen. Aber Isora und Nami hatten es nicht verdient, zusammen einsam zu sein. Plötzlich kamen Tränen, heiß und nass. Viele von ihnen. Scheiße. So schlimm war es seit Monaten nicht gewesen. Nächtliche Weinkrämpfe waren nicht ungewöhnlich für ihn, wenn er allein wachlag; seit dem Unfall hatten sie sehr regelmäßig stattgefunden, einmal im Monat oder öfter. Doch seit er Captain der Arcadia war und ein neues Leben begonnen hatte, hatte er gehofft, dass diese Zeit vorüber war. Sie war es nicht, so viel stand fest. Vielleicht würde sie es nie sein. Harlock war keine Lösung. Seine Nähe hatte nicht wirklich etwas Beruhigendes oder Tröstendes an sich. Er sagte nie süße Worte oder umarmte jemanden; kein Mann, der gern offen Gefühle zeigte. Yamas Geist klammerte sich aus reiner Verzweiflung an ihn. Trotzdem willst du es nicht allein tun, nicht wahr? Harlock hat dir gesagt, dass er es auch kaum tut, weil er sich dadurch einsam fühlt. Scheint, als hättest du das von ihm geerbt, zusammen mit der Narbe und der Blindheit. So wie Nami und Isora zu zweit allein waren, so werdet ihr das auch sein. Für immer. Yama zog die Hand aus seiner Unterhose und rollte sich eng zusammen. Plötzlich fror er. Es würde noch dauern, bis seine Tränen trockneten und er schlafen konnte. Am Ende des Nachtzyklus, als sein Tageslichtwecker ihn aus einem unruhigen Halbschlaf holte, fühlte Yama sich müde und verspannt. So viele dumme Gedanken. Und so unnötig. Er beschloss, sich heute nur auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig war, und alles andere zu verdrängen. Im Verdrängen war er Weltmeister. „Und?“, begrüßte ihn Kei in der Halle zum Frühstück. Auf ihrem Teller lagen Gemüsestreifen, ein Schälchen Joghurt und eine Scheibe süßes Brot. „Irgendwie siehst du furchtbar aus.“ „Ich habe alles, was wir haben, über Garfudias gelesen“, murmelte er und nahm sich einen Teller vom Stapel. „Yattaran hat Recht. Die Beschaffenheit des Bodens ähnelt der der Erde überhaupt nicht. Die Gaia Sanction hat gelogen. Sie hat ihre eigenen Leute belogen.“ „Überrascht dich das etwa noch?“ Kei begleitete ihn zum Buffet, obwohl sie dort schon gewesen war. Offenbar hatte sie vor, ihm beim Essen Gesellschaft zu leisten. „Nein, aber … ja. Sogar die wichtigen Leute.“ „Pah.“ Yama nahm sich Reis und ein Stück kaltes Fischfilet. Kaffee brauchte er auch. Er mochte ihn zwar nicht besonders, aber seine Hirnaktivität musste irgendwie in Gang kommen. Als sie sich an dem kleinen Tisch inmitten eines Geräuschpegels aus lauten Gesprächen und Geschirrklappern gegenübersaßen, eröffnete er Kei, was er beschlossen hatte. „Ich kann nicht erraten, was auf Garfudias die Rosaceae wachsen lässt“, sagte er. „Aber ich will es wissen. Auf der Erde wächst gar nichts außer Mutters Blumen, irgendwas fehlt. Vielleicht finden wir es dort.“ Kei hustete in ihre Teetasse. „Dort? Verstehe ich das richtig? Du willst hinfliegen – nach Garfudias?“ „Ja. Warum nicht?“ „Wenn du glaubst, dass dich das vor Tokarga bewahrt, liegst du falsch. Die anderen Sprengköpfe sind noch viel weiter entfernt. Nicht ohne Grund hat Harlock so lange gebraucht, um alle anzubringen.“ „Ich hab keine Angst vor Tokarga“, sagte Yama nachdrücklich und nippte an dem bitteren Gebräu, das die meisten Männer so sehr schätzten. „Wir fliegen dahin. Aber zuerst will ich nach Garfudias. Ich muss es einfach wissen.“ „Tja. Wird dann wohl eine längere Reise. Ich weiß nicht, ob Harlock Garfudias jemals angeflogen hat, und selbst wenn wir die Flugroute im Speicher hätten, würde der In-Skip-Modus für eine so lange Strecke mehr Energie verbrauchen, als du zur Verfügung hast.“ Er bemühte sich zu lächeln. „Seit wann bist du Expertin für Dunkle Materie?“ „Ich bin nicht erst seit gestern auf diesem Schiff, Frischling.“ Kei langte über den Tisch und knuffte ihn sanft in die Seite. Yama kam der Gedanke, dass Frauen wirklich ein Gespür dafür zu haben schienen, wenn es anderen nicht gut ging. Sicher würde auch Miime bald an seiner Seite auftauchen; sie musste fühlen, wie aufgewühlt er war. „Wo auch immer du hin willst, da fliegen wir hin“, versicherte Kei. „Deine Crew wird dir folgen. Du hast bisher keinem einen Grund gegeben, dir nicht treu zu sein.“ Anders als der frühere Captain, ergänzte ihr Ausdruck, aber sie sprach es nicht aus. Yama spürte einen Stich. Er wusste, was Kei für Harlock empfand, wie sehr sie ihn stets bewundert und ihm vertraut hatte. Und entgegen dem, was sie soeben gesagt hatte, hatte Yama der Crew allerdings eine Reihe guter Gründe geliefert, ihm zu misstrauen. Doch Harlocks handverlesene Mannschaft bestand nicht aus Idioten. Sie wussten, warum Yama Captain war und es sein musste. Es half nichts. Sie hockten alle zusammen auf diesem Schiff, und wenn sie eine Zukunft wollten, dann mussten sie gemeinsam dafür kämpfen. „Garfudias-Koordinaten als Ziel eingegeben“, bestätigte Alonso. „Normaler Flugmodus, bis wir das Sonnensystem verlassen“, wies Yama an. „Relative Lichtgeschwindigkeit dreißig Prozent.“ Allmählich lernte er, auch den Energieverbrauch der Solarsysteme richtig einzuschätzen. „Wird ein langweiliger Flug“, murmelte Yattaran. „Brauchst du mich hier, Cap?“ „Im Moment nicht. Was hast du vor?“ „Muss noch ein paar Berechnungen mit dem Trionischen Netz machen. Welche Verknüpfungen, genaue Abstände zu den Sprengköpfen, und so weiter. Damit will ich nicht erst anfangen, wenn wir die Scheißdinger im Schlepptau haben.“ „Gut, aber bitte bleib in Bereitschaft.“ „Aye.“ Yama führte eine Weile das Ruder, doch es fiel ihm schwer, nicht ständig zu gähnen. Als sie zuletzt den Sektor Pluto verließen, endeten schlagartig auch die Begegnungen mit anderen Schiffen. Lange hatte in der Milchstraße nicht so ein Getümmel geherrscht; außerhalb wirkte das All plötzlich geisterhaft verlassen. Schließlich trat Miime von hinten an Yama heran und legte ihre schlanke Hand auf seine Schulter. „Yama. Vielleicht solltest du versuchen, noch etwas auszuruhen.“ „Oh … Nein, es geht mir gut. Ich sollte meinen Posten nicht verlassen, nur weil ich nicht gut geschlafen habe.“ „Das hast du wahrlich nicht“, stimmte Miime zu, und Yama schluckte und fragte sich, wie klar sie seine Gedanken und Empfindungen tatsächlich empfing. War er wie eine Funkstation für sie, bei der sie auf der richtigen Frequenz alles mithören konnte? „Etwas sagt mir, dass du deine Kräfte brauchen wirst, wenn wir Garfudias erreichen.“ „Wirklich? Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was uns da erwartet. Vielleicht sind die Plantagen halb geplündert, vielleicht ist die Verteidigung der Gaia Sanction dort noch bestens intakt … Wir werden sehen.“ Er spürte Unruhe in ihr. Miime war beunruhigt. Plötzlich erklangen erneut Schritte, die sich ihm näherten. Über die Schulter sah Yama Harlock auf sich zugehen. „Miime hat Recht, Yama. Ich kann das Ruder für eine Weile übernehmen, wenn du möchtest. Setz dich wenigstens hin.“ Jetzt versuchte auch Harlock, ihn zu überreden. Sah er denn so müde aus? Das war wirklich albern. Eigentlich musste überhaupt niemand am Steuer stehen, es drehte sich auch allein, ohne dass es jemand festhielt. „Na schön, wenn ihr darauf besteht“, lenkte Yama ein und trat zurück. Im Grunde war er für Harlocks Beistand immer dankbar; sein Vorgänger könnte sich ebenso völlig von der Brücke zurückziehen, doch Harlock wusste, wie wichtig sein Erfahrungsschatz für Yama war, dafür, dass er mit verschiedenen Situationen umzugehen lernte. Anfangs hatte Yama darüber nachgedacht, Harlock stets die Brücke zu überlassen, wenn er selbst nicht dort war, wie einem Stellvertreter; später hatte er es überdacht und für unangemessen befunden. Im Militär, wo sie beide herkamen, wäre Harlock, nachdem er als Captain abgelöst worden war, zum Admiral aufgestiegen anstatt zu einem zweiten kommandierenden Offizier degradiert zu werden. Insofern war es lächerlich und erniedrigend, ihm irgendwelche Pflichten aufzuerlegen. Wenn Harlock dies nun anbot, war es eine andere Sache – würde Yama sich bloß nicht so unbehaglich in seiner Gegenwart fühlen, nach seinem beinahe feuchten Traum der letzten Nacht. Gehorsam ließ er Harlock vorbeigehen und tauschte den Platz mit ihm. Sich auf dem Thron niederzulassen hatte sich ebenso verboten angefühlt und war für Yama nicht in Frage gekommen, bis Harlock ihn schließlich selbst dorthin gesetzt hatte. Zugegeben, er war bequem. Hier konnte man stundenlang sitzen, ohne dass einem irgendwann der Hintern schmerzte. Man konnte aber auch gut darauf eindösen. Yama war nicht überrascht, als das passierte. Erst, als er schlagartig wieder wach wurde, stellte er fest, dass er überhaupt weg gewesen war. Auf seinem Schoß lag ein Apfel. Er erschrak so heftig, dass er zusammenzuckte und die Frucht zu Boden rollte. „Mann, Yama, jetzt bekommt er eine Stelle!“, beklagte sich Kei. „Ich hab alle an die Crew verteilt, wie du wolltest. Das da ist deiner.“ Yama schüttelte den Sekundenschlaf ab und beruhigte sich. Miime, die neben dem Thron stand, hob den Apfel auf und reichte ihn ihm mit einem milden Lächeln. Geistesabwesend nahm er ihn und sah nach vorn; Harlock stand am Steuerrad, ein Bild wie aus alten Zeiten. Alles war sicher. Es gab keinen Zusammenhang zu seinem Traum. Das hier war nur ein Apfel. Um sich selbst das zu beweisen, biss er hinein, unter den neidischen Blicken derjenigen, die ihren eigenen schon verspeist hatten. Mmmmh … Das war einer von der säuerlichen Sorte. Köstlich. Yama aß den Apfel in aller Ruhe auf, knabberte auch das Kerngehäuse ab und schluckte die Kerne im Ganzen, weil sie bitter waren. Tatsächlich ging es ihm jetzt besser. Obst von der Erde hatte wahrhaft etwas Belebendes, das Nahrung von anderen Planeten irgendwie nicht bieten konnte; womöglich geb es wirklich eine höhere Verbindung zwischen der Mutterwelt und ihren Kindern. Harlock sah über die Schulter, und sein Blick ruhte unleserlich auf Yama. Allerdings zuckten seine Mundwinkel im Anflug eines stillen Lächelns. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)