Stürmisches Wiedersehen von ChiaraAyumi ================================================================================ Kapitel 1: Stürmisches Wiedersehen ---------------------------------- Werden wir uns wiedersehen? Ganz sicher. Versprochen? Versprochen. Chihiro hielt an dem Versprechen fest, als sie durch den Tunnel in ihre Welt zurückkehrte. Obwohl sie sich gerne umgedreht hätte, um Haku noch einmal zu sehen, riss sie sich zusammen und drehte sich nicht noch einmal zu ihm um. Er hatte ihr versprochen, dass sie sich wiedersehen würden. Sie hatte erst, als sie aus dem Tunnel mit ihren Eltern kam, einen langen Blick zurückgeworfen und sich gefragt, ob alles, was sie erlebt hatte, nur ein Traum gewesen war, aber sie konnte sich noch genau an das Gefühl von Hakus Hand in ihrer Hand erinnern. Wie schwer es gewesen war, sie loszulassen – wie schön es gewesen war, sie zu halten. Haku wartete irgendwo auf sie und sie würden sich wiedersehen. Mit dieser Zuversicht in ihrem Herzen fuhr Chihiro mit ihren Eltern fort, weg von diesem Zauberland, das sie nie wieder vergessen würde. Während sie den restlichen Weg zu ihrem neuen Haus fuhren, kam ihr nun ihr Verhalten bezüglich des Umzugs kindisch vor. Es war ihr einem Weltuntergang gleich gekommen, die Stadt mit ihren Freunden zu verlassen, um aufs Land zu ziehen, nur weil ihr Vater einen neuen Job bekommen hatte und ihre Mutter es sowieso schöner auf dem Land gefunden hatte. Jetzt erschien es ihr so leicht, einfach in den Zug zu steigen, um zurück in die Stadt zu fahren, um ihre Freunde dort zu treffen. Würde es auch so leicht sein, ihre Freunde aus dem Badehaus wiederzutreffen? Wie schön es wäre, Lin als große Schwester zu haben, die sie einfach an der Hand nehmen würde und zusammen mit ihr die neue Gegend unsicher machen würde? Sie hatte Boh lieb gewonnen und wünschte sich nun einen kleinen Bruder, um den sie sich kümmern konnte, der sie ein wenig anhimmelte. Kamaji wäre der perfekte Großvater, der zwar grummelte, aber liebevoll und herzlich war. Zeniba würde sich um sie kümmern und für sie da sein, wie die Großmutter, die sie niemals kennengelernt hatte. Aber am allermeisten vermisste sie Haku, der von Anfang auf ihrer Seite gewesen war und nie den Glauben an sie selbst verloren hatte. Der ihr immer geholfen hatte. Sie wünschte sich eine solche Familie, wie sie sie im Zauberland gefunden hatte. Chihiro seufzte, während das Auto sie immer weiter fort von dieser traumhaften Welt brachte. Sie fühlte sich einerseits stärker und mehr in sich selbst ruhend nach ihren Abenteuern, aber andererseits auch mehr alleine als jemals zuvor. Ihre Eltern erinnerten sich an nichts mehr. Sie wussten nicht einmal, dass sie für eine Zeit Schweine gewesen waren. Sie benahmen sich noch genauso wie zuvor und waren immer noch mehr auf sich selbst fokussiert als auf irgendetwas anderes. Nur Chihiro hatte sich verändert, hatte ihre Erinnerungen noch und hatte das Gefühl, etwas Gutes hinter sich gelassen zu haben. Hoffentlich sah sie Haku sehr, sehr bald wieder. Er hatte es schließlich versprochen. Als Chihiro mit ihren Eltern am neuen Haus ankamen, wartete dort aber kein blaues Haus auf sie (es war inzwischen grün) und erst recht keine Umzugsfirma auf sie. Eine andere Familie lebte nun in dem Haus. „Das verstehe ich nicht“, grummelte ihr Vater, „wir haben doch nur einen kleinen Abstecher gemacht. Wir sind doch nur eine, höchstens zwei Stunden zu spät dran.“ Chihiro wusste natürlich, dass viel mehr Zeit vergangen war. Es waren Tage vergangen. Doch auch dieses Zeitgefühl war falsch, denn die Zeit war in Realität viel weiter fortgeschritten. Wie in den mythischen Erzählungen war die Zeit in der Realität viel schneller verflogen. Zwar keine dreihundert Jahre wie bei Urashima Taro, als er aus dem Meerespalast zurückkehrte, weil er seine Eltern vermisste und dafür das Glück mit der Prinzessin aufgab, um alle, die er gekannt hatte, längst verstorben und eine veränderte Welt vorzufinden. Doch es war ein Jahr vergangen. Ihre Eltern konnten sich das nicht erklären und Chihiros Erklärung wurde nicht einmal angehört, denn natürlich ging ihre Fantasie mit ihr durch. Während ihre Eltern also damit beschäftigt waren, ihr Leben wieder in der Normalität – mit neuem Haus, neuem Job – zu verankern, dachte Chihiro viel an ihr Abenteuer, an all die Personen, die sie getroffen hatte, und wartete jeden Tag darauf, dass sie hinter der nächsten Straßenecke ein bekanntes Gesicht erspähen würde. Manchmal glaubte sie aus den Augenwinkeln ein Rußmännchen vorbeihuschen zu sehen. Doch nie konnte sie eins entdecken, wenn sie sich umdrehte. Genauso wenig sah sie irgendjemanden aus ihrer Zeit im Badehaus wieder. Eines Tages entschloss Chihiro sich den Ort aufzusuchen, an dem sich einst der Fluss befunden hatte, aus dem Haku sie gerettet war. Sie erzählte ihren Eltern, dass sie ihre alten Freunde besuchen wollte, stieg in den Zug und machte sich auf den Weg in die Stadt. So viel hatte sich verändert in der Zeit, in der sie nicht dort gewesen war, dass sie kaum die vertrauten Straßen und Häuser wiedererkannte. Sie hatte keinerlei Erinnerungen mehr an den Tag, an dem sie in den Fluss gefallen war. Sie kannte nur die Geschichte, die ihre Mutter ihr erzählt hatte und das vertraute Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie Haku im Badehaus wiedergetroffen hatte. Chihiro konnte nicht einmal noch eine Spur von Haku hier entdecken. Überall waren Häuser, alles war betoniert und nichts deutete daraufhin, dass einmal ein Fluss sich durch die Gegend geschlängelt hatte, an dem Kinder gespielt hatten und der die Umgebung erblühen lassen hatte. Alles war grau und die einzigen Farbtupfer waren die metallenen Stangen auf dem Spielplatz, der einzige Ort, an dem hier noch Kinder spielten. Chihiro setzte sich enttäuscht auf eine Schaukel. Etwas in ihr hatte die Hoffnung geschürt, dass sie Haku hier wieder treffen würde. Er hatte schließlich gesagt, dass er bei Yubaba kündigen würde und in seine Welt zurückkehren würde. Aber natürlich war diese Welt nicht mehr die seine. Man hatte seinen Lebensraum zerstört und er war nur noch eine längst vergessene Erinnerung an schönere, grünere Zeiten. Aber wie konnten sie sich wiedersehen, wenn ihre Welt nicht mehr die seine war und sie keinen Weg mehr zurück in seine fand? Wenn es doch hier nur wieder so schön werden könnte, damit Haku sich wieder zwischen den Bäumen schlängeln konnte, sein kühles Nass sie wieder erfrischen konnte und seine sanften, zärtlichen Wogen sie wieder zurück ans Ufer bringen würde. Wenn Haku auch einfach das Badehaus als Flussgott aufsuchen könnte, um sich von all dem Schutt, von all dem Beton zu befreien. Wenn sie ihm eine besondere Kräuterbadmischung von Kamaji geben könnte, um ihn dabei zu unterstützen zu können, sich reinzuwaschen. Danach könnte Haku in diese Welt zurückkehren und sie würden sich wiedersehen. Und dann ging es ihr wie ein Licht auf. Sie musste die Reinigung in ihrer Welt durchführen. Es gab hier kein Badehaus für Götter, aber auch in ihre Welt konnte man Flüsse reinigen. Wenn sie Haku wiedersehen wollte, musste sie ihre Welt wieder zu einer Welt machen, in der Haku willkommen war. Sie hatten sich schließlich versprochen, sich wiederzusehen und sie würde alles daran setzen, um es möglich zu machen. „Warte nur, Haku“, dachte sie. „Bald sehen wir uns wieder. Versprochen.“ ~~~ „Chihiro, wach auf!“ Chihiro schlug die Augen auf, sah sich um, brauchte die Sekunde, um von der Traumwelt wieder zurück in die Realität zu finden und endlich zu wissen, wo sie war. Eindeutig nicht im Badehaus, von dem sie wie so oft geträumt hatte. Eher in einem sehr unordentlichen Bett, während jemand von oben auf sie herabblickte. Ihre Mitbewohnerin Suiko sah sie ungeduldig an. „Bist du wieder mitten in deinem Forschungsprojekt eingeschlafen? Wann lernst du es endlich, dass du zumindest vorher alles aus dem Bett nimmst, bevor du einschläfst? Das kann doch nicht gut für deine Gesundheit sein.“ Erst jetzt spürte Chihiro die Spitze des Buches, die sich schmerzhaft in ihren Rücken gebohrt hatte. Sie war schon wieder beim Lesen eingeschlafen. Sie seufzte. Um sie herum waren lose Blätter, die sich aus ihrem Berg mit Notizen gelöst hatte. Wahrscheinlich hatte sie wild geträumt und dabei den Stapel zu Fall gebracht. Hastig sammelte sie die Blätter wieder ein und strich die glatt, die geknickt waren. „Ich werde wirklich nie verstehen, warum du die Gewässerrenaturierung so spannend findest. Gut für die Natur und so, aber Menschen werden immer egoistisch ihre Umgebung verpesten.“ Suiko war immer ein wenig pessimistisch eingestellt, wenn es um Umweltschutz ging, da sie im Gegensatz zu Chihiro nicht aus erster Hand wusste, wie dankbar sich ein Flussgott nach einer ausgiebigen Reinigung zeigen konnte und welche Verwandlung er vollzog, wenn er all den Schmutz hinter sich ließ. Als sie sich für ihr Studium der Umweltwissenschaften entschieden hatte, war ihre Begegnung mit dem Flussgott im Badehaus das entscheidende Zünglein an der Waage gewesen. Nichts anderes hätte besser zu ihr gepasst und jetzt steckte sie mitten in einer Projektarbeit für eine Gewässerrenaturierung und arbeitete gerade einen Plan aus, um die Gemeinde von ihrem Projekt zu überzeugen. Sie wollte so schnell wie möglich eine Welt schaffen, in der sie Haku wiedersehen konnte. Manchmal suchte sie zwar immer noch Orte auf, wie den Wald, in dem der Eingang für das Badehaus gelegen hatte oder ihr altes Zuhause, wo Haku einst geflossen war, doch keiner dieser Besuche hatte sie ein Stück näher an Haku gebracht. Sie konnte Suiko aber schlecht die Wahrheit erzählen, denn das war in all ihren Jahren nie gut ausgegangen und man hatte sie immer nur für verrückt oder sehr fantasievoll gehalten. Und je älter sie wurde, desto öfter war es die erste Variante gewesen. Suiko erinnerte sie ein wenig an Lin, was der Grund gewesen war, warum sie sich für diese Wohngemeinschaft entschieden hatte. Ihre Eltern waren entschieden gegen Suiko gewesen, was noch ein weiterer Grund gewesen war. Klar, Suiko hatte ihre Ecken und Kanten, war eher schroff und hatten Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Interaktionen, aber in ihrem Kern war sie liebenswert und hatte sie einen einmal ins Herz geschlossen, würde sie einen bis aufs Blut verteidigen. Eben genau wie Lin. Außer das Lin nicht hier war. „Machst du jetzt hinne?“, fragte Suiko ungeduldig. „Oder willst du zu spät kommen?“ Der Blick auf die Uhr riss Chihiro aus ihren Gedanken. „Oh mein Gott. Warum hast du mich nicht früher geweckt?“ „Weil ich nicht deine Mutter bin und nur weil du verplant bist, bin ich nicht dafür zuständig, dir in den Arsch zu treten. Ich hätte dich auch noch weiterschlafen lassen können, undankbare Göre.“ „Du hast Recht. Vielen Dank fürs Wecken“, rief Chihiro, während sie schon auf dem halben Weg ins Bad war. „Du hast was gut bei mir.“ Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte, doch aus ihrer Eile in die Universität zu gelangen, wurde nichts, denn als Chihiro aus dem Bad kam, hatte Suiko die Nachrichten eingeschaltet, die von einem plötzlichen Jahrhundertsturm sprachen und dass alle dazu aufgefordert wurden, sich auf keinen Fall nach draußen zu begeben. Alle Züge und Bahnen standen still. Heute würde sie nicht mehr in die Universität kommen, es sei denn, sie wollte weggeweht werden. Chihiro ließ sich neben Suiko aufs Sofa fallen. „So viel zu dem Thema, du hättest mich weiterschlafen lassen können.“ Suiko lachte. „Dann hätte ich dein panisches Gesicht nicht gesehen und wie schnell du Zähneputzen kannst, wenn du es eilig hast.“ Chihiro verdrehte die Augen und beschloss weiter an ihrem Forschungsprojekt zu arbeiten. Wenn sie schon die Zeit hatte, konnte sie ihre Argumente verfeinern, um noch charmanter und geschickter den Gemeinderat von dem Projekt zu überzeugen. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit und hörte nicht einmal das Heulen des Windes oder wie er am Fenster zerrte. Sie sah nur den ersten Schritt in eine wundervolle Zukunft. Es dauerte drei Tage, bis der Sturm abflaute und man wieder gefahrlos die Wohnung verlassen konnte. Die Schäden, die der Sturm angerichtet hatte, waren gewaltig. In den Medien nannte man den Jahrhundertsturm, den Zorn von Susanoo, nach dem Gott des Windes und des Meeres und seinen legendären Zorn, mit dem er Flüsse austrocknete, das Gras auf den Berge verdorrte und Felder zerstörte. Seine wütenden Tränen hatte einst alles Grün von der Erde getilgt, bis er verbannt worden war. In diesem Fall waren es aber auf eher Häuser und Straßen, die zerstört worden waren, von denen es so viel mehr gab als zur Zeit der Götter. Der Sturm hatte seine Schneise nicht durch Landschaften geschlagen, sondern Städte zu Schutt und Asche gemacht. Chihiro telefonierte mit ihrer Mutter, um zu hören, wie es ihren Eltern mit dem Sturm ergangen war und ob ihr Ort vom Sturm betroffen war. Ihre Mutter meckerte über geringe Schäden am Dach und im Garten, aber ansonsten war ihr nichts passiert. „Wir können von Glück reden, dass dein Vater damals den neuen Job bekommen hat und wir umgezogen sind. Unser altes Haus wurde dem Erdboden gleich gemacht. Die ganze Siedlung ist fort. Die Natur hat sich das ganze Areal zurückgeholt. Und nicht nur das, du erinnerst dich wahrscheinlich gar nicht mehr daran, der Fluss, in den du als Kind gestürzt bist und der für die neuen Häuser zugeschüttet wurde, hat sich wieder seinen Weg zurück an die Erdoberfläche gesucht. Stell dir das einmal vor!“ Chihiro ließ fast das Handy fallen, als sie davon hörte. Ihr einziger Gedanke galt Haku, der sich einen Weg zu ihr zurück gesucht hatte. Er war wieder da. Sie musste zu ihm. Sie würgte ihre Mutter mit einer fadenscheinigen Ausrede ab und rannte in ihr Zimmer, um ein paar Dinge zu packen. Hoffentlich fuhren die Züge schon wieder. Sie musste sofort dorthin. Bevor die Aufräumarbeiten begannen und sie den Fluss wieder zuschütten würden. Davor musste Chihiro Haku sehen, ihn beschützen. Das war alles, was jetzt für sie zählte. Die Züge fuhren noch nicht wieder, dafür waren die Schäden an den Bahnstrecken zu immens. Doch Chihiro fand eine freundliche, ältere Frau, die sie mit ihrem Auto in die richtige Richtung mitnahm und ihr von ihrer Sorge um ihre Kinder erzählte. Sie erinnerte Chihiro an Zeniba, da sie ebenfalls diese sanfte, freundliche Art hatte, die einem das Gefühl gab, in Sicherheit zu sein. Sie schenkte Chihiro einen Beutel voll Kekse und gab ihr ihre Nummer für den Fall, dass sie eine Fahrt zurück brauchen würde. Chihiro erreichte also einige Stunden später den Ort, an dem sie Haku zum ersten Mal begegnet war. Der Ort, an den sie es all die Jahre immer wieder hingezogen hatte. Die Verwüstung war enorm. Der Sturm hatte den Beton aufgerissen und die Häuser beiseite gefegt. Wäre sie nicht so ekstatisch Haku wiederzusehen, hätte die Zerstörung sie vielleicht mehr verstört, doch sie sah nur das Wasser, das sich den Weg nach oben gebahnt hatte. „Wasser findet immer einen Weg“, dachte sie begeistert. Der einzige Weg zu Haku, der ihr einfiel, war der Sturz ins Wasser. Der Fluss war zwar kaum mehr als ein Bach, der sich seinen Weg zurück an die Oberfläche kämpfte, aber wenn sie hinab tauchte, würde sie wie im Märchen am Boden den Palast erspähen und dort würde Haku auf sie warten. Daran glaubte sie. Chihiro tauchte ins Wasser hinein. Es war trüb und dreckig. Wie so oft wünschte sie sich Kamajis Kräuterbad herbei, um all den Dreck fortspülen zu können. Sie kniff die Augen zusammen, weil das Brackwasser brannte und schwamm blind und ziellos umher. Plötzlich merkte sie einen Ruck, als würde sie von etwas angesogen werden. Sie ließ es ohne Gegenwehr zu, und als sie die Augen aufschlug, befand sie sich an einem anderen Ort. Es war wirklich wie in einem Märchen. Es gab zwar keinen Palast, aber sie war wieder zurück in einem Zauberland. Nur dieses Mal war es kein Badehaus, sondern eher ein kleiner Shinto-Schrein, der am Boden des Flusses stand. Das Tor war beschädigt und hing schief. Das Dach war halb abgedeckt und alles wirkte ein wenig wackelig, aber es strahlte dieselbe Ruhe und Zuversicht wie Haku aus. Chihiro ging vorsichtig näher und ließ ihren Blick schweifen auf der Suche nach der Person, die sie suchte. Um sie herum waren plötzlich Fische, die mit ihren glitzernden Schuppen sie fast blendeten. Sie schwammen näher und stoben wieder auseinander, kurz bevor sie Chihiro erreichten. Sie musste lachen. Es erinnerte sie ein wenig an die Papierflieger, mit denen Zeniba Haku gejagt hatte, nur waren diese freundlich gesinnt und auf einen Spaß aus. Es war wunderschön, ihrem Tanz zu zusehen. Und dann sah Chihiro ihn. Er war noch genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er stand am Rand des Schreins und blickte nach oben, als ob er auf etwas wartete. „Haku!“ Chihiro fiel ihm um den Hals, so glücklich war sie ihn endlich wiederzusehen. „Chihiro!“ „Haku, ich hab gedacht, ich würde dich nie wiedersehen. Ich bin so froh!“ Die Tränen quollen ihr aus den Augen über und sie konnte Haku gar nicht mehr richtig sehen, aber sie spürte ihn. Er war hier, er war echt. Endlich waren sie wieder vereint. „Ich hab dich vermisst“, gestand sie ihm unter all den Tränen. „Ich hab dich auch vermisst“, sagte er und erwiderte ihre Umarmung. „Aber ich konnte nicht zurück in deine Welt, denn meine Quelle war versiegelt.“ „Ich weiß, ich wollte eine Welt schaffen, in die du zurückkehren konntest. Doch der Sturm kam mir zuvor. Welch ein Glück!“ Haku lächelte traurig. „Sag das nicht. All diese Zerstörung für ein kurzes Wiedersehen.“ „Du hast Recht. Mir wäre natürlich auch ein anderer Weg lieber gewesen, aber ich wollte dich schon so lange wiedersehen. Wie konnte ich diese Gelegenheit ignorieren?“ Chihiro sah Haku an, dass er noch etwas vor ihr verbarg und erkannte, dass es mehr als nur Zufall gewesen war, dass der Sturm ausgerechnet seine Quelle befreit hatte. „Der Sturm war dein Werk? Haku, ich dachte, du willst nicht mehr für böse Hexen arbeiten und dich ausnutzen lassen, sondern frei über dein Schicksal bestimmen. Hast du etwa wieder eine Vereinbarung mit Yubaba getroffen?“ „Nicht mit Yubaba, nein. Dafür sind ihre Kräfte nicht groß genug und sie hätte mich auch nicht wieder zurückgenommen. Sie ist immer noch wütend darüber, dass wir ihrem Zauber entkommen sind. Nach uns haben noch mehr Angestellte ihren Namen herausgefunden und gekündigt. Ich habe gehört Lin und Kamaji haben jetzt ihr eigenes Badehaus in der Stadt auf der anderen Seite des Meeres eröffnet und werben Yubabas Kundschaft ab, indem sie das beste Kräuterbad und den freundlicheren Kundenservice anbieten.“ „Oh, das freut mich für Lin. Ist Großväterchen immer noch so griesgrämig wie eh und je?“ Haku lachte. „Er beschwert sich immer noch über die harte Arbeit, aber er meint es nicht mehr so. Es liegt in seiner Natur zu meckern. So sind alte Männer einfach.“ „Und was ist mit Boh? Ist er inzwischen ein reifer Junge geworden? Und hast du von Zeniba und Ohnegesicht gehört? Ist er immer noch gut und geht ihr zur Hand?“ Begierig wollte Chihiro mehr über ihre ehemaligen Weggefährten hören und vergaß darüber völlig ihre eigentliche Frage nach dem Ursprung des Sturmes. Haku beantwortete all ihre Fragen und umschiffte seine Rolle bei dem Sturm geschickt, denn natürlich war es kein Zufall gewesen, dass der Sturm so heftig gewesen war, denn es war wirklich Susanoo selbst gewesen, der diesen Sturm über Japan hinweggefegt hatte und Haku hatte viele Abenteuer bestehen müssen, um Susanoo davon zu überzeugen. Doch das war eine andere Geschichte. Bald saßen Chihiro und Haku beieinander und erzählten sich von ihren Leben. Was war alles geschehen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Es waren so viele Jahre ins Land gezogen und Chihiro wollte alles über Hakus Leben hören. War es ihm gut ergangen? (Ja war es.) Was machte er nun, wo er nicht mehr bei Yubaba als Lehrling arbeitete? (Er hatte sich selbst als Zauberer etabliert und half allen Wesen, die unter einem Zauberbann standen.) Hatte er sie vermisst? (Ja sehr.) Die Zeit floss so dahin und Chihiro fühlte sich so glücklich wie sonst nur bei der Arbeit an ihrem Projekt. Davon erzählte sie Haku auch ausführlich und er hörte ihr zu, stellte Rückfragen und schlug Dinge vor. Wann konnte man schon einmal eine Flussgottheit zu seiner Meinung zu Gewässerrenaturierung befragen? Doch ganz perfekt war die Idylle nicht. Immer noch war das Wasser trüb und der Dreck wirbelte umher. Man konnte von hier unten gar nicht das Licht von oben sehen, dabei konnten sie gar nicht so tief unten sein. „Kannst du nicht ins Badehaus von Kamaji und Lin gehen?“, fragte Chihiro besorgt über den Zustand des Wassers. „Dafür reichen meine Kräfte nicht. Bald wird meine Quelle wieder versiegen, denn ich hab nicht die Kraft, mich durch den Beton zu bohren und mir meinen Weg in die Freiheit zu suchen. Ich bin zu schwach und kurz davor ganz zu verschwinden.“ Erst jetzt erkannte Chihiro, wie blass Haku war. Er sah nicht gesund aus. Er war ausgemergelt und sie bekam es mit der Angst zu tun, die in ihr ein Feuer entfachte. „Nein!“, rief Chihiro aus. „Das lasse ich nicht zu. Wenn du keine Kraft dafür hast, werde ich die Kraft aufbringen. Ich werde dich beschützen. Deine Quelle wird weiter sprudeln und du wirst wieder einen Weg finden, um dein Flussbett auszubreiten und ich werde dich so oft besuchen kommen, wie ich nur kann. Du wirst schon sehen! Ich mag vielleicht kein Badehaus besitzen und keine Kräutermischungen wie Kamaji kreieren können, aber es gibt moderne Techniken, um das Wasser von Müll und Verunreinigungen zu reinigen. Man kann Öl aufsaugen und man kann ein Flussbett wieder in seinen natürlichen Ursprung zurückversetzen. Warte nur und staune.“ „Ich staune jetzt schon“, erwiderte Haku. „Weißt du eigentlich, wie stark und mutig du geworden bist, Chihiro? Ich habe Vertrauen in dir. Du kannst mit deinem Willen Berge versetzen. Wenn du da bist, bin ich mir sicher, dass meine Quelle nicht versiegen wird.“ „Doch dafür kann ich nicht hierbleiben, oder?“ Chihiro wurde bewusst, dass sie Haku wieder verlassen musste. Jetzt, wo sie ihn gerade wieder gefunden hatte. Doch sie konnte ihm nur helfen, wenn sie auf der anderen Seite des Flusses war, wenn sie in ihrer eigenen Welt war. Sie griff nach seiner Hand. „Ich bin so froh, dir begegnet zu sein. Du bist für mich Familie und Heimat zugleich. Eine Welt ohne dich wäre furchtbar trist. Ohne dich wäre ich im Badehaus verloren gewesen und hätte mich selbst vergessen. Du hast mich immer beschützt. Also werde ich alles daran setzen, damit ich dich rette und du Teil dieser Welt bleibst.“ „Danke Chihiro. Das bedeutet mir unglaublich viel. Wärst du nicht gewesen, wäre ich immer noch bei Yubaba im Dienst und würde in ihrem Auftrag Böses tun. Ich wüsste nicht, wer ich bin und man hätte mich schon längst vergessen. Du hast mir meinen wahren Namen zurückgegeben und mich von dem bösen Zauber befreit. Du hast mich schon längst gerettet.“ „Ich werde nie aufhören, dich zu retten.“ Chihiro umarmte Haku noch einmal. „Und ich werde nie aufhören, dich zu beschützen“, versprach Haku ihr ebenso. Chihiro ließ nur ungern Hakus Hand wieder los, aber sie wusste, es war Zeit, in ihre Welt zurückzukehren und weiter für ihren Traum zu kämpfen. Sie würde eine Welt schaffen, in der sie Haku immer wieder besuchen konnte. Das hier war nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Sie würden sich wiedersehen. Dieses Mal war sie sich ganz sicher. Chihiro würde für ihr Badehaus kämpfen, für ihre Form der Reinigung und die Welt zu einem besseren magischen Ort machen, an dem Götter und Menschen wieder Seite an Seite existieren könnten. „Diesmal beschütze ich dich versprochen. Wir sehen uns bald wieder.“ „Bis bald, Chihiro.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)