Mein ist die Rache von Tach ================================================================================ Kapitel 5: ----------- IV. "Ihr könnt nicht ernsthaft einen ganzen Sous für so ein kleines Brot verlangen, ihr seid gierig. Ganz abgesehen davon, dass es ziemlich hart ist. Mit ein bischen Glück ist es vielleicht einen halben Sous wert, aber niemals einen ganzen." "Dann kauft halt wo anders!" "Ich denke ja gar nicht daran! Verkauft ihr lieber zu einem gerechtfertigten Preis!" "Der Preis ist gerechtfertigt!" "Monsieur ihr macht euch lächerlich. Womit habt ihr gebacken? Goldstaub?" Aramis diskutierte bereits seit einer gefühlten Ewigkeit mit einem Bäcker aus der Rue St. Genevieve, der Straße, die zum gleichnamige Kloster auf dem gleichnamigen Hügel führte, und zog mittlerweile ein beachtliches Publikum an, während Athos immer noch nicht verstand, was an einem Sous übertrieben war. Für ihn stellte es nun wahrlich keine große Geldmenge dar. Aber Aramis würde schon ihre Gründe haben. Er hoffte lediglich, dass sich diese Diskussion nicht ewig hinziehen würde, immerhin hatte er noch einiges zu besorgen und nur noch einen halben Tag Zeit. Wenn sie allerdings vor hatte, an jedem Stand um derartig lächerliche Beträge zu feilschen, wäre das Brot verschimmelt bevor er überhaupt alles beisammen hatte. Während Aramis eine persönliche Meinungsverschiedenheit ausfocht, kamen Porthos und D'Artagnan ihrem Ziel einen Schritt näher. Sie waren noch einige Zeit auf der Suche nach Hinweisen durch die engen Gassen gewatet, hatten von niemandem eine konkrete Antwort erhalten und waren kurz davor gewesen aufzugeben, als sich doch noch jemand fand, der bereit war, ihnen einen Hinweis zu geben. Eine kleine, hagere Gestalt mit wässrigen blauen Augen, die sich immer wieder nervös umsahen, und schorfigem Schädel. "Man sagte mir, ihr sucht Clovis?" "Was, wenn dem so wäre?" D'Artagnan bemerkte mit Erstaunen das gespielte Desinteresse, das bei der Erwähnung des Namens in Porthos' Gesicht Einzug hielt. Er war wirklich ein schlechter Schauspieler. "Nun, dann könnte ich euch vielleicht helfen. Vorausgesetzt natürlich, ich habe auch einen Vorteil davon, nicht nur Nachteile. Ihr werdet sicherlich verstehen, dass es nicht gern gesehen wird wenn man seinesgleichen in den Rücken fällt." Wieder wanderten seine Augen durch die Gegend und fast schien es D'Artagnan, als würde jedes seine eigenen Wege gehen und in die dem anderen entgegengesetzte Richtung driften. "Natürlich! Also?" "Tagsüber hält er sich meistens an den Landebrücken auf, er meint er könnte dort noch etwas abfangen und zu Geld machen." "Er bestiehlt also Kaufleute..." "Genau..." "Und woher weißt du das so genau? Beteiligst dich wohl am Ende noch?" "Gott verhüte Monsieur, niemals würde ich einen hohen Herrn bestehlen. Ich mach mich krumm um zu erarbeiten, was ich zum Leben benötige." Er legte die Hände vor die Brust, als würde er jeden Moment den Herrn selbst um Unterstützung gegen diese Unterstellung bitten. Noch ein schlechter Schauspieler, ging es D'Artagnan durch den Kopf. "Natürlich! Wo können wir euch finden, um euch eure Hilfsbereitschaft zu danken?" "Im Gasthaus mit dem roten Hund. Wisst ihr wo ihr das findet?" "Durchaus. Wir sind häufiger dort..." "Fein. Fragt einfach nach Cornelis, ich werde euch erwarten!" "Natürlich!" Cornelis und die Musketiere trennten sich so unauffällig, wie sie zusammengekommen waren, jeweils mit einem zufriedenen Ausdruck auf den Zügen. Porthos hatte die Informationen, die er besorgen sollte, und Cornelis war voller Vorfreude auf eine üppige Belohnung. "Roter Hund...ein ziemlich dämlicher Name." "Genauso dämlich wie sein Wirt und nicht ganz so dämlich wie seine Untermieter. Wir hatten eine Zeit lang ziemlich viel Ärger mit diesem Gesindel." "Und was wird seine Belohnung sein?" Athos hatte Recht behalten, er machte hier wirklich viele neue Erfahrungen. "Belohnung? Machst du Witze? Der wird zum Dank neben seinem Freund am Pranger stehen." In den Hallen von Paris kam ein anderer Musketier zu neuen Erkenntnissen: Auch ein starrsinniger Bäcker wurde einmal mürbe, wenn er auf ebenso starrsinnige Kundschaft traf, die nicht bereit war, den geforderten Preis zu zahlen. Aramis hatte ihr Brot für weniger als einen halben Sous bekommen und der Auslage mit erhobenem Haupt den Rücken gekehrt, während die imposante Gestalt im mehligen Hemd sichtlich in sich zusammengesunken war. Sie hatte ihn unter lautem Jubel von Mägden und Hausfrauen in Grund und Boden geredet "Ich bin beeindruckt..." "Vielen Dank!" "...auch wenn ich nicht weiß, was an einem Sous übertrieben ist." "Normalerweise nichts, aber mit diesem Brot kannst du jemandem den Schädel einschlagen." "Soso, und warum haben wir dann kein weicheres gekauft?" Erneut tastete er sich auf der Suche nach einem Taschentuch ab. "Aus einem ganz einfach Grund. Du wirst zu dieser Tageszeit kein weißes Brot mehr finden, schon gar nicht hier. Aber irgendwann wirst du auch das lernen!" Weißes Brot war ein Privileg der höheren Gesellschaft von Paris, die ihre Dienerschaft bereits am frühen Morgen in die Hallen schickte, um sich die besten Angebote zu sichern. Für das gemeine Volk blieben da nur die mangelhaften Waren. Fleckiges Obst, Salatköpfe mit schlaff herunterhängenden Blättern, hartes Brot und erbärmlich stinkender Fisch waren Alltag in den Töpfen der normalsterblichen Pariser. Der vielgerühmte Geschmack exotischer Früchte entfaltete sich nicht auf der Zunge eines Gerbers oder Schusters. Es war eigenartig. Wie konnte ein so intelligenter Mann, vertraut mit der europäischen Politik und den Lehren eines Kopernikus, der neue wissenschaftliche Theorien aufsog wie ein Schwamm und Bücher las, von denen die meisten seiner Kollegen nicht einmal die Titel verstanden, an einem so einfachen sozialen Gefüge wie einem Markt scheitern? "Warst du je in deinem Leben auf einem richtigen Markt? Sei ehrlich!" "Du meinst zum Einkaufen?" Endlich hatte er das kleine weiße Tuch gefunden, nach dem er schon seit Minuten gesucht hatte. "Natürlich..." "Nein, tut mir leid. Was diese Art Märkte angeht begrenzen sich meine Erfahrungen auf die Jagd von Taschendieben." Er schnäuzte sich gut hörbar. "Mein Interesse liegt eher bei Pferdemärkten." Aramis seufzte. Vielleicht kannte er sich mit toten Tieren ja genau so gut aus wie mit lebenden. Auch D'Artagnan erwischte sich zum wiederholten Male dabei, wie er laut seufzte. "Porthos ich verstehe das nicht! Warum sollte dieser Clovis sich hier aufhalten? Der Fluß ist fast völlig zugefroren, also wird sich auch kein Händler mit einem Schiff hierher verirren. Demnach gibt es hier auch nichts zu klauben..." Tatsächlich war der größte Fluss Frankreichs fast vollständig von einer Eisschicht bedeckt. Nur in der Mitte hatte ein schmaler Streifen den eisigen Temperaturen getrotzt; hier wälzte sich das dunkelblaue Wasser sanft rauschend Richtung Ozean. "Glaubst du wirklich dass ein Händler anwesend sein muss, wenn man ihn berauben will? Ich denke nicht. Sieh dich doch nur mal um. Das ganze Ufer besteht aus Speichern und Kontoren. Hier findet sich immer irgendetwas, dass man zu Geld machen kann, wenn man sich nicht erwischen lässt. Sonst landet man da drüben!" Porthos Finger, der bis dahin der Reihe der Gebäude zum Horizont gefolgt war, machte eine schnelle Bewegung zum anderen Ufer. Ihnen gegenüber streckte sich ein Turm, massiv und furchteinflößend, gen Himmel. Schnell entdeckte D'Artagnan den Holzbalken, der hoch über dem Boden aus den Steinen ragte und an dessen Ende ein langes Tau befestigt war, das im Wind hin und her schwang. D'Artagnan konnte seinem Freund nicht folgen. Was hatten Diebe mit einem Kran zu schaffen, denn darum handelte es sich ja ganz offensichtlich. Ein Kran zum Entladen von Booten, wenn auch etwas unpraktisch gebaut. Aber immerhin, es hatte ein Tau, an dem man die Waren befestigte. Vergeblich suchte er nach einem Flaschenzug. Dieser Turm war wirklich ungeeignet und vermutlich schon lange ausser Betrieb. Fragend sah er Porthos an. "Siehst du die Schlaufe da unten?" Er deutete auf das freie Ende des Taus und sah D'Artagnan erwartungsvoll an. "Da werden sie durchgefedelt und können dann auf die Landebrücken schauen bis die Raben ihnen die Augen ausgefressen haben!" Porthos legte den Kopf schief und liess die Zunge schlaff heraushängen. D'Artagnan hatte Mühe, den dicken Kloß herunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Bis jetzt hatte er gedacht, er kenne Paris, doch was er heute zu sehen bekommen hatte ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die vielgerühmte, schillernde Dame Paris hatte ihm ihre faulige und makabere Kehrseite gezeigt. Porthos schien dies jedoch als selbstverständlich hinzunehmen: "Du hast Pech. Normalerweise bewegt der Wind das Seil nicht so leicht. Da hängt sonst immer ein ganz ordentliches Gewicht dran. Da sieht man dass der Turm nicht ganz grade steht. Hat Athos mir erklärt. Aber im Winter sind die Vögel einfach schneller da, um sich die besten Brocken zu sichern bevor das Fleisch friert. Und je eher sie zerfressen sind, desto eher werden sie wieder abgeknüpft. Eigentlich schade. Zerfressen sind sie immer noch die beste Abschreckung." D'Artagnan beschloss ihm zu verschweigen, dass er für diesen Umstand recht dankbar war. Sein Interesse an toten Menschen war von Natur aus gering und für die nächste Zeit schon gedeckt. Statt dessen versuchte er seine Aufmerksamkeit auf die umliegenden Gebäude zu richten. Vielleicht hatten sie ja tatsächlich Glück und dieser Clovis ließ sich hier blicken. "Und was ist, wenn er nicht bereit ist mit uns zu reden?" "Davon können wir ausgehen denke ich. Wir müssen ihm halt gut zureden, um ihn von unseren Absichten zu überzeugen." Das war einleuchtend. Weniger einleuchtend war, warum Porthos von ,gut zureden' sprach und sich nebenbei die Fäuste strich. Derweil klopfte eine knochige Hand an die Tür des Hauptquartiers und wartete auf Einlass. Ein älterer Herr im grauen Livree öffnete und musterte ihn aus hellen Augen. Wie diese Gestalt da vor ihm stand, in sich zusammengefallen und mit blutunterlaufenen Augen, machte er weder einen sehr autoritären noch Vertrauen erweckenden Eindruck. Vielmehr schien er dem Wahnsinn verdammt nah zu sein. "Wen darf ich melden?" "Ludovic Menard, Monsieur. Monsieur Cormier schickt mich." "Kommissar Cormier?" "Oui, Monsieur!" Er machte eine leichte Verbeugung und bemerkte so nicht, dass sich das Gesicht seines Gegenübers entspannte. Wenn der Polizeikommissar ihn schickte, konnte er zumindest nicht des Wahnsinns sein. "Tretet ein und wartet hier unten. Ich werde Monsieur de Treville melden, dass ihr hier seid." Er ließ das Häuflein Elend am Fuß der Treppe stehen und eilte - so schnell es die müden Knochen erlaubten - in das Arbeitszimmer de Kapitäns der Musketiere im ersten Stock. Dieser war, wie so häufig in letzter Zeit, missgestimmt und nicht bereit, mit irgendjemandem zu reden, und wenn es sich dabei um den König persönlich handelte. Die Kälte war ihm schon im November in die Knochen gezogen und seit dem nicht wieder verschwunden. Vor kurzem hatte er beschlossen, die unwirtlichen Temperaturen mit einem stetig brennenden Kamin und warmem, gewürztem Wein zu bekämpfen. Entsprechend herzlich fiel auch seine Reaktion auf den Besucher aus. "Ein gewisser Monsieur Menard wünscht euch zu sprechen..." "Soll wieder gehen! "Kommissar Cormier schickt ihn." "Dann soll er erst recht verschwinden. Ich bin nicht verantwortlich für die Unfähigkeit der Pariser Polizei." "Wollt ihr ihn nicht wenigstens anhören. Vielleicht ist es wichtig. Er macht einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck wenn ihr mich fragt!" "Tu ich aber nicht!" Er zögerte. "Herrgott, jetzt schickt ihn schon herein. Ihr gebt ja doch keine Ruhe!" Aramis strich sich nervös über den Nasenrücken. Die Zeit rann ihnen durch die Finger und die Menschenmassen vor ihnen schienen undurchdringlich. Was war nur in dieser Stadt los? Krochen die Leute nur noch aus ihren Löchern wenn es ihnen nicht mehr sofort die Zehen abfror sondern sie eine Gnadenfrist von einigen Minuten bekamen? Oder waren all diese Leute plötzlich und unter ominösen Umständen zu Geld gekommen, dass sie jetzt in Pökelfleisch anlegten? Wohl kaum. Also sollten sie doch bitte alle ganz schnell verschwinden. "Hier muss es heute nur so vor Taschendieben wimmeln." "Und Gott sei Dank käme nur ein absoluter Volltrottel auf die Idee, einen Musketier zu bestehlen..." Taschendiebe waren das letzte, woran sie jetzt noch denken wollte. Diebe bedeuteten Arbeit und auf die konnte sie gerade gut verzichten. "Entschuldigung meine Herren," Aramis spürte ein zaghaftes Tippen auf ihrer Schulter, "wären sie so freundlich mich vor zu lassen?" Sie drehte sich in die Richtung, aus der die helle Stimme kam, hatte aber Schwierigkeiten, die Sprache des jungen Mädchens vor sich als Französisch auszumachen. Die Worte klangen hart und merkwürdig in die Länge gezogen, nicht wie die ihr bekannten Formen ihrer Muttersprache. Sie kannte den etwas spröden Dialekt der Alpengegend aus ihrer Kindheit und Jugend, das betörend reine Französisch, das am Hof und entlang der Loire gesprochen wurde und anhand dessen es ihr sofort möglich war, Athos' Heimat zu erkennen, die teilweise recht derbe Aussprache der Pariser. Aber nichts von alledem klang vergleichbar mit dem, was sie hier eben gehört hatte. Immer noch sah die kleine Person sie aus großen blauen Augen an. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht 16, schätzte Aramis. Auf keinen Fall älter. Das einfache grüne Kleid war gepflegt, der Weidenkorb schon gut gefüllt. Da fanden sich einige frische Gemüse neben warmem, duftendem Brot. Und Pfirsiche. Es war beinahe unmöglich, um diese Jahreszeit an Pfirsiche zu gelangen, ohne sich zu ruinieren. "Entschuldige, was hast du gesagt?" "Ich fragte, ob ihr mich vielleicht vorlassen wollt, Monsieur!" Sie machte einen leichten Knicks, ohne den Blick auch nur für den Bruchteil einer Sekunde von Aramis abzuwenden. "Monsieur?" Athos grinste. "In wessen Diensten stehst du?" "Mein Herr ist Graf von Rosenbaum, Monsieur." Erneut machte sie einen Knicks. "Das erklärt einiges." Athos nickte bedächtig. "Also für mich erklärt das gar nichts. Könntest du mich vielleicht in dein Allwissen einweihen? Ich wäre dir ewig dankbar!" Aramis registrierte den verständnislosen Ausdruck auf dem Kindergesicht, überging ihn aber gekonnt. "Hanns Friedrich von Rosenbaum." "Und weiter?" "Er ist der bayrische Gesandte, der in den nächsten tagen am Hof erwartet wird." "Bayrischer Gesandter? Haben wir nicht schon einen Gesandten aus der Gegend?" Aramis gab sich nur ungern diese Blösse, aber bei all den Gesandten, die ständig am Hofe ein- und ausgingen, hatte sie schon vor langer Zeit den Überblick verloren. Ständig wurde einer abberufen und ein neuer ernannt, dass sie es schnell aufgegeben hatte, sich deren Namen und Gesichter einzuprägen. "Nicht aus Bayern. Das ist erst seit 1623 Kurfürstentum, also erst gut zwei Jahre." "Und da schicken die jetzt erst jemanden, der sich beim König beliebt machen soll? Hat aber lange gedauert." "Sagen wir mal so, wenn sie zum Handeln so lange brauchen wie zum Sprechen war das schon eine Glanzleistung, innerhalb dieser Zeit alles zu organisieren." Die zarte Gestalt im grünen Kleid nickte eifrig, schien jedoch nur die Hälfte der Unterhaltung verstanden zu haben. Vermutlich war es auch besser so. "Dann verstehe ich aber nicht, warum ich im Palast noch nichts von seiner Ankunft gehört habe!" Wieder strich Aramis sich über die Nase. "Die Herrschaften leben nicht im Palast." Dieser Satz war schon deutlicher zu verstehen. Für Aramis war es jedoch schon ein Wunder, dass die Bediensteten des Gesandten überhaupt ein Wort Französisch sprachen. Das war keinesfalls die Regel. "Sondern?" "In der Place Royale," sie dachte kurz nach. "Heißt das so? Place Royale?" Aramis nickte, auch wenn sie lieber gelacht hätte. Der Dialekt dieses Mädchens klang einfach grotesk. "Lasst ihr mich nun vor, Monsieur?" "Madmoiselle! Und nein, ich lasse dich nicht vor." Unter anderen Umständen hätte sie durchaus die Freundlichkeit besessen, aber im Moment war ihr einfach nur kalt und sie wollte jede Verzögerung in der Abarbeitung ihres Plans vermeiden. Der alte Mann vor ihm sah tatsächlich erbärmlich aus. Hätte Treville es hier mit einem Hund und nicht mit einem Menschen zu tun gehabt, er hätte ihn erschießen lassen. Die nassen, roten Augen saßen tief in den dunklen Höhlen, die lange schmale Nase lief in einem fort, die Lippen, bis eben noch hellblau, waren blass und die Wangen eingefallen wie Dörrobst. Aber seine Kleidung war ordentlich. Kein besonders gutes Tuch, aber auch nicht schäbig. Ganz offensichtlich fiel es dem Kapitän schwer, ihm in's Gesicht zu sehen, während er auf einen Laut wartete. Statt dessen versuchte er, sich auf Monsieur Menards Hände zu konzentrieren. Ludovic Menard hatte seine Hände im Schoß gefaltet, in der Hoffnung, so ihr Zittern zu unterdrücken. Er war gescheitert und machte jetzt den Kapitän mit den unkontrollierten Zuckungen nervös. "Was kann ich für euch tun, Monsieur?" "Monsieur Cormier hat mich zu euch geschickt, er sagte mir, dass ihr mir vielleicht helfen könntet." "Das kommt auf euer Problem an. Ich hoffe ihr seid euch der Tatsache bewußt, dass wir uns nicht mit jeder Kleinigkeit befassen können, die irgendeinem Untertan seiner Majestät des Königs auf die Nieren drückt." Er wurde in den letzten Wochen nicht müde zu erwähnen, wem die Musketiere eigentlich dienten. "Durchaus, Monsieur." "Also? Weswegen hielt man uns für geeigneter, euch zu helfen?" "Nun, Monsieur, meine Tochter ist gestern Abend nicht nach Hause zurückgekehrt, und ich mache mir Sorgen. Ich muss euch wohl nicht sagen, wie gefährlich diese Stadt ist, besonders bei Nacht, und ich habe Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte." Langsam wurde de Treville hellhörig. Wie viele Väter in Paris konnten ihre Tochter schon seit letzter Nacht vermissen? "Sie ist ein gutes Mädchen müsst ihr wissen. Sie ist nie einfach von zu Hause weggeblieben, meine Manon. Und auch in der Nachbarschaft hat sie keiner gesehen. In der Wäscherei war sie heute früh auch nicht. Sie arbeitet nämlich dort, müsst ihr wissen. Sie verdient uns ein kleines Zubrot, damit wir über den Winter kommen." Treville war nicht an der Lebensgeschichte der Familie Menard interessiert, also beschloss er den besorgten Vater zu unterbrechen. "Wie alt ist eure Tochter?" "19, Monsieur." "Könntet ihr sie beschrieben?" "Sehr gerne Monsieur. Manon ist ungefähr so groß wie ich," Er stand auf und Treville schätzte ihn auf knapp 5 Fuß, "helles Haar, blaue Augen und das Kleid aus dunkelbraunem Stoff. Nichts besonderes, wisst ihr, wir sind nicht so reich, dass ich ihr ein schönes Kleid kaufen könnte. Ach ja, und sie trägt eine kleine weisse Haube. Sie ist verlobt, müsst ihr wissen. Ein sehr anständiger Kerl." Trug das Mädchen eine Haube, als seine Musketiere sie fanden? Treville wusste es nicht. Aber so ein Häubchen konnte schnell verloren gehen. Es war also nicht von all zu großer Bedeutung. "Hält sie sich vielleicht bei ihrem Verlobten auf?" Treville sah, wie sich die müden Augen vor Entrüstung weiteten. "Monsieur, ich sagte doch bereites, dass meine Tochter ein anständiges Mädchen ist. Sie würde nicht einmal einen Gedanken an so etwas verschwenden." Die rauhe Stimme begann, sich zu überschlagen, dann wurde er wieder still. Treville kannte diese anständigen Mädchen. Man sah sie an und war sich sicher, sie könnten kein Wässerchen trüben, weil diese großen blauen Augen einen so vertrauensvoll ansahen und das blonde Haar den Heiligenschein zu ersetzen schien. Und am nächsten Tag standen sie in Uniform vor einem und...Treville schüttelte den Kopf. "Könntet ihr mir den Namen ihres Verlobten nennen? Vielleicht erfahren wir durch ihn mehr über den - ," Treville holte tief Luft. "- Verbleib ihrer Tochter." Für Treville war klar, dass er den Namen seiner Leiche soeben auf dem Präsentierteller geliefert bekommen hatte, aber er war nicht bereit, diesen alten Mann über den Verlust seiner Tochter in Kenntnis zu setzen. Das würde er den Mitarbeitern des Hospitals überlassen, in dem seine Tochter aufbewahrt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)