The Wild Child von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Das Kind ------------------- Das Kind Als mein Onkel Calmach auf die Burg meines Großvaters zurückkehrte, war ich erst vier Jahre alt. Jener Tag im Spätfrühling ist eine sehr bewusste Erinnerung geblieben. Es war außergewöhnlich warm. Ich war draußen im Garten und fütterte die kleinen Affen - Tiere aus einem Land weit im Süden, von dem uns zwei Ozeane trennten. Ein Freund meines Großvaters hatte sie ihm zum Geschenk gemacht, noch bevor ich geboren wurde. Vor den Lieblingsgemächern des Königs lag eine Terrasse, und von dort aus führte eine Treppe hinunter in den Garten. In der Mitte stand ein Brunnen, alles war mit grün bewachsen, Apfel-, Feigen-, Pfirsich- und sogar Affenbrotbäume standen dort. Eigentlich hätte ich mich dort gar nicht aufhalten dürfen, aber ich dachte, mein Großvater sei an diesem Tag im Dorf und würde erst am späten Nachmittag wieder zurückkommen und außer ihm hatte niemand etwas dagegen, dass ich mich dort aufhielt. Fünf oder sechs Affen kamen heran gelaufen, als ich sie fütterte. Sie hatten alle lange Leinen um ihren Hals, die verhindern sollten, dass sie davonliefen. Die ganze Anlage war von einer hohen Steinmauer umgeben. Hinter dieser Mauer erklangen plötzlich Hufgeräusche. Die Affen wedelten mit ihren langen Schwänzen. Überrascht lief ich zum Tür am anderen Ende des Gartens, um in den Hof sehen zu können. Etwa ein Dutzend Pferde erblickte ich dort; sie trugen eine Standarte mit einem Banner, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ein hoch gewachsener Mann stieg von einem der Pferde. Ich konnte mich an diesen Mann erinnern, obwohl ich ihn auch so an seinem Aussehen als meinen Onkel Calmach erkannt hätte, denn er war genau so breitschultrig wie mein Großvater und hatte das gleiche rotblonde Haar wie er und meine Mutter. Und der Mann, der ihm nun gegenübertrat, um ihn zu begrüßen war der König, mein Großvater. Erschrocken darüber, dass er doch nicht im Dorf war, versteckte ich mich hinter der Mauer. Ich hörte, wie die beiden Männer sie begrüßten und dann in den Palast hineingingen. Ich sah die Affe, die sich mir näherten, um gefüttert zu werden; sie versuchten nie, ihrem Gefängnis zu entkommen und an ihren Fesseln zu zerren. Ich war mir sicher, dass ich mich an ihrer Stelle wehren und davonlaufen würden Calmach war der zweitälteste Sohn meines Großvaters gewesen, doch sein älterer Bruder, mein Onkel Dyved, war an schrecklichen Magenschmerzen und unter Krämpfen gestorben. Und da seine Witwe kinderlos war, stand nun Calmach an erster Stelle der Thronfolge, auch wenn ein paar Sklaven einmal gemunkelt hatten, Dyved sei vergiftet worden - und zwar von Calmach. Plötzlich rief eine wütende Stimme meinen Namen und riss mich damit aus meinen Gedanken: "Myrlin!" Bevor ich mich richtig umgesehen hatte, stand mein Großvater hinter mir, packte mich am Ohr und zerrte mich zur Terrasse. "Ich hab dir doch gesagt, dass du die Affen nicht füttern sollst. Und hier hast du auch nichts verloren, was machst du hier?" "Ich dachte, du seiest im Dorf, Großvater!" "Nein, ich gehe erst heute Abend, weil ich meinen Sohn willkommen heißen muss!", sagte er. Als wir endlich bei meiner Mutter und meinem Onkel auf der Terrasse standen, ließ er mich wieder los. Ich kniete mich nieder und legte meine Stirn auf die Steinplatten und erst nach einem weiteren Augenblick hob ich meinen Kopf wieder, blieb aber weiterhin auf den Knien. Ich sah Calmach an. Er sah tatsächlich aus, wie ein jüngeres Abbild meines Großvaters. Meine Mutter blickte mich mit einem durchdringenden Blick an, als wollte sie mich davor warnen, wieder etwas Falsches zu sagen und meinen Großvater zu verärgern. Mein Großvater kam mir immer vor, wie Riese und er war auch furchtbar jähzornig, Calmach hingegen lächelte mich an und bedeutete mir, näher zu kommen. "Das ist sie, der Bankert deiner Schwester. Kaum vier Sommer alt, aufgeschossen wie ein Kraut und keinem von uns ähnlicher als des Teufels höchster Brut. Dunkel und so voll Furcht vor kaltem Eisen wie ein Wechselbalg aus den hohen Hügeln. Sag mir, dass der Teufel selbst dieses Kind gezeugt hat, und ich glaube dir." Mein Onkel richtete seine Frage an meine Mutter: "Wer?" "Narr!", zischte mein Großvater, "Gepeitscht wurde sie, bis die Frauen jammerten, sie würde das Kind verlieren. Ihr selbst war kein Wort zu entreißen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte eine Todgeburt gehabt." Calmach blickte zu mir herab und lächelte immer noch. An seinen Rehfellstiefeln haftete getrockneter Schlamm. Stehenden Schmutzes und ohne sich nach der Reise zu erfrischen war er gekommen, um mich zu sehen? Irgendetwas daran kam mir unheimlich vor. Er starrte gutmütig auf mich, während meine Mutter aufrecht stand und mein Großvater mit rasselndem Atem, bebendem Kinn und zuckender Stirn grollte, wie immer, wenn er erregt war. "Wie heißt du?", fragte mein Onkel. Auch er schien riesig zu sein. "Myrlin Llaw." "Llaw? Strahlendes Kind? Das scheint kaum der Name für einen Dämonenspross." "Sie nennen mich Myrlin, wie den Flaken, den Conwalch." "Ein sehr ängstlicher Vogel", warf mein Großvater ein. "Ein eben noch kleiner Vogel", erklärte ich trotzig. "Weißt du auch, wer ich bin?", wollte nun mein Onkel wissen. "Natürlich! Ich weiß noch, wie ihr letzten Sommer aus Niederbritannien zurückgekehrt seid und der Hohe König hat euch in Deva einen Empfang bereitet. Ihr hattet die Schlacht verloren, deshalb trugen Eure Krieger die Speere nach unten gerichtet. Als Ihr vor dem Hohen König niederknietet, hob er Euch wieder auf und nannte Euch Aegnus - seinen besonderen Feldherrn." "Das weißt du noch?", rief Calmach beeindruckt, "Aber das ist doch schon ein Jahr her! Ja, richtig, der Hohe König nannte mich Aegnus, wie er alle Krieger aus unserer Sippe nennt, denn das war der Name unseres Urvaters." Mein Großvater schnaubte verächtlich. "Myrlin weiß vieles, mehr, als sie wissen sollte. Wer auch immer diesen Balg zeugte, hat sich die letzten drei Jahre nicht gemeldet und auch die nächsten drei mal drei Jahre wird er nicht kommen. Und selbst wenn sie das Kind des Hohen Königs Vortigern wäre, hätte der König an diesem Spross sicher keine Freude; ein verstocktes Kind, das sich in Ecken und Winkeln herumdrückt, anstatt mit den anderen Kindern zu spielen - aus Angst vermutlich. Ein Kopf voller Streiche, Unfug und Blödsinn." Die beiden wandten sich wieder von mir ab und ich hoffte, bald wieder gehen zu können. Meine Mutter winkte mich zu sich heran und wollte mir gerade etwas sagen, als mein Großvater wieder zu reden begann: "Ich muss mich beeilen, wenn ich rechtzeitig im Dorf sein will. Halt mir den Bankert aus den Gärten fern, Niniane, und am besten auch aus meinem Blick." Mit diesen Worten verschwand er ins Haus und rief nach einem seiner Diener. Meine Mutter hatte meine Hand genommen und drückte sie, während Calmach sie wissend lächelnd ansah, als wisse er von einem Geheimnis. "Niniane, hast du etwas dagegen, wenn ich mich eine Weile mit dem Mädchen unterhalte. Immerhin sollten wir uns doch kennen lernen." Meine Mutter nickte wortlos und so bedeutete mir Calmach, ihm zu folgen. An diesem Abend hatte ich mich fortgeschlichen, um wieder in mein Versteck zu gehen. Unser Zuhause war eine alte Römervilla, die von unseren Handwerkern wieder restauriert und neu aufgebaut worden war. Aber kaum noch etwas von den alten Anlagen der Römern wurde noch verwendet, allem voran das Hypokaustum. Die Fußbodenheizung war äußerst baufällig. Der unterirdische Tunnel war mein geheimer Platz; mein Großvater hatte schon Recht, als er meinte, ich würde mich in Ecken und Winkeln herumdrücken. Doch ich tat es nicht aus Furcht - auch wenn die anderen Kinder mich bei ihren Kriegsspielen gerne zum Prellbock machten, wenn sie meiner habhaft werden konnten. Ich versteckte mich nicht, ich wollte nur allein hier unten meine Spiele spielen. Die unterirdischen Tunnel wurden nur noch von ein paar Pfeilern gehalten, doch man konnte geräuschlos hindurch kriechen. Außerdem diente mir das Hypokaustum nicht nur als geheimer Spielplatz, obwohl ich den Erdgeruch, die verzweigten, unterirdischen Tunnel liebte, war dies auch die Quelle zu einem geheimen Wissen. Man konnte alles und jeden im Palast belauschen und so kannte ich die dunkelsten Geheimnisse der Ratsherren, Höflinge und aller, die am Hof meines Großvaters verkehrten. Hätte man mich dabei erwischt, wäre die Strafe wahrscheinlich nicht nur einfaches Auspeitschen gewesen. Meist kroch ich zu einem Raum, den ich Höhle nannte, ein kleiner leerer Kesselraum, wo ich meine Sachen verstecken konnte, die andere besser nicht entdecken sollten. Dort hatte außerdem die Decke ein Loch und ich konnte in den Sternenhimmel blicken. Ich ließ mich in der Höhle in das gestohlene Stallstroh sinken und sah hinauf zu den Sternen. Meist beobachtete ich sie und redetet mit ihnen, stellten ihnen Fragen über die Zukunft und lauschte ihrer Musik. Die Sterne blinkten meist nur still vor sich hin und dann erklang diese leise Musik, die man nur hören konnte, wenn es ganz ruhig war und man geduldig genug lauschte. Auf dem Rückweg kroch ich unter einem Gemach vorbei, das bislang leer gewesen war. Ich vernahm Stimmen und lauschte: mein Onkel musste nun dort wohnen. Der Mann, mit dem er sich unterhielt gehörte dem Akzent nach zu seinem Gefolge, dass er am Nachmittag mitgebracht hatte. Möglichst geräuschlos kroch ich unter den Pfeilern näher. Ich war darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, doch da stieß ich mit dem Knie hart gegen einen Stein, der auf dem Boden lag. Ich biss mir auf die Unterlippe, um einen Schmerzensschrei zu verhindern. "Der Palast fällt nach und nach in Stücke", vernahm ich die wohlklingende Stimme meines Onkels. Der andere Mann sprach mit einem starken südländischen Akzent. Ich verstand nicht alles, da ich mich nicht näher traute, in Erinnerung an den Zorn meines Großvaters, und so vernahm ich zuerst nur Bruchstücke und das Eingießen eines Getränks. Aber dann sprach mein Onkel: "... ob sie ihn abweißt oder nicht, das spielt keine Rolle. Sie geht ins Kloster, das Los hat sie selbst gewählt. Nach seinem Tod, spätestens." "Und ihr Kind?" "Das Kind?", wiederholte Calmach und ging langsam im Zimmer auf und ab. Ich musste um jeden Preis hören, was er sagte. "Ja!", seine Stimme klang überraschend sanft, "Ja, richtig, das Kind. Ein sehr gescheites Kind, wie mir scheinen will, viel klüger, als alle Welt hier glaubt... und zugänglich, wenn man sie anständig behandelt." Fast war ich mir sicher, dass er in diesem Moment lächelte: "Keiner einzigen Seele hat meine Schwester erzählt, wer der Vater ihres Kindes ist. Aber es verhält sich..." Ich verstand nicht, was er sagte, denn er flüsterte nur. Auch, als ich behutsam näher kroch, konnte ich nichts verstehen, bis er wieder laut redete: "Ich werde seine Tochter nicht aus den Augen lassen... aber vergiss nicht, Alun: ich mag sie!" Als ich in dieser Nacht wieder in mein Bett gekrochen war, konnte ich nicht einschlafen, weil eine Frage in meinem Kopf brannte: Wusste Calmach, wer mein Vater war? Meine Mutter hatte tatsächlich niemand den Namen meines Vaters je genannt - auch mir nicht und Calmach sicher auch nicht. Woher konnte er es dann wissen? In den nächsten Tagen versuchte mein Onkel tatsächlich, sich mit mir anzufreunden. Tagelang folgte ich ihm überall hin und er duldete, ermutigte mich sogar. Dass ein vierjähriges Kind einem neunundzwanzigjährigen Prinzen nicht immer willkommen war, begriff ich nicht, doch Moravik, und sie schalt mit mir. Aber meiner Mutter schien es nichts auszumachen und sie gebot meiner Amme, mich in Ruhe zu lassen. Maridunum lag nicht weit vom Meer entfernt und der Geruch des Salzwassers wurde vom Wind bis in den Gesindegarten getragen. In diesem Teil des Gartens gab es keine Feigen- oder Pfirsichbäume, sondern nur Äpfel. Das Gras war an den meisten Stellen nicht saftig grün, sondern gelb und bräunlich und auch keine Affen turnten herum, nur ein paar Vögel und Insekten gab es. Ich durfte auch nicht auf die Apfelbäume hinaufklettern, sondern musste mich mit dem Fallobst begnügen. Moravik saß auf der Sonnenterrasse und stickte etwas, während ich auf der Steinmauer saß, die den Garten umgab. Dort hinauf durfte ich, denn man konnte auf die Straßen sehen, die vom Meer her zum Haus, nach Carleon oder ins Dorf führten; von dort oben konnte ich nämlich meiner Amme von allem erzählen, was auf den Straßen vor sich ging. Ab und zu kam ein Händler über die Brücke am Fluss unterhalb von Maridunum. Es herrschte kein Krieg oder Aufstand in Wales, nur in Niederbritannien und an der südlichen Küste. Als sich auf der Straße nichts mehr tat, wandte meinen Blick ab und sah auf den Apfelbaum neben mir, den besten Weg hinauf ins Geäst zu suchen. Ich wusste, Moravik würde schimpfen, aber das war nicht weiter schlimm für mich. Um den untersten Ast zu erreichen richtete ich mich auf, jedoch bekam ich nur die weiche, nachgebende Spitze der Knospe zu fassen. Ich streckte mich noch mehr, fuhr mit den Händen weiter den Trieb entlang. Mit einem kleinen Sprung wie eine Berggämse, oben, auf dem Snowdon, hing ich an dem Ast. Ich schlang meine nackten Füße darum und zog und ruderte so lange mit Armen und Beinen, bis ich auf dem Ast oben saß. Von dort aus griff ich nach dem nächsten Ast, drückte mich mit den Füßen am Stamm ab und kam immer höher. Da hörte ich Pferdehufe und mein Kopf fuhr herum zur Straße. Eine ganze Gruppe von Reitern. Allen voraus ritt ein barhäuptiger Mann auf einem riesigen, braunen Ross. Es war weder Calmach noch mein Großvater und auch die übrigen Reiter hatte ich zuvor noch nie gesehen. Sie trugen Farben, die ich nicht kannte. Als sie, näher kommend, die Brücke fast schon hinter sich gelassen hatten, sah ich, dass Kopf- und Barthaar des Anführers schwarz waren. Seine Kleidung wirkte ausländisch. Auf seiner Brust schimmerte es golden. Die Schar, schätzte ich, zählte etwa fünfzig Mannen. König Gorlan von Lanascol. Was mir, deutlich und unverwechselbar, den Namen eingab, wusste ich nicht. Vielleicht etwas, dass ich in meinen Labyrinth erlauscht hatte? Oder ein achtlos dahingeworfenes Wort eines Erwachsenen, in meiner, des Kindes, Gegenwart? Von Schilden und Speerspitzen glänzte mir widerglänzendes Sonnenlicht in die Augen. Gorlan von Lanascol. Ein König. Gekommen, um meine Mutter zu heiraten und mich mit zu nehmen, in ferne Lande. Meine Mutter: eine Königin. Und ich... Schon war sein Ross am Fuß des Hügels. "Und wenn sie ihn ablehnt?", hörte ich Aluns Stimme von neulich Nacht. Und dann meinen Onkel: "Selbst wenn sie's tut... Ich habe nichts zu fürchten, und käme er selbst..." Die Reiterschar war bereits bei der Brücke. Ich hörte das Klirren der Waffen und das Stampfen der Hufe. Er war gekommen, er war hier! Ich kletterte ein paar Äste tiefer, die Männer kamen näher. Vor Aufregung hätte ich ein paar Mal fast den Halt verloren und wäre gestürzt. Noch bevor ich auf dem vorletzten Ast stand rief ich: "Moravik! Moravik!" Meine Amme war eingeschlafen und fuhr hoch. "Myrlin! Myrlin, wo steckst du schon wieder?" Ich hatte keine Zeit, mich zu rechtfertigen, er kam! "Hier, Moravik, ich komme schon." Da fiel ich vor Unachtsamkeit ein Stück nach vorn, glitt mit dem nackten Fuß ab und fiel zwei Meter hinunter. "Oh, mein Gott!", lautete Moraviks schriller Aufschrei. Ich hatte keine Zeit, mich um irgendwelche Schmerzen zu kümmern: "Moravik! Sie kommen!" "Wer denn? Ich habe Pferdehufe gehört? Was geht da draußen vor? Da kommt ja eine ganze Schar, wie mir scheinen will. - Bei allen Heiligen, Kind, wie sehen deine Kleider aus! Erst diese Woche habe ich sie wieder geflickt! Da, der Riss! Eine Faust könnte man hindurch stecken! Und schmutzig von Kopf bis Fuß wie ein Bettlerkind." Schnell wich ich ihrer ausgestreckten Hand aus. "Ich bin gefallen. Beim Hinabklettern, als ich dir berichten wollte. Ja, eine ganze Reiterschar - Fremde! Moravik, es ist König Gorlan von Lanascol! Er hat ein rotes Gewand und einen schwarzen Bart!" "Gorlan von Lanascol? Das ist ja kaum zwanzig Meilen von meinem Geburtsort! Was mag er nur hier wollen?" Ich starrte sie an. "Ja, weißt du nicht? Er ist gekommen, um meine Mutter zu heiraten." "Unsinn!" "Es ist wahr!" "Unsinn, sage ich! Denn dann wüsste ich bestimmt etwas. Rede also nicht so daher, Myrlin, sonst gibt es nur wieder Ärger. Wo hast du denn das aufgeschnappt?" "Weiß ich nicht mehr. Jemand muss es mir erzählt haben... meine Mutter, glaube ich." "Das ist nicht wahr, und das weißt du auch." "Dann hab ich's irgendwo gehört." "Irgendwo gehört, irgendwo gehört! Junge Schweine haben lange Ohren, sagt man. Und deine sind wohl besonders lang, wo du so viel hörst. Was lächelst du so?" "Ach nichts." Sie stützte die Hände auf die Hüften. "Du hast deine Ohren überall. Immer wieder habe ich dir gesagt, du sollst dich in Acht nehmen. Kein Wunder, dass die Leute so über dich reden." Ich war zu erregt, um mich wie sonst in vorsichtiges Schweigen zu hüllen. "Es ist wahr, das wirst du noch sehen! Wo ich's gehört habe, weiß ich nicht mehr, aber das ist doch auch egal. Moravik?" "Was?" "König Gorlan ist mein Vater, mein wirklicher Vater!" "Was?" Wie ein scharfer Dorn stieß das Wort gegen mich. "Hast nicht einmal du das gewusst?" "Nein und auch du weißt ja nichts, gar nichts. Wehe dir, wenn du zu anderen davon... Woher kennst du überhaupt seinen Namen?" Sie packte mich bei den Schultern und schüttelte mich heftig. "Wie willst du wissen, dass es König Gorlan von Lanascol ist? Keine Menschenseele sonst konnte ahnen..." "Das habe ich dir doch gesagt, ich habe es irgendwo gehört. Jemand muss seinen Namen genannt haben, und ich weiß auch, dass er wegen meiner Mutter zum König kommt. Dann geht's nach Lanascol, und natürlich kannst du bei uns bleiben, Moravik. Wäre das nicht schön? Dort ist doch deine Heimat, und vielleicht..." Ihr Griff spannte sich härter und ich verstummte. Erleichtert sah ich, wie einer des Königs Leibdienern durch den Garten rannte und auf uns zu eilte. Keuchend blieb er vor uns stehen. "Sie soll zum König. Das Mädchen. In die große Halle, rasch!" "Wer ist es?", fragte Moravik. "Rasch doch, rasch! Ich habe euch schon überall gesucht." "Wer ist es?" "König Gorlan von Aquitanien." Sie ließ ein überraschendes Zischen hören. Ihre Hände gaben meine Schultern frei. "Was hat er mit dem Mädchen hier zu schaffen?" "Woher soll ich das wissen?", entgegnete der Mann atemlos und barsch, "Das Kind und seine Mutter sollen vor dem König erscheinen, und wenn das nicht bald geschieht, dann lässt er seinen Zorn an uns aus. Seit die fremden Reiter hier sind, ist er in großer Erregung." "Schon gut, schon gut, geh zurück und sage, dass wir in wenigen Minuten kommen." Der Mann eilte davon. Moravik griff nach meinem Arm. "Bei allen Heiligen im Himmel!", obschon Christin schwor meine Amme auf tausenderlei Talismane, von denen sie eine ganze Sammlung besaß; und nie ging sie an einem Götzenschrein vorbei, ohne ihm ihre Ehrfurcht zu zeigen. Doch in den Minuten der Not wurde sie wieder gläubig und fromm. "Süßer Cherub! Ausgerechnet heute läuft dieses Kind in Lumpen herum. Rasch doch, rasch! Jetzt nur keine Sekunde verloren!" Unentwegt ihre Heiligen rufend und mich zur Eile treibend, drängte sie mich auf das Haus zu. "Gnädiger St. Petrus, warum habe ich nur die Aale gegessen und bin dann eingeschlafen? Ausgerechnet heute!" Sie schob mich vor sich her in mein Gemach. "Zieh diese Lumpen aus und lege dein gutes Gewand an. Bald werden wir wissen, was der König von dir will. Rasch doch, Kind!" Das Gemach war eigentlich nur eine dunkle Kammer neben den Räumen für das Gesinde, doch ich hatte es für mich allein. Stets roch es dort nach den Dünsten der nahen Küche. Trotzdem, mir gefiel das, und ich mochte auch den alten Birnenbaum vor dem Fenster, wo morgens die Vögel sangen. Mein Bett stand unmittelbar unter diesem Fenster. Eine Pritsche aus nackten Brettern, ohne jede Verzierung, ja, ohne eigentlich Abschluss am Kopf- oder Fußende. Der Enkelin eines Königs gar nicht angemessen, wie Moravik den anderen Bediensteten erklärte, wenn sie mich außer Hörweite glaubte. Mir jedoch betonte sie, das könne mir sehr lieb sein, so nahe beim Gesinde zu sein. Und zweifellos: Ich war zufrieden, denn sie sorgte für eine Strohmatratze und eine Wolldecke, die nicht schlechter war, als die im Gemach meiner Mutter, nahe den Räumlichkeiten meines Großvaters. Moravik selbst hatte ein paar Zimmer weiter ihr Lager, das sie nicht nur mit den sich kratzenden und Flöhe suchenden Wolfshunden teilte, sondern auch mit Cynric, einem Angelsachsen, der vor Jahren in Gefangenschaft geraten war und seither als Knecht diente. Er hatte hier geheiratet, doch Frau und Kind waren bei der Niederkunft gestorben. Die Hunde in den Zimmern duldete Moravik, trotz des Gestanks und der Flöhe, offenbar, weil sie vor Eindringlingen geschützt sein wollte (außer natürlich Cynric, den die Hunde immer schwanzwedelnd willkommen hießen). In gewisser Weise nahm Cynric eine ähnliche Funktion ein, wie die der Wachhunde. Und noch andere dazu. Da aber Moravik über ihn nie sprach, hielt auch ich wohlweißlich den Mund. Von einem Kind nimmt man an, dass es tief und fest schläft, doch so jung ich auch war - oft wachte ich mitten in der Nacht auf und beobachtete, still daliegend, durch das Fenster die Sterne, die wie funkelnde Silberfische im Netz des Baumgeäst gefangen waren. Meine Kleider wurden in einer Holztruhe aufbewahrt, die an der Wand stand. Uralt war sie, bemalt mit Bildern von Göttern und Göttinnen, und ich glaubte, dass sie aus Rom stammte. Die Farbe, schmutzig und verwischt, blätterte teilweise ab, doch auf dem Deckel erkannte man noch, schattengleich, eine Szene, die in einer Höhle zu spielen schien: Ein Stier war zu sehen, und ein Mann mit einem Messer, der eine Garbe oder etwas ähnliches hielt; und darüber, fast verwischt, eine Gestalt mit Sonnenstrahlen um das Haupt und einem Stab in der Hand. Die Truhe war mit Zedernholz gesäumt und Moravik, die meine Kleider selbst wusch, legte immer süße, duftende Kräuter aus dem Garten dazu. Jetzt hob sie den Deckel so energisch hoch, dass er gegen die Wand prallte. Dann zog sie eines meiner guten Gewänder hervor. Es war eine knielange Tunika, blau mit silberner Borte. Sie nestelte an mir herum und versuchte meine Haare in Ordnung zu bringen. Ich zupfte an meiner Tunika herum, bis Moravik mich anzischte und sagte, ich sollte damit aufhören. Der fettleibige Bedienstete, der uns im Garten aufgestöbert hatte, tauchte auf, um uns erneut zu Eile zu drängen. Und Moravik fuhr ihn unsanft an. Doch kaum hatte ich meine Sandalen angezogen, fand ich mich den Säulengang entlang gezerrt, durch das große, gewölbte Kernstück des Hauses. Die Halle, in der der König Besucher empfing, war ein hoher, lang gestreckter Raum. Auf dem Fußboden säumten weiße und schwarze Steine ein Mosaik, das einen Gott mit einem Leoparden darstellte. Gut erhalten war es allerdings nicht. Das Verrücken schwerer Möbel und das ständige Stampfen von Stiefeln hatten verheerenden Schaden angerichtet. An einer Seite, zum Säulengang hin, war die Halle offen, und im Winter wurde dort, in einem losem Steinring, auf dem Boden ein Feuer gemacht. Was sich an den Steinen und Säulen in der Nähe befand, war dementsprechend rauchgeschwärzt. Am anderen Ende der Halle stand der Thronhimmel, mit einem Stuhl für meinen Großvater und einen für seine Königin. Und dort saß er jetzt, Olwen, seine junge Gemahlin, zur Linken, während Calmach rechts von ihm stand. Olwen war bereits seine dritte Gemahlin, jünger als meine Mutter und ein eigentümlich einsilbiges und recht törichtes Geschöpf. Sie hatte dunkles Haar, das ihr in Flechten bis zu den Knien hinab hing, und milchweiße Haut. Auch konnte sie vogelgleich singen und verstand sich auf schöne Stickereien, doch zu viel mehr langte es bei ihr nicht. Meine Mutter, glaube ich, mochte und verabscheute sie gleichermaßen. Wie dem auch immer sein mochte: Beide kamen recht gut miteinander aus, und Moravik behauptete, dass meine Mutter ein leichteres Leben habe, seit Gwynneth, des Königs zweite Frau, vor einem Jahr gestorben und bald darauf Olwen an ihre Stelle getreten war. Auch wenn ich mich nicht mehr an Gwynneth erinnern konnte, nahm ich an, dass es stimmte, wenn Cynric mir erzählte, dass ich es mit Olwen besser erwischt hatte. Sie behandelte mich in ihrer vagen Art stets freundlich, und ich liebte sie, wegen ihrer Musik. War der König nicht in der Nähe, lehrte sie mich Noten lesen und ließ mich sogar an ihre Harfe, so dass ich schon ein wenig spielen konnte. Sie meinte sogar, ich habe Talent, doch da wir beide wussten, was der König von solchen Narrheiten hielt, betrieben wir es heimlich, und selbst meine Mutter wusste nichts davon. Jetzt bemerkte sie mich nicht. Niemand bemerkte mich, außer meinem Vetter Dinias, der neben Olwens Stuhl stand. Dinias war ein Bankert, den mein Großvater mit einer Sklavin gezeugt hatte; sechs Jahre alt, groß für sein Alter, rothaarig und jähzornig wie sein Vater, auch verfügte er über große Kraft und schien sich vor nichts zu fürchten. Vor einem Jahr hatte er sich auf ein Pferd seines Vaters geschwungen, ein wildes braunes Füllen, mit dem er durch die Stadt gesprengt war. Erst am Flussufer hatte es in abwerfen können. Seitdem stand Dinias in Großvaters Gunst, auch wenn dieser ihm zuerst eine kräftige Tracht Prügel verabreicht hatte, nicht ohne ihn anschließend mit einem Dolch mit goldenem Griff zu belohnen. Von da an nahm Dinias, wenigstens den übrigen Kindern gegenüber, den Titel eines Prinzen für sich an Anspruch und behandelte mich, der ein Bastard war wie er, mit äußerster Verachtung. Jetzt starrte er mich mit steinerner Miene an, machte jedoch mit der Linken Hand verstohlen ein höhnisches Zeichen. Unwillkürlich war ich im Eingang stehen geblieben. Moraviks Hand zupfte mein Gewand zu Recht und gab mir anschließend einen Stoß zwischen die Schultern. "Geh schon. Und halte dich gerade. Er wird dich schon nicht auffressen." Doch schien dies selbst in ihren Augen ein frommer Wunsch zu sein. Sie begann ein Gebet zu murmeln und ich hörte das leise Klicken eines Amuletts. Die Halle war voller Menschen. Viele von ihnen kannte ich. Die anderen schienen zu jener Schar zu gehören, die vor kurzem über die Brücke geritten waren. Ihr Anführer, von vielen seiner Mannen umgeben, saß nahe zur Rechten des Königs. Er war baumlang und dunkelhaarig. Kühn sprang seine Adlernase vor. Das scharlachrote Gewand schien kraftvolle Gliedmaßen zu verbergen. Auf der anderen Seite des Königs, noch unterhalb des Thronhimmels, stand meine Mutter mit zwei ihrer Damen. Ihr Anblick gefiel mir sehr. Wie aus frischem Holz geschnitzt fiel ihr langes, lichtes Kleid bis zum Boden. Auch sonst trug sie sich wie eine Prinzessin. Ihr geflochtenes Haar wallte tief über den Rücken. Eine kupferne Spange hielt das blaue Übergewand zusammen. Ihr Gesicht jedoch war blutleer und wirkte sehr still. Allerlei Ängste durchrannen mich. Die höhnische Geste von Dinias; die niedergeschlagenen Augen meiner Mutter; das Schweigen der Menge hier in der Halle; die Leere des Mosaikbodens, über den ich schreiten musste; und furchtsam mied ich jeden Blick zu meinem Großvater. Immer noch unbemerkt hatte ich einen zaghaften Schritt gewagt, als er plötzlich mit einem Krach wie von Pferdehufen beide Arme auf die Lehnen seines Stuhls schmetterte und so heftig hochsprang, dass sein Thronsessel, ein schweres, wuchtiges Möbel, mit schnurrenden Füßen ein Stück zurücksauste. Ich zuckte zusammen und biss mir erschrocken auf die Unterlippe, als er schrie: "Beim Himmel!" Dunkel verfleckt schimmerte sein Gesicht. Zornig zogen sie die roten Brauen über seinen wilden Augen zusammen. Ein funkelnder Blick traf meine Mutter. Dann schnaubte er laut durch die Nase. Doch ehe er etwas sagen konnte, begann sein Gast zu sprechen. Was er sagte, verstand ich nicht. Zur gleichen Zeit flüsterte auch Calmach auf seinen Vater ein. Der König schien sich zu besinnen. Schließlich sagte er: "Wie ihr wollt. Später. Schafft sie mir endlich aus den Augen." Dann zu meiner Mutter, sehr laut und sehr deutlich: "Das ist noch nicht das Ende, Niniane, das verspreche ich dir. Vier Jahre, das ist wahrlich genug. Kommt, Sir." Mit einem Arm raffte er seinen Umhang hoch, warf seinem Sohn einen Blick zu und stieg vom Thronhimmel herab. Dann nahm er den Bärtigen beim Arm und zog ihn dem Ausgang zu. Innerlich flehte ich, er möge mich wenigstens dieses eine Mal übersehen. Olwen folgte ihnen mit ihren Frauen, denen sich lächelnd Dinias anschloss. Bitte, mach, dass er mich in seinem Zorn nicht bemerkt, betete ich, zu welchem Gott war mir egal, so lange er meine Bitte erhörte. Meine Mutter verharrte starr, wenigstens schien mein Großvater sie nicht zu sehen. Bereitwillig machten alle dem König Platz. Allein und verängstigt stand ich, drei Schritte von der Tür entfernt. Sah dann, wie der König näher und immer näher kam, versuchte mich hastig davon zu stehlen, und war doch zu langsam. Ein Stück vor mir wirbelte er mit einer schwungvollen Geste herum und ein Zipfel seines blauen Umhangs traf mich ins Auge, so dass es tränte. Blinzend schaute ich zu ihm auf. Gorlan, neben ihm, schien gleichfalls zornig, doch nicht auf mich. Überraschend fragte er den König: "Wer ist dieses Mädchen?" "Das ist ihre Tochter, der Ihr habt einen Namen geben wollen, Sir", war die Antwort meines Großvaters, als er seine mächtige Hand vorschnellen ließ und mich angewidert, als sei ich ein lästiges Insekt, zu Boden schlug. Dann rauschte der blaue Umhang an mir vorbei. Gorlan folgte. Olwen beugte sich besorgt über mich, doch ein wütender Ruf des Königs ließ ihre ausgestreckte Hand zurückzucken. Rasch eilte sie mit ihren Frauen hinter ihm her. Ich raffte mich vom Boden hoch. Moravik stand bei meiner Mutter und hatte den Vorfall gar nicht gewahrt. Ich versuchte, zu ihnen durch zu kommen, doch bevor ich sie erreichen konnte verließ meine Mutter in Mitten der schweigenden Schar ihrer Frauen die Halle durch die andere Tür. Niemand blickte sich zu mir um. Irgendjemand sprach auf mich ein. Ich antwortete nicht. Rasch lief ich durch den Säulengang, über den Haupthof, und war dann endlich wieder im stillen Sonnenschein des Obstgartens. Mein Onkel fand mich auf Moraviks Terrasse. Den Blick auf eine Eidechse gerichtet lag ich mit dem Bauch auf den heißen Steinen, und von allem, was an jenem Tag geschah ist diese Erinnerung die eindringlichste geblieben: die Eidechse, flach, auf Glut getränktem Grund, kaum eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt und bis auf das Pulsieren in ihrer Kehle starr wie schimmernde Bronze. Kleine, dunkle Augen hatte sie, schieferfahl, und die Innenseite ihres Mauls glänzte melonenfarben. Peitschengleich zuckte da die lange, schwarze Zunge hervor. Und dann lief das Tier mit raschelnden Füßen über meine Finger und verschwand in einem Spalt zwischen den Steinen. Ich wandte den Kopf. Mein Onkel Calmach kam durch den Garten herbei. In seinen eleganten Flechtsandalen stieg er die drei flachen Stufen hinab und blieb dann, auf mich herabblickend, stehen. Ich schaute fort. Das zwischen den Steinen aufblühende Moos trug weiße Blüten, nicht größer als Eidechsenaugen, und jede in sich vollkommen wie ein kleiner, geschnitzter Becher. "Lass mal sehen", sagte er. Ich bewegte mich nicht. Er trat zur Steinbank und setzte sich, Gesicht zu mir gewandt, Hände zwischen den Knien. "Sieh mich doch an, Myrlin." Ich gehorchte. Eine Zeit lang betrachtete er mich stumm. "Alle behaupten, dass du vor rauen Spielen zurückschreckst und vor Dinias Angst hast. Aber den Schlag des Königs, den selbst einer seiner größten Hirschhunde zum Winseln gebracht hätte, hast du weggesteckt, ohne mit der Wimper zu zucken." Ich schwieg. "Mir will scheinen, dass man dich wahrscheinlich nicht ganz richtig einschätzt, Myrlin." Ich schwieg auch jetzt. "Weißt du, warum Gorlan heute gekommen ist?" Ich hielt es für klüger, zu lügen: "Nein." "Er hat um die Hand deiner Mutter angehalten. Hätte sie eingewilligt, wäre Aquitanien deine neue Heimat geworden." Mit dem Zeigefinger berührte ich eine der Moosblüten. Sie zerfiel. Ich streckte den Finger nach einer weiteren Blüte aus, Calmach fragte scharf: "Hörst du mir überhaupt zu?" "Ja. Aber wenn sie ablehnt, so spielt das kaum eine Rolle", ich blickte auf, "Nicht wahr?" "Du möchtest also gar nicht mit Gorlan ziehen. Dabei hatte ich gedacht..." Er knetete seine hellen Augenbrauen. "Man würde dir alle Ehren erweise, und du wärst eine Prinzessin." "Eine Prinzessin bin ich ja schon. Und mehr Prinzessin kann ich niemals sein." "Wie meinst du das?" "Wenn sie ihn zurückgewiesen hat", sagte ich, "dann ist er auch nicht mein Vater. Und das hatte ich eigentlich geglaubt. Ich dachte, deswegen sei er gekommen." "Und woher willst du wissen, dass er dein Vater ist?" "Ich weiß nicht. Aber..", ich unterbrach mich. Wie sollte ich Calmach erklären, dass Gorlans Name vor mir wie ein Blitz aufgetaucht war. "Ich habe es eben geglaubt." "Weil du schon so lange auf deinen Vater wartest, Myrlin", sagte er mit ruhiger Stimme, "Doch Hoffen und Harren machen manchen zum Narren. Du musst endlich die Wahrheit begreifen. Dein Vater ist tot." Meine Faust krampfte sich in das Moos. Ich sah, wie die Knöchel weiß wurden. "Hat sie dir das gesagt?" "Nein", er hob die Schultern, "Aber wenn er noch lebte, wäre er schon längst gekommen. Da gibt es gar keinen Zweifel." Ich schwieg. "Lebt er noch, ohne sich um deine Mutter und dich zu kümmern", fuhr er fort, "so ist es für alle Teile wohl das Beste." "Vielleicht. Vielleicht auch nicht", meinte ich und zog meine Hand aus dem Moos, das sich sofort wieder entfaltete. Nur die kleinen Blüten waren fort. "Er hätte meiner Mutter viel ersparen können, und mir auch." Mein Onkel nickte: "Es wäre gewiss klüger von ihr gewesen, Gorlan oder einen anderen König zum Gemahl zu nehmen." "Was wird geschehen?", fragte ich. "Deine Mutter möchte in das Kloster von St. Johannes eintreten. Und du - nun, du bist nicht dumm und kannst auch schon lesen, wie ich hörte. Du müsstest natürlich mit und..." "Nein!" Er runzelte die hellen Brauen. "Hör mir zu, Myrlin", sagte er, "du kannst keine Kriegerin werden und..." "Nein! Nein! Ich möchte frei sein! Ich möchte in kein Kloster eingesperrt werden und...", rief ich hitzig und verstummte, weil mir die rechten Worte fehlten. Wie sollte ich ihm erklären, was ich nur selbst ahnte? Meine Augen suchten in seinem Gesicht. "Ich möchte bei dir bleiben. Und wenn du mich nicht gebrauchen kannst, dann - dann laufe ich fort, um einem anderen Prinzen zu dienen." "Nun", seufzte er schließlich, "für solche Dinge ist es noch zu früh. Du bist noch sehr klein." Er musterte mich. "Schmerzt dein Gesicht?" "Nein." "Man wird sich darum kümmern müssen. Komm jetzt." Er nahm mich bei der Hand und wir gingen. Als ich sah, dass er mich auf den Privatgarten meines Großvaters zuführte, blieb ich stehen. "Er hat mich doch neulich schon dort erwischt... Das ist für mich verboten." "Nicht, wenn ich bei dir bin. Außerdem ist dein Großvater noch bei seinen Gästen und kann dich nicht sehen - und du fütterst ja auch keine Affen dieses Mal. Ich habe etwas Besseres für dich, als deine angefaulten Äpfel hier. Man hat Aprikosen gepflückt und ich habe aus einem Korb die besten herausgesammelt." Mit federndem, katzenweichem Schritt ging er auf eine Stelle an der Mauer zu, wo Aprikosen- und Pfirsichbäume standen. Der betäubende Duft von Kräutern und Obst lag über dem Garten. Drüben, in ihrem Schlag, gurrten die Tauben und die kleinen Affen, die an langen Leinen angebunden waren, turnten auf den Bäumen herum. Eine Aprikose lag zu meinen Füßen wie Samt in der Sonne. Ich stieß mit den Zehen dagegen, sie rollte herum. Auf der Rückseite war ein großes, fauliges Loch, in dem Wespen krochen. Ein Schatten fiel darüber. Mein Onkel Calmach stand an meiner Seite, in jeder Hand eine Aprikose. "Nimm nur", er reichte mir eine, "Und wenn sie dich wegen Diebstahls prügeln, müssen sie mich mitprügeln." Lächelnd biss er in seine Frucht. Im Garten war es sehr heiß und sehr still. Das Summen der Insekten war der einzige Laut. Mit der Aprikose in der Hand, stand ich da, ohne mich zu rühren. Sie glänzte wie Gold und roch nach Sonnenschein und süßen Säften. Ihre Haut war weich wie Samt. Ich fühlte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. "Was ist denn?", fragte mein Onkel ungeduldig. Der Saft seiner Aprikose lief ihm über das Kinn. "Steh doch nicht so da, Myrlin! Beiß schon hinein! Oder gefällt dir die Aprikose etwa nicht?" Ich schaute auf. Die blauen Augen starrten mich grimmig an. Ich hielt ihm die Aprikose hin. "Nein, sie gefällt mir nicht. Denn sie ist innen schwarz. Schau doch. Man kann ja hindurch sehen." Er atmete tief. Plötzlich erklangen auf der anderen Seite der Mauer Stimmen. Wahrscheinlich die Gärtner mit leeren Körben. Mein Onkel griff nach der Frucht in meiner Hand und schleuderte sie von sich. Das goldene Fleisch zerplatzte an der Mauer, Saft rann herab. Eine aufgescheuchte Wespe summte zwischen uns. Calmach schlug nach mir mit einer schroffen Geste, plötzlich klang seine Stimme voller Hass: "Bleib mir vom Leibe, du Teufelsbrut! Hörst du? Lass dich nie wieder vor mir blicken!" Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging mit großen Schritten auf das Haus zu. Ich blieb, wo ich war, Augen unverwandt auf der Aprikose, deren Saft die weiße Mauer herab rann. Eine Wespe ließ sich darauf nieder, kroch klebrig und torkelnd, dann summend zu Boden. Zuckend wand sich der winzige Körper. Das Summen schwoll zum Winseln. Dann streckte sich das Tier und lag still. Doch all dies gewahrte ich nur undeutlich, weil ein Würgen in meiner Kehle saß, bis ich glaubte, ersticken zu müssen. Der goldene Tag verschwamm glitzernd in Tränen. Es war, soweit ich mich erinnerte, das erste Mal in meinem Leben, dass ich weinte. Mit leeren Körben auf den Köpfen tauchten die Gärtner hinter dem Brunnen auf. Ich wandte mich um und rannte davon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)