The Wild Child von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: Die Namen der Vögel ------------------------------ II. Die Namen der Vögel Niemand war in meiner Kammer. Ich kroch auf mein Bett und stütze die Ellbogen auf das Fenstersims. So verharrte ich lange Zeit, während draußen im Birnenbaum eine Drossel sang und vom Hof der das monotone Hämmern des Schmieds tönte. Irgendwann machte mir der Lärm aus der Küche bewusst, dass das Abendessen bevorstand. Cynric, der Knecht, trat herein und starrte verdutzt, als er mein Gesicht sah. "Der Herr sei uns gnädig! Was hast du denn getrieben? Bist du etwa einem Stier vor die Hörner gelaufen?" "Nein, nur hingefallen." "Hingefallen, ja? Dann möchte ich mal wissen, warum es ausgerechnet dich immer so schlimm erwischt. Wer hat dir dieses Mal wieder so böse mitgespielt? Etwa Dinias, das kleine Raubein? Oder die angehende Kriegerprinzessin? Hast du geweint? Du siehst mich ja an, als wäre der Himmel über uns eingestürzt." Als ich nicht antwortete, trat er näher heran. Er war ein kleiner Mann mit krummen Beinen und verwittertem, braunem Gesicht. "Hör mir mal gut zu", erklärte er, "Irgendwann wirst du mal was ganz Besonderes, Myrlin-bach. Jetzt bist du noch ein Kind, aber du hast schon jetzt etwas an dir. Doch darüber reden wir ein anderes Mal, denn ich fürchte, es ist weniger Christlich." Er zwinkerte mir zu und ich müsste unwillkürlich lächeln. "Aber um dein Gesicht sollte sich jemand kümmern. Sieht aus, als ob eine Narbe bleiben könnte. Wo ist Moravik?" "Bei meiner Mutter." "Na, dann komm mal mit mir mit, Myrlin-bach." Und so wurde der Riss auf meiner Wange mit Pferdeliniment behandelt. Später aßen wir dann zusammen, im Stall auf Stroh hockend, während mich eine braune Stute beschnüffelte und mein eigenes Pony, an seinem Strick zerrend, gierig jeden Bissen beäugte. Augenscheinlich verfügte Cynric über beste Beziehungen zur Küche. Es gab Hühnerkeulen, Speck und frischen Kuchen, das Bier war schmackhaft und kühl. Vom Gesinde schien er erfahren zu haben, was vorgefallen war, das verriet mir sein ernster Gesichtsausdruck. Doch er schwieg und setzte sich, mir mein Essen reichend, zu mir. "Sie haben's dir erzählt?", fragte ich. Er nickte und sagte dann kauend: "Er hat eine schwere Hand." "Er war wütend, weil sie Gorlan abgewiesen hat", erklärte ich, "Er möchte, dass sie meinetwegen heiratet, aber bisher hat sie das immer verweigert. Und weil mein Onkel Dyved jetzt tot ist, und nur noch Calmach und sie als Thronerben bleiben, haben sie Gorlan aufgefordert, sich mit ihr zu vermählen. Wahrscheinlich hat Calmach meinen Großvater dazu aufgefordert, weil er fürchtet..." Überrascht und erschrocken starrte Cynric mich an: "Beim Allmächtigen! Kind, woher hast du das alles? Wer hat dir das erzählt? Deine Verwandten doch sicher nicht. Sollte etwa Moravik ihren Mund nicht halten können..." "Ich hab's nicht von Moravik. Aber ich weiß auch so, dass es stimmt." "Aber woher denn, woher, in Thors Namen? Vielleicht Sklavengeschwätz?" Ich steckte der Stute den letzten Bissen zu und beäugte einen Augenblick lang ihre fleischfarbenen Nüstern. "Zu heidnischen Göttern schwörst du, Cynric. Lass das ja nicht Moravik hören." "Ach was, mit der werd' ich schon fertig. Aber nun heraus mit der Sprache: Wer hat dir das erzählt?" "Niemand. Ich weiß es eben. Woher - das kann ich dir nicht erklären... Jedenfalls war mein Onkel Calmach genau so zornig, als sie Gorlan abgewiesen hat. Er fürchtete nämlich, dass eines Tages mein Vater kommt, um sie zu heiraten, und ihn dann vertreibt. Aber davon sagt er meinem Großvater natürlich wohlweißlich nichts, denn ich glaube... dass Calmach weiß, wer mein Vater ist." "Hm", er starrte mit halboffenem Munde. "Mögen die Götter - ich meine, mag Gott wissen, wo du das alles her hast. Aber es könnte wahr sein. Na, sprich nur weiter." Das weiche Maul der braunen Stute stieß sacht gegen mich. Aus geblähten Nüstern strich Luft über meinen Nacken. "Das ist alles. Gorlan schäumt natürlich, aber sie werden ihn schon irgendwie beschwichtigen, du wirst schon sehen." Einen Augenblick schwiegen wir beide. Cynric biss in das Fleisch und schleuderte den abgenagten Knochen durch die offene Stalltür hinaus. Sofort stürzte sich eine Meute von Hofkötern darauf und schleppten ihn kläffend fort. "Myrlin, woher sollte Calmach deiner Meinung nach wissen, wer dein Vater ist?", fragte Cynric ruhig. "Ich weiß nicht genau... meine Mutter hat es ihm natürlich nicht erzählt. Aber..." Meine Kehle schmerzte auf einmal, ich konnte nicht mehr weiter sprechen. Cynric sah mich eine Weile verständnisvoll schweigend an, bevor er sagte: "Es wäre klug von dir, zu niemandem darüber zu sprechen, hörst du?" Ich antwortete nicht. "Das sind Dinge, die ein Kind noch nicht versteht. Dinge von höchster Wichtigkeit. Sicher, über dies und das wird allgemein gesprochen... aber was du da eben über Prinz Calmach gesagt hast..", er packte mein Knie mit kräftiger Hand und schüttelte es, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. "Glaub mir, Myrlin, er ist gefährlich, dein Onkel. Rühr nicht daran und bleib ihm aus den Augen. Ich werde keiner Menschenseele ein Wort verraten, das schwöre ich dir. Aber auch du darfst zu niemandem davon sprechen. Wenn Calmach auch nur glaubt, mehr zu wissen als deine Mutter allen erzählt, dann musst du sehr, sehr vorsichtig sein, Myrlin-bach". Wieder schüttelte er mein Knie. "Hörst du? Für dich ist es das Beste, den Mund zu halten und deiner Wege zu gehen. Und jetzt sage mir endlich, wer dir all das erzählt hat." Ich dachte an die Höhle im Hypokaustum und an dem Himmel, hoch oben über dem Schacht, an das Flüstern der Sterne am Firmament. "Niemand. Das schwöre ich dir." Und als er mich musterte, gleichermaßen unwillig und besorgt, rückte ich mit der Wahrheit heraus, soweit sie unverfänglich war: "Ja, es stimmt schon. Hier und dort habe ich etwas gehört. Manchmal unterhalten sich die Leute über meinen Kopf hinweg, als ob ich gar nicht da wäre oder nichts verstünde. Doch oft...", ich zögerte unwillkürlich, "ist es auch, als ob etwas zu mir spräche und ich Dinge sehen könnte... Manchmal reden die Sterne zu mir... und Stimmen und Musik klingen zu mir im Dunkeln. Wie bei Träumen." Seine Hand hob sich wie zum Schutz. Er schien sich bekreuzigen zu wollen. Aber dann sah ich, dass er ein Zeichen machte: gegen den bösen Blick. Doch beschämt ließ er die Hand wieder sinken. "Träume, ja, das wird's sein, du hast Recht. Wahrscheinlich hast du in irgendeinem Winkel geschlafen und mit angehört, was die Leute so reden. Fast hätte ich vergessen, dass du ja noch ein so kleines Kind bist. Aber wenn du einen mit diesen Augen ansiehst...", er brach ab und zuckte mit den Schultern, "Versprich mir, dass du niemandem etwas von dem sagst, was du gehört hast." "Gut, Cynric. Ich verspreche es. Aber dafür musst du mir auch etwas sagen." "Und das wäre?" "Wer mein Vater ist." Das Bier schwappte aus dem Trinkhorn in seiner Hand. Er wischte sich den Schaum vom Mund, setzte das Gefäß dann an und blickte mich beschwörend an. "Wie bei allen guten Geistern kommst du darauf, dass ich das wissen könnte?" "Vielleicht hat Moravik dir etwas verraten." "Weiß sie es denn?" Seine Frage klang so überrascht, dass es keinen Zweifel geben konnte: er sprach die Wahrheit. "Ich habe sie danach gefragt, aber sie meinte nur, es gäbe Dinge, über die man besser nicht spricht." "Da hat sie Recht. Wahrscheinlich wollet sie dir damit auch nur zu verstehen geben, dass sie nicht mehr weiß, als andere. Und das bring mich auf noch etwas, was ich dir sagen will. Myrlin-bach, stell' niemandem mehr diese Frage. Wenn deine Mutter wollte, dass du es erfährst, dann hätte sie es dir gesagt. Du wirst es schon zur rechten Zeit erfahren. Und denk ja nicht daran, Calmach danach zu fragen, das wäre das aller gefährlichste, was du tun konntest." Ich sah, wie er, halb von mir abgewandt, wieder dieses Zeichen machte. Schon wollte ich ihn fragen, ob er denn jene Schauermärchen glaubte, als er nach dem Trinkhorn griff und aufstand. "Ich habe also dein Versprechen, ja?" "Ja!" "Ich habe dich beobachtet, Myrlin-bach. Du gehst deine eigenen Wege und manchmal habe ich das Gefühl, dass du der wilden Natur näher bist, als wir anderen Menschen. Weißt du, dass sie dich nach dem Falken benannt hat?" Ich nickte. "Nun ja. Dann lass dir durch den Kopf gehen, was ich dir gesagt habe und vergiss' für einen Augenblick die Falken, es gibt sowieso viel zu viele von ihnen. Hast du schon einmal die Ringeltauben beobachtet, Myrlin?" "Natürlich. Das sind doch die, die mit den weißen Tauben immer am Brunnen trinken und dann frei davon fliegen. Ich habe sie letzten Winter zusammen mit den anderen Tauben gefüttert." "In meinem Vaterland sagt man, dass die Ringeltaube viele Feinde hat, weil ist Fleisch süß ist und ihre Eier gut schmecken. Aber sie lebt und gedeiht, weil sie vor der Gefahr flieht. Und du, Myrlin-bach, bist noch kein Falke, auch wenn deine Mutter dich so genannt hat. Du bist nur eine Taube, vergiss das nicht. Verhalte dich still wie sie und begib dich nicht in Gefahr. Merk' dir meine Worte", er nickte zur Bekräftigung seiner Worte und fuhr strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sofort wieder zurückfielen. "Schmerzt der Riss noch?" "Es brennt." "Dann beginnt es zu heilen. Mach dir darüber also keine Sorgen. Bald wirst du nichts mehr davon sehen." Tatsächlich verheilte die Wunde sehr sauber und ließ keine Narbe zurück. Doch in der ersten Nacht brannte und biss es so wild, dass ich kaum schlafen konnte. Schließlich schlich ich mich an meinem Wolfshund vorbei zum Hypokaustum. Aber in dieser Nacht hörte ich nichts von Wichtigkeit. Nur Olwens Stimme sang, lieblich wie das zwitschern einer Amsel, ein Lied, das ich noch nie gehört hatte: von einer Wildgans und einem Jäger mit goldenem Netz. Nach diesen Ereignissen verlief das Leben wieder in gewohnten Bahnen. Die Weigerung meiner Mutter, sich zu vermählen, schien mein Großvater als unabänderlich hinzunehmen. Ein oder zwei Wochen noch maß er sie bei jeder Bewegung mit zornigem Blick, aber dann legte sich sein Unmut. Schließlich war sein Sohn Calmach wieder da und außerdem begann die große Jagdsaison für den Winter bald. Nur mit meinem Verhältnis zu Calmach stand es nicht zum Besten. Nach dem Vorfall im Obstgarten hatte ich seine besondere Gunst verwirkt. Aber er war nicht etwa unfreundlich zu mir, und einige Male nahm er mich gegen die anderen Kinder in Schutz, sogar gegen Dinias, der jetzt an meiner Stelle sein Liebling war. Doch ich bedurfte seines Schutzes nicht mehr. Mit Dinias konnte ich alleine fertig werden, ich war gewitzter und schlauer als er. Calmach hielt es vor der großen Jagdsaison für die Zeit, uns Kindern lesen und schreiben beibringen zu lassen. Der Sommer und seine süßen Düfte wichen dem Herbst und seinen absterbenden Farben, was mich als Kind zum Druidenfest in feierliche Stimmung versetzte. Das Tal, die Hügel und die Ebenen wurden rot, braun und gelb. Die Vögel zogen gen Süden, die Ernte wurde eingebracht und abends wurde es früher dunkel. Maridunum lag im Herbst genau so friedlich da, wie im Frühling und Sommer, nur die kalten Winde vom Meer her bliesen durch das Laub, bewegen die kahlen Äste wie tote Glieder. Calmach hatte einen Lehrer aufgetrieben. Er war ein griechischer Sklave, ein Gelehrter, der mir anvertraute, dass er nur durch die Verstrickung in Schulden in die Sklaverei hinabgerutscht war. Oft lag er betrunken da, schlief seinen Rausch aus. Die anderen merkten bald, dass er sie nicht verriet, wenn sie ihn nicht verrieten, wenn er nach einem nächtlichen Trinkgelage mit surrendem Atem seinen Rausch ausschlief. Er verzieh uns unsere Schwänzerein und wir behielten sein Geheimnis für uns. Dinias, seine Zwillingsschwester Briga, die ihm ähnelte, wie aus dem Gesicht geschnitten, und der Rest der Bande, hatten so bald wieder ihre alte Freiheit erlangt, denn so lange sie niemand während der Unterrichtszeit sah, konnten sie tun, was sie wollten. Ich hingegen mochte Demetrius. In den zahlreichen Stunden, in denen er nüchtern und ich allein anwesend war, erzählte er viel aus seiner Heimat, Geschichten und Sagen, die sich jenseits des Meeres abgespielt hatten und die ich noch nie zuvor gehört hatte. Und schließlich auch die griechische Schrift. Ich stellte Fragen darüber, ob es in seiner Heimat auch Feen und Elfen gab, ob seine Götter wirklich alle auf einem Berg und nicht auf der Erde, in der Natur, dem Meer und den Flüssen lebten. Ich wollte wissen, ob sie auch Könige hatten und ob sich ihre Stämme und Clans bekriegten. Er erklärte mir, dass es in Rom und in Athen anders war, als bei uns und ich begriff, dass jenseits des Meeres eine vollkommen andere Welt lag, die ich noch nicht ganz zu begreifen vermochte. Leider wurden Dinias und einige seiner Anhänger einmal im Wald bei der Kaninchenjagd entdeckt - während sie eigentlich hätten in der Schulstube sitzen sollen. Als mein Großvater sie entdeckte hatte, hatte er zwar Verständnis, doch eine Prügelstrafe tat ihm nie leid und so wurden die fünf Herumtreiber ordentlich versohlt. Daher kam es, dass ich die meiste Zeit, wenn neben mir Dinas versuchte, zu lesen und Briga ihre Finger zählte, unbemerkt vor mich hinträumte, von den fremden Landen und den Feen und der Apfelinsel. Während ich Stunden lang dasaß, kam mir so manche Geschichte in den Sinn. Ich malte mir in meiner Phantasie die nächtlichen Feste der Feen in den Wiesen aus. Sie würden den süßen Saft aus den Blütenblättern trinken und die Sterne würden für sie Musik machen, wie sie es auch für mich in meinem Versteck taten. Irgendwann kam mir auch das Wassertier in den Sinn. Ich stellte mir vor, dass es unter der Brücke des Flusses vor Maridunum lebte. Es schwamm im Wasser und wartete, dass jemand an der Brücke vorbeikam und seinen silbernen Kopfschmuck zurückbrachte. Einst hatte nämlich ein Bauernjunge, der das Herz einer Prinzessin gewinnen wollte, in der Hoffnung, sein tristes Bauernleben hinter sich lassen zu können, den Kopfschmuck des Wassertiers gestohlen und ihn seiner Liebsten zu Füßen gelegt. Aber die Prinzessin hatte keinen armen Bauern gewollt, und sie glaubte ihm nicht, dass der Kopfschmuck des Wassertiers magisch war und hielt ihn für gewöhnlichen Silberschmuck, wie sie ihn selbst trug. Der König war sogar sicher, der Bauernjunge habe den Silberkopfschmuck gestohlen und ließ ihn einsperren. Aber da der Kopfschmuck doch verzaubert war, kamen die Feen herbei und hörten das jämmerliche Weinen des armen Jungen in seinem grausigen Verließ. Weil die Feen gerecht waren, ließen die den Bauernjungen frei, denn er hatte keinem irdischen Wesen etwas gestohlen und konnte deshalb von keinem irdischen Wesen bestraft werden; aber weil er einem magischen Wesen etwas gestohlen hatte, durften ihn die Feen bestraften und seither musste der Bauernjunge unter ihnen leben - er war kein Mensch mehr, aber auch keiner aus dem Feenvolk. Doch schließlich hatte er erreicht, was er in gewisser Weise erreichen wollte, indem er die Prinzessin heiratete: er war etwas Besonderes geworden und musste sein Leben nicht mehr als Bauer fristen. Aber nur das arme, arme Wassertier hatte nie seinen Kopfschmuck zurückbekommen, denn die Feen wollten damit spielen. Deshalb wartete das Wassertier noch immer unter der Brücke. Mit fiel die Geschichte und je öfter ich über sie nachdachte, desto mehr Einzelheiten ließ ich mir einfallen und jedes Mal, wenn ich bei der Brücke vorbeikam, sah ich hinunter, ob das Wassertier zu sehen war. Einmal erzählte ich Cynric davon, doch er tat meine Geschichte nur als Kindergeplapper ab und meinte, dass bestimmt kein Wassertier auf mich lauere, um mich mit Haut und Haaren zu verschlingen, sobald ich ins Wasser fiele. Calmach heiratete noch vor der Wintersonnwende die Tochter des Großkönigs. Er tat sich als Anführer und Krieger hervor und auch sonst schien er seinen Vater zufrieden zu stellen, denn bald war seine junge Frau schwanger. An Dinias rächte ich mich noch einmal. Eines Nachts kroch ich auf dem Weg zu meiner "Höhle" unter seiner Schlafkammer vorbei und vernahm lautes Lachen. Mit Brys, einem seiner Anhänger, sprach er über einen Streich, den sie sich geleistet hatten: Heimlich waren sie Alun, Calmachs Freund, zu seinem Stelldichein mit einer Magd gefolgt und hatten alles beobachtet. Als mir Dinias am nächsten Tag auflauerte, fragte ich ihn, einige Sätze aus seiner Unterhaltung wörtlich zitierend, ob er schon Alun über den Weg gelaufen sei. Er starrte mich an. Blitzschnell wechselten Blässe und Röte in seinem Gesicht. Seine Furcht, vom jähzornigen Alun durchgeprügelt zu werden, war offenkundig. Er schien sich zu fragen, woher ich meine Weisheit hatte und drückte sich dann scheu an mir vorbei, hinter seinem Rücken das Zeichen machend. Er glaubte also, dass hinter meinem schlichten Trick Zauberei steckte. Von da an ließen mich die anderen Kinder in Frieden. Gerade noch rechtzeitig, denn in jenem Frühling stürzte ein Teil des Badeshauses ein und mein Großvater ließ die Löcher zuschütten und Rattengift auslegen. Der geheime Zugang zu meinem Wissen war mir also versperrt und ich musste auf andere Weise mein Haupt retten. Doch auch in dieser Hinsicht zeigte ich mich erfindungsreich. Eines Tages im frühen Frühling, stahl ich mich nach dem Unterricht davon und ritt hinaus in die Hügel hinter der Stadt. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Weg einschlug. Ein Umweg eigentlich. Doch hätte mich der kürzere Weg durch die Stadt geführt, wo neugierige Blicke und Fragen unausweichlich gewesen wären. So zog ich es vor, am Flussufer entlang zu reiten, am Kloster und an der Mühle, wo die Schiffe ihre Lasten abluden, vorbei. Und dort, jenseits der Stadt, lag ein Tal, durch das ein Bach floss, der in einem Fluss mündete. Es war ein heißer, schläfriger Tag. Adlerfarn duftete schwer. Über dem Wasser zuckten blau schimmernde Libellen hin und her. Dicke Wolken summender Fliegen hockten auf Sträuchern und Bäumen. Es würde Stunden dauern, ehe man meine Abwesenheit bemerkte. Dem Flusslauf folgend schlängelte sich der Pfad in engen Windungen dahin, ehe er schließlich durch Dorngestrüpp in einem Bogen den offenen Hang hinaufstrebte. Die Sonne stand steiler. Leichter Windhauch strich durch die Sträucher. Ich trieb das Pony an. Jetzt sah ich auch die ersten Kiefern, deren Stämme rötlich in der Helle schimmerten. Der Boden wurde rauer und härter. Kahles, graues Gestein kroch durch die dünne Erdkruste. Wohin der Pfad mich führte wusste ich nicht, ich wusste nur eines: Ich war allein, ich war frei. Nichts verriet mir, was für ein Tag dies war oder was mich führte. Die Hitze sengte sich und ich spürte Dunst. Der Pfad lief nun unter einer niedrigen Felsnase dahin. Irgendwo über mir hörte ich das Geplätscher von Wasser zwischen den Steinen. Ich hielt das Pony an, stieg ab und führte es ins Gehölz, wo ich es anband. Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Wasser. Der Fels neben dem Pfad war trocken. Auch unterhalb des Pfades deutete nichts daraufhin, dass hier irgendwo ein Rinnsal seinen Weg zum Bach suchte. Und doch hörte ich, stetig und unverkennbar, das Plätschern von Wasser. Kurz entschlossen klomm ich die mit Büschel bewachsene Anhöhe seitlich des Felsens empor und gelangte auf einen Grasüberwucherten Absatz, über dem sich, ein wenig zurückgesetzt, eine weitere Felswand erhob. Und plötzlich entdeckte ich sie, die Höhle mitten in dieser Wand. Eine enge und regelmäßig gerundete Öffnung, fast einem Torbogen gleich, führte ins Innere. Rechts diesem Eingang lag eine kleine Kuppe - Felsgestein, das vor Jahren einmal herabgestürzt sein musste. Und dort wuchsen Eichen und Ebereschen, deren Schatten die Höhle überschatteten. Links, und nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, fand sich die Quelle. Ich näherte mich ihr. Ein winziges Glitzern nur zeigte an, wo das Wasser aus dem Felsspalt drang, ehe es sich mit stetem Plätschern in ein Steinbecken ergoss. Einen Abfluss konnte ich nirgends entdecken. Vermutlich fand das Wasser durch einen zweiten Felsspalt den Weg hinunter zum Bach. Durchsichtig klar war es und ich konnte jeden Kiesel, ja selbst jedes Sandkorn auf dem Grund des Beckens erkennen. Oberhalb der Steinschale wucherte Zungenfarn, an ihrem Rand wuchs Moos und unterhalb breitete sich saftiges Gras. Hier kniete ich nieder und wollte eben den Mund zum Wasser beugen, als ich den Becher entdeckte, der in einer winzigen Nische zwischen den Farnen stand. Er war etwa eine Handspanne hoch und bestand aus braunem Horn. Ich griff danach und sah plötzlich, zwischen den Farnen halb verborgen, die kleine, aus Holz geschnitzte Figur eines Gottes. Ich erkannte ihn: Unter der Eiche bei Tyr Myrddin hatte ich ein solches Bildnis schon gesehen. Hier nun stand er in seinem Reich unter freiem Himmel. Ich füllte den Becher und trank. Dann betrat ich die Höhle. Sie war viel größer, als sich von außen vermuten ließ. Wenige kurze Kinderschritte nur und sie öffnete sich zu einem weiten Gewölbe, oben von Schatten umhüllt. Sie schien dunkel und was doch (auch wenn ich dies zuerst nicht wahrnahm noch nach dem Grund dafür fragte) von einer unnennbaren Helle, so dass ich deutlich den glattgeebneten, völlig leeren Boden unter mit erkannte. Angestrengt spähend, bewegte ich mich langsam voran, und tief in mir wurde jene wogende Erregung wach, die der Anblick von Höhlen stets in mir erweckte. Anderen Menschen geht es beim Anblick von Wasser oder Feuer so, oder auch bei hohen Gipfeln. Ich fühle mich immer von der Tiefe der Wälder oder auch der Erde gepackt. Ich hatte etwas Neues entdeckt: etwas, das ich mir in einer Welt, in der nichts mein eigen war, zu eigen machen konnte. Plötzlich durchzuckte mich ein Schreck und ich blieb stehen. Nicht weit weg von hier hatte ich im Halbdunkel eine Bewegung gewahrt. Ich stand wie erstarrt. Spähte mit zusammengekniffenen Augen. Und sah nichts. Ich hielt den Atem an. Kein Geräusch. Prüfend sog ich die Luft ein. Es roch weder nach Tier, noch nach Mensch. Nur der Geruch von Erde, Rauch und feuchtem Fels wurde spürbar. Und ein eigentümlich muffiger Geruch, den ich nicht identifizieren konnte. Instinktiv wusste ich, dass niemand in meiner unmittelbaren Nähe war. Leise sagte ich auf walisisch: "Zum Gruß!", doch in raschen Echo kamen die Worte vom wahrscheinlichen nahen Felswall zurück und verloren sich dann zischend in der Höhle. Und aus dem Widerhall meines Flüsterns schien es zu steigen, ein Rauschen, das wuchs, wie das Rascheln von Gewändern oder das Flattern eines Vorhangs in bewegter Luft. Dann fuhr mit schrillem, schier tonlosem Schrei etwas an meinem Kopf vorüber. Und mehr, immer mehr, Flocken zerrissener Schatten gleich, herabregend aus der Höhle wie windgepeitschtes Laub: Fledermäuse, die aufgescheucht von ihren Schlupfwinkeln hinausströmten ins lichte Tal. Ich stand bewegungslos da. Dieser muffige Dunst, den ich wahrgenommen hatte, stammte er vielleicht von ihnen? Nein. Der Geruch, den die vorbei fliegenden Tiere ausströmten war anders. Immer noch stoben sie dahin, doch kein Flügelschlag berührte mich. In Tageshelle wie Nachtschwärze weichen Fledermäuse jedem Hindernis aus. Wie federleichte Blütenblätter scheint sie der Wind um jedes Hemmnis herumzutragen. In dichter Flut bewegte es sich zwischen der Felswand und mir und in kindlicher Neugier trat ich näher. Schon teilte sich die Flut und schoss weiter voran, während sachter Lufthauch gegen meine Wangen prallte. Und im gleichen Moment sah ich es; mit mir hatte es sich bewegt, ein Wesen wie ich. Ich tastete mit ausgestreckter Hand. Meine Finger trafen nicht auf Fels, sondern auf Metall, und ich begriff, dass jenes fremde Wesen mein Spiegelbild war. An der Wand hing eine matt glänzende Metallplatte, und ganz offensichtlich war sie die Quelle des diffusen Lichts in der Höhle. Die seidige Spiegelfläche fing vom Eingang her die Helle ein und sandte sie ins Höhleninnere. Unwillkürlich zuckte ich vor meinem geistergleichen Abbild zurück. Und sah, wie meine Hand, schon am Dolch in meinem Gürtel, sich erleichtert von der Waffe löste. Die Flut der Fledermäuse war verebbt. Die Höhle lag still. Aufmerksam betrachtete ich mich im Spiegel. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter einmal einen gehabt hatte, ein altes Stück aus Ägypten, bald wieder außer Gebrauch, da solche Dinge sie eitel dünkten. Natürlich hatte ich mein Gesicht schon oft im Wasser gesehen, doch hier erblickte ich mich erstmals ganz: ein dunkelhaariges Mädchen, das aus aufgerissenen Augen neugierig und erregt starrte. Schwarz wirkten meine Pupillen hier, im trüben Licht, fast schwarz auch mein sauberes, nackenlanges Haar, das durch die Locken schlechter geschnitten aussah als die Mähne meines Ponys. Auch mein Gesicht spottete jeder Beschreibung. Ich lächelte, und bereitwillig warf der Spiegel mein Lächeln zurück. Plötzlich verwandeltes Bild: nicht mehr gehetztes Tier, bereit zur Flucht oder Gegenwehr, sondern ein Gesicht voll Offenheit und Zutraulichkeit. Und schon damals wusste ich, dass nur wenige Menschen mich so kannten. Ich ließ meine Hand über das Metall gleiten. Es war kalt und glatt und frisch geputzt. Es musste also erst kürzlich jemand hier gewesen sein. Vielleicht lebte er immer noch in der Höhle. Jeden Augenblick konnte er zurückkehren. Doch ich hatte kaum Angst. Auch in friedlichen Zeiten, wie sie in unserer Gegend herrschten, lernte man schon früh auf der Hut zu sein vor herumstreunenden Verbrechern und Vagabunden. Wer gerne auf eigene Faust handelte, wie ich, musste sich seiner Haut zu wehren wissen. Für mein Alter war ich recht kräftig, zudem vertraute ich meinem Dolch und meinem Bogen. Dass ich kaum fünf Lenze zählte, das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich hieß Myrlin, und ob nun Bastard oder nicht: Ich war die Enkelin des Königs. Ich drang weiter vor. Als nächstes spürte ich eine Truhe nahe der Wand auf. Darauf entdeckten meine tastenden Finger Feuerstein, Eisen und Zunderbüchse. Dann stieß sie gegen eine große, ungefüge Kerze aus Schafstalg - und auf einen gehörnten Schafsschädel. Hier und dort in der Truhe staken Nägel, die durch Fetzen von Leder getrieben schienen. Doch als meine Finger die Formen befühlten, glitten sie über winzige Knochenskelette, von verschrumpfter Lederhaut umhüllt. Es waren tote Fledermäuse. Ausgestreckt auf das Holz genagelt. Eine Schatzhöhle fürwahr. Weder die Entdeckung von Gold oder Waffen hätte mich mehr erregen können. Neugierig langte ich nach der Zunderbüchse. Dann hörte ich, dass er zurückkam. Mein erster Gedanke war, dass er mein Pony gesehen hatte. Doch offenbar näherte er sich der Höhle von oben. Kleine Steine prasselten herab, ein oder zwei klatschten ins Wasserbecken draußen. Und dann war es zu spät. Er sprang herab ins flache Gras neben dem Wasser. Keine Zeit für falsche Tapferkeit: der Falke verwandelt sich in die Taube. Rasch lief ich tiefer in die Höhle hinein. Eine Hand bog die Zweige beiseite, die den Eingang überschatteten und für einen Augenblick wurde es lichter. Im Hintergrund der Höhle erkannte ich einen Hang mir vorspringender Felsnase und breitem, nicht allzu hohem Absatz. Funkelndes Sonnenlicht, vom Metallspiegel her, glitt über ein schattiges Loch dort oben. Lautlos klomm ich empor und verbarg mich in dem Spalt, der zu einer weiteren, kleineren Höhle führte. Wie ein Fischotter schlängelte ich mich hindurch. Er schien nichts gehört zu haben. Das Gezweig am Eingang schnellte zurück, und die Helligkeit verlosch. Ruhige und feste Männerschritte näherten sich. Zielsicher strebten sie auf die Truhe zu, wo die Kerze stand. Missbehaglich verharrte ich in der winzigen Höhle, in die ich gekrochen war. In Form und Ausdehnung schien sie jenen Bottichen zu gleichen, die am Hofe zum Färben benutzt wurden. Ich stak wie im inneren einer Kugel, deren Wände mit Nadeln gespickt schienen, mit kantig hervorspringendem, scherbengleichem Gestein, das auch keine Handbreit glatter Fläche freiließ, und es war wohl auch nur mein geringer Körpergewicht, das mich vor Schaden bewahrte, als ich blind nach einer freien Stelle tastete, wo ich mich hinlegen konnte. Ich fand sie schließlich, leidlich glatt, und kauerte darauf nieder, Blick durch den trüb umrissenen Spalt in die Großhöhle gerichtet, Dolch schon in der Hand. Ich vernahm das Gegeneinanderschlagen von Feuerstein und Eisen. Dann flammte der Zunder grell ins Dunkel. Und schließlich schimmerte der sanfte Schein der Kerze auf. Schimmerte auf? Oh, nein. So hätte es wohl sein sollen: das langsame Anwachsen matten, milden Kerzenscheins. Statt dessen loderte es empor wie eine Flammen sprühende, Flammen speiende Fackel. Helle blinkte und blitzte weiß und rot und golden. Feuergarben blendeten mich. Furchtsam zuckte ich davor zurück und presste mich gegen die dornenscharfen Wandlungen meiner Höhle. Das ganze Verlies schien in Flammen zu stehen. Und tatsächlich, jetzt sah ich es genau, war es ein kugelartiges Gewölbe, ausgekleidet mit Kristallen, fein und glatt wie Glas, doch klarer, als ich's je gesehen, und leuchtend wie Diamant. Und genau so empfand es mein kindliches Gemüt: ich hockte in einer Diamanten bestückten Kugel, funkelnd Edelstein in Edelstein, millionenfach hin und her geschleuderte Strahlenbündel, glänzende, gläserne Lichtflut, regenbogenfarbig und sternengleich - die Umrisse eines blutrot hochgereckten Drachen an der Windung und darunter, mit geschlossenen Augen und verschwommen nur, ein Mädchengesicht. Sengend brannte sich das Licht in mir in den Leib, als müsse ich zerbersten. Ich presste die Augen zusammen und verharrte so sekundenlang. Als ich sie wieder öffnete war das Licht dahingeschrumpft. Nur an einer Stelle an der Wand lagerte ein heller Kegel, kaum größer als mein Kopf. Und von dort, ohne jedes Bildnis, ohne jede Erscheinung jetzt, sprühten wie zersplittert vereinzelte Strahlen. In der großen Höhle unten war alles still. Keine Bewegung, kein Laut, nicht einmal das Rascheln von Kleidern. Dann begann das Licht zu wandern. Langsam glitt der helle Kegel über die Kristallwand. Zitternd drückte ich mich gegen die spitzen Steine. Doch es gab kein Entkommen. Schritt für Schritt glitt der Strahlenfinger über die Rundung vor und berührte meine Schulter, meinen Kopf. Ich duckte mich, krümmte mich zusammen. Wie in aufgewirbelter Wasserlache jagte mein Schatten über die Hohlkugel hinweg. Das Licht verharrte glitzernd auf der Stelle. Und erlosch plötzlich. Das Glühen der Kerze blieb: ein stetes, gelbes Glimmen auf der anderen Seite der Fellspalte. "Komm heraus", klar und deutlich klang der Befehl. Und gehorsam kroch ich über die scharfen Kristalle hinweg durch den Spalt. Draußen, auf dem Felsabsatz in der eigentlichen Höhle, richtete ich mich auf und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, in der Hand meinen Dolch. Er stand zwischen mir und der Kerze, eine, wie mir schien, riesige Gestalt in grobgewebtem Gewand. Die Kerze wob einen hellen Kranz um sein Haupt. Das Haar wirkte grau und er trug einen Bart. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Die rechte Hand hielt er in der Falte seines Gewandes. Ich wartete angespannt... Er sprach im gleichen Ton wie zuvor: "Lass deinen Dolch und komm herab." "Zeigt mit erst Eure rechte Hand", sagte ich. Er zog sie hervor und streckte sie aus. Sie war leer. "Dann geht mir aus dem Weg", sagte ich und sprang. Mit wenigen Sätzen war ich an ihm vorbei und strebte auf den Ausgang zu, ehe er auch nur eine Bewegung machen konnte. Aber er versuchte es auch gar nicht. Als ich schon an der Öffnung die Zweige beiseite bog, hörte ich hinter mir sein Lachen. Unwillkürlich blieb ich stehen und drehte mich um. Und von hier, im Licht, das jetzt die Höhle füllte, sah ich ihn deutlich. Er war ein alter Mann mit grauem Haar, das ihm von oben schon dünn strähnig über die Ohren fiel. Grau war auch sein gerader, grob gestutzter Bart. Seine Hände wirkten schwielig mit eingefressenen Schmutzspuren, doch waren die Finger früher offensichtlich wohlgeformt gewesen. Jetzt krochen, wurmgleich gebläht, knotige Adern über sie hinweg. Doch es war sein Gesicht, das mich gefangen nahm: schmal, ausgehöhlt, fast wie ein Totenschädel, mit hoher, gewölbter Stirn und buschigen grauen Brauen, jäh hervorspringend über die Augen, die ihn altlos erscheinen ließen. Dicht beieinanderliegend, schauten sie mit großem und klarem Blick aus schwimmendem Grau. Seine Nase war messerscharf. Der Mund, lippenlos fast, dehnte sich in breitem Lächeln über erstaunlich gute Zähne. "Kommt zurück. Ihr braucht keine Furcht zu haben." "Ich habe keine Furcht", ich ließ die Zweige los und ging mit gespielter Tapferkeit zurück. Wenige Schritte vor ihm blieb ich stehen. "Warum sollte ich mich vor Euch fürchten, wisst Ihr denn, wer ich bin?" Grübelnd betrachtete er mich einen Augenblick. "Lasst mich nachdenken. Dunkle Haare, dunkle Augen, den Kopf hoch in den Wolken, die Knie von der Erde geschunden, die Statur eines Knaben und das benehmen eines jungen Wolfes... oder sollte ich besser sagen, eines jungen Falken?" Ich ließ meinen Dolch sinken. "Dann kennt Ihr mich also?" "Nun, vielleicht ahnte ich, dass Ihr eines Tages kommen würdet. Vielleicht wusste ich sogar, dass heute jemand in der Höhle war. Und vielleicht war es das, was mich so früh zurückkehren ließ." "Ihr habt gewusst, dass jemand in der Höhle war? Ach, natürlich, Ihr habt ja die Fledermäuse gesehen." "Das kann schon sein." "Fliehen die immer davon?" "Nur wenn ein Fremder kommt. Euer Dolch, kleine Lady." Ich steckte ihn in den Gürtel zurück. "Niemand nennt mich Lady. Ich bin ein Bastard. Also gehöre ich keinem, außer mir selbst. Ich heiße Mynona Odry, oder einfach nur Myrlin. Aber das wisst Ihr ja schon." "Ich heiße Galapas. Habt Ihr Hunger?" "Ja", sagte ich und stockte bei dem Gedanken an den Schafschädel und die toten Fledermäuse. Er begriff. Die grauen Augen zwinkerten belustigt. "Früchte und Honigkuchen? Und süßes Wasser von der Quelle? Selbst in des Königs Haus wird man kaum besser speisen." "Dort wäre ich zu dieser Stunde bestimmt schlechter dran", sagte ich offen, "Seid gedankt, Sir. Ich will gerne mit Euch essen." Er lächelte. "Auch mich nennt niemand Sir. Und genau wie Ihr gehöre ich niemandem außer mir selbst. Geht hinaus und setzt Euch in die Sonne. Ich bringe, was wir brauchen." Die Früchte waren Äpfel, die genau so schmeckten wie jene, aus meines Großvaters Obstgarten. Unwillkürlich warf ich meinem Gegenüber einen verstohlenen Blick zu. Hatte ich ihn vielleicht schon einmal irgendwo gesehen, am Flussufer oder in der Stadt? "Habt Ihr eine Frau?", fragte ich, "Wer hat die Honigkuchen gemacht? Sie schmecken ausgezeichnet." "Nein, ich habe keine Frau. Wie ich schon sagte: Ich gehöre keinem außer mir selbst. Ihr werdet noch sehen, Myrlin, wie Euer ganzes Leben lang Gitter um Euch errichtet werden. Aber Ihr werdet ihnen auch nach Blieben entkommen, bis Ihr sie aus freien Stücken selbst errichtet, um in ihrem Schatten zu schlafen... Die Honigkuchen bekomme ich von der Frau des Hirten, die genug für drei macht, und sie sind ja so gut, dass man auch Gäste damit bewirten kann." "Dann seid Ihr ein Eremit? Ein heiliger Mann?", rief ich etwas aufgeregter, als ich eigentlich wollte. Aber das Leben eines Einsiedlers beflügelte sofort meine Phantasie. "Sehe ich wie ein heiliger Mann aus?" "Nein." Er sah wirklich nicht so aus. Jene heiligen Einsiedler zogen oft predigend und bettelnd durch die Stadt, die einzigen Menschen, vor denen ich mich damals fürchtete. Merkwürdige, hochmütige und anmaßende gestalten mit verrückten Augen. Der Geruch, den sie verbreiteten schien mit dem Abfall der Schlachthäuser verwandt, und oft genug wusste man überhaupt nicht, welchem Gott sie überhaupt dienten. Einige, so flüsterte Mann, seien geächtete Druiden, die ihrem Amt nicht mehr nachgehen durften. "Aber da draußen am Quell war doch ein Gott", warf ich ein. "Ja, Mynona, er leiht mir seinen Quell und seinen heiligen Hügel und ich zeigte ihm den schuldigen Dank. Es ist immer ratsam, der Gottheit eines Ortes Verehrung entgegenzubringen. Am Ende sind sie noch alle ein und derselbe." "Wenn Ihr kein Eremit seid, was seid Ihr dann?" Meine Mutter, Cynric und Moravik hatte mich schon unzählige Male gewarnt, vor Vagabunden und anderen Gestalten ja fern zu bleiben, doch bei Galapas war mir gar nicht in den Sinn gekommen, er könne irgendjemandem (ausgenommen den Fledermäusen) Gewalt antun. "Im Augenblick Lehrer." "Ich habe einen Lehrer. Er kommt aus Massilia, was aber auch schon in Rom. Er unterrichtet auch meinen Cousine und meine Cousine - die mag ich aber nicht. Wen lehrt Ihr denn?" "Bis jetzt niemanden. Ich bin alt und müde und möchte hier ganz für mich studieren." "Was sollen die toten Fledermäuse dort drinnen auf der Truhe?" "Ich studiere ihren Körperbau und die Art, wie sie fliegen und sich paaren und sich ernähren. Wie sie leben. Und das nicht nur bei Fledermäusen, sondern bei allen Tieren und Pflanzen. Auch bei Vögeln und bei Fischen." "Aber das ist doch kein Studieren!", rief ich überrascht, "Demetrius, mein Lehrer, sagt, es sei nur Zeitverschwendung Vögel, Fische und Eidechsen zu beobachten. Unsinnige Träumerei. Und mein Großvater findet sowieso, das Lernen Blödsinn ist. Aber mein Großvater findet auch, dass ich zu viel rede. Nur Cynric, ein Freund von mir, hat mal gesagt, ich soll die Ringeltauben studieren." Galapas lächelte belustigt. "Warum?" "Weil sie so still sind und so flink und vor allem davon flüchten. Zwei Eier legen sie nur und werden von allen gejagt, und trotzdem überstehen sie alles." "Und man sperrt sie auch nicht ein", er trank etwas Wasser und sah mich dann an: "Ihr habt also schon einen Lehrer. Könnt Ihr auch lesen?" "Natürlich." "Auch Griechisch?" "Ja, ein wenig." "Dann folgt mir." Wir betraten die Höhle, wo er die Kerze wieder anzündete und dann in die Hand nahm. Er hob den Deckel der Truhe. Darin sah ich eine große Anzahl an Schriftrollen. Er nahm eine, schloss die Truhe wieder und entrolle das Papier. Voller Entzücken sah ich, was es war: die etwas zittrige und dennoch deutliche Zeichnung einer Fledermaus. Am Rande standen griechische Wörter, die ich, für den Augenblick selbst Galapas' Gegenwart vergessend, sofort zu buchstabieren begann. Bald spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. "Gehen wir nach draußen." Er zog die Nägel heraus, mit denen einer der trockenen, lederartigen Körper auf dem Truhendeckel befestigt war, und hob die tote Fledermaus vorsichtig hoch. "Blas die Kerze aus. Wir werden uns dies zusammen anschauen." Und so, ohne weitere Fragen und ohne weitere Umstände begann meine erste Unterrichtsstunde bei Galapas. Erst als die Sonne, tief über dem Flügel des Tals lange Schatten den Hang hinauf schickte, erinnerte ich mich an jenes andere Leben, das auf mich wartete und den weiten Heimweg. "Ich muss aufbrechen. Wenn ich zum Abendessen zu spät komme, schöpft man gewiss Verdacht." "Und du wirst ihnen nichts erzählen?" "Nein, sonst dürfte ich gewiss nicht wieder herkommen." Er lächelte still. Und obwohl ich mir sicher war, er würde es mir nicht abschlagen, fragte ich aus Höflichkeit: "Ich darf doch wiederkommen, nicht wahr?" "Natürlich." "Wann das sein wird, weiß ich leider nicht. Ich meine, es lässt sich schwer sagen, bei welcher Gelegenheit ich wieder unbemerkt verschwinden kann." "Mach dir keine Sorgen. Ich werde rechtzeitig wissen, wann du kommst. Und hier sein." "Wissen? Aber wie denn?" Er rollte das Papier mit langen, schlanken Fingern zusammen. "Genauso wie heute." "Ach ja, richtig. Wenn ich die Höhle betrete flüchten die Fledermäuse." "So wird es sein." Ich lachte vergnügt. "Du bist schon ein sonderbarer Mensch, Galapas. Rauchzeichen mit Fledermäusen! Niemand würde mir das glauben, nicht einmal Cynric." "Du wirst auch ihm nichts verraten?" Ich nickte. "Ihm nicht und auch sonst niemandem. Aber jetzt muss ich aufbrechen. Auf Wiedersehen, Galapas." "Auf Wiedersehen." Und so geschah es dann auch in den folgenden Tagen und Monaten... Wann immer ich konnte ritt ich ein- bis zweimal die Woche das Tal hinauf zur Höhle. Er schien recht genau zu wissen, zu welchem Zeitpunkt ich kam, denn meist wartete er mit ausgebreiteten Schriftrollen vor der Höhle auf mich; und war er einmal nicht da, so rief ich ihn durch die davon flatternden Fledermäuse herbei. Mit der Zeit jedoch gewöhnten sich die Tiere an mich, und ich musste sie erst durch ein oder zwei gezielte Steinwürfe hinausscheuchen. Später dann erübrigte sich dies. Im Palast nahm man den ganzen Sommer über meine häufige Abwesenheit mehr oder weniger ungefragt hin und ich konnte mit Galapas von Tag zu Tag feste Verabredungen treffen. Seit Ende Mai Olwens Sohn geboren war, hatte Moravik mich in zunehmendem Maße mir selbst überlassen; und als dann im September auch Calmachs Tochter zur Welt kam, machte sie sich zur Herrin über das königliche Kinderzimmer und ließ mich gleichsam völlig fallen. Meine Mutter schien es zufrieden, ihre Zeit in Gesellschaft ihrer Frauen zu verbringen; ich sah kaum noch etwas von ihr. Cynric war mein Freund. Und als solcher stellte er beim Absatteln meines Ponys keine neugierigen Fragen sondern scherzte höchstens augenzwinkernd, wo ich mich denn nur herumtriebe. Cynric war zwar der Meinung, ich verwaise den ganzen Sommer über, doch auch er hatte tagsüber nie viel Zeit. Nur ab und an, wenn ich wieder einmal zu Galapas reiten wollte und Cynric fand, dass ich die letzten Tage all zu oft alleine im Wald herumgestromert sei, schickte er mich in den Palast zurück, um dort meine Zeit damit zu verbringen, mich zu den Weberinnen zu setzten, und von dem Wassertier, den Feen und Elfen und Drachen zu träumen. Moravik hatte angefangen, Briga und ihre Freundinnen Handarbeiten zu lehren, doch nachdem ich mich von Mal zu Mal ungeschickter angestellt hatte, musste ich wie ein kleines Kind zu ihren Füßen sitzen und ab und an Wollfäden aufwickeln und Flachs bürsten. War ich gerade nicht bei Galapas in der Höhle ritt ich durch die Hügel, um allein zu sein. Im Tal traf ich nie auf einen Menschen. Der Schafhirte wohnte nur im Sommer dort, in einer armseligen Hütte am Waldrand. Andere Behausungen gab es nicht, und der Pfad unterhalb von Galapas' Höhle wurde nur von Hirten und Schafen benutzt. Er führte nirgendwohin. Galapas war ein ausgezeichneter Lehrer. Dennoch empfand ich die Zeit bei ihm nie als Unterricht. Unterricht war das, was ich bei Demetrius und den Priestern meiner Mutter erfuhr (Sprachen und Geometrie beim einen, Religion bei den anderen) erfuhr. Im Grunde schien er nur Geschichten zu erzählen, denen ich gebannt lauschte. Als junger Mann war er viel auf der anderen Seite der Erde gereist, in Äthiopien und Griechenland und Germanien und um das ganze Mittelmeer und er hatte viele fremdartige Dinge gesehen und gelernt. Oft waren sie von praktischem Nutzen und er unterwies mich darin: wie man Kräuter sammelte und trocknete und als Heilmittel verwandte und wie man gewisse Pulver und Säfte, auch giftige, gewann. Er ließ mich Vögel und anderes Getier studieren (oft fanden sich tote Kreaturen am Wege: Vögel und Schafe und einmal sogar ein Hirsch) und ich lernte viel über Körperorgane und Knochengerüst. Er zeigte mir auch, wie man blutende Wunden stillte und Knochenbrücke behandelte, wie man schlechtes Fleisch wegschnitt und die Wunde so säuberte, dass sie ordentlich verheilte, ja sogar (obschon dies erst später kam) wie man Fleisch und Sehnen nähte, während das Tier mit Dünsten betäubt wurde. Und ich weiß noch: Der erste Zauber, den er mich lehrte, war das Besprechen von Warzen - eine so mühelose Verrichtung, dass jeder sie vornehmen konnte. Eines Tages entnahm er der Truhe eine Schriftrolle, die er mit besonderer Sorgfalt ausbreitete. "Weißt du, was dies ist?" Ich hatte schon viele Skizzen gesehen und kannte mich gut mit ihnen aus. Diese Zeichnung jedoch sagte mir nichts. Sie war lateinisch beschriftet, und ich erkannte die Wörter Äthiopien und Glücksinseln und, links in einer Ecke, Britannien. Die Linien schienen wirr durcheinander zu laufen, und überall fanden sich, winzigen Maulwurfshügeln gleich, gewölbte Kurven. "Das - das sind wohl Berge." "Ja." "Dann ist dies ein Bild der Welt?" "Eine Landkarte." Es war das erste Mal, dass ich so etwas sah, und obschon mir anfangs alles dunkel und verschlüsselt schien, begriff ich bald, dank Galapas' Erklärungen, wie man Zeichen zu sehen hatte: Wie ein Vogel aus großer Höhe blickte man hinab auf die Erde mit ihren Straßen und Strömen, weit verzweigt wie die Fäden eines Spinnwebs. Mühelos konnte man von Rom nach Massilia oder von Londinium nach Camelot reisen, ohne auch nur einmal nach dem Weg zu fragen. Diese Kunst wurde von dem Griechen Anaximander entwickelt, obwohl manche behaupteten, dass die Ägypter sie als erste beherrschten. Diese Karte hier war eine Kopie eines Werkes von Ptolemäus von Alexandrien, und Galapas trug mir schließlich auf, meine Schreibtafel zu holen und eine Skizze von meinem Land anzufertigen. Als ich den letzten Strich getan hatte, warf er einen Blick darauf. "Was ist dies hier in der Mitte?" "Maridunum", sagte ich überrascht, "Erkennst du es denn nicht, Galapas? Schau doch, hier ist die Brücke und der Fluss und hier die Straße, die über den Marktplatz führt." "Das sehe ich. Aber ich habe dich gebeten, dein Land zu zeichnen, nicht deine Stadt." "Ganz Wales? Aber wie soll ich wissen, was dort oben liegt? Ich war noch nie dort!" "Warte, ich will es dir zeigen." Er legte die Schreibtafel beiseite, nahm einen spitzen Stock und begann, jeden Strich und jeden Punkt erläuternd, in die nackte Erde zu kerben. Was unter seinen Händen entstand, war ein lang gestrecktes Dreieck, das nicht nur Wales wiedergab, sondern ganz Britannien, das raue Land jenseits des Hadrianwalls, wo die Wilden lebten, mit eingeschlossen. Er zeigte mir Berge und Flüsse und Straßen und Städte und, Londinium und Caleva und die dicht gedrängten Ortschaften unten im Süden bis hin zu jenen Städten und Festungen am Ende des Straßennetzes, Segontium, und Carleon und Eboracum und die Städte unmittelbar am Wall. Und er sprach, als sei es ein einziges Land, obschon ich ihm doch wenigstens ein Dutzend Könige hätte nennen können, die in verschiedenen Landstrichen herrschten. Als er fertig war, stand die Sonne gerade im Zenit und Galapas meinte, ich sollte nach Hause gehen. "Du wolltest nicht immer so lange wegbleiben, das weckt nur Verdacht", erklärte er. "Wieso denn? Mich vermisst im Palast ohnehin niemand." "Es ist trotzdem besser, wenn du jetzt aufbrichst, Myrlin. Im Palast trifft heute eine Gesandtschaft ein." Ich fragte nicht, woher er es wusste; ich glaubte ihm einfach und so ritt ich nach Hause. Auf dem Weg dachte ich daran, was das wohl für eine Gesandtschaft sein konnte. Sie wollten bestimmt zu meinem Großvater, dachte ich mir und es war mir nicht klar, was ich dann mit ihnen zu schaffen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)