Vogelfreiheit von Tsutsumi ================================================================================ Kapitel 3: The lily bride, the wagtail and the scar- the truth inside us all ---------------------------------------------------------------------------- Autor: Tsutsumi Titel: Vogelfreiheit Kapiteltitel: The lily bride, the wagtail and the scar- The truth inside us all wagtail=Bachstelze Teil:3/3 Disclaimer: Nichts gehört mir (bis auf den Plot und eigene Charas), sondern Bandai und Toei Animation. Ich bekomme kein Geld hierfür. Warnung: Shounen Ai, sappy, kitsch³, OOC, Yamatos POV Pairing: Taito/Yamachi Kommentar: Hallo an alle!^^ Ich hoffe, man kann sich noch an diese FF erinnern, nachdem ich so lang für das Ende gebraucht habe.^^" Im Großen und Ganzen ist das Ende anders geworden als geplant, aber ich bin halbwegs zufrieden damit. Ach so, eine Korrektur möchte ich anbringen: Soweit ich weiß, gibt es in Tokyo keine Fahrkartenkontrollen, da man ohne Fahrkarte erst gar nicht auf einen Bahnsteig gelangt. Ist mir in dem Moment entfallen *tropf* Verzeihung! Ich bitte auch, grammatikalische und rechtschreibliche Fehler zu entschuldigen, trotz Korrekturlesen schummelt sich da immer wieder etwas durch. Widmung: Rei17 und Selia ^^ Ich hab euch lieb! Vogelfreiheit Phase 3: The lily bride, the wagtail and the scar- the truth inside us all "Was immer diese Frau auch ist, sie gehört einfach nicht an diese Stelle.", sage ich gedankenverloren und poche gegen die Scheibe. Im nächsten Moment schmerzt mein Knöchel und ich schaue irritiert auf den Handrücken, dort wo es wehtut. Es ist ein bisschen rot und ich weiß nicht, woher. Wir sitzen im Bus, seit ungefähr drei Minuten. Während mir die Fahrt nach Shinjuku vorhin wie im Flug vorkam, dauert diesmal alles viel zu lange. Die Bahn war viel zu voll, schleppte sich viel zu langsam durch die Stationen. Viel zu milchig ist die Sonne geworden und viel zu langsam trottet der Bus durch die Straßen Odaibas, die ich so gar nicht vermisste. Wir haben noch knapp sieben Minuten Zeit. Sieben Minuten, die uns beide, Taichi und mich, vom Mysterium trennen, von der anderen Dimension, vom anderen Universum, von der Zeitschleife...Was auch immer! "Vielleicht...", hebt Taichi neben mir an und kratzt sich gedankenverloren am Kinn. Genau jetzt, in diesem Moment kann ich ein paar braune Härchen dort erkennen. Es ist noch weit entfernt von einem Dreitagebart, es ist auch kein Flaum mehr- dazu ist Yagami dann wohl doch zu alt- aber es irritiert mich, wie mich wohl alles Neue, was ich an ihm erkenne, irritiert. Er kratzt sich also, nur kurz, dann schaut er mich an und seine braunen, tiefen Augen durchfluten mich wie Schockwellen. "Vielleicht ist sie eine Tote!" "Hä?!", mache ich verplant und starre ihn mit großen Augen an. "Eine Tote?" Taichi beginnt, an mir vorbeizuschauen, aus dem Fenster, wo die Kaufhäuser, Geschäfte und Bäume vorbeifliegen, nein, eher vorbeischleichen. Denn wir sind immer noch zu langsam. "Ein Geist, meine ich!", erklärt sich Taichi und rückt ein bisschen näher. Wirklich nur minimal, doch in mir kocht es wieder hoch, als habe man in mir einen Schalter umgelegt. Flugs bin ich gefangen im Augenblick, in der ich ihn an mich zog, in dem ich all seine Wärme an mir spürte. Einzig und allein die Geist-Thematik hält mich davon ab, einfach wegzudriften. "Eine Frau, die unglücklich starb, als Braut... Die herumspukt, die nur ihr sehen könnt.", sagt Taichi und ich folge seinem Blick nach draußen. Der Bus stapft gemütlich an einer alten Dame in Rosa vorbei, die ihren Minipudel auf dem Arm spazierenträgt, anstatt ihn selbst laufen zu lassen. Ich muss an Filme denken, in denen es um arme, verlassene oder betrogene Bräute geht, die ihren untreuen Kerlen hinterherspuken. Der leicht verlorene Blick aus ihren Augen würde dafür sprechen, natürlich auch das Brautkleid, der Schleier... Die weißen Lilien! In meinem Kopf avanciert die junge mysteriöse Frau zum Taggespenst, zum durchleuchtenden Schleier aus längst vergangenen Zeiten, die jeden Tag unbeachtet und seufzend dahinharrt und mit den anderen Wesen spricht, die wir nicht sehen können. "Das kann es sein!", japse ich und gucke Taichi wieder an. "Sie ist tot! Sie sitzt da, um ihre letzte Ruhe zu finden! Vielleicht braucht sie einen Bus ins Jenseits oder so, einen Bus, der hier nicht fährt..." Aus meinem anfänglichen Rufen ist ein Murmeln geworden, wer mich nicht kennt, könnte meinen, ich würde Beschwörungen dahinnuscheln. "Dann können nur wir sie retten! Wenn nur wir sie sehen, dann sind wir vielleicht dazu auserwählt, sie in die letzte Ruhe zu schicken, so quasi als..." Ich verschlucke die letzten Worte. Taichi schaut mich an, als hätte mich etwas gebissen. "Entschuldigung!", gebe ich kleinlaut von mir. "Es ging durch mit mir!" Ich bekomme ein Lächeln geschenkt. "Schon in Ordnung." Und die braunen Augen strahlen mich ganz warm an. So warm, so...so süß, dass ich Taichi plötzlich wieder umarmen will. Es ist kein Verlangen, es ist kein zwingendes Muss. Doch wie eine Art kleine Sehnsucht strahlt dieses Gefühl in meinem Bauch und alles, was um meinen Bauch drumherum ist, scheint sich darauf auszurichten. "Geheimnisse regen an zu den wildesten Vermutungen, die am Ende gar nicht stimmen." Kaum dass er das gesagt hat, liegt mir mit einem Mal ein Stein im Magen. Ich mag nicht wirklich an diese Totengeschichte glauben mit der Frau, auch wenn sie stimmen könnte. Genauso wie all diese wilden Geschichten über Taichi stimmen könnten. Und das ist es, was mich mit einem Schlag niederdrückt, was mir die Sonne aus dem Bauch stiehlt. Der Bus bleibt stehen. Menschen steigen ein und steigen aus. Ich höre das Fußgetrappel auf dem grauen Boden des Gefährtes, ich sehe, wie heute Morgen graue und schwarze Anzüge, Krawatten, Kostüme, Aktentaschen, stumme Blicke. Und doch hat sich die Erde gedreht. Ich weiß, dass ich lebe, und ich weiß, dass ich freier bin als all diese Menschen hier. Freier als Taichi? "Wie bei dir, nicht wahr?", sage ich vorsichtig. Wenn nicht jetzt, dann nie. Mein Herz ist, als ob es einen Schlag lang aussetzen würde, meine Augen sehen nach draußen und können sich nicht darauf konzentrieren was dort ist. Für eine Sekunde, nur einen Lidschlag lang erhellt sich der Tag draußen, ich vergesse die Zeit und meine Eile. Alles was ich spüre, ist ein Zittern das durch meinen Körper geht. Oder durch seinen...? "Ja." Seine Stimme klingt so furchtbar fremd. Als sei er ausgewechselt, als habe ein Geist mit ihm getauscht. Als ich den Mut finde und zu ihm herübersehe, sind seine Augen kalt geworden, als sei ein Licht darin ausgeschaltet worden. Das erschreckt mich ziemlich, wenn nicht sogar furchtbar. Ich weiß, ich hab einen Fehler gemacht. Bin ich zu weit gegangen? Habe ich eben ein Tabu überschritten? Alles in mir stülpt sich von innen nach außen. Magensäure kocht heiß hoch im Bauch, mein Puls beginnt zu rasen. Ich habe wohl ganz weite Augen, als wolle ich das sehen, was sich hinter der Kälte verbirgt. Auf der anderen Seite möchte ich diese Wärme, die sich abkehrt, nicht verlieren. Ich möchte nicht mehr allein hier sitzen, nicht ohne Taichi...meinen....vogelfreien Helden. Plötzlich sind meine Augen feucht, mit einem Mal. Plötzlich bin ich so kurz davor, seine Hand zu greifen und vor ihm auf die Knie zu fallen. Und mich tausendmal zu entschuldigen. Für alles was ich falschgemacht habe. Dafür, dass ich ihm wehtue. Doch ich komme nicht dazu. Der Bus stoppt ein weiteres Mal, an einer Haltestelle, die zu einem Bahnhof führt. Fast gleichzeitig spüre ich eine minimale Bewegung in Taichis Körper. Ein leichtes Vorbeugen. "Ich weiß doch, was man sich über mich erzählt.", sagt er finster. Seine Wunderaugen haben sich verengt, als würde ihn etwas blenden. "Ich bin das personifizierte Böse, zumindest bei den Mädchen." Sein Kopf legt sich ein bisschen schief. Und während er nach draußen starrt, die Sonne auf seine Narbe scheint und ich ihn geschockt ansehe, beginnt etwas in mir, zu schmerzen. Fängt etwas tief in mir an, zu weinen. "Bei den Jungs...tja... Ich bin mir sicher, ich habe bestimmt schon drei Leute ins Krankenhaus geschafft und zwei vergewaltigt." In einer abwehrenden Haltung verschränkt er die Arme, als würde er frieren. Und es stimmt auch; der Moment gefriert zu Eis. Ich kann die anderen Menschen im Bus nicht mehr sehen. Die Sitze sind leer geworden. Da sind nur hundert grüne Sitzflächen. Und Taichi. Taichi ganz allein in diesem kalten, viel zu großen Bus. Der Schmerz fängt an, sich zu meiner Brust hochzuziehen. Ein Schmerz, den ich bisher nicht kannte, dessen Intensität ich niemals erahnt hätte. Als sei er aus einem dunklen, tiefen Loch gekrochen, bemächtigt er sich meiner. Umkrallt meinen Kopf, rauscht durch meine Ohren, verklärt mir die Augen, ohne mir Tränen hineinzutreiben. Dieser Schmerz...ist das Leid. Taichi hat mich damit infiziert. Ohne dass wir es beide merkten. "Jeden Morgen rufen sie es mir hinterher." , flüstert Taichi kalt. "Ich weiß doch, wie ihr mich nennt. Ich bin der Freak, so wie dein Freund es vorhin sagte." "Der ist nicht mein Freund!" , gebe ich sofort zurück. Doch viel zu leise. "'Narbengesicht'. Die 'Horrorshow', ja, irgendwann hab ich sicher auch mal 'Missgeburt' gehört." Er löst den rechten Arm aus der Verschränkung, fährt sich damit über das Gesicht. Dann, Gott sei Dank, schaut er mich wieder an. Und seine Augen, seine tiefen, wilden Augen treffen die meinen mit einer unglaublich schweren Sehnsucht, die die Luft zwischen uns durchflutet. "Du weißt das alles, Yamato. Warum bist du mir dann aus der Toilette hinterhergelaufen vorhin? Warum hast du nicht Reißaus genommen?" Zittert seine Stimme etwa? Ich bin unfähig, mich zu bewegen. In mir mischt sich ein Sturm zusammen aus Ergriffenheit, aus Schmerz des Leids, aus Traurigkeit und Mitgefühl...und...da ist noch etwas, was sich noch vor mir versteckt. Es huscht vorbei...Nein, es ist allgegenwärtig, eine Emotion, die mich durchflutet wie eine warme Welle. Es fühlt sich an wie eine Lichtwelle, und einen Moment lang fürchte ich, aus den Augen zu leuchten. Ich bin gefangen in diesen Sekunden. Gefangen in Taichi Yagami. "Weil..." Meine Stimme zittert auch. Verdammt, wieso habe ich plötzlich das Gefühl, weinen zu wollen? Dabei geht es nicht um mich. Mein Herz pocht dahin, als würde es sonst sterben vor Leid und vor Ergriffenheit. Als ob es für Taichi weiterschlagen wolle. Der Bus gleitet über in eine Straße aus Licht, obschon es bald dämmern wird, obschon die Wolken sich am Himmel häufen. "Weil du mich doch gerettet hast!", sage ich weinerlich, ohne weinen zu müssen. "Weil du dich um mich gekümmert hast und so freundlich warst. Weil du verdammt nochmal nicht weggesehen hast! Was hätte ich denn sonst denken sollen?" Taichi schaut mich an, während ich rede. Und er blinzelt, Gott, er sieht so süß dabei aus, dass es in meinem Magen kribbelt, als würden die weiß-durchsichtigen Schmetterlinge noch immer darin sitzen. Er blinzelt und seine braunen, großen Augen strahlen mich in den verschiedensten Farbfacetten an, glänzen nass. "Wieso sollte ich mich denn um Gerüchte scheren, wenn ich gerade selbst das Gegenteil erlebt habe?!" , sage ich, beinahe empört. "Wenn du wirklich so furchtbar wärst wie alle Welt sagt, hättest du mir nicht hochgeholfen, sondern nochmal reingetreten." Ich rutsche erregt auf dem Sitz hin und her, während ich erkläre, während mein Tonfall immer eindringlicher wird. Taichis Augen glänzen so hell. Noch einmal blinzeln und er wird weinen. Aber das macht nichts. Ich werde ihm die Tränen abwischen und ihn trösten, mich dafür entschuldigen, ihn zum Weinen gebracht zu haben. Ich werde ihn wieder umarmen, werde seine Haare streicheln. Schließlich hat uns dieser wunderschöne Tag doch zusammengebracht, oder? Und so streiche ich mir nervös die Haare hinter die Ohren, beuge mich vor zu Taichi; "Aber du hast nicht reingetreten, ganz im Gegenteil." Der Bus fährt dahin und zum ersten Mal seit einer halben Stunde ist meine Reisegeschwindigkeit genau richtig. Als würde ich schweben. "Du hast ein gutes Herz, das weiß ich!", sage ich eindringlich; "Du bist voller Emotionen, voller Freundlichkeit und voll...von Sehnsucht. Das weiß ich. Da brauch ich keine Gerüchte mehr." Ich weiß auch, dass sich ihm seit einer sehr langen Zeit niemand mehr emotional genähert hat. Schließlich hat er mir das selbst gesagt. Und so vorsichtig ich auch zu sein versuche, das Gefühl, Taichi zu überfordern mit all dem was ich da sage, erschleicht sich mir schon seit einiger Zeit. Dabei möchte ich doch nur eines für ihn. Ich will, dass er seine Ausgestoßenen-Rolle wieder ablegen kann, dass er wieder dazugehört und nicht mehr so allein sein muss. Die anderen alle haben ihn in diese Rolle hineingezwängt und gepresst. Und jeder Mensch braucht eine Rolle zwischen all den anderen. Vielleicht hätte Taichi sich sonst wie ein Niemand gefühlt. Und lieber ist man ein Außenseiter als ein Nichts, ein unsichtbarer Klecks. Also hat er sich wohl gefügt und die Rolle des Outsiders, des Freaks bedient. Deswegen hat er sein Jackett gefärbt und ab und an mal Kontaktlinsen getragen. Deswegen sehen seine Schuhe so gefährlich aus. Man wirkt lieber gefährlich als verletzlich. In einen Strudel sind wir da alle geraten. Er, der er keine andere Wahl hatte als sich mit einer harten Schutzschale zu bedecken und die anderen, die Angst bekamen bei diesem Schein. Natürlich kann Taichi gefährlich sein. Und doch weiß ich, dass ich keine Angst vor ihm zu haben brauche. "Yamato!", flüstert er leise und seine Hände fahren blitzschnell über die nervösen Augen. "Yamato, was redest du da nur?!" Verlegenheit hat sich auf seinen Wangen festgesetzt. Ich sehe diese leichte Röte erst jetzt. Vielleicht habe ich eben prosaisch geklungen, so gar nicht Yamato-like und ihn damit erst recht geschockt. Das tut mir leid. Ich sollte es schnellstens wieder abstellen, es passt nämlich nicht zu mir. "Entschuldige.", murmele ich und lächle verlegen. "Ich wollte jetzt bestimmt nicht...nicht...naja..." Ich möchte ihn umarmen. "...willst du vielleicht noch ein Sahnebonbon? Ich nehm auch eins!" Ich möchte ihn ganz festhalten und nicht mehr loslassen. "Ja.", lächelt Taichi dankbar und schüchtern zugleich, froh, aus dieser Situation raus zu sein. "Ein Bonbon wäre jetzt toll!" Ich möchte...ich möchte die Kraft wieder in seinen Adern spüren, mit Genuss seinen Duft einatmen und... Oh nein! In dieser Sekunde wird mir alles klar, denn das sich verbergende Gefühl huscht genau vor mein geistiges Auge, steckt mir die Zunge heraus und nistet sich in meinem Herzen ein. Wer weiß für wie lange. Vielleicht war es ein Fehler von mir, all diese Dinge zu ihm zu sagen. Aber es ist die Wahrheit und er weiß somit, woran er bei mir ist. Ich gebe ihm gerne Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und von mir aus müssen wir nie wieder darüber reden. Aber ich möchte Taichi das geben, was ihm im Moment am meisten fehlt, wonach ich mich für ihn so sehne. Echte Freiheit. Wir können sie schon vom Fenster aus sehen. Sie sitzt tatsächlich da, wie ich sie in Erinnerung habe. An genau demselben Platz auf der Bank in dem Wartehäuschen. In der einen Hand die Schleppe, die wie ein Nebelschleier aussieht, aufgewickelt. In der anderen der Strauß mit den weißen Lilien. Ihre schwarzen Haare sehen seidig weich aus, sind leicht gewellt, und an den Augen verbirgt sich ein matter, fahler Teint. Die Lilienbraut ist tatsächlich da. Als wären wir Tierfilmer oder Privatdetektive schleichen wir aus dem Bus, die Sahnebonbons nervös von einer Ecke der Wange in die andere schiebend. Der zuckrige, sahnig-milchige Geschmack mischt sich in meinem Gehirn mit den schleierhaften Informationen, die meine Augen mir senden, machen diesen Moment verklärt und...mysteriös. Wir stehen wie zwei Aussätzige vor dem Wartehäuschen der Haltestelle, werden fast umgeschubst von den ein- und aussteigenden Leuten. Hinter meinem Rücken ächzt genervt der Bus, zischt, pfeift und fährt langsam tuckernd wieder an. In meinen Ohren sägt das stete Brummen des Straßenverkehrs, an den ich mich schon gewöhnt zu glauben pflegte. Taichi ist mir so nahe, dass ich sein gespanntes Atmen im Nacken spüren kann und sich dort die Härchen aufrichten. Ich bin ein ganzes Kaleidoskop der Sinne. Die Frau hat sich nicht bewegt. Verklärt und unwirklich, als wären sie blind, starren ihre Augen auf den Asphalt. Sie sind hellblau- noch heller als meine. Das sehe ich erst jetzt, aber es schaut so furchtbar unheimlich aus, dass ich prompt einen Schritt zurückweiche und mich leicht verschreckt auf Taichis schwere schwarze Schuhe trampeln spüre. Ein Glück, dass er die anhat! Ihr Brautkleid sieht alt aus. Es ist eines in prächtigstem Blütenweiß, reich verziert mit seidener Spitze und Rüschen an den Ärmeln. Es ist so ein Kleid, welches die Damen im Europa des 19. Jahrhunderts vielleicht getragen haben. Trotzdem oder gerade deshalb sieht es an dieser Japanerin doch recht seltsam aus. Der Rocksaum ist geklöppelt und verziert wie eines der Tischdeckchen meiner Mutter, die diese nur aus dem Schrank holt, wenn ich zum Geburtstag zu Besuch komme oder so etwas. Es sieht alt wie die Welt aus. Darüber erstrecken sich Weiten aus Weiß, raschelnder Kleidstoff; und sieht ungeheuer wertvoll aus. Der gestickte, eng anliegende Kragen windet sich zärtlich um den Hals der Frau. Ihre Haut sieht so blass aus... Der Schleier bedeckt ihr Gesicht nur bis zur Stirn. Die andere Seite, die vor'm Traualtar prächtig und wunderschön über den Boden schleifen würde, liegt aufgewickelt in der rechten Hand, die gänzlich darin verschwunden ist wie in einem Muff. In der anderen Hand diese weißen, ungeheuerlichen Lilien, kunstvoll im Strauß arrangiert. Ich starre in die Vergangenheit. In eine zweite Dimension. Ich muss schlucken und greife geistesgegenwärtig nach Taichis Hand. Sie ist warm und weich und erinnert mich geringfügig daran, dass wir an einer Bushaltestelle völlig im Weg stehen. Dass uns die Leute schon anstarren. Uns! Wohl aber nicht dieses seltsame Geschöpf vor uns. Wenn ich in ihre erhellten Augen schaue, ob ich dann vergehe? Wenn ich ihren Schleier berühre...werde ich dann entrückt? In eine andere Zeit, in eine andere Welt? In meiner Phantasie denke ich mir die komische Bachstelze von heute Morgen dazu, setze sie gedanklich auf die Schulter der Lady. Zusammen wirkt das ganze wie aufgemalt, als würde ich es in einem verdammten Kitschroman beschreiben. Doch es ist Wirklichkeit. Oder scheint es nur so? Vermischt sich Realität hier mit Phantasie, ist es mein Geist, der sich diese Lilienbraut zusammenreimt? Sitzt dort am Ende vielleicht gar niemand oder vielleicht bestenfalls die Oma, die blaue Babystrümpfe strickt? "Sag mal...", wispere ich mit trockenem Mund und dränge mich noch näher an Taichi. "Du siehst sie doch, oder?" Sahnebonbon von Wange links nach Wange rechts. "Ja.", flüstert Taichi ehrfürchtig zurück. Ergo muss sie da sein. "Keine blauen Babystrümpfe?" "Was?" "Schon gut!" Ich winke ab. Irgendwo hupen Autos, doch ihr Klang verdämpft irgendwo zwischen meinem Erstaunen über diese Frau, den fieberhaften Überlegungen, was ich jetzt tun könnte und der Sensation des Kribbelns an meiner Hand, als Taichis Finger sich an meinen leicht regen. Das ist, als ob drei verschiedene Schauer zugleich über mich hereinbrechen, und ich kann nicht beurteilen, welcher denn nun am stärksten ist. "Was machen wir jetzt?" Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. "Keine Ahnung!" , sagt Taichi leise neben mir. "Vielleicht...vielleicht sollten wir sie ansprechen?" Die Frau sitzt unverändert da. Ich komm mir bescheuert vor. "Okay...Dann sprich sie an, Taichi!" Wangenwechsel mit dem Bonbon. "Wieso ich?", kommt es von ihm perplex zurück. "Wieso nicht?" Ich schaue meinen Freund von der Seite an. "Schau doch mal, du siehst gefährlich aus! Und wenn sie ein Geist ist, und ich sie anspreche, dann hext sie mir womöglich Warzen an die Nase! Oder verwandelt mich in einen Frosch, und dann müsstest du mich gegen die Wand werfen oder so, und das willst du doch nicht, oder?" Ja, das sind mal wieder meine völlig sinnlosen Argumente. Ich sehe, wie Taichis Lippen sich verkrampft anspannen, wie er versucht, ernst zu bleiben. Und irgendwo muss ich mir ihn plötzlich einem Prinzessinnenkleid vorstellen und mich als ekligen, schleimigen Frosch mit einem billigen Krönchen- und wie er mich gegen eine antike Schlosswand schleudert. Nicht gerade romantisch. Aber sollte die Prinzessin den Frosch nicht auch irgendwie küssen? Okay, ich gebe zu, ich habe Schiss davor, diese Frau anzusprechen, Warze und Frosch hin oder her. Und in diesem Moment vergesse ich die Tatsache, dass Taichis Gesicht an sich aber auch für Aufsehen erregt. Er ist doch sanft und höflich, wie könnte er da jemals jemanden erschrecken? Taichi überwindet seinen Impuls, zu lachen und beginnt langsam zu nicken. Die Sonne scheint auf seine hübsche, leicht bronzenfarbene Haut, macht sie seidig und geschmeidig wie die Oberfläche eines Karamellpuddings. "Na schön, Yamato, ich mach's!" Im nächsten Augenblick merke ich, dass sein Todernst nur gespielt ist, denn seine Augen verraten mir mit einem neckischen Leuchten, dass er amüsiert ist. "Aber nur, wenn du mit mir kommst!" "Klar, immer doch!", entgegne ich nickend. Zur Not kann ich ihn auch an die Wand werfen. Oder küssen... Yagami bewegt sich also vorwärts, mich immer noch an der Hand haltend und hinterherziehend. Wir müssen uns beeilen, denn bald wird wieder ein Bus kommen und wir werden wieder angerempelt. Womöglich verschwindet die Frau dann. Trotzdem, je näher wir diesem Geschöpf kommen, desto höher und schneller schlägt mein Herz, desto lauter rauscht mein Puls. Taichi ist mutig, wirklich! Nicht nur wegen dieser Aktion jetzt, stelle ich plötzlich fest. Nein, er ist ein unheimlich mutiger Mensch. Er hat mich vorhin schließlich gerettet. Vielleicht hätte er es problemlos mit Honda und den anderen aufnehmen können, aber so ganz sicher bin ich mir dann doch nicht mehr. Drei Stiernacken, gebaut und abgepackt im Fitnessstudio können einem Jungen wie ihm doch sehr wehtun, da erzähle mir was, wer will. Taichis Stärke ist Geschwindigkeit und die Taktik des Zuvorkommens, wie es mir scheint. Aber mutig ist er trotzdem. Wir stehen direkt vor der Lilienbraut und ich kann sie sorgfältigen Muster und Verzierungen an ihrem Kleid noch besser sehen. Das sieht wirklich alles ziemlich echt aus, und wunderhübsch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Und so verstärke ich den Griff an Taichis Hand leicht. Ich lächle ihn an und er lächelt zurück. Und als ich auf den Strauß der Lilienbraut schaue, bemerke ich mit einem Mal etwas... "Ent...Entschuldigen Sie bitte!" , sagt Taichi höflich und macht die Andeutung einer Verbeugung. Diese Blumen... Die Frau mit den wasserhellen Augen blinzelt einmal, dann hebt sich der Kopf mit den leicht gelockten Haaren und dem Schleier. Ich kann sehen, wie sich diese Augen minimal weiten, als die Braut uns anschaut. Ich sehe den blassrot geschminkten Mund, der sich zu einem höflichen, fragenden Lächeln zu verziehen beginnt, ich sehe das Gesicht mit dem fahlen Teint. Ich sehe die Schminke. Und es erscheint so irreal. "Ja?" Würde ein Gespenst mit uns sprechen? Würde es uns denn überhaupt anschauen? Und, was mich noch viel mehr interessiert, nach näherem Hinschauen, würde ein Geist einen Blumenstrauß aus Plastiklilien bei sich haben? Ich stehe da, halte Taichis Hand fest, höre den Straßenlärm hinter mir wieder . Es ist, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, den Kopf voller Konfusion. Es passt nicht mehr zusammen. Das werde ich Koushirou erzählen müssen. Ich werde ihm überhaupt alles erzählen müssen, fürchte ich. Ein Schreck sitzt irgendwo in meiner Kehle, als ich das Dilemma einzusehen beginne. Taichi, der langsam und abwechselnd mich und die Plastiklilienbraut anschaut, den Mund immer wieder öffnend und wieder schließend. Er weiß nicht, was er sagen soll. Dieser Moment ist so absurd! Von ferne höre ich den nächsten Bus herantuckern, ich spüre, wie Menschen neben der Frau im Wartehäuschen aufstehen, spüre die Bewegung der Leute auf den Straßenrand zu. Nur sie selbst bewegt sich nicht. Ihre hellblauen Augen starren uns verständnislos an, irgendwo pocht es in meinem Bauch, sehr verlegen, die Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmt an unserer Theorie. "Was ist denn?" , fragt die junge Frau verdutzt, vielleicht auch genervt, so genau kann ich das aus ihrem Gesicht nicht deuten. Reden wir hier wirklich mit einem Geist? Einer Toten? Oder ist das Fräulein nicht doch eher eine Verrückte? Ein Cosplayer? Aber wieso kenne ich den Anime dann nicht? Ein Visual-Kei-Fan? Während mein Kopf auf Hochtouren arbeitet, beginne ich eine höfliche Verbeugung. "Verzeihen Sie... wir...wir..." 'Zissit' macht es in meinem Kopf. "Wir...sammeln Geld für unsere Schule!" , sage ich schnell. "Wegen des..äh...Gänseblümchenfestes! Mit Spenden könnten wir einen Stand hochziehen mit selbstgemachtem Gebäck auf unserem Hoffest. Darum haben unsere Lehrer uns gebeten, Geld zu sammeln." Meine Rache an den blöden Lehrer, der mich heute Morgen in die Arme der Rambos gehetzt hat! "Darum...", ich schaue so höflich und attraktiv wie ich kann, "...wollte ich Sie fragen, ob Sie Interesse haben, etwas zu spenden." Es blinzelt zweimal über diesen hellblauen, künstlich erscheinenden Augen. Und die Lilienbraut verzieht den sorgfältig geschminkten Mund zu einem Lächeln. Über uns erscheint die Sonne, halb und kurz verhangen im Nebelschleier meiner durchdrehenden Gedanken. Aber Taichi ist bei mir. Das ist die Hauptsache. "Tut mir leid...", die Frau hebt ratlos die Hände mit Blumenstrauß und Brautschleiermuff. "Ich bin auf dem Weg ins Theater, ich habe leider kein Geld dabei außer für den Bus." Hinter mir hält der Bus. Und hinter ihm schnauft ein weiterer heran. Solch einen Busstau erlebt man in Tokyo nicht allzuoft, denn bei uns fahren die Busse selbstverständlich pünktlich und in regelmäßigen Abständen. Aber all das ist mir jetzt egal, denn mir stehen Mund und Augen offen. "Theater?", gebe ich in debilem Tonfall von mir. Ich gucke sicher sehr bescheuert und bin froh, dass niemand der hin- und herrennenden Passanten einen Fotoapparat zur Hand hat. "Na klar!", sagt die Frau fröhlich, während sie sich aufrichtet, dabei sorgfältig das Kleid glattstreicht, auf den Schleier sieht. "In solch einem Aufzug läuft man doch normalerweise nicht herum, wenn man nicht gerade Theater spielt, oder?" Ihre zierlichen Füße stecken in zarten, weißen Schuhen. "Ich mache das nur nebenbei, und mir fehlt einfach die Zeit, ins Theater zu fahren und mich dann erst umzuziehen. Kennt ihr das Stück vielleicht, den "Zauber von Canterville"?" Ich fühle mich, als hätte mich jemand genommen und wie einen Stein so hoch hinaufgeworfen, dass sich die Welt in der Zwischenzit einmal um sich selbst gedreht hat. Moment mal! Theater? Stück? Taichi neben mir fängt an zu lächeln, eine Mischung aus amüsiertem und höflichen Lächeln. "Nein, das kennen wir nicht, Fräulein.", sagt er. "Aber es klingt sehr interessant." "Nicht wahr?", plaudert die Frau vergnügt. "Es ist auch nicht allzu bekannt, und ich habe ja auch nur eine kleine Nebenrolle als spukende Frau. Und ich habe immer Angst, dass ich meinen Text vergesse, also gehe ich ihn an der Bushaltestelle im Gedanken immer wieder durch." Sie lacht und es klingt alles andere als das Lachen einer Toten. Hinter uns schnauft Bus Nummer eins weg, das Bollern seines Motors erfüllt die Luft mit Vibrationen. "Aber was quatsche ich euch zu, Verzeihung!" , grinst die Zauberin von Canterville. "Da ist mein Bus! Tut mir leid nochmal, dass ich euch nichts spenden kann für euer Fest, ich wünsche euch trotzdem noch viel Glück bei eurer Sammelaktion!" Zarte, weiße Stöckelschuhe trippeln über den Asphalt, ein künstlicher Blumenstrauß wird geschwenkt zum Abschied und ich schaue perplex auf eine blitzende Zahnreihe hinter dem Grinsen der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Das ist Zeitraffer, ich könnte es schwören! Blitzschnell geschieht alles um mich herum, blitzschnell steigt die Lilienbraut ein in Bus Nummer zwei, blitzschnell verschwindet das Geheimnis von der Bildfläche, gleich einem Blitz, der nur ganz kurz am Nachthimmel aufzuckt. Als der Bus wie eine altersschwache Lokomotive wegdampft, habe ich das Gefühl, mir habe jemand das Gehirn geklaut. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Ich halte Taichis Hand, als müsse ich mich irgendwo festhalten, um nicht zu stürzen. Taichi schaut dem Bus mit einem Lächeln hinterher. "Eine Schauspielerin.", sagt er leise. Er ist wieder viel zu schnell für mich. Wahrscheinlich besitzt er die Fähigkeit, seine Geschwindigkeit immer an die des Momentes um sich herum anzupassen, wie ein Auto, wie eine Dampfmaschine. Während ich noch total perplex und überrumpelt dastehe, fasst er mit zwei Worten das Desaster unseres tollen, faszinierenden Geheimnisses zusammen. Eine Schauspielerin. Sie ist nur eine Schauspielerin. Sie trägt nur ein Kleid aus der Requisite und sie hält Lilien aus Plastik in der Hand. Und sie schaut immer so abwesend und geisterhaft, wenn sie auf den Bus wartet, weil sie ihren Text vor sich hinflüstert. Heute Abend wird sie sich abschminken und in Disco-Klamotten schmeißen, sie wird zu Ayu tanzen und Coctails schlürfen. Sie ist mehr und alles andere als ein Geist, der auf seinen Geliebten wartet. "Ich fühle mich verarscht.", sage ich traurig, ohne traurig zu sein. Genaugenommen müsste ich jetzt ob meiner Erleuchtung strahlen. Hat jemand eine Steckdose, in die ich hineinfassen kann? Ich fühle mich total blöde. Wie konnte ich nur auf diese bescheuerte Geister-Idee kommen? Nein, halt, stopp. Die Idee war von Taichi. Und der hat nie blöde Ideen. Darauf müsste ich einen trinken. "Mach dir nichts draus, Yama.", sagt Taichi und in meinem Bauch wird es ganz warm, weil er mich plötzlich bei meinem Kosenamen nennt. "Wir sind auf einen Trick hereingefallen, der keiner war." "Das muntert mich nicht unbedingt auf.", entgegne ich frustriert. Aber irgendwo muss ich doch grinsen. Wahrscheinlich hatten wir einfach nur Fantasie, an der es in dieser Stadt manchmal fehlt. Ich beginne, darüber nachzudenken, was wir jetzt tun sollen. Für Schule ist es zu spät, die ist schon längst aus. Darüber nachdenken, was mich dort morgen erwartet, ist sowieso alles andere als schön. Und um über den Schock der Schauspielerin hinwegzukommen, brauche ich eh noch etwas Zeit. "Lass uns gehen.", gebe ich von mir, ein bisschen gedankenverloren, ein bisschen aufmunternd. An einer Bushaltestelle inmitten des Großstadtdschungels herumzustehen und mir die Lunge unnötig zupesten zu lassen, ist jetzt etwas sinnlos. "Wohin denn?" Taichi bewegt sich ein Stück nach vorne, dann geht er mit wiegendem Gang zum Fahrplan, um zu sehen, wann der nächste Bus kommt, uns von hier wegholt. Es ist mir egal wohin wir fahren. Die Hauptsache ist, dass ich jetzt noch nicht diesen seltsamen Tag beenden möchte, dass ich jetzt noch nicht nach Hause gehen möchte. Das wäre alles ein wenig zu abgehackt. Außerdem ist da noch etwas offen, nach dessen Antwort ich stillschweigend suche. Über uns ist der Himmel blau und meine Laune ist gut. It's a beautiful day, sage ich mir. It's a beautiful day. Und ich lächele Taichi an. "Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare." (Oscar Wilde) Schon wieder Vögel. Nein. Seemöwen. Ich glaube, sie wollen gefüttert werden, während sie über uns in der Luft dahinschweben, vom Wind hin und hergetrieben, beziehungsweise im Sand umherstaksend, uns aber immer anschauend. Ich fühle mich beobachtet. Die Tokyo Bayside hat auch einen Strand, einen nicht gerade großen und besonders hübschen, aber immerhin einen. Klippen gibt es hier schon lange nicht mehr, weder auf unserer Seite an Odaiba noch auf der anderen Seite. Wenn man bei uns Selbstmord begehen will, muss man sich von der Rainbow Bridge stürzen. Überall gähnt der graue, leere Beton, beleidigt das menschliche empfindsame Auge. Der Sand ist hell und das Wasser des pazifischen Ozeans wird leise in kleinen Wellen an die Ufer gespült. Strand also. Naja, ich gebe zu, es war nicht mein Vorschlag, hierher zu gehen. Und in meinem Hinterkopf muss ich noch immer an den dummen Vogel von heute Morgen denken, wo gerade ganz andere Vögel an uns vorbeischwirren. Schade, ich habe absolut nichts mit, was ich den Möwen geben könnte. Ein paar Meter vor uns geht ein Pärchen, vielleicht beide ein oder zwei Jahre älter als wir. Als ich aus den Augenwinkeln heraus zu Taichi, der neben mir läuft, sehe, fällt mir wieder der leicht wiegende Gang auf. "Ich war früher oft mit meinem kleinen Bruder hier.", sage ich, um irgendwas zu sagen. Wenn ich eines nicht wirklich mag, dann ist es ein schweigsames Miteinander. Und Taichi hat seit 30 Sekunden nicht mehr gesagt, das weiß ich. Eigentlich ist das keine große Sache, aber wenn man nebeneinander am Strand umherläuft, sind 30 Sekunden eine halbe Ewigkeit. "Da waren wir noch im Kindergarten. Wir sind ständig abgehauen und dann hierher gelaufen. Mann, gab das hinterher immer einen Ärger!" Ich lache kurz. Taichi sieht mich milde an. "Und, habt ihr die Tradition aufrechterhalten?" Eine Möwe läuft trippelnd mit uns mit. Man kann gar nicht glauben, dass Vögel mit solchen Patschefüßen so behende laufen können. Es sieht einerseits aus, als würde sie bald über die eigenen Füße stolpern, und gleichzeitig kann sie mit uns Schritt halten. Vielleicht ist das ein Zeichen. Ich sollte Ornithologe werden. Irgendwann werde ich auf einem Vogel Strauß reiten und man wird mich bewundern, yay me! "Nein, das konnten wir nicht, unsere Eltern haben sich scheiden lassen und wir zogen auseinander." Ich lächle Taichi unbeholfen an. Wahrscheinlich kommt jetzt diesselbe Reaktion wie immer; ein betroffener Blick, ein "Wie schrecklich, das tut mir leid!" und ein Starren auf den Erdboden. Es ist den Menschen unangenehm, die Geschichte zu hören, denn sie geraten in Verlegenheit. Das habe ich nie verstanden, denn es waren ja nicht ihre Eltern, die auseinandergingen. Und im Ernst, es gibt durchaus Schlimmeres. Ich bin zu 95 % darüber hinweg, ganz sicher! "Oh...", macht Taichi und guckt tatsächlich auf den Sand vor sich. Die Möwe ist stehengeblieben, so wie er selbst. "Dann... war der Strand wohl nicht gerade eine gute Idee, oder?" Da ist sie wieder, die schmalgezogene Lippe. "Ach quatsch!", gebe ich nervös von mir. "Das ist nicht schlimm, das ist ja lange her, und du weißt ja, Zeit heilt alle Wunden!" Autsch, dummer Spruch. Ich brauche Taichi doch nur mal anzuschauen um zu wissen, dass das nicht immer so ist. Aber...ist das eigentlich irgendwann mal so? Über das Gesicht meines Freundes zieht sich eine dicke Narbe. Die wird sicher irgendwie zu sehen sein, solange er lebt, selbst wenn sie zu einem Schatten verblassen würde. Dummer Spruch. Aber Taichi schaut an mir vorbei. "Was meinst du, ob das Wasser schon besonders kalt ist?" "Höh?" Es ist Mitte Herbst, man könnte also schon davon ausgehen, dass das Wasser nicht mehr allzu warm ist. Aber warum will er das jetzt unbedingt ausprobieren? Ausgerechnet jetzt? Ich lasse mich in den Sand neben Taichi plumpsen, sehe zu wie er die schweren Schuhe abstreift und ein paar schwarz-weiß geringelte Strümpfe. Sorgfältig stopfen seine Hände die Socken in das Schuhwerk, wohlbedacht, dass der Wind nicht der sanfteste ist. Möwe und ich gucken und gähnen. Tun wir das wirklich synchron?! "Aber wenn es kalt ist, gehst du da nicht rein!", sage ich ermahnend. "Mal schauen!" Zwei Schritte später krempelt Taichi sich die Hosenbeine hoch bis zu den Knien. Sein Gesicht ist zum Wasser gewandt, der Wind durchstreift zärtlich seine braunen, zerzausten Haare. Ich sitze hier, neben den Schuhen und dem Rucksack und finde das Wasser schon vom Optischen her ziemlich eisig. Naja, wenn man davon absieht, dass Wasser meistens kalt aussieht, weil es in der Regel blau oder grün schimmert. Aber ich glaube, selbst wenn man es rot anschimmern würde, würde es kalt wirken. Hm. Wäre einen Versuch wert. Langsam geht Taichi auf das Wasser zu. Eine anschäumende Welle spült über die Zehen des rechten Fußes und im nächsten Moment zuckt Yagami zusammen. Na, wohl doch kalt, das hätte ich ihm ja gleich sagen können. Ich gähne noch einmal kurz, dann sehe ich, wie Taichi sich umdreht zu mir und mir mit zusammengebissenen Zähnen und einer schockiert-verzerrten Grimasse zu verstehen gibt, dass man im Wasser nicht unbedingt baden sollte. Die Möwe flattert weg. "Also hast du doch was mit ihr!", kreischt das Mädchen zehn Meter von uns entfernt. "Du verdammter Mistkerl, du blöder, dreckiger...!" Ich glaube, sie versucht, ihren Freund mit ihrer rosa Minihandtasche zu schlagen. Aber ob Lipgloss und Taschenspiegel so effektive Waffen sind? Ich kann das nicht sagen. Ich sehe auch nicht, ob er den Arm beschwichtigend um sie legt, ob er weggeht, ob er zurückschlägt. Mein Gesichtsfeld ist mit einem Mal verengt. Mit einem Mal spüre ich den kühlen Herbstwind über meine Haut fegen, mit einem Mal habe ich das Gefühl, er treibt mir Tränen in die Augen. Ich sehe Taichi vor mir, das erschrockene Gesicht verzogen, die Narbe verzerrt, die Zahnlücke hervorschauend. Über sein rechtes Knie zieht sich eine zweite, große Narbe, verschwindet mit einem roten Streifen unter der Hose am Oberschenkel. Da draußen fährt ein riesenhaftes, vollkommen unidyllisches Schiff vorbei. Vielleicht eines dieser zu groß geratenen Fischfang- und -verarbeitungsschiffe, in denen die Fische gleich in die Dosen verpackt werden oder auf Eis gelegt werden, um ein paar Stunden später auf dem Fischmarkt angeboten zu werden. "Blooming" steht darauf geschrieben, gleich neben der langweiligen Nummer des Schiffes. Klein und rosa. So bizarr. Taichi ist auf mich zugekommen, hat sich wieder hingesetzt. Seine Füße sind nass und ein klein wenig gerötet, typisch für dafür, wenn man in kaltes Wasser steigt. Er wackelt mit den Füßen, nein, mit den Zehen. Ich kann die Bewegungen spüren, die durch seinen Körper steigen, ich kann das Atmen in ihm herunter- und hochsteigen hören. Ich spüre die Luft, die durch seine Nase fährt. Und über allem habe ich das Gefühl, dass Taichis Augen brennen, auch wenn ich auf das Meer hinausschaue und auf das lächerliche Schiff dort draußen. "Willst du sie hören?" Er gräbt die Füße in den Sand, ganz langsam, er verlagert das Gewicht mehr in meine Richtung. Wir sind uns so nahe, dass ich all seine Organe leise flüstern zu hören glaube. Taichi... "Ich meine...die Geschichte, die hinter dem rampunierten Knie und meinem Gesicht steckt. Willst du sie hören?" Ich wende mein Gesicht ganz langsam ihm zu. Meine Augen finden seine. Ich gebe zu, ich habe Angst vor ihm, jetzt, hier, genau in diesem Moment. Denn ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht aus Spaß in der Gegend herumhumpelt. "Du wusstest seit Anfang an, dass ich darauf neugierig bin, oder?", sage ich trübsinnig und vergrabe eine Hand im Sand. Der ist nicht gerade kalt, aber warm ist er auch nicht. Er ist ein bisschen so wie nach einem lange vorangegangenen Regen, ein bisschen klamm und trotzdem trocken. Eigentlich sollte er mich verprügeln. Nicht der Sand, sondern Taichi meine ich. Ich war unnötig neugierig. Schließlich ist das Taichis Sache und nicht meine, und selbst wenn ihm ein Bein fehlen würde, würde mich das trotzdem nichts angehen. "Nicht wirklich, aber ich konnte es mir denken." Kein Wunder nach der Sache mit der Lilienbraut. "Naja...ich habe mir nur gedacht..." Nein, jetzt muss ich meine Beine angucken. Ihn ansehen geht nicht, ich glaube, ich würde rot werden, und ob das so zweckvoll ist? Was ist nur los mit mir? Ich muss mich räuspern. "...ich habe mir nur gedacht, was dir so Schreckliches passiert sein muss, um so...naja, so herumlaufen zu müssen." Okay, jetzt wage ich es wieder, ihn anzusehen. Dafür guckt er jetzt auf seine Beine. Auf die Narbe, die auf dem rechten Schenkel und Knie prangt. Und Taichi sieht nicht wütend oder böse aus. Vielmehr wirkt er angespannt. Vielleicht wollte er es so. Vielleicht wollte er ja, dass ich das sehe, dass ich frage, dass ich zuhöre. Ja, vielleicht möchte er einfach nur erzählen, ohne sich aufzudrängen. Und ich möchte es wissen. Da passen wir doch zusammen, oder...? Ich möchte die Hand auf seine legen. Traue mich nicht. Zuerst schauen mich seine braunen, großen Augen an, ein leichtes Lächeln andeutend. Dann versinken sie wieder im kalten, im blauen Wasser. "Naja, es ist ein paar Jahre her, als ich noch auf die Mittelschule gegangen bin. Damals hab ich noch Fußball gespielt. Eigentlich hatte ich damals nichts anderes im Kopf, ziemlich idiotisch." Er guckt mich schelmisch von der Seite an, ziemlich verschämt lächelnd. Ich kann mir zuerst nur schwerlich vorstellen, wie er hinter einem Ball herrennt und sich dann das T-Shirt über den Kopf zieht, laut und blödsinnig "Toor!" brüllend. So wie Michael Ballack es hier getan hat, 2002. Oder war es doch dieser Brasilianer? Aber Taichi sieht nicht aus wie ein Brasilianer, er ist ein stilles und verkrampftes Wesen, welches sich die meiste Zeit leicht behäbig bewegt, welches doch voller Kraft steckt. Es ist ziemlich seltsam. "Jedenfalls war ich im Fußball-Club damals. Wir hatten eins von diesen tollen mit Hecke umzäunten Fußballfeldern auf dem Sportplatz. Und irgendeines Tages hat mich ein damaliger Freund bei einem Spiel aus Wut in den Hausmeister geschubst, der gerade mit der elektrischen Säge an der Hecke zugange war." Ich ziehe blitzschnell Luft durch die Zähne ein, ich will "Oh Gott!" rufen, ich kann mich nur schwer davon zurückhalten, die Hände auf den Mund zu pressen wie ein hysterisches Mädchen. Das wäre ihm vielleicht zu theatralisch oder so etwas. In meinem Kopf aber formen sich Bilder. Eines ist Taichi, der in den Hausmeister geschubst wird, der die Säge ins Gesicht bekommt, die zu seinem Knie herunterrutscht, sich in die Kniescheibe frisst. Da sind Bilder von Taichis verzerrtem, aufgerissenem Gesicht, ein blutender, zerfetzter Streifen, freiliegendes Nasenbein. Ich kann seine Tränen sehen, ich kann es sehen, ich kann es hören, ich kann es spüren. Es tut weh wie die Hölle. Zu spät. Ich habe doch die Hände auf meinen Mund gelegt. Jetzt ist es mir auch egal, dann sehe ich eben weibisch aus. Es ist mir egal, denn das einzige, was ich mich jetzt und hier ausfüllt, ist Taichis Leid, welches von ihm in mich überzugehen scheint. "Warum...eine...warum eine Säge?", stammele ich. Yagamis Blick wird bekümmert; "Das weiß ich nicht. Normalerweise stutzt man Hecken mit elektrischen Heckenscheren, aber nicht mit einer Minikettensäge. Normalerweise benutzt man eine Säge auch nicht inmitten einer Meute spielender Kinder..." Ich kann es nicht aufhalten, dieses Bild. Ich kann nicht anders, ich muss es mir einfach vorstellen. Wie ein Krankenwagen kommt und Lehrer die entsetzten Kinder zusammentreiben, weg von dem Bild des Gräuels. Und mittendrin Taichi, der nichts anderes tun kann, als im Auge des Schmerzes zu schreien, mit offenem Gesicht und Knie. Mir wird schlecht... "Jedenfalls ist der Mann gestolpert, als ich in ihn flog, die Säge streifte mein Gesicht, er riss sie halt erschrocken weg, sonst hätte ich heute vielleicht keine Nase mehr... Aber das Ding muss schwer gewesen sein und so ist es irgendwie gegen mein Knie gekommen." Er starrt wieder auf sein Bein. Klar, wie könnte er auch nicht? Der blanke Horror. Er hätte sterben können an jenem Tag. Er hätte seine Nase oder ein anderes Körperteil verlieren können, die Säge hätte durch eines seine Augen gehen können oder seine Lippen spalten. Eigentlich ist es ein Wunder, dass diese Narbe so "vorteilhaft" durch sein Gesicht läuft. Es ist ein Wunder, dass er jetzt hier sitzt. Und doch, der Schmerz über die Sekunden, die alles veränderten, muss riesengroß sein. Ich wage es nun doch...ich lege meine Hand auf seine und spüre, während ich ihn schockiert anschaue, Tränen in meinen Augen aufwallen. Und zum Glück...er zieht die Hand nicht weg. Nein, er lässt sie dort, wo sie ist, und sie schließt sich zärtlich und leicht zitternd in meine. "Was ist das für ein Freund, der einen in den Tod schubst?!", presse ich dabei heraus. Taichi schluckt. Er schluckt Tränen herunter, das spüre ich. "Er war sauer, wegen irgendwas. Wegen einem Foul, wegen irgendeiner Lappalie.", murmelt er langsam. Über uns kreischt eine Möwe. "Er hat sich nicht mal entschuldigt, während der Hausmeister von der Schule geschmissen und angeklagt wurde. Ich meine..." Seine Stimme zittert. Was tu ich meinem Freund hier nur an? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ob ich ihn nun am mich ziehen soll, ihn trösten soll, oder ob ich so verharren soll, wie ich bin? Bewegungslos? Ich sehe, wie er sich fahrig dreimal über das Gesicht wischt. Aber er weint nicht. Er ist eben irgendwo doch ein Teil der Mythen, die in der Schule um ihn gesponnen wurden. "...welcher Freund schubst einen denn in eine Säge? Welcher Freund schlägt einem denn vorher einen Zahn aus, nur wegen eines beschissenen Fouls? So'n verdammtes Arschloch!" Ganz meine Meinung. Und damit wäre auch das Geheimnis um den fehlenden Eckzahn gelüftet. Aber mittlerweile fühle ich mich mit dem Geheimnis nicht mehr wohl. Die Sache mit der Lilienbraut ist der reinste Witz dagegen. Als ich Taichi wieder anschaue, krempelt er sich die Hose wieder herunter, denn an seinen Beinen hat sich Gänsehaut gebildet. Kein Wunder. Mit hartem Blick beginnt er die Socken zu sortieren. "Das ist eben der Mythos Freundschaft.", sagt er hart; "Irgendwo ist das alles für mich gestorben nach der ganzen Scheiße von damals. Ich kam auf die Oberschule und war sofort das Scar Face. Von Anfang an kam man mir dumm deswegen. Und als ich immer gereizter darauf reagierte, wollte bald niemand mehr mit mir was zu tun haben." Verkrampft zerrt er die Strümpfe über die noch feuchten Füße. "Und dann fing die ganze Sache mit den Schlägereien an. Ich meine, mit dem Knie kann ich nie wieder Fußball spielen und ich war zwischenzeitlich so aufgeladen, dass ich mich gut und gerne zu Prügeleien provozieren ließ. Als ich mein Jackett schwarz gefärbt habe, habe ich, nachdem ich deswegen zum Direktor zitiert wurde, auf den Vorfall hingewiesen. Die Mittelschule, auf der ich war, gehört ja zur Odaiba High, und weil der Direktor Schuldgefühle hat, lässt er mich so rumlaufen." So entsteht Mobbing wohl manchmal. Aufgrund von Missverständnissen, von Verletzungen, von Ignoranz. Ich hasse die anderen dafür, was sie Taichi angetan haben. Ich nehme ihm seine rebellisches Gehabe nicht übel. Ich glaube, er hat einfach nur Angst vor den anderen, und da Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, hat er einfach angegriffen, hat sich zu etwas gemacht, was er eigentlich gar nicht ist. Ein Schläger, ein Kerl, den man provozieren und von dem man Prügel einstecken kann. Es fällt mir schwer, diese Entwicklung nachvollziehen zu können. Das alles tut mir furchtbar leid... Ich sitze da und ich glaube, jetzt habe ich den schmalgezogenen Mund. Am liebsten würde ich allen Verantwortlichen den Hals umdrehen, zuallererst natürlich dem Arschloch, welches Taichi in die Säge gestoßen hat. "Es ist nicht einfach, so ein Leben...", sage ich leise. Sehr leise. Weil ich Angst habe, sonst etwas falsch zu machen. Taichi schaut noch immer in das dreckigblaue Meer vor uns. Fischkutter schippern vorbei, in der Ferne glänzen Baukräne an den Häfen. Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht ist es hier noch nie schön gewesen, idyllisch, romantisch. Es ist vielleicht ein dreckiges, küstenloses Loch am Rand von Tokyo-City. Und wahrscheinlich habe ich mir die Erinnerungen mit Takeru hier nur schöngedacht. "Leben ist niemals einfach.", sagt Taichi und steht auf. "Für manche mag es vielleicht einfach sein, am Leben zu bleiben. Aber das Leben selbst ist niemals leicht." Hier stehe ich nun, neben dem Jungen, den ich vielleicht kaum kenne. Neben dem ersten Menschen, den ich innerhalb eines halben Tages näher kennengelernt habe als andere. Und trotzdem scheint er mir jetzt so weit weg. Wie aus einer anderen Dimension. Ich schlucke. "War es für dich leicht, am Leben zu bleiben? Ich meine...in den letzten Jahren...?" Eine Geschichte liegt in den letzten Zügen. Wann hat sie angefangen? Eine Geschichte um das Leben, um das Sehen, um Schmerzen. Eigentlich fangen wir jeden Moment, jede Sekunde eine neue Geschichte an. Schließen alte ab. Es gibt auch Geschichten, von denen niemand weiß wann sie begannen, Geschichten, die scheinbar niemals enden. Die Geschichte der Liebe zum Beispiel. Da sind Erzählungen, die dich umbringen können. Da sind Lebensgedichte, die dich glücklich machen können. Geschrieben von einer unbekannten Hand wurde meine Geschichte zu Taichis getan, wurden meine Worte umgeformt zu einem "Wir" in dieser wundersamen Hand. Als hätte man zwei Bänder miteinander verknotet, sind wir im heutigen Tag beisammen. Ich horche nach innen. Das ewige ohrwurmähnliche Rufen der Bachstelze ist aus meinem Kopf gewichen. Es ist, als hätte ich eine gewisse Tagespflicht erfüllt. Taichi entlarven. Und als ich ihn anschaue, weicht er meinem Blick nicht mehr aus. Hinter mir rauschen leise, sanft gebrochene Wellen. Ich erfasse die dunklen, in der Sonne glänzenden Augen, so weit und groß, als hätten sie eine ganze Welt verschluckt. Über die Ränder dieser Augen treten zwei kleine Tränen, verhüllt in einem ehrlichen und traurigem Lächeln Yagamis. "Nein, Yama. Das war nicht leicht..." Es ist schon gut, Taichi. Jeder muss mal weinen, das ist nicht schlimm. Ich umarme dich tröstend und du bist mir so nahe. Und ich spüre irgendwie im Sonnengeflecht, mittig hinter dem Herzen liegt Schmerz verborgen, ein jahrealter Schmerz. Und daneben ganz unverhofft kann ich Erleichterung spüren; Erleichterung darüber, dass du vom Schmerz erzählen konntest. Ich schließe die Augen, ich spüre, wie du die Arme um mich legst und mich stumm umarmst. Du schluchzt nicht, du krallst dich nicht fest. Zuviel Barriere? Nein, du atmest tief ein und aus, verharrst in diesem Moment. Dein Geheimnis ging in mich über und nistet sich jetzt ganz still in Kopf, Herz und Bauch ein. Was aus ihm wird, wird sich wohl noch zeigen. Und so stehen wir da, ganz nahe beisammen, den Geruch des jeweils anderen ansaugend und studierend. Der Wind flattert durch meine blonden, schulterlangen Haare, streicht sie an deiner Wange entlang. Und auch ich spüre deine Haarspitzen auf meiner Haut. Dein Wesen, dein Selbst fühlt sich so angenehm an. Hinter uns pfeift ein Schiff ohrenbetäubend. Die Sonne verschwindet hinter einer großen Wolke. Der Pazifik säuselt leis. Und ich...ich fühle mich an dir so vogelfrei. So unendlich frei und traurig. Behält einer ein Geheimnis für sich allein, bleibt es Geheimnis. Behält es ein zweiter mit, ist es ein stiller Treueschwur. "Tut dein Knie eigentlich weh beim Laufen?" "Ja, manchmal. Aber eigentlich tut es beim Rennen mehr weh." "Und trotzdem kannst du noch immer so sprinten, das ist echt bewundernswert!" "Naja." "Und im Gesicht? Tut es da noch weh?" Die Frau mit den blauen Babystrümpfen sitzt wieder im Bus. Ihre Stricknadeln sind grau, die Wolle sieht aus wie geschmolzener Himmel. Ich muss an Koushirou heute früh denken, an den Fleck in meinem Hemd. Komisch, vorhin hab ich einen Aufstand deswegen gemacht, jetzt kümmert's mich nicht mehr, nicht im Geringsten. Die Frau sitzt auf der Bank hinter uns. Ich schaue kurz an ihr vorbei, als ich mich vorsichtig vorlehne, herüber zu Taichi, der am Fenster sitzt. Mein Zeige- und Mittelfinger legen sich sanft auf die Narbe im Gesicht. Sie ist wie ein dreidimensionaler Strich, eine schwache Erhebung. Die Stelle, wo sie über die Nase verläuft, ist wie eine winzige Kuhle. Ob er dort Knorpel oder Knochen verloren hat? Die Haut fühlt sich knotig an, unnatürlich. Eigentlich so wie sie aussieht. Ich glaube, ich gucke nachdenklich. "Nur wenn jemand draufschlägt.", sagt Taichi gedankenverloren. Für eine Sekunde lang schaue ich aus dem Fenster, nein, sehe in das Busfenster. Mein Spiegelbild strahlt zurück, wirft mir die Farben von blondem Haar und blauen Augen entgegen. Ich bin auch ein Sonderling. Aber blonde Haare tun nicht weh. Und dann liegen Taichis Finger auf meinem Zeige- und Mittelfinger. Manchmal sind Leute neidisch auf mein Aussehen. Vielleicht, weil sie sich selbst fünf Haarfärbungen draufklatschen müssen, um ein Mittelblond zu erreichen. Vielleicht, weil sie sich Kontaktlinsen in die Augen klemmen müssen, damit sie so ein Blau haben in der Iris. Ja, manchmal ist es nicht leicht, anders zu sein. Aber ob es auch nicht leicht ist, immer wie die anderen zu sein? Taichi zieht meine Finger vom Gesicht, sanft, langsam. Der Blick, den ich in seinen Augen lese, ist neu. Ich kenne diesen Ausdruck noch nicht. Mein Herz schwebt scheinbar über meinem Puls, und als wir über ein Schlagloch fahren, höre ich den Motor aufrattern, spüre ich plötzlich warme Lippen auf meinen. Die Straße ist eben geworden. Ich höre das leise Klackern der Stricknadeln. Ich spüre das Atmen der Menschen, mein Herzschlag nebelt mich ein. Fangen meine Finger an zu schwitzen? Taichis Lippen zittern schüchtern. Oder sind es meine...? Ich möchte weinen vor Rührung, ich möchte Yagami umarmen, ihn knuddeln, ich möchte...Es ist als ob ich plötzlich voll bin mit einer seltsamen Freude. Meine Hand berührt seine vernarbte Wange. Nur kurz, aber lang genug, um sanft über das Knotige der Haut zu streicheln. Und beim nächsten Schlagloch, da trennt uns der Ruck im Bus wieder, als wär er eine unkontrollierbare Naturgewalt. Ich glaube, Taichi gehört zu den Menschen, die andere eiskalt zurückstoßen wenn ihnen danach ist, egal wie vorsichtig sich diejenigen auch an ihn herantasten. Aber anderen Menschen erlaubt er, fast bis auf den Grund der Seele zu schauen. Wäre es jetzt wieder Zeit für ein Sahnebonbon? "Ist es deswegen?", wispere ich in das Grollen des Busses hinein. Vor uns taucht der Fernsehsender auf, bei dem mein Vater arbeitet. Bald sind wir zu Hause. "Obwohl du vorhin meintest, Freundschaft sei für dich gestorben, hast du mich von Anfang an an dich herangelassen. Du hast mich ganz anders behandelt als die anderen, nicht wahr? Du hast mich schon gekannt..." Ich umfasse zärtlich seine Hand. Wie warm seine Finger doch sind... Der Frau hinter uns fällt die Wolle herunter. Taichis Augenbrauen senken sich, er guckt den Sitz vor uns an; "Ich hab's nicht ertragen können, wie die dich vorhin zusammengeschlagen haben. Ich glaube, selbst wenn es Polizisten gewesen wären, oder der Kaiser persönlich, ich hätte ihnen dafür genauso die Nase gebrochen wie Honda." Die Sonne bricht wieder durch. Noch zwei Stationen. Ich schaue jetzt ebenfalls auf den Sitz vor uns. Taichi. Wer hätte gedacht, dass du so treudoof bist...? Mein Daumen streichelt seinen Handrücken. "Schon seltsam.", sage ich leise. "Die anderen haben dich zwar verbal verletzt und verprügelt, aber du hast sie nie mehr an dich herangelassen. Und ich...Mich hast du hineinblicken lassen, Taichi. Ich meine, ich weiß jetzt Dinge, die wohl kaum ein anderer weiß!" Ich schaue ihn wieder. Taichi. Tai. Ichi. Ichi... "Ich hätte dich soviel mehr verletzen können als die anderen, wenn ich für dich soviel mehr bin als die anderen. Warum warst du so unvorsichtig bei mir?" Der geschmolzene Himmel über dem Bus, als wir aussteigen. Das gelbe Haltestellenschild. Ich schultere meinen Rucksack langsam, zupfe mein neues Hemd zurecht und traue mich plötzlich nicht mehr, Ichis Hand zu nehmen. Ich hab dich jetzt durchschaut, Taichi Yagami. Warum du meinen Namen vorhin wusstest, warum du mir nicht sagen wolltest, warum du ihn wusstest. Ich weiß jetzt, warum ich nicht Mühe aufwenden musste, um vertraut mit dir zu werden. Und dieses Wissen macht meinen Bauch ganz warm, verbreitet Sonnenstrahlen in meinem ganzen Körper. Es ist, als hätte ich dieses Gefühl der Vogelfreiheit in mir sitzen. Der Fakt, die Wahrheit zu wissen- und wenn diese Wahrheit dazu noch so schön ist- ist wohl eines der schönsten Dinge der Welt. Taichi steckt, wie vorhin, die Hände in die Taschen seines schwarz gefärbten Blazers. Er lächelt mich an. "Du hast mich aber nicht verletzt. Vielleicht wusste ich das einfach vorher." Sein Lächeln löst sich inmitten des warmen und weichen Sonnenscheins, der auf uns herabregnet. Odaiba liegt graubunt vor uns, Werbung schreit von den Häuserwänden, der Asphalt ist dunkel. Ich weiß nicht, wer nach wessen Hand fasst- er nach meiner?- ich nach seiner? It's a beautiful day, sage ich mir, da war ich ganz sicher. Ich muss plötzlich an tausend Dinge gleichzeitig denken. An Koushirou, der jetzt in seiner AG sitzen wird. An die Lilienbraut, die ihren Text in Bushaltestellen lernt. An Honda, dem man die Nase hoffentlich höchst schmerzhaft wieder richtet. An meinen Lehrer, der jetzt über Arbeiten gebeugt sitzt und sich fragt, wo ich den ganzen Tag gesteckt habe. An die Verkäuferinnen im Geschäft in Shinjuku, an die Kontrolleurin von vorhin. An Taku, den ich nächstens höchst angestrengt ignorieren werde. Ich muss an die blauen Babystrümpfe denken. An Takeru. An die Bachstelze. An die zerbrechliche Wahrheit, die nun in mir liegt. Schatten wirft sich auf die Straße des Gegenverkehrs. Aber wir laufen auf der Sonnenseite. Vogelfrei. Du hast mich aber nicht verletzt.... Was bleibt, ist die Faszination für einen Jungen, der trotz allem so sehr vertrauen kann... Manche Tage beginnen damit, dass etwas passiert, womit man nie gerechnet hätte. Das können positive Erlebnisse sein, aber auch negative. Doch seltsamerweise scheinen solche Ereignisse den gesamten Tag zu ebnen. Es fängt meistens in der Früh an, wenn du noch zu müde für den Alltag bist. Aber keine Sorge, der wird dich schon früh genug wachrütteln! Koushirou zum Beispiel. Er steht da, vor dem großen schweren Schultor, nachdem ich meinen Bus verpasst hatte. Kein Wunder, zuwenig Schlaf nach dem gestrigen Wahnsinnstag kann tödlich sein, was die Pünktlichkeit anbelangt. Ich weiß noch, ich habe von Fröschen mit billigen Krönchen geträumt. Ich glaube, ich war einer. Und als Taichi im Kleid der Lilienbraut zu mir gewandelt kam, musste Koushirou mich per Telefon wachklingeln... "Wo warst du gestern die ganze Zeit?!", zetert Izumi und rückt sich die Kravatte so zurecht, dass es nach Erwürgen aussieht. "Die halbe Klasse hat nach dir gesucht!" Echt? Ich muss mir unwillkürlich vorstellen, wie sich die Leute aus meiner Klasse mit Safarihelmen und Macheten durch das Unterholz schlagen. "Das mit gestern ist wirklich eine seehr lange Geschichte!", sage ich gähnend. Kou tippt mit dem Fuß auf dem Boden, dass es staubt. Über uns scheint die Sonne herrlich, so wie gestern. Die Bäume auf unserem Schulhof haben ja bereits angefangen, sich bunt zu färben und zur Erde zu fallen. Und als ich hochschaue, sehe ich von der anderen Seite Taichi zur Schule kommen. "Krieg' ich 'ne Zusammenfassung?", fragt Izumi misstrauisch. 'Die anderen werden mich nie mögen.', hat Taichi gestern noch gesagt. Aber ich glaube nicht daran. Wenn aus Freunden Feinde werden können, muss es doch auch andersherum gehen. Ich schaue Ichi lächelnd entgegen. Er läuft gemütlich am Schulzaun entlang, immer mit diesem typischen Humpeln. Und als er mich sieht, formt sich ein zärtliches Lächeln auf dem Gesicht. Die Narbe lacht wieder mit. Nein...nein, Taichi Yagami ist nicht hässlich. Er gehört zu den hübschesten Menschen, die ich je gesehen habe...nein, für mich...ist er der Hübscheste von allen. Auch wenn ich die Bachstelze von gestern aus dem Kopf bekommen habe, irgendwie muss ich noch immer an sie denken. Im Prinzip hat sie den gestrigen Tag mitsamt aller Vorkommnisse eingeleitet. Wer weiß... vielleicht war der Vogel inWirklichkeit der Geist. Ich könnte Koushirou von der Lilienbraut erzählen, oder von Honda. "Eine ganz grobe Zusammenfassung ist, dass ich gestern jemanden kennengelernt habe." Aber diese Dinge können auch noch warten. Wahrheiten-häppchenweise. Die Wahrheit ist, dass wir vogelfrei sind. Nein, nicht zum Abschuss freigegeben. Das war vielleicht einmal. Aber nun haben wir das Level der absoluten Freiheit erreicht. Und ich muss sagen, dass es sich wahnsinnig gut anfühlt. Taichi steht neben mir, die Lippe wie instinktiv schmalgezogen. Und Koushirou schaut, als würde er am liebsten gleich weglaufen wollen. "Koushirou, das ist Taichi!", sage ich lächelnd. Die Wahrheit ist, dass Taichi vielleicht auf mich gewartet hat. Und ich auf ihn. Da war ein Herz, welches insgeheim für mich schlug und da war ein Ich, welches wie ein Dornröschen erwacht ist. Und nun sind wir...Seele an Seele, Hand in Hand. Weil Liebe befreit. Das habe ich irgendwo mal gelesen. Izumi starrt Taichi entgeistert an. Dann mich. Ich kann spüren, wie es in seinem klugen Kopf arbeitet, wie es rattert und raucht. Und dann sehe ich, wie Yagami eine Verbeugung andeutet, wie er den Mund entspannt. Anstrengung für einen Neuanfang. "Freut mich, dich kennenzulernen, Koushirou-kun." Ich glaube, er probiert ein Lächeln, aber das ist wohl sehr schwierig. Bis zum Abend haben wir einander in den Armen gelegen. Die Welt war verwandelt- und mit ihr wir vielleicht auch. Und nun sind wir zurück am Anfang der Geschichte, wir versuchen mutig eine neue Stufe zu erreichen. Taichi ist kein Monster und das sollen die anderen ruhig kapieren, ebenso, wie Taichi lernen muss, dass ihn unmöglich die ganze Schule für immer hassen wird. Koushirou ist vielleicht ein Anfang, der Taichi dabei Mut macht, denke ich. Ein erster Schritt, denn der erste Schritt ist ja bekanntlich immer der schwerste. Ich spüre Taichis Hand in meiner. Geborgen, hilfesuchend, unsicher und zärtlich zugleich. Das ist das Ende der Geschichte. Das ist der Anfang einer neuen. Und Koushirou lächelt schüchtern. "Hallo, ja, mich freut es ebenfalls!", sagt er. "Auf gute Freundschaft." Siehst du, Taichi? Du musst nicht mehr alleine sein. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)