Vogelfreiheit von Tsutsumi ================================================================================ Kapitel 1: It's a beautiful day ------------------------------- Autor: Tsutsumi Titel: Vogelfreiheit Kapiteltitel: It's a beautiful day Teil: 1/3 Warnung: Shounen Ai, OOC, sappy, kitsch, Yamatos POV Pairing: Taito/ Yamachi Disclaimer: Taichi, Yamato und andere aus Digimon auftauchende Figuren gehören nicht mir, sondern zu Bandai und Toei Animation. Ich bekomme kein Geld hierfür. Kommentar: Hallochen! Nachdem ich eine sehr lange Zeit nichts mehr geschrieben habe, hier wieder eine Taito von mir.^^ Ich hoffe sehr, sie gefällt euch. Feedback: Immer gern gesehen^^ Vogelfreiheit Phase 1: It's a beautiful day Manche Tage beginnen damit, dass etwas passiert, womit man nie gerechnet hätte. Das können positive Erlebnisse sein, aber auch negative. Doch seltsamerweise scheinen solche Ereignisse den gesamten Tag zu ebnen. Wenn du morgens aufstehst und auf dem Weg zur Arbeit einen Brief deiner Liebsten im Kasten findest, wandelst du auf rosa Zuckerwatte durch die Stadt, und der Gemüsemann an der Ecke, der aussieht wie ein grimmiger Yakuza, wird zum Blumenmädchen. Stehst du morgens auf und der Kaffee ist alle, das warme Wasser ist abgestellt, was du aber erst unter der Dusche bemerkst, ist der gesamte Tag bereits grau und verflucht. Möglicherweise kommst du zu spät ins Büro und obendrein streitest du dich mit deiner Mutter. Ich schaue hinaus in die Morgensonne, die durch die Busscheibe blendet und ich überlege, was für ein Tag heute für mich ist. Der Wecker hat pünktlich geklingelt, das warme Wasser hat funktioniert. Mein liebster Herr Papa hatte mir sogar Frühstück stehenlassen. Es scheint also ein guter Tag zu sein. Verträumt nehme ich einen Schluck grünen Tee aus meiner Flasche, starre hinaus in die klare Frühlingsluft von Odaiba. Mein Hobby ist es, Leute zu beobachten. Die alte Frau dort vorne strickt. Das kommt selten vor in Bussen, aber daraus scheint sie sich nichts zu machen. Unter den beiden grauen Nadeln wächst ein hellblauer Babystrumpf. Ich kann das Gesicht der Frau nicht sehen. Es ist als ob das Hellblau der Wolle das eintönige Grau und Schwarz von Anzügen, Kravatten und Kostümen übertönen möchte. Ich sehe schlafende Bürohengste, gequält schauende Männer mit Geheimratsecken, Finger die auf Aktentaschen Rhythmen spielen. Ich habe das Gefühl in einem Bus zu sitzen, der gestorbene Träume transportiert. Und ich fühle mich wie unter Toten. Es ist sicher nicht nur in Tokyo so. Man braucht ja nur einmal die Nachrichten im Fernsehen zu schauen um zu wissen, dass Menschen auf dem ganzen Erdball noch unglücklicher sind als diese Zombies hier im Bus. Aber was kann man dagegen tun? Liegt das Träumesterben vielleicht in der Natur des Menschen? Oder ist es so unsinnig wie das Roden von Regenwald? Kann man etwas dagegen tun? Nein, ich bin eigentlich keiner, der den Weltschmerz einverleibt hat. Ich denke nur manchmal darüber nach, wenn ich im Morgenbus zur Schule fahre und mir langweilig ist. Meine Gedanken schweifen in die Ferne. Ich bin Romantiker und am liebsten würde ich die Welt in ein zartes Blau tauchen und mit gelber und orangener Farbe antünchen. Nicht rosa, weil ich etwas gegen Rosa habe. Mitten im Denken habe ich die Flasche Ocha-Tee angesetzt und nehme winzige Züge. Dummerweise entgeht meiner Aufmerksamkeit dabei das etwas aprupte Bremsen des Busses. Der Busfahrer schimpft mit der strickenden Dame. Und auf meinem weißen, blütenreinen Hemd prangt ein Riesenfleck Ocha. "So eine verdammte Scheiße!" brülle ich los. Der blöde Tee ist kalt, klar, immerhin habe ich den vorhin aus einem extra gekühlten Automaten gezogen, und nun klebt er meine Schuluniform an meine Brust. Wie ein Rohrspatz schimpfe ich, schimpfe auf den Automaten, auf den Tee, auf...tja, eigentlich auf mich selbst, aber die Blöße kann ich mir ja nicht geben. Zumal mich plötzlich jeder im Bus ansieht, Koushirou, der gerade eingestiegen ist, inklusive. "Scheiß-Tag!" zürne ich, ohne ihn großartig zu würdigen. Damit hätte ich den heutigen Tag wohl schon abgehakt. Ich gebe zu, ich neige zur Hysterie. "Na Yamato, trinken will gelernt sein!" grinst mich das Rothaar an. "Ach klappe!" schnauze ich und beginne, mit der Hand auf dem Hemd herumzuwischen, puste mir dabei blonde Strähnen aus dem Gesicht. " Mit dem nassen Hemd darf ich jetzt den ganzen Tag rumrennen!" Der Bus fährt wieder an. "Selbst schuld." Koushirou quetscht sich neben mich auf die Sitzbank. "Du weißt doch, dass man beim Auto- und Busfahren besser nicht trinkt." "Ach, und wenn ich Durst habe?" "Dann hättest du halt vorher was trinken sollen!" Die schwarzen Kulleraugen verdrehen sich. "Mensch Yama, jetzt reg dich nicht so auf, das wird schon wieder! Außerdem gucken die Leute schon..." Für einen Moment sieht er so aus, als würde er sich hinter seinem bananengelben Laptop verstecken wollen. Habe ich eigentlich schon erwähnt dass ich diese Farbe auch nicht leiden kann? Ich grunze unwillig, stützte mein Gesicht in beide Hände und schaue finster zum hellblauen Babystrumpf. Ja, so kann's kommen, ein Tag verwandelt sich innerhalb von Sekunden manchmal in eine anfängliche Katastrophe. Meine romantische, melancholische Ader ist dem gewichen, was man Alltag nennt. Wir quetschen uns aus dem Bus und integrieren uns in den Strom aus Grün und Grau, in den Strom unserer Mitschüler. Es hat angefangen, kalt zu werden auf meiner Brust. Ich habe den Blazer darüber zugeknöpft. Kou meinte zwar, dass der dadurch auch nur nass werden würde, jedoch hat ein Blick aus meinen genervten Augen gereicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Mit schüttelndem Kopf läuft er neben mir her. Am Straßenrand leuchten rot die Ahornbäumem, dazwischen Gingko, von dem ab und an ein paar Blätterchen in ihrer typischen Segelform herabgleiten. Der Wind ist leicht und frisch, trägt die frühherbstliche Wärme in sich, die sich überall einkuschelt, die mich im Unterricht so gern einlullt. "Ich hab sie übrigens wiedergesehen." Ich schaue Koushirou wieder ins Gesicht. "Wirklich?" "Ja." Er reibt seine Hand an der Nase, während er über Blätter und Asphalt dahinstapft. "Selbe Uhrzeit, selbe Frau, selbe Haltestelle, selbe Aufmachung." Hätte er eine Brille, er würde sie jetzt bedeutsam den Nasenrücken hochschieben. Koushirou hat eine wahnsinnige Begabung dafür, Dinge präzise genau zu beobachten und sie dann präzise zu protokollieren. Das ist zwar eine seiner Charaktereigenschaften, die mich manchmal fast durchdrehen lassen, andererseits ist sie sehr nützlich. Und hat uns zu Freunden gemacht. Wir waren damals neu auf die Mittelschule gekommen und hatten denselben Chemieunterricht. Und während ich in den Experimenten damals immer wahlos Flüssigkeiten zusammenkippte, protokollierte, beschriftete, vermutete Izumi immer alles vorher. Irgendwann, als mir übergekochte Salzsäure den Handrücken leicht verätzt hatte, kam er zu mir hinüber und bot mir seine Zusammenarbeit an. Und die ist bis heute geblieben. Ich helfe ihm in Sprachen und Musik und er versucht, mich in den wissenschaftlichen Fächern aufzubauen. Man sollte wohl hierbei die Betonung auf "versuchen" legen, denn ich bin in Chemie immer noch der Jahrgangsschlechteste. Dafür bin ich es, der Koushirou über die neuesten Schulgerüchte informiert. Regelmäßig sitze ich dann im EDV-Raum während er Programme oder Viren oder was auch immer das ist, bastelt. Für jeden seiner Tastengriffe gibt es von mir ein Gerücht. Oder ich erzähle, dass Yamada und Akihabara wieder zusammen sind. Oder das Yaeko lesbisch ist. Oder irgendsoetwas. Was die von ihm angesprochene Frau angeht, die hat er aufgespürt. Es gibt in ihm also doch so etwas wie Sensationslust. Ich streiche mir die blonden Haare hinter's Ohr. "Hmm..Seltsam." "Ja, eben. Seit drei Wochen ist das jeden Montag so. Montag und Donnerstag! Das muss doch einen Sinn haben!" Er hat seinen Rotschopf auf die Erde gerichtet und kratzt sich am Kopf. "Weißt du, was noch Sinn haben würde?" sage ich und knuffe ihn in die Seite, so dass er quietschend zuckt. Ich liebe das! "Wenn du mir Mathe zum Abschreiben gibst!" "Kommt nicht in Frage! Ich hab dir den Stoff vorgestern gezeigt, ich helfe nur bei Verständnisschwierigkeiten und nicht bei Faulheit!" Er guckt mich streng an, während wir ins Schulgebäude treten und die Treppe zu unserem Raum nehmen. "Verflucht!" murmele ich. Noch ein Minuspunkt für diesen Tag. Ich wette, heute Abend werde ich entweder frust-heulend in Bett oder vor'm Fernseher mit diesen fettigen Chips landen, mir eine dieser schrecklichen Sendungen ansehend, wo Gackt einen Ententanz aufführt oder die neueste japanische Boyband dumme Witze reißt. Das Unglück nimmt seinen Lauf als wir das Klassenzimmer betreten und mich der Lehrer gleich wieder rauszitiert. "Ishida, Sie steh'n da grad so schön!" An seiner Brille blitzt es bösartig, ich sehe es genau! "Machen Se mal gleich wieder kehrt auf'm Absatz und geh'n'Se rüber zum Sportplatz zu Herrn Takada, der wollte mir 'n paar Papiere zukommen lassen!" In der Klasse feixt es und Koushirou guckt mich an als ob er sagen würde "Tja, Faulheit wird immer bestraft!" Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen! "Aber der Unterricht!" sage ich und lächle bezaubernd. "Kann warten, ich brauch den Kram sofort! Los, machen Se die Fliege, Ishida!" "Kann ich nicht noch schnell meine Tasche ab..." "Ishida, ich höre Sie nicht summen!" "Summen??" "Sie sollten die Fliege machen!" Ich hasse diesen Kerl! Mit seiner dummen dicken Brille und dem Mopsgesicht hat der mir gar nichts zu sagen, geschweige denn, mich zu verarschen! Ich nehme alle zehn Sekunden eine Stufe auf der Treppe. Wenn er gesagt hat, dass der Unterricht warten kann, werde ich ihn nach Möglichkeit auch lange schmoren lassen. Mittendrin hat der Unterricht schon angefangen und als ich auf den Hauptausgang im Schneckentempo zuwandle, liegen die Gänge leer vor mir. Die Sonne strahlt durch die Fenster, scheint durch die Tür, bereitet mir eine Art Lichtweg. Die warme Herbstluft ist wieder da. Von der Cafeteria strömt der Geruch von Kaffee und grünem Tee entgegen, der mich an den nassen, kalten Fleck auf meinem Hemd erinnert. Ich denke daran, dass ich es schnell waschen muss sobald ich zu Hause angelangt bin. Nachdem mein Vater mein Ersatzhemd dreißig Grad zu heiß gewaschen hat, kann ich es höchstens noch meinem Teddy anziehen. Ich denke daran, dass ich mir in der Pause ein Sandwich kaufen kann und mich mit Kou eine Bank dort draußen setzen werde. In dem Moment sehe ich plötzlich eine Bachstelze am Eingang des Schulgebäudes sitzen. Das Tor ist offen, so dass der Vogel dort ungehindert herumhopst und mit dem langen schwarzen Schwanz wippt. Ich bleibe stehen. Wie erstarrt. Die Bachstelze zwitschert hell und klar, wippt mit dem Schwanz, hupft drei Schritte, wippt wieder. Sie scharrt kurz im sandigen Boden an der Tür, dann hebt sie das Köpfchen und der Blick aus schwarzen kleinen Augen trifft mich... In diesem Moment höre ich das Zwitschern der Vögel, die in den Bäumen des Schulgeländes stehen. Plötzlich rauscht der Wind durch die sommermüden Blätter, durch Wände höre ich das Sprechen der Lehrer, das Flüstern und Raunen der Schüler. Meine Ohren nehmen das Herunterfallen eines Bleistiftes wahr und meine Augen scheinen zu leuchten. Der Wind fährt so stark durch meine Haare, dass sie durcheinanderwirbeln. Vor mir tanzen plötzlich Schmetterlinge, ich könnte sie anfassen, wenn ich wollte, könnte ihre weiß-durchsichtigen Flügel berühren und das Himmlische in mir haben. Vom Musikraum zwei Stockwerke über mir ertönt das Klavierspiel meines Musiklehrers, paart sich mit Geigengeklirr einiger Schüler. Zwei Stockwerke über mir! Ich weiß nicht mehr, was mit mir geschieht. Ich schließe nur die Augen und möchte vergehen in dieser Schönheit, in diesem Alles auf der Welt, das auf mich einströmt. Ich möchte meine Arme ausbreiten und... "Zissit-zissit" macht der Vogel vor mir plötzlich. Ich reiße die Augen auf, erschreckt von diesem Ruf, der soviel lauter war als der Gesang der Stelze. Es klingt wie ein Locken. Ich mache keine Bewegung, starre nur zu dem winzigen Vogel zehn Schritte vor mir, der aufgeregt mit dem Schwant wippt und immer wieder "Zissit!" schreit. Gleichzeitig verschwindet mein tranceartiger, bewusstseinserweiterter Zustand. Die Farben verblassen, das Licht wird grauer, die Gräusche dumpfer... Jetzt kann ich nur noch raten, was in den Klassenzimmern geschieht und gesprochen wird. Und ich fühle mich, als hätte man mich soeben aus dem Paradies geschmissen. Die Bachstelze breitet die kleinen Flügel aus, würdigt mich keines Blickes mehr. Erhebt sich in die Lüfte, verschwindet einfach. Ich sehe ihr wippendes Schwänzchen noch immer vor mir, solange bis ich mich loslösen kann, bis ich ihr hinterherzurennen versuche. Ein Stolpern über die Türschwelle, dann die drei Stufen zum Eingang herunter. Der nasse Teefleck scheuert an meiner Brust, injiziert mir Kälte. Doch es ist zu spät. Manchmal geschehen wohl Wunder zwischen Tür und Angel. Man wird in ihnen gefangengenommen, kann das Schicksal und die Zeit nicht mehr anhalten. Als würde man von einer Welt in eine andere gerissen, bestimmen Sekunden über das Leben. Nicht die Jahre. Sondern Sekunden. Wie betäubt laufe ich den Weg zum Sportplatz entlang, von der Sonne beschienen und noch immer verwirrt von eben. Ich versuche mich daran zu erinnern, ob ich heute irgendetwas zu mir nahm, was Drogen enthielt. Kekse? Pilze? Der Ocha von vorhin? Hastig streiche ich mir die Haare hinter die Ohren, was ich öfters tue, wenn ich nervös und ratlos bin. Jedenfalls stürze ich in meiner neu erworbenen Eile um die Ecke der Turnhalle, wo ich den Sportlehrer vermute. Stattdessen höre ich plötzlich das "Zissit" über mir, doch ich kann nicht hochsehen, weil meine Augen festkleben an dem was sie zu sehen bekommen. Dort in der Einsamkeit zwischen Sportplatz und Turnhallenwand hocken drei Kerle aus meiner Stufe, nein, vielmehr stehen sie. Zweien fallen die Augen halb raus, weil sie dem Dritten zugucken, der gerade mit einem Mädchen zugange ist. Für eine Sekunde bleibt mein Herz stehen und ich frage mich, ob das, was ich da gerade betrachte, wirklich existiert. Zum zweiten Male erstarre ich, bleibe an dem Typen und dem Mädchen hängen. Sehe diesen rhythmischen Bewegungen zu, ihr Gestöhne bohrt sich in meinen Kopf, lässt mich puterrot werden. Ich schlucke, halte mich am Gurt meines Rucksacks fest. Würde so gern nach dem Vogel Ausschau halten, der mich wohl bis hierher geführt hat, doch mein Kopf ist so unbeweglich wie noch nie. "Oh jaa, oh jaaa!" kreischt das Mädchen und es klingt wie aus einem Porno kopiert. Im selben Moment drehen sich drei männliche Gesichter zu mir herum. Wo ist dieses verdammte Vieh?! Ich werde es eigenhändig erschießen, ihm den Schwanz stutzen oder was auch immer, wenn ich es erwische! Diese blöde Bachstelze! "Ey, du Spanner!" nölt der Kerl, der noch immer in seiner Freundin steckt, zieht schnell an seiner Hose, damit ich sein nacktes Hinterteil, welches wirklich zensiert werden sollte, nicht mehr sehen kann. Mein Herz setzt aus. Ich erkenne die drei Kerle als die halbstarken Fitness-Studio-Gänger wieder, Tsuzuki, Shimazumi und Honda...hieß der so? Binnen Sekunden rast mein Leben vor meinen Augen vorbei, denn ich weiß, was diese Figuren dort schon alles verbeult, blaugehauen und verschrottet haben. Kou und ich nehmen um sie einen größtmöglichen Abstand von ihnen und doch ist keiner wirklich sicher. Man hat solche Angst vor ihnen, dass es niemand wagt, sie bei der Schulleitung zu melden. Noch ehe mein Herz sich vor Angst selbst überschlägt, sind die drei schon bei mir und kreisen mich ein. "Nein, wen wir da haben!" triumphiert Honda, während er sich den Hosenstall zumacht. Ich kann diese Beule darin sehen und mir wird schlecht davon. "Die Schwuchtel vom Dienst!" Sofort schnellt mein Blick wieder in die Höhe, ich werde rot vor Angst, vor Empörung und Verlegenheit. Und überhaupt, wer bezeichnet mich als Schwuchtel? Doch nicht die Schule! Hoffe ich zumindest! "Entschuldigt, ich wollte gewiss nicht spannen!" murmele ich schnell. Meine Knie beginnen zu zittern, als ich einen Schritt nach hinten gehen will und plötzlich gegen den hinter mir stehenden Tsuzuki pralle. "Ich...ich äh...ich hab nur nach Herrn Takada gesucht, der sollte meinem Klassenlehrer Papiere geben und der war aber zu faul selbst zu laufen!" Das ist meine Masche! Wenn mir Menschen drohen oder mir etwas unangenehm wird, rede ich. Ich sage damit zwar nie etwas aus, aber ich rede, es kommt von ganz alleine und treibt jeden zur Weißglut. Es ist, als würde ich mich selbst exikutieren wollen. So wie jetzt. Ich sehe die drei Stiernacken um mich herum und rede sinnloses Zeug, welches sie wahrscheinlich nicht mal verstehen. Und unter meinen Füßen beginnt plötzlich der Boden zu verschwinden, lässt mich im Stich. Ich habe das Gefühl zu fallen, in ein unendliches Nichts hinein, als mich Hondas Faust zum ersten Mal trifft. Der Schmerz durchjagt meinen Körper mit der Gewalt eines Stromschlags, so dass ich nach hinten geschleudert werde, direkt in Tsuzukis Arme, die die meinen eisern umschließen. Verdammt! "Wirst ja sehen, was du davon hast, zu spannen, du schleimige Schwuchtel!" Es ist, als würde man mir eins mit einer Schaufel drüberziehen, wie ein eiserner Vorhang, der meine linke Gesichtshälfte lähmt, trifft mich der nächste Schlag. Ich kann nur zucken, werde nur vom Kerl hinter mir auf den Beinen gehalten. Mein Blick verschwimmt, wird vom Schmerz verzerrt und in meinen Augen bilden sich Tränen der Wut, der Verzweiflung und des betäubenden Schmerzes. Als ich den Blick wieder einigermaßen scharfgestellt bekomme, sehe ich in die hämische Fresse Hondas. 'Zissit!' macht es in meinem Kopf, als würde er gleich ausfallen. Mayday! "Na Schwuchtel? Da tut mal was anderes weh als der Arsch, hä?!" feixt der dritte, der danebensteht. Ich schmecke Blut im Mund und in meinem Magen sitzt ein kleiner, ängstlicher Yamato wie vor einem Höllenschlund. Niemand ist hier, niemand kann mich hören, also ist mein Schicksal wohl besiegelt. Auf der anderen Seite bin ich verdammt wütend auf diese Ärsche, so dass ich spöttisch den Kopf hebe; "Oi, da kennt sich aber einer aus, nicht wahr?" Natürlich vezerrt sich das Gesicht vor mir sogleich wutschäumend. Ein Tritt in meinen Bauch und ich habe den Eindruck, dass der Fuß in mir drinsteckt und zu meinem Rücken wieder herausschaut. Die erste Träne tritt mir aus den Augen, aber sie sehen sie wohl nicht. "Verdammte schwule Sau!" brüllt man mir ins Ohr, dass es dort beginnt zu klingeln. "Oha!" murmele ich. Wohlwissend, dass ich das bald nicht mehr kann. Aber ich bin wohl viel zu stolz, um mich einfach ohne die kleinste Rebellion zusammenschlagen zu lassen. Nicht ich! "Euch fällt doch tatsächlich ein anderes Wort für "Schwuchtel" ein!" Meine Nase blutet, ich spüre es. Das Blut ist schon bis zum Kinn gelaufen, wird auf meinen grünen Blazer tropfen, wo sich dann die Farben beißen werden. Und dennoch lächle ich Honda vor mir spottend an, während der Schmerz meinen Körper förmlich zerreißt. "Das hätte ich euch jetzt gar nicht zugetraut!" Im nächsten Moment liege ich auf dem Boden des Sandweges, auf der Seite. Man versucht, mir den Magen rauszuprügeln. Meine Stimme versackt, mein Verstand ebenfalls. Ich kann nur daliegen und zittern. Ich kann nur unsichtbare Tränen weinen , diese Typen hassen und mich auf der anderen Seite fragen, was ich denn verbrochen habe, um so von denen bestraft zu werden. Ich werde eins mit dem staubigen Boden, auf dem ich mich wälze und gewälzt werde. Ich denke daran, wie ich eben noch im Bus gesessen und mich über den grünen Tee auf meinem Hemd so geärgert habe, ich denke an Kou, an sein Lächeln und an die Bachstelze und habe das Gefühl, dass mein Körper mich ins Schwarz einer Ohnmacht drängen will. Meine Füße fühlen sich taub an... "...oten weg!" Eine unbekannte Stimme, die in meine Ohren eindringt, die das Klingeln übertönt. "Pfoten weg, hab ich gesagt!!" Zitternd und verstandsschwankend öffne ich die Augen, schaue durch Hondas Beine hindurch nach vorne. Das verschwommene Bild zeigt mir eine Gestalt, Farbe grau, schwarz, braun von unten nach oben. In meinem Kopf hämmert und schreit es ohrenbetäubend. Mein Zittern, meine Beine, meine Nase! Ich würde diesen Ärschen am liebsten die Hälse umdrehen! Wenn ich könnte... "Was willst du denn?!" dröhnt Honda über mir. Die Gestalt kommt näher, wird langsam schärfer. Ich sehe einen schwarzen Blazer statt eines grünen, darüber ein Gesicht mit braunen, zerzaust wirkenden Haaren. Mir stockt der Atem. "Das sagte ich doch!" knurrt der Junge. "Dass ihr eure verdammten Pfoten von ihm wegnehmt! Seid ihr taub oder nur zu beschränkt?!" Honda und die anderen haben sich dem Jungen zugewandt. Ich spüre, wie sie Blicke untereinander austauschen, wie sie sich Antworten überlegen. Inzwischen sehe ich das Gesicht des Störenfriedes scharf. Ein Gesicht, das niemand vergessen kann. Es gehört Yagami. Ich habe es eben schon bei dem Blazer vermutet. Niemand sonst an dieser Schule trägt einen Blazer in einer anderen Farbe als grün. Ich wage es kaum zu atmen. Kann nur daliegen. Der Schmerz verbietet es mir, aufzustehen und das Weite zu suchen. Wenn Honda und die anderen mich nicht am Wickel haben, ist Yagami wirklich die einzige schlechtere Alternative. Man erzählt sich Dinge über ihn in der Schule, die ihn zum Untier werden lassen. In unseren Köpfen ist Yagami der Terrorist und Sadist in Person. Dabei weiß ich nicht mal wirklich, warum. Unbeholfen wohne ich dem Schauspiel bei, dem Kampf der Giganten sozusagen. "Die Tunte hat mich bespannt!" Es klingt wie gewollt und nicht gekonnt. Honda wirkt mit einem Mal wie ein Junge, dem man den Lolli geklaut hat. Durch seine Beine starre ich Yagami an, starre in sein wutverzerrtes, hartes Gesicht und es läuft mir für einen Moment kalt durch die Venen. In der rechten Hand hält er einen Baseballschläger und wirkt damit noch bedrohlicher. Nicht dass er das Ding schwingt, nein, er hält ihn ganz ruhig, steht ruhig da, bewegt sich nicht. Seine Füße stecken in diesen schweren schwarzen Schuhen, mit denen man gut zutreten und bestimmt auch Schädel spalten kann. Darüber kommt die graue Hose der Schuluniform, sieht ein bisschen fehl am Platze aus, ebenso wie der Blazer. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass in dem Schwarz dieser Jacke noch ein Grünstich vorhanden ist. Er muss sie gefärbt haben. Doch alles in allem ist Yagami bestimmt nur so groß ich selbst. Er hat keinen Stiernacken, keinen Bizepsumfang von einem halben Meter. Wenn man seinen Körperbau sieht, ist man sicher nur halb beeindruckt, wenn überhaupt. Es ist sein Gesicht, welches grausig wirkt. Schmal verzogener Mund, fahl wirkende Wange und bitterböse blitzende, braune Augen. Ich habe ihn auch schon mal mit lilafarbenen Kontaktlinsen gesehen, was sich sonst niemand in der Schule trauen würde. Doch das, was die Leute am meisten erschreckt und am furchteinflößendsten ist, ist diese riesengroße Narbe, die mitten über Yagamis Gesicht verläuft. Sie beginnt über seiner linken Augenbraue, lässt das Auge zwar aus, zieht sich aber quer über den Nasenrücken bis zur rechten Wange. Es wirkt nicht wirklich entstellt, aber ist nicht zu verstecken, sondern zieht sich wie ein rötlicher, ungesunder Strich durch dieses Gesicht. Dabei, so fällt es mir in diesem Moment auf, wäre Yagamis Gesicht ohne dieses hässliche Ding wirklich...hübsch. Er hat soviele Namen bei uns wegen dieser Narbe; Scar, Scar Face, Rocky Horror, Zombie. Diese Liste könnte ewig weitergeführt werden. "Der hat 'ne Abreibung verdient!" blökt Honda noch immer, während ich mir ächzend den Bauch halte. Ich atme aufgewirbelten Staub ein und muss davon husten. In meinem Mund schmeckt es nach Eisen. Verdammt! "Weißt du eigentlich..." Yagami tritt näher mit leicht wiegenden, bedächtigen Schritten. Sein Gesicht sieht aus, als würde er Honda meuchelmorden wollen. Es speiht Hass und Wut. In jedem Muskel, in jeder Sehne dieses Jungen scheint eine unglaubliche Kraft verborgen zu sitzen. Seine Augen sind ausdruckslos geworden. "...wie wenig mich das interessiert?" Plötzlich zuckt diese Kraft auf in ihm, wie ein Blitz während eines Gewitters aufzuckt. Als hätte er sich eben nur angepirscht, schlägt Yagami los. Aus den wiegenden Schritten werden ein-zwei katzenhafte Sätze, aus der bewegungslosen Hand heraus schwingt der Baseballschläger wie ein Geschoss, Anspannung im ganzen Körper. Ich glaube meinen Augen kaum. Er nutzt Kraft und Geschwindigkeit gleichermaßen, weicht einem Verzweiflungshaken von seiten Hondas aus, trümmert ihm den Schläger einfach ins Gesicht. Irgendetwas knackt und ein Aufschrei zerreißt die Luft. Ich zucke erschrocken zusammen und bin gleichzeitig froh, meine Reflexe wiederzuhaben. Neben mir fällt Honda auf den Arsch, bedeckt wimmernd und keuchend sein Gesicht mit beiden Händen. Die anderen beiden weichen zurück und das Mädchen scheint schon längst über alle Berge zu sein. Es ist so seltsam, ich fühle mich wie ein Voyeur, ein Kinobesucher. Alles wirkt surreal, stürzt auf mich ein. "Seht zu, dass ihr Land gewinnt!" knurrt Yagami vor mir und seine Stimme ist kalt und geht mir durch Mark und Bein. Die Angst ist wieder da, die Angst, dass der bei mir da weitermacht, wo die anderen eben aufgehört haben. Ich habe mal die Geschichte über ihn gehört, dass er jemandem einen Besenstiel ins Hinterteil gerammt hat. Einen anderen soll er bis zur Bewusstlosigkeit den Kopf in eine Regentonne gedrückt haben. Natürlich kann ich mir das nicht wirklich vorstellen, weil es doch eben nur Gerüchte sind, aber all diese Gerüchte brodeln in mir wieder hoch, leiten sich durch meine Nervenbahnen wie der noch immer betäubende Schmerz in Bauch und Gesicht. Neben mir rappelt sich Honda auf, sich noch immer das Gesicht haltend. Bestimmt hat Yagami ihm die Nase gebrochen. "Scheiß Narbenfreak !" flucht er dumpf und so leise, dass wahrscheinlich nur ich es höre. Für mehr reicht die Courage wohl nicht. Und so treten die Stiernacken den Rückzug an. Es ist eigentlich wirklich witzig zu sehen, wie drei 1, 85 Typen vor einem Jungen Reißaus nehmen, der wahrscheinlich gerade mal die 1, 70m berührt. Doch zum Lachen ist mir nicht zumute, ganz im Gegenteil. Ich bin hier alleine mit dem Narbengesicht, das ich auf dem Schulhof im großen Bogen meide, über das ich soviel haarsträubende Geschichten gehört habe. Mein Herz pocht augenblicklich höher als er näherkommt. Den Baseballschläger ablegt neben mir und sich ganz langsam herunterbeugt. Schlag nicht so schnell, Herz! Bleib ruhig, Atem! Ich bewege mich schnell, wahrscheinlich zu schnell, denn mein Bauch rebelliert und ich sinke im herzlosen Versuch, mich hochzustemmen, zurück auf den Boden. Um meine Ohren herum dröhnt ein Geräuschschleier aus Blutrauschen. Ich fühle mich erschöpft. Gleichzeitig trifft sich mein Blick mit dem von Yagami. Und ich stelle fest, wie tiefbraun doch seine Augen sind. Sie haben sowenig von diesem typisch japanischen dunkelbraun bis "hellschwarz", sie sind wie eine Mischung aus Schokolade und Baumrinde. Im nächsten Moment schelte ich mich innerlich für diesen Gedanken, der einfach dumm und unpassend ist. Ich ächze erneut. Noch nie bin ich so verprügelt worden wie gerade eben. Genauer gesagt bin ich noch nie verprügelt worden. "Alles okay?" Die harte Stimme schlingert durch meinen Kopf. Zuerst möchte ich nicken, starre dabei entgeistert auf diese schweren Schuhe, die in der jetzigen Entfernung noch gefährlicher aussehen und mache noch einen Versuch, mich aufzurappeln. Aber meine Arme zittern, ich kann mich nur schwerlich aufsetzen. Meine Haare sind furchtbar zerzaust und voller Staub. Ich versuche, sie zu glätten und zu ordnen. Dabei muss ich daran denken, wie ich Yagami in den Pausen immer allein rumstehen sehe. Er liest nicht, er raucht nicht, er isst nicht, er steht immer nur ganz allein herum. Kein Wunder, wenn alle Welt ihn nicht mag oder Angst vor ihm hat, hat er bestimmt auch keine Freunde gefunden. Einen Augenblick überlege ich, ob sein "Alles okay" eine Art Fangfrage dafür ist, mir eins reinzuwürgen, aber ich empfinde es denn als Energieverschwendung, mir darum Gedanken zu machen. "Um ehrlich zu sein, nein." nuschle ich, noch immer mit den Haaren beschäftigt. Als ich an mir runterschaue, entdecke ich zwei aufgerissene Stellen an meinem weißen, bekleckerten Hemd. Zögernd streife ich den Rucksack ab, strecke mit angepisstem Gesicht zwei Finger durch die Löcher. Seine Augen folgen ihnen, sein Mund wirkt plötzlich nicht mehr ganz so schmal. "Ist das Hemd dein einziges Problem?" "Es ist mein einziges Hemd, von daher ist das ein Problem!" gebe ich zurück, lapidar wie ich bin. Eine Sekunde später beiße ich mir auf die Unterlippe. Mein Körper, vor Angst noch immer angespannt, schmerzt. "Ein Hemd kann man ersetzen..." Yagami kommt näher, so nahe, dass mein Herz aufgeregt puckert, dass ich ihm blöde auf die Narbe glotze. Wie ein eigener Hautstrang sieht sie aus, hat kleine weißlich schimmernde Quernarben vom Nähen. Gruselig. Gleichzeitig spüre ich das Wesen meines Gegenübers. Es geht eine Wahnsinnsruhe von ihm aus. Er hat sie nicht gespielt eben, sie ist wirklich da. Er fasst mich am Kinn und betrachtet das bis dahin heruntergelaufene Blut. "....Nasen kann man nicht ersetzen." Seine Finger an meiner Haut kribbeln. Steht er etwa unter Strom? Ich spüre seine Fingerkuppen, ihren minimalen Druck und habe das Gefühl zu zerfließen.... "Meiner Nase geht es aber wieder gut, glaube ich." sage ich kleinlaut. Nur langsam lässt er mich wieder los, so dass das Kribbeln wieder abnimmt. "Das denkt man zuerst immer. Komm!" So dunkel und tief ist seine Stimme gar nicht. Als er den Arm um meinen Oberkörper legt und mich mehr oder weniger hochzieht, bemerke ich das. Sie ist genaugenommen sogar ein wenig heller als die meine. Ich hänge in Yagamis Griff, versuche, festen Stand auf dem Boden zu erlangen. Es dauert ein bisschen, da meine Knie noch immer zittern. Einmal bücken, dann habe ich auch den Rucksack wieder, schultere ihn unbeholfen. Ich fühle mich wie ein Spast. Scar stützt mich noch immer, setzt sich plötzlich in Bewegung. Ich verkneife mir jegliche Frage, versuche, einfach nur mit ihm Schritt zu halten. In der Nähe sieht der Blazer schlecht gefärbt aus. Da schimmert immer noch dieses eklige Grasgrün durch. All seine Aufmachung lässt Yagami punkig wirken, obwohl er das bestimmt nicht beabsichtigt. Sein Arm liegt ein Stückchen über meiner Taille und sein Griff ist bestimmt, aber nicht brutal. Und schon wieder dieses Kribbeln, welches er mir übersendet, welches wie kleine Persilkügelchen durch meinen gesamten Körper rollt , sich in den Eingeweiden einnistet und dort puckert. Ich bin komplett verwirrt. Mir ist ja klar, dass Gerüchte in der Schule einen Wahrheitsgehalt von vielleicht 10% haben. Doch so langsam ereilt mich der Verdacht, dass die Tratschtanten und -onkels ein Monster erschaffen haben, was gar nicht existiert. Denen zufolge hätte mir Yagami schon längst mein Gemächt abreißen, mir das Blut aussaugen und mich in hauchdünne Streifen schneiden müssen. Lächerlich. Innerlich beschließe ich, mich in nächster Zeit weniger mit diesen Leuten herumzutreiben. Andererseits weiß ich auch, dass ein Gerücht fast immer eine wahre Basis hat. Also, wer ist dieser Kerl mit der ihn entstellenden Narbe? Er lotst mich zurück zum Schulgebäude, das noch immer in der Stille und Idylle eines Unterrichtstages liegt. Den komischen Vogel von eben sehe ich natürlich nicht mehr, ich bin ohnehin genug damit beschäftigt, den anderen Jungen ganz nahe an mir zu spüren. Er hat eine unglaubliche Ausstrahlung, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist als strahle er wie eine Sonne, oder als sei er radioaktiv verseucht. Ich kann nur nicht spüren was es ist, was er da ausstrahlt. Die nächste Schülertoilette ist unsere! Ich stolpere durch die Tür, zu den Waschbecken. "Ach du Scheiße!" Etwas anderes kann ich einfach nicht sagen, als ich in den Spiegel schaue. Nicht Yagami ist das Monster- ich bin es, unter Garantie! Zwei getrocknete Blutflüsse bis zum Kinn lassen mich aussehen wie ein Unfallopfer. Dazu ist alles an mir dreckig braun von dem beschissenen Erdboden an der Turnhalle. Asphalt hätte zwar mehr wehgetan, aber ich wäre zumindest sauberer davongekommen. Dazu bildet sich an meinem linken Auge so etwas wie ein Veilchen. Wundervoll! Ich wollte schon immer aussehen wie Frankensteins Monster! Grummelnd mache ich mich am Waschbecken zu schaffen, zerre Klopapier aus dem Spender, wische mir in einer viel zu lange dauernden Prozedur zuerst den Schmutz aus dem Gesicht. "Diese blöden, hirnlosen Fitness-Typen!" fluche ich dabei, dass es im Jungsklo wiederhallt. "Bloß weil die an der Turnhalle pimpern müssen, sehe ich jetzt aus wie...wie...argh!" Neben mir lehnt Yagami an der Wand, und kaum dass ich in den letzten Satz beendet habe, zischt er Luft durch die Zähne. Ich sehe zu ihm herüber, halb geschockt, halb...ja was eigentlich? Ich war alles andere als vorbereitet auf seinen halbherzigen Lacher. Und warum? Irgendwo in der Gegend meines Herzens spüre ich, wie es warm wird. Natürlich, warum sollte er nicht auch lachen können? "Pimpern, ja?" bummt er belustigt. "Ja..." gebe ich zögerlich zurück, wende mich schnell wieder dem Spiegel zu. So langsam nimmt mein Gesicht wieder den normalen Farbton an. "Ich sollte einen Sportlehrer suchen. Und anstatt ihn zu finden, bin ich in diese drei Kerle mit dem Mädchen reingelaufen... Als ob ich mir das freiwillig angeguckt hätte!" Aus den Augenwinkeln nehme ich ein scheues Lächeln auf Yagamis Gesicht wahr, das sich jedoch bald wieder in den schmal verzogenen Mund wandelt. Als hätte er Angst, sich mir gegenüber Blöße zu geben. "Und, wirst du's der Schulleitung melden?" fragt er, mit der etwas helleren Stimme. Ich schrubbe mir die Nase-Lippen-Kinn-Partie sauber und bin froh darüber, dass ich gleich wieder normal aussehe. Ich mache ein spöttisches "Pff" mit dem Mund, verziehe ihn, um die letzten Blutspuren beseitigen zu können. "Wahrscheinlich nur, wenn ich dich als Bodyguard engegagieren kann!" Das Klopapier landet im Mülleimer. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Alles in Ordnung, bis auf diese leichtblaue Stelle am Auge. Ich schaue ihn an und lächle dankbar. "Bodyguard, ja?" Ohne den Mund zu verziehen, guckt Yagami zurück. Doch etwas ist anders. Inmitten der Gegenwart von Pissoirs, tropfenden Wasserhähnen und verprügelten Yamas leuchten seine Augen, als würde er mich anstrahlen. Und das kribbelt im Bauch. "Ja, klar!" Ich schultere den Rucksack. "Es wäre purer Selbstmord, die Typen zu melden. So wie es für alle anderen Selbstmord wäre. Und wenn ich daran denke, was passiert wäre, wenn du nicht dazugekommen wärst..." Die hätten mich totgeschlagen. Bestimmt. Ich bin nämlich nicht besonders robust. Und die Vorstellung, für Sex, den noch nicht mal ich verübt habe, zu sterben gefällt mir ganz und gar nicht. Schüchtern sehe ich meinen Gegenüber an, lege eine Hand an den Rucksackriemen, als könne ich mich daran festhalten. Warum nur kribbelt es in meinem Bauch? Wieso? "Also...hab vielen Dank!" In diesem Moment bleibt die Zeit stehen. Wir stehen uns gegenüber, schauen uns an. Es ist, als würden wir versuchen, aneinander sattzusehen, aber es ist uns nicht möglich. Seine Augen haben mich ganz gefangengenommen, sie strahlen mich an, als würden sie mich hypnotisieren wollen. Ich stehe etwas unglaublich Tiefem gegenüber. Der Vergleich ist zwar blöde, aber ich habe den Eindruck, dass ich von Yagamis Wesen bisher nur soviel gesehen habe, wie man von einem Eisberg die Spitze sieht. Gleichzeitig ist mir so wunderbar warm in der Brust. Mein Bauch tut nicht mehr weh, kein bisschen. Sekunden später lächelt Yagami. Sein Mund sieht ein klein bisschen schief aus, als hätte er es verlernt, so zu lächeln, doch seine Wunderaugen werden ein bisschen schmaler, die Wangen rutschen typischerweise hoch. Die Narbe sieht aus, als würde sie verschoben. "Nichts zu danken, Ishida Yamato." Er greift an die Türklinke, schlüpft schnell nach draußen, zu schnell für mich, der ich noch immer geschockt von dem Fakt, dass er meinen Namen kennt, dastehe. Woher kennt er den? Und warum will er sich jetzt einfach aus dem Staub machen? So schnell ich kann, reiße ich mich heraus aus meiner seltsamen Trance, stürze ihm hinterher. Auf dem Gang ist er inzwischen vier Schritte von mir entfernt. Ich sehe seine zerzausten, wippenden Haare und den wiegenden, komischen Gang, von dem ich zuerst dachte, er sei so. Doch jetzt sieht es eher wie ein Humpeln aus. "Warte doch mal!" krächze ich. Habe ich ihn vertrieben? Er dreht sich um, sieht mich an, mit einem seltsam melancholischen Blick, den ich nicht zu deuten vermag Es ist einfach unglaublich. Normalerweise renne ich Leuten nicht so hinterher, weil mir das gegen den Stolz geht. Nur jetzt, hier... Ich verstehe mich zum Teil selbst nicht mehr. Möchte ich aus Dankbarkeit alles über Yagami wissen? Oder ist das einfach nur blöde Neugierde? Warum hat er keine Freunde? Oder vielmehr, warum verbreitet man Gerüchte über ihn, die einem die Nackenhaare sträuben? Woher hat er diesen wiegenden Gang? Und woher stammt diese Narbe auf seinem Gesicht, die ihn doppelt so gefährlich aussehen lässt als er ohnehin schon ist? Ich habe noch immer Angst vor ihm, vor seiner Unberechenbarkeit. In meinem Bauch mischen sich die Furchtpartikel mit der Wärme, die er in mir ausgelöst hat. Es ist wie bitter und süß zugleich. "Wieso...wieso rennst du weg?" Er legt den Kopf schief, den Mund so schmal wie eh und je. "Es ist Unterricht." sagt er lapidar. Ich stehe da wie ein begossener Pudel, fühle mich vom Leben verarscht. Um den heutigen Tag zusammenzufassen: Zuerst kippte ich mir Tee auf das Hemd, dann hatte ich einen Trip mit einer Bachstelze(!), wurde von Honda verprügelt, von Yagami gerettet und nun stehe ich hier wie bestellt und nicht abgeholt. Es ist unglaublich. Und das Schlimmste daran ist, dass ich nicht mal mehr weiß, ob ich diesen Tag als schön oder als scheiße einordnen soll. Tatsache ist nur, dass ich heute Abend drei Kreuze mache. Unfähig, etwas zu sagen, stehe ich also da, während hinter mir die Toilettentür zufliegt und ein schallendes Krachen durch den Gang sendet. Mein Kopf fühlt sich leer an, in meinen Händen summt es. Als würde ich noch immer in diesem bewusstseinserweiterten Zustand verweilen, habe ich den Eindruck dass ich Yagamis Herz schlage hören kann. Pock. Pock. Immer gleichmäßig. Das Licht, welches durch die Fenster fällt, verschwimmt ineinander, taucht die Welt in einen Kreidekasten von Pastell und ich...ich hab für einen Moment das Gefühl, zu schweben. "Wie heißt du?" stoße ich gedankenlos hervor. Vielleicht, weil ich es wirklich wissen will. Aber vielleicht auch weil ich ihn nicht verlieren will an die Außenwelt. An die Außenwelt, in die er gerade abtauchen möchte. "Mit Vornamen, wie heißt du mit Vornamen?" Als wären meine Kniegelenke eingefroren, stackse ich auf ihn zu, lasse ihn nicht aus den Augen. Als ich vor ihm stehe, fühlt es sich in meinem Magen wieder ein bisschen beruhigter an. Es ist als hätte er mich an ein Gummiband genommen, mit dem ich immer wieder an ihn zurückschnippse. Abgefahren! Yagami schaut mich lange an. Dann steckt er einen Finger durch eines meiner Löcher am rampunierten Hemd, setzt einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. "Wenn du damit in den Unterricht gehst, bekommst du mehr als nur Ärger!" Das stimmt wohl. Mein dummer Klassenlehrer wird mich wahrscheinlich in seinem Pseudowitz nicht mehr als Fliege, sondern als Flickendame bezeichnen und mich vor der Tür schicken. "Wo hast du das gekauft?" Irgendwo auf dem Gang klappt eine Tür, doch sie geht nicht auf. Unsere beiden Köpfe schnellten dennoch herum und nun gucken wir uns wieder an. Sind uns wieder verdammt nah. Das ist doch nicht normal, dieses Kribbeln! Frustriert über meine Körperreaktion, versuche ich nachzudenken. Von der Schule kauft man nur den Blazer und die Hose als Uniformteile, während einem verschiedene Geschäfte für den Kauf des Hemdes zugewiesen werden. "In Shinjuku irgendwo...Ja, in der Nähe von Harajuku..." Vollkommen verwirrt glotze ich ihn an, wahrscheinlich mit dem Charme einer Milchkuh vorm Melken. "Warum?" Sein durch das Stoffloch gehaltener Finger berührt aus Versehen meinen nackten Bauch. Ganz plötzlich. Mir stockt der Atem, ich spüre, wie mein Bauch sich vor Schreck einbeult, gleichzeitig schießen heiße Atome durch ihn in meinen ganzen Körper. Erschrocken zucken wir beide zusammen, und als hätte er eine heiße Herdplatte berührt, zieht Yagami den Finger wieder zurück, unkontrolliert. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich gequietscht hätte oder so etwas. Dann steht die Peinlichkeit zwischen uns. Vor einer Stunde noch hätte ich mich ausgelacht für so eine Situation. Doch jetzt...jetzt ist auf einmal alles anders. "Komm." Seine Stimme weckt mich, wahrscheinlich schon zm dritten Mal heute. "Lass uns verschwinden. Ehe die Pause beginnt!" Er läuft drei Schritte, nickt mir dann zum Tor zu. Ich komme mir vor wie am Boden festgeklebt. "Warum? Und wohin?" Irgendwie geht das alles viel zu schnell. Mein Gehirn ist nicht fähig, soviel Information auf einmal zu verarbeiten, höchstens im Unterricht, aber da betrifft es mich selbst nie. Jetzt bin ich plötzlich mit allem überfordert, mein Herz rast als würde ich einen Marathon laufen und meine Nase tut plötzlich wieder weh. "Wir fahren nach Shinjuku. Damit du dir ein neues Hemd kaufen kannst." Äh was? Er nickt nochmal. "Ähm...was soll'n wir?" Ich muss rüberkommen wie der totale Idiot! "Du meinst schwänzen?" "Nenn es wie du willst." Es blitzt erneut ein Lächeln über das vernarbte Gesicht, huscht und verschwindet ebenso schnell wieder. Irgendwie gibt ihm das den Ausdruck einer multiplen Persönlichkeit. "Ich glaube jedenfalls nicht, dass du deinem Lehrer so entgegentreten willst, oder?" Ich bewege mich ein-zwei Schritte vorwärts. "Nein, das sicher nicht." Ich grinse blöde und muss kichern. "Na dann komm, Ishida!" Jetzt winkt er mich sogar mit der Hand. "Bevor es klingelt und wir erwischt werden!" Wir stürzen los, wetzen zur Schultür hinaus, über den asphaltierten Hof. Unter uns donnern die Schritte, seine viel mehr wegen den Schuhen, es ist als ob unser Atem uns auf zwei Meter folgt, hinter uns keucht. Als wir durch das Schultor laufen, erfasst mich eine Welle aus Sonnenlicht. Über mir in den Bäumen höre ich das bekannte "Zissit", klingt auch ein bisschen wie "Tschilp". Als ich auf Yagami schaue, der neben mir läuft, erkenne ich den wiegenden Schritt nicht mehr. Er ist ganz Läufer geworden, ganz Jäger. Ich bin mir sicher, er hat seinen Schritt dem meinen angepasst. Ich denke daran, wie schnell seine Bewegungen vorhin bei Honda waren, wie präzise und blitzhaft er losgesprintet ist. Wir gelangen genau zur richtigen Zeit an die Bushaltestelle, denn just fährt ein Bus in Richtung Bahnhof vor. Mit letzter Mühe und für mich rekordmäßigem Sprint schaffe ich es, in das Gefährt zu springen, genau hinter Yagami. Es ist, als ob wir jetzt geächtet sind. Sollte uns jemand in der Stadt aufgreifen, ein Polizist oder sowas, ist es sicher aus. Wir sind in dieser Sekunde so etwas wie Vogelfreie geworden. Und es fühlt sich einfach nur aufregend an. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag genau so verläuft? Wir lassen uns auf die Sitzpolster fallen, die genauso ekelhaft grün sind wie mein Blazer. Es scheint, diese Farbe verfolgt mich. Außer Atem stütze ich mich am Sitz vor mir ab. Mein Bauch meldet sich wieder mit einem dröhnenden bollernden Schmerz. Und doch bin ich froh. Ich bin wirklich heilfroh, dass Yagami mir vorhin geholfen hat. Der sitzt neben mir, streift sich den Rucksack vom Rücken. Er wirkt nicht gefährlich. Kein bisschen. Es sind die Sekunden, die über das Leben entscheiden. Nicht die Jahre, nicht das ewig langsame Dahinkriechen der Zeit. Es sind kurze Momente, Augenschläge, denn das Leben ist Bewegung. Drei Sekunden verpasst und du wirst nicht mehr froh. Drei Sekunden lang gehandelt und dein Leben wendet sich zum Licht. Zeit ist manchmal erbarmungslos. Es scheint, das Leben habe von ihr gelernt. Mein Sitznachbar lehnt sich ein Stückchen zurück, als ich zu ihm hinübersehe. Und im nächsten Augenblick lächelt er, länger als gewohnt, und wirkt so alles andere als ein Freak. "Du wolltest doch eben was wissen." Der Bus rollt die Straßen entlang, ein wenig bollernd, so dass es meinem Bauch wehtut. Aber vielleicht muss man das als Geächteter ertragen. Ich weiß nur dass ich innerlich mit ihm mitlächle. Ein Lächeln inmitten des überströmenden Lichtes unserer Herbstsonne. "Mein Name ist Taichi." To be continued... Kapitel 2: Shinjuku, later- mysterious boy ------------------------------------------ Autor: Tsutsumi Titel: Vogelfreiheit Kapiteltitel: Shinjuku, later- mysterious boy Teil: 2/3 Warnung: Shounen Ai, OOC, sappy, kitsch der besten Sorte^^", Yamatos POV Pairing: Taito/ Yamachi Disclaimer: Taichi, Yamato und andere aus Digimon auftauchende Figuren gehören nicht mir, sondern zu Bandai und Toei Animation. Ich bekomme kein Geld hierfür. Feedback: Immer gern gesehen^^ Kommentar: Nun, da bin ich zur Abwechslung schnell gewesen mit der Fortsetzung. Ich möchte mich ganz lieb bei allen Kommentarschreibern bedanken, besonders bei denen ich mich bisher nicht bedankt habe (Sorry!). Außerdem muss ich zugeben, dass ich den Weg von Odaiba nach Shinjuku, das heißt, von einem Außenbezirk zu einem in der Mitte von Tokyo, nicht wirklich kenne. Ich bin zwar selbst da gewesen, nur habe ich mir die Route nicht behalten. Einiges an dem Weg ist also nicht wahrheitsgemäß, ich hoffe, man ist mir deshalb nicht böse.^^" Weiterhin bitte ich euch, Rechtschreib- und Grammatikfehler zu entschuldigen, die mir beim Korekturlesen entgangen sind. oO Und wieder einmal kann ich mich nicht kurz fassen, so dass die FF dann doch drei Teile haben wird, vorraussichtlich. So, soviel dazu, ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!^^ Widmung: Gewidmet ist dieser Teil: Maddle, Selia und Rei17. Als Dank für all das, was ihr für mich getan habt und noch immer tut. Vogelfreiheit Phase2: Shinjuku, later- mysterious boy Um von Odaiba, was außerhalb der Innenstadt Tokyos auf einer Art Insel liegt, zu kommen, muss man mit der Bahn fahren. Oder man nimmt das Auto oder ein Taxi und fährt über die Rainbow-Bridge. Da uns das letztere aber zu teuer ist, sitzen wir in der Bahn, die jetzt in der Mittagszeit noch relativ leer ist. Uns gegenüber hockt nur ein Mädchen, das an seinem Handy herumfummelt. An dem Telefon hängen mindestens fünf Kitty-Anhänger und ich kann nur daran denken, was für ein Verbrechen ich hier gerade begehe. Schule schwänzen. Wenn mein Vater das wüsste, wär die Hölle los. Sein Standpunkt ist, dass er ja auch nicht die Arbeit schwänzt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er mit einem zerlöcherten, dreckigen Hemd in den Sender gehen würde. Nun, ich nehme an, er würde es versuchen, aber gleich wieder rausgeschmissen werden. Es darf niemand erfahren, was jetzt passiert, sonst bin ich bald so gut wie tot. Neben mir sitzt Taichi, dessen Namen ich vorhin erfahren habe, starrt vorbei an mir, aus dem Fenster. Unter uns ist das Meer, wir können es nur nicht sehen. Und trotzdem scheint er zu versuchen, das ewige Blau unter uns zu sehen, wenigstens einen kurzen Augenblich darauf zu werfen. "Wegen mir verpasst du jetzt auch Unterricht." murmele ich verlegen. "Daran hab ich vorhin gar nicht gedacht. Tut mir echt leid!" Ich schaue ihn bewusst nicht an, sondern zum mausgrauen Boden. Kann sehen, wie er einen dieser schwarzen Schuhe leicht verschiebt dort. "Das macht nichts." Jetzt muss ich doch hochgucken. "Die sind sowieso alle froher, wenn ich nicht da bin." Ein Tunnel. Als wir in das Schwarz hineinsausen, wird mir übel dort, wo es vorhin so schön warmgeworden ist. Erst Sekunden später werden die Lichter im Wagon angehen- solange sitze ich da, versuche, den geschockten Ausdruck wieder aus meinem Gesicht zu kriegen, ihn wenigstens mit der Hand wegzuwischen. Doch es gelingt mir wohl nicht, meine Gesichtsmuskeln sind wie erstarrt, als das Licht angeht und wir überflüssigerweise kurz darauf aus dem Tunnel draußen sind. "Das..ähm...wieso?" ist alles, was ich stotternd herausbringe. Dabei weiß ich es doch genau. Ich fühle mich scheinheilig, möchte einfach aussteigen. Der Blick der klaren, braunen Augen trifft mich. "Guten Tag, dürfte ich wohl die Fahrkarten mal bitte sehen?" Durch die Tür des Wagons rechts von uns quetscht sich ein Persönchen in dunkelblauer Uniform und schulterlangen Haaren. Ich weiß nicht warum, aber die stellen für diesen Job immer die zierlichsten Frauen ein, die ich je gesehen habe. Man möchte ihnen am liebsten gar nicht den Fahrschein präsentieren, weil man Angst hat, sie könnten zerspringen oder zerbrechen. Im Affekt muss ich mir vorstellen, wie es ist, wenn so ein Frauchen versucht, Typen wie Honda zu kontrollieren. Grausig! Naja, vielleicht kann sie Karate oder Judo. Ich krame umständlich meinen Fahrschein aus der Hosentasche. Sie schaut mich nicht an, sondern nur auf das zerknitterte winzige Stückchen Papier, dann wandert ihr Blick rüber zu Taichi, kontrolliert den Schein ebenfalls. Im nächsten Moment habe ich den Eindruck, dass sie am liebsten einen Schritt zurücktreten möchte. Ich glaube, sie hat ihm ins Gesicht gesehen. Der nächste Tunnel verschluckt die Bahn. Neonähnliches Licht strahlt auf uns herab. Irgendwo bumst etwas, eine Wagontür oder so etwas. "Vielen Dank!" sagt die Kontrolleurin menchanisch und läuft langsam weiter. Ihre Pumps machen klackende Geräusche. "Hast du gemerkt?" raunt Taichi leise. "Genau deswegen." Mein Kopf schnellt herum. "Weswegen?" Wie war das mit dem Blick einer Milchkuh vor'm Melken? "Menschen machen sich selten die Mühe, hinter die Fassade zu schauen. Sie sehen mein Gesicht und schließen auf Dinge, die nur in ihren Köpfen Realität werden." Er starrt schräg an mir vorbei und ich merke plötzlich, dass sein Mund gar nicht mehr so verkrampft schmalgezogen ist. Ich versuche ganz vorsichtig, in seine braunen, leuchtenden Augen zu schauen, die so voll sind von einer Kraft und einer Tiefe, die mich faszinieren. Die ich gern erforschen würde. Doch als ich in diesen Augen versinken möchte, fühlt er sich wohl von mir angeglotzt und wendet sich mir zu. "Deswegen..." beginnt er leise und lächelt ein bisschen selbstspöttisch, "...hat es mich verwundert, dass du vorhin hinter mir hergelaufen bist aus der Toilette." Ich glaube, diese Begegnung mit dem Vogel vorhin hat so etwas wie meine Sinne geschärft. Zwischen Taichi und mir gibt es etwas; es ist keine Spannung, kein verknüpfendes Band oder ähnliches. Doch es gibt da etwas, was uns seit eineinhalb Stunden auf seltsame Art und Weise zusammenhält. Meine Faszination für ihn. Seine unbeholfene Art, als würde er sich öffnen wollen, aber weiß nicht, wie. Er ist warm und freundlich auf der einen Seite...und abweisend und unnahbar auf der anderen. Und alle paar Sekunden wechseln diese beiden Seiten sich miteinander ab. Was soll ich tun? "Ich...naja..." Ich streiche mir die Haare hinter's Ohr, wie gewohnt, wenn ich nervös oder ratlos bin, gucke ihn an. Ich kann ihm schlecht sagen, dass ich mich einfach für ihn interessiere. Dass er mich fasziniert. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich hinter das Mysterium seiner Person steigen möchte, das Geheimnis um seine Narbe und seinen katastrophalen Ruf lüften möchte. "Ich...war nur so perplex, dass du mir geholfen hast." Irgendwie klingt diese Formulierung missverständlich. Scheiße! "Ich meine", schiebe ich schnell hinterher, "Ich meine, ich hätte nicht damit gerechnet, dass jemand zu genau dieser Zeit auftauchen würde! Und...ich war so...so...überrascht, wie stark du bist." Das ist nicht gelogen. Vor meinem geistigen Auge wiederholt sich dieser Augenblick immer wieder. Wie Taichi wie ein Derwisch lossprintet, den Überraschungsmoment ausnutzt und den Baseballschläger mit voller Wucht in Hondas hässliche Nase rammt. Ein Bild für Götter! Es ist, als hätte Yagami mich wie so ein Hollywood-Held gerächt. Bei dem Gedanken spüre ich das Kribbeln wieder in meinem gepeinigten Magen. Ich beginne zu lächeln. Und Taichi...Taichi sieht verdammt verlegen drein, so sehr er es auch versucht zu verbergen, ich spüre es trotzdem. "Wenn das ein Kompliment sein soll...dann...naja...dankeschön." Ich glaube, er möchte schmunzeln. Doch er tut es einfach nicht. "Woher..." Um die Situation aufzulockern, beginne ich in meinem Rucksack zu kramen. Die Schläge und Tritte in meinen Bauch haben denjenigen noch immer betäubt. Ich weiß nicht, wonach ich suche. "...hattest den Baseballschläger eigentlich?" Ich sehe beschäftigt drein, gucke auf die Übersichtstafel der Stationen. Bald müssen wir umsteigen, in die S-Bahn nach Shinjuku. Darüber bin ich irgendwie froh. Auch wenn ich keinen Anhaltspunkt dafür habe, in mir sitzt die Angst, dass, wenn wir uns nicht bewegen, Taichi und ich in unseren Gesprächen erstarren werden. Auch wenn er im Moment mehr redet als je zuvor. Aber um das einschätzen zu können, kenne ich ihn wirklich noch nicht lang genug. "Wenn ich dir das sage, glaubst du's mir bestimmt nicht." Wieder dieses selbstspöttische Grinsen. "Nun, auf einen Versuch lass ich es immer ankommen!" Da, jetzt hab ich sie! Meine Hand im Rucksack hat nach der Bonbontüte gegriffen, die ich Taichi jetzt unter die Nase halte; "Möchtest du?" Irgendwie komme ich mir vor wie ein kleines Kind, dass einem größeren Freund imponieren will. Ich habe nicht nachgedacht über das, was ich tue, einzig und allein möchte ich Taichi nur zeigen, dass ich nicht so wie die anderen Klatschmäuler bin. Sondern dass ich ihn ohne Vorurteile kennenlernen möchte. Besser gesagt versuche, die Vorurteile aus meinem Gedächtnis zu verdrängen, was gar nicht mal so leicht ist. Total perplex starrt Yagami auf die Tüte mit den Sahnebonbons vor seiner Nase. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie sich seine Hand hebt, ich sehe feingliedrige, schlanke Finger. Sie berühren ganz flüchtig meine Hand, die das Papier hält. Und wir zucken beide zusammen- nur minimal- und doch unendlich verlegen. Denn seine Haut fühlt sich ganz weich an... so wie die meines kleinen Bruders Takeru, als er noch ganz klein war. Ein dummer Vergleich, ich weiß. Aber es ist nun mal so... Ich fühle mich seltsam... Taichi fischt ein Sahnebonbon aus der Tüte und lächelt kurz und schief. Ich liebe es, das weiß ich jetzt schon, wenn er lächelt. So furchteinflößend diese Narbe auch aussieht, wenn sie sich beim Grinsen verzieht, sieht es irgendwie aus, als würde sie mitlächeln, denn sie formt sich an der Wange ein klein wenig nach oben- wie ein lachender Mund. Mist, wieder ein dummer Vergleich. Ich bin wieder hoffnungslos romantisch und verloren. Ohne fassen zu können, was in diesen Minuten mit mir geschieht, sitze ich hier und strahle in seine Augen. "Danke!", sagt Taichi, seine Finger ziehen an den Enden des Bonbonspapieres, damit sich dessen Mitte aufrollt. Ganz akribisch tut er das, mit dem Blick nach unten gerichtet. "Der Baseballschläger war ausgeliehen vom Sportlehrer. Meine Schwester hat gestern mit ihren Freunden im Park Baseball gespielt. Eigentlich wollte ich das Ding vorhin nur schnell zurückbringen." "Ach so." Ich krame die Tüte zurück in den Rucksack. "Was wäre gewesen, wenn du den Schläger nicht dabei gehabt hättest?" Ich muss an das arme Ding denken, was jetzt auf dem Sandboden am Turnhallenrand verstaubt, stiefmütterlich zurückgelassen. Meine blutende Nase war wichtiger vorhin. "Dann hätte ich meine Fäuste benutzt!" Ich bebe kurz zusammen unter diesen Worten. Die helle Taichi-Stimme war kalt eben, hart und so gar nicht wie bis vor zehn Sekunden. Als ich vom Rucksack aufschaue, in sein Gesicht, spiegelt sich in seinen Augen die Leere wieder, die schon vorhin bei Honda an die Oberfläche kam. Nur für eine Sekunde, doch sehe ich sie. Und sie macht mir Angst, impliziert mir eine Seite an Yagami, die wohl dafür zuständig ist, dass es soviele furchtbare Gerüchte über ihn gibt. Oder haben letztendlich die Gerüchte...diese Seite an ihm erschaffen...? "Das...wär wohl- wär wohl so gewesen." entgegne ich mit blutleerem Kopf und nachdenklichem Ton. Dieser Kerl ist ein Mysterium. Niemand an der Schule wäre imstande, mir seine Geschichte zu erzählen, denn niemand kennt sie. Auf der anderen Seite gibt es sicher ein paar Leute im Jahrgang, die sich nicht von Gerüchten blenden lassen. Das Blöde ist nur, wer sich auch nur in der Nähe von Taichi aufhält, wird gehänselt und verarscht. Ich weiß noch, wie es mit Sora war. Sie hat Schnupfen gehabt und war beim Naseputzen wegen ihrer tränenden Augen halb in ihn hineingerannt. Ich höre die bescheuerten Kommentare noch immer. Warum sie sich mit dem Freak abgäbe. Ob sie Gruselkabinetts möge. Lebensmüde sei. Es ist kein Wunder, dass Yagami so eine unberechenbare, hasserfüllt scheinende Seite an sich hat. Er ist ganz allein. Genau in dem Moment beugt er sich ein wenig vor und ich sehe, wie seine Zunge im Inneren des Mundes das Bonbon von einer Wangenecke in die andere schiebt. "Du hast kein Bonbon genommen." stellt er fest. Und klingt wieder normal, so dass ich Luft bekommen kann. "Ist dein Bauch okay?" Wenn ich ihm sagen würde, jetzt, hier, wie lieb er gerade aussieht, ob er mir böse werden würde? Ich schaue ihn an und fühle mich verzaubert. "Wir rennen jetzt nicht mehr. Das hat dir vorhin bestimmt nicht gut getan. Tut mir leid!" Ich nicke, ich lächle und fühle mich wie abgehoben, als ob ich an der Decke des Zuges schwebe. Jetzt, in diesem Augenblick, würde ich Taichi alles verzeihen. Wir steigen aus, laufen das Bahnhofslabyrinth entlang. Drei Treppen hoch, um die Ecke. Jenseits der Rush Hour ist das erträglich. Weil wir von einer Bahnart zur anderen wechseln, brauchen wir einen neuen Fahrschein. Als ich mich am Automaten anstelle, in den Jackentaschen nach meinem letzten Kleingeld krame, merke ich nur nebenbei, wie Taichi sich einen Automaten mit einer kürzeren Schlange sucht und sich dort anstellt. Gerade als ich ihm folgen will, legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich quietsche auf. "Schrei nicht so!" feixt es neben mir und ich habe Mühe, das Geld in meinen Händen zu behalten. Taku, ein Kerl aus meiner Klasse, steht da und grinst mich dämlich an. Ich muss wohl heute früh übersehen haben, dass er auch nicht da war. An seinem linken Arm prangt ein Gips, der Freitag noch nicht dagewesen ist. Typisch Taku! "Und, schwänzt du grade schön?" Er lacht dreckig, so dass ich ihm nur mein Hemd zeige; "Ich hatte eine unangenehme Begegnung heute früh." "Oha!" Wieder lacht der Typ. Mein Gott, was haben die dem eingeflößt, dass der nur gackert? Zum Spaß steckt er auch den Finger durch die zwei klaffenden Löcher, jedoch bei weitem unsensibler als Taichi es vorhin gemacht hat. Seine schwarzen kleinen Augen glitzern amüsiert, während ich mühsam in der Schlange aufrutsche, ihn mitzerrend. "Eine Begegnung der dritten Art also! Lass mich raten, du bist dem Narbengesicht über den Weg gelaufen!" Sensationslüsternd glänzt sein Gesicht. Also entweder der Kerl war schon immer so ein Idiot und mir ist es noch nie aufgefallen, oder der hat beim Arzt, von wo er höchstwahrscheinlich herkommt, zuviel Lachgas bekommen. "Ja, so kann man sagen.", erwiedere ich, rutsche vor, stehe am Automaten und werfe die Yen-Münzen ein um mir den Fahrschein zu ziehen. "Zum Glück, denn er hat mich gerettet!" Weil ich nach vorn sehe und nicht zur Seite, kann ich es nicht sehen, aber ich spüre genau, wie Taku das Grinsen aus dem Gesicht flutscht wie grüner Glibber. "Was?!", grunzt er. "Wieso sollte der jemanden retten?!" "Wieso sollte er nicht?", gebe ich zurück, ziehe das Stückchen Papier aus dem Automatenschlitz und beginne, mich wieder nach hinten zu kämpfen, von wo ich kam. Taichi steht ungefähr zehn Meter weiter weg, wo ihn niemand umrennt. Stapfend folgt Taku mir, pustet die Wangen mit Luft auf, grinst verwirrt; "Nee, Yamato, hör auf mich zu verarschen! Der Freak würde doch nie jemandem helfen, dazu ist der viel zu aggressionsgesteuert!" Prustend, wie eine Klette, hängt Taku an mir und erst als als er aus der Menschenmenge tritt und Taichi vor sich sieht, bleibt er wie angewurzelt stehen. Zu dumm nur, dass er mich am Ärmel packt und festhält. "Yamato, guck doch mal, da steht er ja!" Totales Entsetzen! Wenn ich es mir erlauben würde, würde ich jetzt schallend loslachen. Ich drehe mich um zu meinem Klassenkameraden; "Ja, wir fahren nach Shinjuku, damit ich mir ein neues Hemd kaufen kann. Honda hat's mir nämlich vorhin...naja...zu einem Wischlappen verarbeitet, das meinte ich mit der unangenehmen Begegnung." Takus Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig; "Du hängst mit Yagami rum? Nein falsch, du schwänzt mit ihm?!" Ich verdrehe die Augen. Hallo, Intoleranz! Wortlos drehe ich mich wieder um. Taichi steht noch immer da und seine Augen sind akribisch auf uns gerichtet, als würde er im Inneren kalkulieren, was jetzt geschieht. Sein Mund...ist schon wieder so schmal. Ich habe nicht vor, mich länger mit Taku, dem Idioten, abzugeben. Und während ich mich in Bewegung setze, scheint Taichi ein paar Meter vor mir aufzuatmen. Nicht sichtbar. Aber ich kann es spüren. "Wenn du dich mit dem Freak da abgibst, weiß das sicher bald die ganze Jahrgangsstufe!" krächzt Taku hinter mir. "Schön!" , rufe ich zur Seite. "Das wäre ja wieder ein Beweis dafür dass die Buschtrommel funktioniert!" Wenn ich angeblich sowieso schon eine Schwuchtel bin, verschönere ich dieses Gerücht lieber noch damit, dass ich mit Yagami, dem "Terminator" zusammen irgendwo rumlaufe. Mein Gott, Odaiba wird untergehen! "Alle werden unsere Klasse niedermachen! Weil alle denken, wir hätten ebenfalls was mit dem zu tun!" Verdammt, was will dieses Insekt von mir? "Also komm, lass uns gehen, Yama!" Taku hat eine Stimmlage drauf, deren Schall die ganze Bahnhofshalle ausfüllt. Es ist faszinierend wie er das schafft, wo er doch im Unterricht so leise ist. Unbeeindruckt, wie ich mich gebe, und Taku den Rücken zugedreht, wispere ich Taichi ein "Lass uns abhauen, ehe der zur Hysterie ansetzt!" zu. Einen Augenblick später spüre ich plötzlich eine Hand, die mich am Ellenbogengelenk fasst. "Yamato!", plärrt Taku und so langsam wirkt er nicht mehr nur penetrant, sondern vielmehr bösartig. Ich verstehe das alles nicht mehr. Was läuft hier eigentlich? "Wenn du jetzt mit dem weggehst...dann sage ich dem Klassenlehrer, dass du schwänzt, dass du dich ohne Erlaubnis in der Stadt bewegst und dass du dich geprügelt hast." Hektisch und chaotisch ausgesprochen wirkt diese Drohung zwar psychologisch nicht ganz so effektiv, doch es reicht. Einen Lidschlag später spüre ich wieder Taichis unglaubliche aufwallende Kraft und Geschwindigkeit, mit der er Taku unsanft am Hemdkragen packt. Und mein Herz bleibt stehen. Ich friere ein, kann nichts tun. "Wag das und du kannst dir noch drei Gliedmaßen mehr eingipsen lassen!", knurrt Taichi. Seine Hände zittern, was nur ich sehen kann. Es ist, als ob die Wut ihn schüttelt und erbeben lässt. Die Ruhe, die er vorhin bei Honda und den anderen an den Tag legte, fehlt. Er muss wirklich aufgebracht sein. Was passiert? Die Bahnhofshalle dreht sich um uns drei, die Menschen und ihre Farben verschwimmen ineinander. Ich höre eine Ansage über Lautsprecher und das Hallen von tausenden Schritten gleichzeitig auf dem Boden und doch ist es, als würde ich abgeschaltet danebenstehen. Ich weiß, dass Taichi nicht nur droht. Mit dieser seltsamen Kraft, die scheinbar aus dem Nichts auftaucht, könnte er Taku wirklich etwas brechen. Wo ist Taichi hin, der Sahnebonbons lutscht und mich anlächelt? Wo ist Taichi, der freundlich und klar wirkt? "Lass mich los!", japst Taku und Taichis Gesicht verhärtet sich nur noch mehr. Die schlanken Finger haben sich richtiggehend in das weiße Hemd des anderen verhakt, so sehr dass das Fleisch unter den Fingernägeln weiß aussieht. Genau in diesem Moment erwache ich aus meinem Schwindel. "Taichi, lass ihn los!", krächze ich, als sei ich heiser, versuche, dazwischen zu gehen. Ich will solche filmreifen, theatralischen Sätze wie "Er ist es nicht wert!" oder "Mach dir die Hände nicht schmutzig an ihm!" einwerfen, was mir aber zu blöde ist. Letztendlich kann ich nur stottern: "Mir ist es egal, ob der petzt oder nicht, aber...aber lass ihn los!" Zwei Paar dunkle Augen starren mich an, halb entsetzt, halb überrascht. Ich grinse. "Der Klassenlehrer hat sowieso heute früh zu mir gesagt, dass der Unterricht warten kann!" Taku guckt mich an, als hätte man ihm irgendwas reingewürgt, eine Zitrone oder sowas. Taichi sagt nichts, doch es braucht Zeit, bis er die Finger lösen kann, bis er die Hände wieder in die Taschen des schwarzen Blazer versenkt und die Szene mit schmalem Mund verfolgt. "Du tickst doch nicht ganz richtig!" bemerkt Taku entsetzt. "Vielen Dank auch!" kontere ich. "Das Kompliment kann ich nur zurückgeben!" "Wenn du dich mit...mit...", vorsichtiger Seitenblick zu Taichi, "...mit Yagami rumtreibst, bist du genau so'n Freak wie er! Und sollte die Schulleitung erfahren, dass du schwänzt, gibt das wenigstens einen Tadel! Öffentliche Anprangerung, du weißt ja wie das ist! Und ich glaube, du hast keine Lust, bei der nächsten Wochenversammlung vorgeführt zu werden!" Ich stecke langsam die Hände in meine Hosentaschen. Wie bescheuert muss man sein, um angesichts der Drohung, zurück ins Krankenhaus zu kommen, immer noch blöde Drohungen zu versprühen? Es wäre zum Totlachen. Eigentlich. "Jetzt hör mir mal zu!", setze ich entnervt an; "Von mir aus, geh hin, erleichtere dein verlogenes Gewissen! Von mir aus nehm' ich den Tadel, von mir aus lass ich mich vor der ganzen Schule als Individuum von beispielslosem Benehmen und Unverantwortlichkeit bezeichnen!" Ich glaube, ich bin eben einen Schritt vorwärts gegangen. Kaum zu glauben! "Fakt ist, dass ich ein neues Hemd brauche, würde ich so da antanzen, würde ich auch 'nen Tadel bekommen. Und wenn du so engstirnig und blöde bist, mich zu verpetzen, nur weil ich mit Yagami hier bin, dann kann ich wohl nichts dagegen tun." Um meine letzte Aussage noch zu betonen, zucke ich mit den Schultern. Ich lasse mich nicht bedrohen und schon gar nicht von Taku, den ich bis dato als viel liebenswerter und ehrlicher eingeschätzt hätte. "Tz!" macht der, streicht sich mit der rechten Hand über den Gips. "Du musst wissen was gesund für dich ist!" "Das weiß ich auch, vielen Dank!" belle ich. Wir verschwinden aus dem Bild, einen Bruch zurücklassend, der so rabiat ist, dass es mir scheint, er habe den Bahnhofsboden aufgeborsten. Als hätte ein Erdbeben meine kleine Welt erschüttert. Ich ärgere mich noch immer, als wir schon längst in der S-Bahn Richtung Shinjuku, die schon etwas voller ist, sitzen. Mein Veilchen am Auge schmerzt, und selbst ohne hinzusehen, merke ich, dass es mit der Zeit wohl noch blauer geworden sein muss. Fünf Minuten lang sitzen wir da, gewöhnen uns an den Rhythmus aus Anfahren, leichtem Holpern auf den Schienen und Stoppen der Bahn. Taichi hat nichts mehr gesagt, seit wir uns, im Marschschritt schon fast, von Taku entfernten. Er sitzt neben mir, strahlt seine typische Wärme ab und ich weiß nicht, was los ist. Ich wusste bislang nicht, dass es so schlimm ist mit ihm. Es ist als ob Taichi vogelfrei ist- geächtet vom Leben, das ich und alle anderen kennen. Er ist vogelfrei und jedem Spott ausgeliefert. Doch anstatt es dabei zu belassen, machen sie aus ihm einen Gewalttätigen ohne Verstand. Dabei bin ich mir fast sicher, dass ich genauso angepisst von all diesen Idioten wäre. Vorsichtig schaue ich ihn an, betrachte das Gesicht, welches im Profil zu mir zeigt. Die feine Nase, das schmal wirkende Kinn, die großen braunen Augen, darüber in wilder Pracht die Haare. "Ta...Yaga..." Wie soll ich denn sagen? "Yagami... was is' los?" Wir gleiten in der Bahn dahin, um den Wagen herum nur schwarze Betonwände. Hier drinnen scheint das künstliche Licht, welches seine Haut noch brauner aussehen lässt. Plötzlich zschilpt die Bachstelze von vorhin wieder in meinem Kopf, ich kann das weiß-grau-schwarze Vögelchen sehen, wie es lebenslustig mit dem Schwanz wippt. Die Sonnenwärme kehrt zurück, taucht mich wieder in das Gefühl, in der Schönheit der Welt versinken zu können. Die kleinen Flügelchen schlagen, führen hinaus in die Freiheit. In meinen Gedanken. Über all dem dreht der Junge neben mir das Gesicht zu mir und im kalten Kunstschein glänzen die braunen, tiefen Augen feucht. Die Welt steht still, der Atem hält an, Sekunden ziehen sich zu Stunden. Ich spüre die Atome aller Dinge um mich herum, sie bilden einen Schleier, der nichts verbirgt, sondern scharfstellt. Die Schärfe dieser Augen, die so vollgepropft zu sein scheinen. "Weißt du..." Taichi spricht sehr leise, als hätte er Angst, sonst seine Stimme zu verlieren. "...du bist der erste seit drei Jahren, der zu mir steht!" Meine Augen, die sich weiten. Wo ist mein Puls? Davongeflogen? Ich sitze da und kann plötzlich nicht mehr denken. "I...ich...also ich ähm..." Er hat mich sprachlos gemacht. Das ist ziemlich schwer manchmal. Nun ja, vielleicht manchmal auch einfach, ich weiß es nicht. "Übertreib nicht!" wispere ich. "Ich hab doch gar nichts..." Ich kann nicht zuendesprechen. Er fasst plötzlich meine Hand an! Ganz genau kann ich seine warmen Finger, die sich eben noch in Takus Hemd gebohrt haben, fühlen. So furchtbar sanft, so furchtbar weich, dass es in mir bis zur Schulter hochkribbelt, dass es mein Herz erhitzt und seinen Puls fast schmerzhaft in die Höhe treibt. Ich kann nichts sagen. Es geht einfach nicht. Denn wenn ich jetzt meinen Mund aufmachen würde, würde ich die zerbrechliche Atmosphäre zerstören. Wie eine Melodie durchströmen mich die Wärmeteilchen. Wie Klaviertöne, denen ich so schnell verfalle... Eine Sekunde später lässt er mich plötzlich los. Schaut weg, blinzelt schnell hintereinanderweg, um die Tränen wahrscheinlich zu verdrängen. "Tut...tut mir Leid!" "Nein!" Die Bahn fährt wieder an, und als würden ihre und meine Bewegungen zusammengehören, ineinander überfließen, finde ich mich wieder, wie ich nach der Hand greife, die mich eben losließ und dem lichten Universum entrissen hat. Vertauschte Rollen, selbe Situation. Ich liebe diese braunen, großen Augen. Dieser Gedanke erfasst mich mit einem Mal, lässt mich nicht mehr klar denken. Ein Mysterium. Warum? Warum bin ich so verfallen? "Es soll dir nicht Leid tun!", sage ich schnell und eindringlich. "Ich konnte..." Ich muss tief Luft holen, "Ich konnte es nur eben nicht fassen, dass es niemanden gab, der zu dir gehalten hat." Klare, warme Herbstsonne eines Spätoktobers zerreißt das staubige Grau der anderen Fahrgäste. Und obwohl die S-Bahn zugehängt ist mit bunter, pinker Werbung, nehme ich sie erst jetzt in ihrer aufdringlichen Pracht wahr. Es ist, als ob ein frischer Luftstoß durch den Wagon fährt. Draußen leuchten rotgefärbte Bäume vorbei... "Und auch wenn ich dich noch so gut wie gar nicht kenne..." Ich umschließe ganz sanft diese Hand. Streiche mit dem Daumen über seinen Handrücken. "...ich möchte dass du mir vertrauen kannst. Auch wenn es schwer ist, denn wem kann man schon vertrauen in dieser Welt?" Ich glaube, ich kenne Taichi Yagamis Wesen in diesem Moment so gut wie nie zuvor. Seine aufglühenden, tiefen Augen verfallen in eine Sinfonie aus Leuchten, aus Strahlen. Ich weiß nicht, was mit uns geschieht. Er ist in sich selbst so unglaublich tief, dass ich den Gund seiner Seele wohl nie erforschen werde können. Er ist vertrauensselig, liebevoll, ich spüre es. Als ob diese Gefühle in ihm mit der Zeit vertrocknet und gestorben seien, steigen sie, von mir ungeahnt, wieder empor, stehen wieder auf. Ich möchte ihn umarmen und herzen, ihm durch die herrlich wuscheligen Haare fahren. Ich möchte einfach näher sein...näher an seinem Herzen. "Geehrte Fahrgäste, vielen Dank, dass sie mit unserer Linie fahren! Die nächste Station ist Shibuya. Bitte vergewissern Sie sich, dass sie nichts vergessen. Vorsicht ist geboten beim Ein- und Aussteigen." Die mechanisch hohe Frauenstimme dröhnt in meinem Kopf, so dass ich mich schon fast festklammere an Taichis Hand. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, noch nie so präsent gewesen zu sein. Und dieses dankbare Lächeln, während sich der Zug füllt mit Menschen, es immer voller wird. Dieses breite Lächeln, welches strahlt mit einer unglaublichen Intensität, mich halb von sich schleudert. "Hab vielen Dank...Yamato!" Tokyo ist im Grunde mein Zuhause mit all seinen weltbekannten und auch kleinen Ecken. Ich habe hier schon immer gwohnt und mich daran gewöhnt. In den Ferien zu meiner Oma aufs Land zu fahren, hat mich regelmäßig in eine andere Welt entführt. Ich finde mich nicht zurecht an Orten, an denen ein Bus nicht alle fünf Minuten fährt, an denen ich erst zwei Stunden bis zu einem Supermarkt fahren müsste, wo ich zu Hause doch nur einmal um die Ecke gehen muss. Tokyo ist mein und ich kenne es, wie ich mich kenne. Doch noch nie schien diese Stadt so schön wie heute! Wir steigen in Shinjuku aus und kämpfen uns durch den monströsen Bahnhof. Taichi will zuerst in die falsche Richtung, da greife ich geistesgegenwärtig, um ihn in der Menge nicht zu verlieren, nach seiner Hand. So wie eben im Zug. Ich glaube, wir werden rot darüber. Durch die Sperre, in die man seine Fahrkarte stecken muss um durchzukommen, vorbei an Kiosken. Überall piept und flirrt es, alle Gänge sehen gleich aus. Und doch bin ich oft genug hier gewesen, um mich zurecht zu finden. Shinjuku und sein Bahnhof gehören zum Herz der Stadt, selbst 3 Uhr nachts ist es hier brechend voll. Ich lotse Taichi schnell zum Westausgang, unter den Schildern für die Yamanote-Linie hindurch. Es ist laut, wir sprechen nicht miteinander- aber das ist wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht, denn zwischen uns steht noch immer eine unglaubliche Verlegenheit. Ich atme erst auf, als wir aus dem Untergrund auftauchen und ich wieder freien Himmel über mir habe. Zum Geschäft muss man nur noch drei Straßen weiterlaufen. "Ich bin hier so gut wie nie!" ruft Taichi mir auf der Straße entgegen. Irgendwo aus irgendeinem Lautsprecher dringt penetrante Hip Hop-Musik. "Warum das? Hier gibt es doch praktisch alles!" Ich mache eine werbereife, einladende Bewegung mit meinen Händen. Wir gehen über die Straße und damit wird auch der Krach, den mir so mancher als Musik verkaufen möchte, leiser. Vor uns trippeln hippe Damen in Miniröcken umher, gemischt dazu die typischen Büromenschen, Business-Frauen. Irgendwie passt Taichi von der Aufmachung zu ihnen. Nur ich nicht. Ich bin ein verwirrender, grüner Fleck in der Menge! "Schon." entgegnet Taichi mit leichtem Lächeln. "Aber ich will ja nicht alles." Staunend starre ich ihn an, beginne gleichzeitig, meinen Blazer aufzuknöpfen. Damit niemand die Löcher und den Teefleck darauf sieht, habe ich ihn vorhin nach der Begegnung mit Taki zugeknöpft. Womöglich hätte man mich sonst für einen Obdachlosen gehalten. "Stimmt." grinse ich. Ich glaube, die letzte halbe Stunde war meine Feuerprobe. Ohne es zu merken, habe ich mich Taichi bewiesen. Wer weiß, wie oft Leute sich schon von ihm distanziert haben, nur ihres Rufes wegen, nur um nicht selbst als Freak zu enden. Aber ich, ich bin lieber ein Freak als ein gefühlsloser, starrer Prolet. Und jetzt, jetzt scheint sich mir eine ganze Vielfalt anderer Seiten an ihm zu öffnen. Jetzt wo ich ihm das Vertrauen aberbeten habe. Das Geschäft, in dem ich mich neu einzukleiden gedenke, ist ein stinknormales. Im Schaufenster stehen Puppen, die mausgraue Kostüme und Krawatten mit Elefanten drauf tragen. Dazu sind sämtliche Sakkos ausgestellt, sogar ein Frack, das mich an Pinguine erinnert. Wie ich schon sagte, in Shinjuku bekommt man eben alles! Als ich kurz vor der elektrischen Tür stehe, merke ich, dass Yagami hinter mir stehengeblieben ist. Verwirrt drehe ich mich um. "Was is'?" Oh nein, das Gesicht kenne ich doch schon! Dieses verschämte, mit dem schmalgezogenen Mund. "Meinst du, ich sollte nicht lieber draußen warten?" "Nein, meine ich nicht." Ich ruckle am Rucksack herum. "Warum willst du draußen bleiben?" "Naja..." Er zuckt verlegen eine Schulter hoch; "...ich sehe nicht gerade elegant aus. Eher wie...naja... ein roher Schläger." Die tiefen Augen gucken mich ein bisschen verloren an. Ich stehe da, betrachte Taichi von unten nach oben. Diese schwarzen Schuhe, die bei näherer Betrachtung gar nicht mehr nach Schädel spalten aussehen. Die leicht verschlissen wirkende Hose, darüber der schwarze Blazer und...die Narbe im Gesicht. 'Wer konnte dich nur so strafen?' denke ich plötzlich. 'Wer konnte es nur wagen, dich für dein Leben zu zeichnen?!' Wer auch immer es war, ich entwickle gerade eine Riesenwut auf diesen Arsch. Nein, ich finde Taichi nicht hässlich, nicht im Geringsten! Es ist nur...es ist nur dass diese Narbe so verräterisch das zeigt, was irgendwo tief in seiner Seele vernarbt sein muss. Eine Wunde aus alten Zeiten. Ich zupfe leicht an meinem Hemd; "Ja und? Ich sehe aus wie'n Penner!" Er lächelt wieder, nein, es grenzt fast an ein Grinsen. Ich amüsiere ihn! "Außerdem musst du mir doch sagen, ob mir was gut steht oder nicht!" Der Herbstwind peift die geschäftige Straße entlang. Zerrt meine Gedanken mit sich fort. Ich habe vergessen, warum ich eigentlich losgegangen bin vorhin. Das Hemd? Warum bin ich hier? Was suche ich in den großen braunen Wunderaugen vor mir, im Herzen der Stadt? Noch ehe ich noch etwas anderes sagen kann, setzt sich Taichi in Bewegung und wir betreten die Welt von Samt, Seide, Prokat und...kratzigem Leinen. Drinnen spielt herrlich ruhige, komatöse klassische Musik und unsere Schuhe betreten einen rotschimmernden, samtenen Teppich. Taichi tritt sich mindestens fünfzig Mal die Schuhe ab, ehe er hinter mir herkommt. Irgendwie habe ich vergessen, wie es hier aussieht. Die Oberschule besuche ich jetzt im zweiten Jahr, das heißt, ich bin vor eineinhalb Jahren das letzte Mal hier gewesen. Aber gab es da auch schon so einen Teppich? Eine Verkäuferin kommt auf mich zugestürzt, als wolle sie mich gleich wieder rausschmeißen. Himmel, mit dem Penner habe ich wohl doch recht gehabt! "Kann ich Ihnen helfen?" Hinter mir kommt Taichi angestolpert und ich möchte angesichts dieser schrecklichen, pferdezähnigen Frau mal wieder in einen Lachkrampf verfallen. Das Chaotenduo in diesem piekfeinen Geschäft! "Das hoffe ich doch sehr!" sage ich höflich lächelnd. "Wie Sie sehen, brauche ich ein neues Hemd für meine Schuluniform." Die Frau nickt bedächtig und in ihrem Gesicht bildet sich der Ausdruck einer kinderfressenden Hexe heraus. Taichi, hilfe! "Ach so, ich verstehe. Wenn Sie mir dann bitte folgen würden?" Natürlich, immer doch. Wir werden nach hinten geführt, in eine nicht ganz so nobel ausgestattete Ecke. Wahrscheinlich hortet man hier das extra-kratzige Zeugs, welches für Schuluniformen verkauft wird. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass diese Hemden mir bei den ersten Malen Tragen den Rücken aufscheuern. Schon beim ersten Hinsehen atme ich innerlich erleichtert auf, weil ich die Preise sehe und weiß, dass mein Geld reicht. Zur Not habe ich immer Geld mit in der Schule, falls ich mal wegen meiner Mathezensur über die Landesgrenze flüchten muss oder mir notfalls eine Fünf in Physik schönsaufen möchte. "Welche Größe haben Sie denn, mein Herr?" fragt die Verkäuferin bärbeißig, während sie an den Resten meines alten Hemdes die Sorte, Marke, was auch immer zu erkennen versucht. Ich beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe. "Also so genau weiß ich das jetzt gar nicht...öhm.." "Nun, in dem Fall gebe ich Ihnen mal eine mittlere, eine größere und..." Ihre Finger gleiten flink über die Stangen, an denen die Bügel mit den Hemden hängen. Das sieht sehr professionell aus, dennoch versuche ich, mich davon nicht beeindrucken zu lassen. Nochmal schaut sie mich herablassend an. "Naja...versuchen Sie's erstmal damit!" Warum kriege ich keine kleine Größe? Sehe ich etwa so fett aus? Mit den mir in die Hand gedrückten Sachen drehe ich mich prüfend im großen Spiegel vor mir. Nebenbei fällt mir mein zum Glück nur leicht schimmerndes, angehauenes Auge auf. Taichi hinter mir schaut irritiert der davonrauschenden Verkäuferin hinterher. "Soll ich deinen Rucksack nehmen?" fragt er dann. "Ja, danke!" Ich blinzle ihm im Spaß zu, ehe ich mich in der Umkleidekabine, die neben dem Spiegel steht, verziehe. Ganz schnell reiße ich mir den Blazer ab, knöpfe dann mein rampuniertes Hemd auf. Endlich raus aus dem noch immer klammen Teefleck! Raus aus dem Staub und den Mäuselöchern! Erleichtert atme ich auf, hänge das Hemd an einem der unnatürlichen Löcher am Kleiderhaken an der Kabinenwand auf, ehe ich vorsichtig in das größere der beiden neuen Teile schlüpfe. Vorsichtig die Knöpfe zuklamüsernd, zerre ich daraufhin den Vorhang zur Kabine auf, um mehr Bewegungsfreiraum zu haben. Im nächsten Moment sehe ich im Spiegel, dass mir das Ding viel zu groß ist. "Mist!" "Was denn?" Taichi, der seinen Rucksack absetzt, dreht sich zu mir herum, starrt mich an. Und dann passiert etwas Unglaubliches. Er fängt an zu lachen! Ich kann es kaum glauben. Aber tatsächlich schaut mich Taichi absolut amüsiert an, mit aufgerissenem Mund und lacht. Nicht sich ausschüttend und auch nur leise, aber er tut es! Und plötzlich sind Schmetterlinge in meinem Bauch, donnern durch meinen Magen, flimmern hoch in meinen Hals, so dass ich Angst habe, man könne sehen, wie sie durch meinen erstaunt geöffneten Mund flattern. Weiß-durchsichtige Schmetterlinge, die ich vorhin selbst sah... Mein Herz schlägt so laut...so unglaublich laut. Ich spüre sein Pochen bis tief in den kleinen Zeh. Taichi hat eine Zahnlücke. Das sehe ich jetzt erst, und es erschreckt mich. Dort, wo eigentlich sein rechter oberer Eckzahn sitzen sollte, ist ein schwarz wirkender Zwischenraum, glotzt mich an. Ich mache mir Vorwürfe, denke, ich hätte das schon viel früher merken sollen. Gleichzeitig macht mir diese Entdeckung Angst, unglaubliche Sorgen. Vielleicht gibt es an seinem Körper noch mehr Spuren, noch mehr Narben, noch mehr Wunden, noch mehr Löcher! Vielleicht fehlt ihm ein Zeh und ich weiß es nicht. Diese Erkenntnis bohrt in mir wie ein übergroßer, schwarzer Stachel. Ich spüre, ich könnte es nicht ertragen, noch mehr Spuren einer schwarzen Vergangenheit an ihm zu entdecken. Völlig verstört starre ich ihn an, während Taichi sich schnell beruhigt. Manchmal ist er mir generell zu schnell. Er hat eine unglaubliche Lebengeschwindigkeit, dagegen wirke ich wie eine lahme Schnecke. "Entschuldige!" Er grinst. "Aber du siehst so verloren da drin aus!" Ich drehe mich mit einem Gefühl, mich nur langsam wieder sammeln zu können, um. Starre in den Spiegel. Das hilft, denn ich sehe wirklich lachhaft aus. Das Hemd schlottert um mich wie ein Segel, als würde ich Don Juan spielen wollen oder so etwas. Ich hab doch gleich gewusst, dass ich nicht fett bin! "Wohl wahr", pflichte ich Yagami bei. "Dann werde ich wohl mal in das engere Gewand schlüpfen!" Ich mache eine theatralische Geste und verschwinde wieder hinter dem Vorhang. Zugleich stempelt sich in meinem Gedächtnis das Gesicht des lachenden Taichi ab. Der Eindruck, dass die Narbe dabei mitgelacht hat, ist wieder da, denn sie verzog sich noch einmal mehr nach oben auf der Wange. Ich stehe da im schummrigen Kabinenlicht, knöpfe das Teil wieder auf, in dem ich drinstecke, und denke darüber nach, ob sie ihm wohl noch wehtut. Und ob man sie nicht operativ entfernen könnte. So etwas habe ich mal gelesen, obwohl mir der Gedanke, eine Narbe zu operieren, bizarr vorkommt. "Sag mal...!" spreche ich laut vor mich hin. "Ja?" kommt es dumpf von draußen. "Woher kennst du eigentlich meinen Namen?" Der letzte Knopf zickt, ich zwacke ewig lang an ihm herum, ehe ich ihn aufbekomme. Es riecht süßlich in der Kabine, wie einparfümiert. Ich hänge das Zelt wieder an den Bügel und wende mich dem anderen zu. "Also..." Taichis Stimme klingt dumpf. Es ist seltsam, seine Stimme zu hören, ihn aber dabei nicht zu sehen. "Jeder an der Schule kennt dich doch!" Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen herunter. Der metallene Aufhängegriff des Bügels fühlt sich kalt an. "Ich glaube eher nicht, erst neulich stand ein Typ aus unserer Stufe vor mir und fragte mich, ob ich neu bin." Vorsichtig schlüpfe ich in das Hemd, ziehe es an den Schultern glatt. Und wieder Knöpfe. "Aber deine Band..." "Du kennst meine Band?" "Kennt die nicht jeder?" Langsam klingt er als fühle er sich ertappt. "Mitnichten." Ich lache kurz. Dass ich eine Band habe, ist richtig, jedoch ist sie nur bei einigen Leuten bekannt. Die Schulleitung weigert sich bis dato, uns auf Schulfesten auftreten zu lassen. Wahrscheinlich hält man uns für Rowdies, wie alle Welt Taichi für einen Schläger hält. Obwohl...daran etwas Wahres sein muss. Ich zupfe an den Seiten des Hemdes. Versinken tu ich darin nicht, jedoch ist es immer noch zu weit. "Passt es?" kommt die Frage von Taichi, genau im richtigen Zeitpunkt. "Nicht wirklich!" gebe ich kichernd zurück. "Ich bin wohl wirklich nicht fett!" Ich spüre und höre Schritte von schweren Schuhen auf dem Teppich; "Warte, ich hole dir eine kleinere Größe!" "Danke!" Und so ziehe ich mir das Ding wieder aus, streiche mit den Händen über meine nackten Schulterblätter, wo es angefangen hat zu kratzen. Dazwischen juckt es hinter den Ohren. Einen Moment lang streiche ich mir die blonden Haare glatt und muss dabei an heute früh denken. Daran, wie hasserfüllt Taichi aussah, wie der Baseballschläger in seiner Hand lag. Immer und immer wieder donnert in meiner Erinnerung der Schläger gegen Hondas Nase. Immer und immer wieder knackt es. Plötzlich wird es hell in der Kabine und ich erschrecke. Taichi war mal wieder zu schnell für mich. Er steht da, den Vorhand halb zur Seite gedrückt, mit der anderen Hand einen Bügel mit einem blütenweißen Hemd. Wie erstarrt. Ich hätte am liebsten tief aufgeseufzt in diesem Augenblick. Tiefe, gehetzte Augen bleiben auf mir hängen, doch nicht in meinem Gesicht... sondern auf meinem nackten Oberkörper... Das Braun sucht meine blasse Haut ab. Als würde es mich durchleuchten, meine Brust, mein Schlüsselbein, hinab zum Bauch. Ich spüre mich heftig und dennoch tief atmen, ohne mich bewegen zu können. Ohne denken zu können. Alles, was ich sehe, ist Taichi. Alles, was ich spüre, jetzt, hier, ist Taichi. Und es ist gut so. Seine dunklen, länglichen, zerflauschten Haare wirken so weich wie noch nie, darunter, sein Mund, ist halb geöffnet, gibt den Blick frei auf die weißen Zahnreihen. Und von ihm strömt eine Energie herüber, die mich halb in eine Ohnmacht reißt, so intensiv ist sie. Es ist, als würde sie mein Herz antreiben, als würde sie bunte Punkte vor meine Augen zaubern. Meine Augen, die ich einfach nur schließen möchte. Er bewegt sich vorwärts. Bedacht, wie ein pirschendes Raubtier- ich spüre diese mysteriöse Kraft wieder in seiner Brust pochen- kommt er näher, so dass der Vorhang uns verbirgt. Mein Atem zittert. Ich zittere. Da ist etwas in Yagamis Augen, pure Wildheit, die sich im Sekundentakt mit etwas anderem mischt, welches ich nicht erkennen kann. Ein schüchterner Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht, lässt ihn fahl und zugleich errötet wirken. Für mich ist sein Gesicht das Schönste, welches ich je gesehen habe. Ich weiß noch genau, wie brutal er vorhin zugeschlagen hat. Ich weiß noch genau, wie er meine Hand berührte. Irgendwo in der Mitte schlägt seine ewige Seele, die ich so gern...so liebend gern einmal streicheln möchte. Als würde ich den Rand den Paradieses berühren dürfen. Seine mich betrachtenden Augen wecken eine seltsame Erregung in mir, ewig tief und verborgen. Es ist keine Erregung, wie ich sie bisher kenne, aber sie färbt mein Inneres mit ungekannter Glückseligkeit, so dass ich einfach nicht atmen möchte. Weil sonst Zeit vergehen würde, und mit ihr dieser Moment. Wie kann mich sein Wesen nur so durcheinander bringen? Taichis Blick stoppt an meiner Bauchnabelgegend, seine Augen weiten sich. Als ich seinen Augen folge, nehme ich helle bläuliche Flecken von Hondas Tritten und Schlägen wahr. "Dein Bauch..." flüstert er und schaut mich sanft an. Ganz sanft. Es tut nicht mehr weh. Das wird es nie wieder. Ich kenne dich nicht, Taichi. Ich weiß nicht, was du denkst, wie du genau fühlst. Genauswenig weiß ich, wie schwarz und wie weiß deine Welt ist. Doch ich spüre die größten Bruchstücke davon und sie haben mich an sich gezogen, lassen mich nunmehr nicht gehen. Gefangen in deiner Kraft und deinem Geheimnis umlaufe ich dich wie der Mond die Erde umdreht. Und ich würde verletzt und vernarbt dahingehen, wenn ich dich nicht...wenn ich dich nicht erforschen dürfte. Ein bisschen bebend, hebe ich die Arme. Ich denke nicht darüber nach, als ich ihm den Bügel aus der Hand nehme und zu Boden fallen lasse. Meine Augen blinzeln in Träumen, meine Finger sind elektrisiert. Mit holperndem, ängstlich-aufgeregtem Atem ziehe ich ihn an mich heran, ziehe ihn in meine Arme. Die Kraft in seinem Inneren ist jetzt so nahe, dass ich weiß, sie könnte mich verbrennen. Doch nach einem kurzen Aufwallen spüre ich, wie sie sich teilt und zerfließt. Ich kann sie fühlen, sie geht in mich über, durchfährt mich wie tausend Blitze und sprüht Funken in meinem Herzen, trägt mich höher...höher... Seine Arme berühren mich zögernd, schüchtern. Dann sind seine Hände warm auf meinem nackten Rücken, verglühen mich in wunderbarer Hitze. Er schmiegt sich an mich und ich drücke ihn glücklich ganz sacht. Trotz dieser seltsamen Kraft ist er verletzlich. Ein Kämpfer und ein Kind gleichermaßen. Ich kann den sonnigen Duft seiner Haare riechen, sie kitzeln mich an der Wange. Es ist wahnsinnig, schier faszinierend, das Leben in seinem Körper so spüren zu können. Das klopfende Herz und die Lunge, die sich regelmäßig füllt und leert. Das Leben ist es, das Leben in seinem Wesen, was mich so an ihn fesselt. Taichi.... Ich flüstere liebevoll seinen Namen und er vergräbt sein Gesicht an meiner Brust, stumm, still, als würde er bei mir verharren. Ich fühle sein Gesicht an meiner nackten Haut. Habe das Gefühl, zu vibrieren. Zu schweben. Vorsichtig, ich traue mich kaum, berühre ich seine Haare, spiele in ihrer Weichheit, streichle sie. Abgenabelt von der Außenwelt, fühle ich mich frei. So frei wie der Vogel, der heute Morgen die Flügel ausbreitete und einfach davonflog. Und Taichi hält sich fest an mir. Ich weiß nicht, wie es so kam. Ich kann mir nicht erklären, wie ich solch eine Obsession zu Yagami in so kurzer Zeit entwickeln konnte. Und ob ich überhaupt eine Obsession entwickelt habe. Alles...alles was ich in diesem Moment weiß, ist, dass ich möchte...dass wir vogelfrei sind. Richtig frei... Genaugenommen bin ich Honda überhaupt nicht mehr sauer. Nun ja, mein Körper vielleicht schon, doch abgesehen davon hat sich doch für jeden etwas Positives ergeben. Ich und Taichi rennen zusammen durch die Gegend, Honda hatte mit der Prügelei zumindest ein bisschen Befriedigung, Taku...nun ja, Taku ist mit nur einem Gips nach Hause zurückgekehrt. Einzig und allein Koushirou sitzt gerade in der vorletzten Stunde, und das ziemlich allein. Ich hab ein kleines schlechtes Gewissen, als wir den Laden mit roten Wangen und einem neuen Hemd im Gepäck verlassen und ich Taichi noch einlade. Zu einem Kaffee, Eis oder Kakao, was er möchte. Zuerst besteht er darauf, sein Zeug selbst zu bezahlen, weil das Hemd schon soviel gekostet hat, doch ich bestehe darauf und mein Bauch und mein Kopf ebenfalls. Ich hätte, wenn ich in diese Situation geplatzt wäre, niemals den Mut gehabt, Honda so zu attackieren. Selbst, wenn ich so stark wie Taichi wäre. Das sage ich ihm auch, genau in dem Moment, in dem wir uns eine halbe Stunde später in ein Café mit riesigen, lichten Fenstern setzen. Taichi ist wie ausgewechselt im Gegensatz zu vor dem Vorfall mit Taku. Vor mir sitzt nicht mehr der mürrische, erzwungen fiese Junge, vielmehr gibt er mir immer wieder Einblicke in sein Selbst wie kleine Zwischendurchbonbons. Ich glaube er ahnt irgendwo, dass ich scharf auf seine Geheimnisse bin. Und auf ihn! Oh Gott, wenn man mir das vorher gesagt hätte, ich hätte ihm nie geglaubt! "Also, nun sag mal, woher kennst du meinen Namen wirklich?" frage ich, während ich einen Cappuccino ordere. Taichi verschluckt fast das Wort, als die Kellnerin neben ihm steht. Vor Schreck? "Ich kenne ihn einfach." gibt er zurück. Durchforstet mit den Augen weiter die Karte. "Ich nehme einen Eiskaffee." Die Kellnerin notiert, dreht sich um. Es scheint, sie hat Angst vor seinem Gesicht. In dem Café sind die Stühle türkis, mit einem vornehmen roten Samtüberzug an den Sitzflächen. Roter Samt scheint uns zu verfolgen. Man mag sich gar nicht bequem hinsetzen, weil alles so vornehm, schnieke und vergoldet ist. Das fängt beim Halter für die Menükarte an, geht weiter über das Besteck, welches die anderen Gäste benutzen und hört bei den verzierten Klinken der Toilettentüren noch lange nicht auf. Eigentlich ist das keine große Sache, nur die Atmosphäre in diesem Café lässt mich befürchten, dass all diese Dinge wirklich aus Gold sind. Ich nehme mir insgeheim vor, meinen Kaffeelöffel zu klauen und ihn später schätzen zu lassen. Die Fenster sind mit weißen, strahlenden Vorhängen versehen, jedoch nur die obere Hälfte. Weil das Café im ersten Stock ist, kann man, wenn man wie wir am Fenster sitzt, auf die Straße runterschauen und die Menschen zählen. Ich schlage möglichst stilvoll die Beine übereinander. "Najaa..." meine ich grinsend. "Aber gut zu wissen, dass mein Name so bekannt ist." Taichi grinst zurück, dankbar dafür, dass ich nicht weiter nachbohre. Es ist, als würden wir uns einander pirschend nähern. Er beginnt, mit dem Zuckerstreuer zu spielen, schiebt ihn auf der Tischplatte, die äußerst verdächtig nach echtem Marmor aussieht, hin und her. "Wenn du erlaubst, dass ich frage..." lächelt er verlegen dabei. "...eines wüsste ich gerne über dich." Oh ja, einiges wüsste ich auch gerne über dich! Ich lächle und das Gefühl in mir wird wieder warm. Diese Wärme von Sonnenschein, die ich schon den ganzen Tag lang verspüre. "Alles was du willst." Ich stütze den Ellenbogen auf dem Tisch auf. "Aber alles, was mein Sexleben betrifft, bleibt tabu!" Menschen gehen an uns vorbei. Schicke Frauen, eine sogar mit Hut. Ein Herr mit Fliege, es sieht aus, als würde sie ihn erwürgen. Wieder einmal scheinen wir völlig fehl am Platze zu sein. Taichi muss lachen und entblößt dabei wieder diese Zahnlücke, die mir vorhin den Atem verschlagen hat. Mittlerweile glaube ich, habe ich überreagiert. "Nein, es geht um...naja...um dein Aussehen. Ich meine, du siehst nicht sehr japanisch aus." Vielleicht hat er sich als Kind den Zahn selbst ausgeschlagen. An der Rutsche, beim Schweinebaumeln am Klettergerüst. Das wäre doch alles möglich. "Die Frage krieg' ich oft zu hören!" sage ich grinsend. Natürlich, das habe ich mal wieder vergessen. Ich bin auch eine Art Paradiesvogel. Wo immer ich gehe, ich falle auf. Nun, in der Schule vielleicht mehr als draußen, in der Stadt. Wieviele färben sich die Haare und tragen Kontaktlinsen? Vielleicht denken das auch viele von mir. Doch in der Schule, in der Klasse bin und bleibe ich derjenige, der beeindruckt. "Ich bin zum Teil Franzose." beginne ich zu erzählen und stupse mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen das güldene Kartenhalterding. "Mein Opa ist Pariser, meine Oma Japanerin. Heraus kam dabei meine Mutter, die ebenfalls einen Japaner heiratete..." Ich stupse ein bisschen zuviel, schmeiße das Teil halb runter. Bin ich etwa nervös? "...und schließlich kamen mein Bruder und ich dabei heraus. Ich bin also ein Viertel-Franzose." Die Menschengruppe mit dem erwürgten Mann und der Hut-Dame setzt sich an den Nachbartisch, ebenfalls an der Fensterfront. Habe ich diese Leute, die auch noch zwei jüngere Frauen dabeihaben, eben kaum beachtet, spüre ich nun Blicke. Oder sehe sie, besser gesagt. Ihre Augen scheinen sich geradezu in Taichis Rücken zu bohren und ich hoffe nur, dass er sie nicht spürt. Womöglich haben sie ihn ganz genau betrachtet beim Hereinkommen. Zum nächsten Mal heute habe ich so Teil an Taichis Alltag, an dem Leben, das er mit dieser Monsternarbe führen muss. Ablenkend schaue ich ihn wieder an; "Nun ja, sehr geheimnisvoll ist das nicht gerade." Die Kellnerin von eben nähert sich wieder. Gleichzeitig spüre ich am Nebentisch so etwas wie eine Beruhigung. Menschen gaffen eben gerne. Dankend nehme ich den Cappuccino entgegen. "Ich habe auch nicht auf eine besonders geheimnisvolle Geschichte gewartet.", sagt Taichi und guckt auf seinen Goldlöffel mit langem Stiel. Mit dem kann er den Eiskaffee umrühren. Der ist serviert in einem länglichen Glas, mit einer obenauf schwimmenden Kugel Vanilleeis und Sahne. Außerdem steckt da ein Schirmchen drin. Gelb. Es ist eines dieser Papierschirmchen, die man winzigen Püppchen als Regenschirm geben kann. Ich liebe diese Dinger, leider mache ich sie nur jedesmal kaputt, sobald ich sie habe. "Auf Geheimnisse trifft man nicht allzuoft.", schiebt Taichi hinterher, als er versucht, möglichst elegant das Eis zu löffeln. Ich rühre nachdenklich in meinem Kaffee. "Findest du Geheimnisse gut? Also, ich meine, solche mysteriösen Sachen?" Taichis Augen leuchten wieder so wunderschön. Als ich in sie hineinsehe, verfange ich mich in ihnen, möchte sie für immer anschauen. Wenn es braune Edelsteine gäbe, ich würde ihnen den Namen Taichi geben, denn sie wären ein Abbild dieser glänzenden, glitzernden Ovale seinerseits. Wer auch immer Taichi als hässlich bezeichnet, benötigt eine Brille, ein Hirn oder eine Tracht Prügel. Vielleicht auch alles zusammen. Bedächtig lutscht Yagami den Löffel ab. Seine Lippen werden feucht dabei...beginnen zu glänzen. Plötzlich muss ich daran denken, dass sie jetzt wohl sehr nach Vanille schmecken müssen. Süß und weich. Und schnell, ganz schnell muss an etwas anderes denken. Sonst geschieht ein Unglück, und meine Wangen würden sich ampelrot färben. Ich verstehe nicht, was ich da denke. Warum ich das denke. "Ja, einige faszinieren mich. Dinge, die scheinbar in den Alltag eingreifen...", Taichi tunkt den Löffel wieder ein und seine rote Zunge leckt sich über die Lippen, um eventuelles noch daran klebendes Eis zu entfernen. Das denke ich mir jetzt mal so. "...aber die etwas ganz Besonderes werden. Ein Geheimnis eben, ein Mysterium." Einen Moment lang möchte ich aufspringen, möchte ihn sanft an den Schultern packen und ihm zurufen, dass er doch selbst so ein Geheimnis ist. Er merkt es selbst sicher nicht und er merkt es wohl auch doch nicht, dass ich insgeheim versuche, eine Spur zu ergattern um zu erfahren, was für ein Mysterium sich um ihn verbirgt. Das alles, was ich in ihm suche, was er mir nicht offenlegt, was da ist und nach mir schreit. Doch ich traue mich nicht, danach zu fragen. Habe Angst, ihm wehzutun, so wie viele andere es vorher schon getan haben. Denn wenn ich ihm wehtue, weiß ich nicht, wie bereit er ist, mir zu verzeihen. Eine Sünde zu verzeihen, die ich nur aus purer Neugier begehen würde. Also lade ich ihn weiter ein, in mein Leben. Ich opfere zwar die Vertrautheit zwischen Koushirou und mir ein bisschen dafür, doch ich weiß, dass der mir nicht sauer sein wird deswegen. Sicher nicht. "Dann weiß ich ja genau das richtige Geheimnis.", verkünde ich stolz, nippe am Cappuccino- und würde ihn am liebsten sofort ganz austrinken. Nur dann würde ich wohl versoffen aussehen, so "Auf-Ex"-mäßig. Und das riskiere ich in einem Café mit Marmortischen und goldenen Klotüren lieber nicht. Taichi schaut vom Eiskaffee hoch; "Ja? Worum geht es denn?" Mit bedeutungsschwangerem Blick lehne ich mich vor, beginne, wie wild in der Tasse zu rühren. "Also, pass auf! Da ist diese Frau!" Taichi lehnt sich ebenfalls vor. Seine großen, braunen Augen folgen dem Löffelchen zwischen meinem Daumen und Mittelfinger, das ich hebe, mit dem ich zu gestikulieren beginne. "Sie sitzt im Häuschen der Bushaltestelle, jeden Montag, jeden Donnerstag. Immer wenn mein Freund Koushirou zur Schule fährt, sieht er sie da, und jedesmal, wenn er wieder von der Schule zurückkommt, sitzt sie auch dort, als sei sie nie weggewesen." Ich nehme wieder einen Schluck, schütte Zucker zum Cappuccino dazu. Ich glaube, ich werde leicht überdreht. Ich sehe, wie sich Taichis dunkle, fein geschwungene Augenbrauen langsam nachdenklich senken. "Das Seltsamste ist, sie trägt ein Hochzeitskleid! So richtig mit Tüll und Taft oder wie man das nennt, mit Schleppe, die sie mit der einen Hand aufgewickelt über dem Boden hält und mit Blumen in der anderen Hand- weiße Lilien!" Die Zuckerkörner unter dem Löffel lösen sich nur ganz schwer auf, so dass ich heftiger rühre. Für eine Sekunde lang scheint das dabei verursachte Geräusch das Café zu durchhallen und ich halte still, verlegen von dem Krach. "Weiße Lilien?", hakt Taichi nach. "Wie bei einem Begräbnis?" "Ja, ganz genau!" Ich lehne mich noch weiter nach vorne. Es sieht aus als wäre ich ein Spion, der seinem Kontaktmann geheime Informationen zuflüstert. Doch so kann ich noch näher sein an diesen leuchtenden, wilden Augen. Näher an dem Kribbeln in mir, was mich ausfüllt. "Sie hat immer dieses Kleid an, ist rausgeputzt und so weiter, mit Schleier und allem Drum und dran. Und sie wispert vor sich hin. Jedesmal bewegt sie ihren Mund, doch es ist keiner bei ihr, mit dem sie reden würde. Es ist, als würde sie gar nicht wirklich da sein!" "Und wann ist das immer? Am Montag und Donnerstag?" "Ja, wenn ich jetzt in einer Dreiviertelstunde mit dem Bus von der Schule nach Hause fahren würde, würde ich sie sehen.", versichere ich, schlürfe dann das Zeug in der Tasse doch noch in einem Zug aus. Ich bin wohl doch nervös. Nervös davon, dass ich Taichi diese Geschichte dieser "Lilienbraut", wie Kou und ich sie ganz poetisch nannten, erzähle. Nervös davon, ihm so nahe zu sein... "Habt ihr sie denn mal angesprochen?" fragt Taichi und löffelt sein Eis weiter. Es würde wohl sonst auch weglaufen. Nein, das haben wir nicht. Das geht schlecht, wenn man nur mit dem Bus an ihr vorbeifährt. Gut, wir hätten aussteigen können, doch irgendwie sind wir nie auf die Idee gekommen. Vielleicht, um uns den Mythos aufrechtzuerhalten. Den Mythos von der Lilienbraut seit drei Wochen. Das klingt wie ein Filmtitel! Also schüttele ich nur den Kopf, sehe dann nach unten und beginne damit, den Zuckerspender hin- und herzuschieben, so dass es kratzt auf der Tischplatte. "Das sollten wir vielleicht mal wirklich machen." sage ich gedankenverloren. Und als ich wieder hochsehe, gluckert Taichi sich den Eiskaffee hinunter, das sieht schon fast gierig aus, so wie es bei mir eben ausgesehen hat. "Dann tun wir es eben." Taichi schiebt das leere Glas von sich weg. "Was meinst du?" "Äh...was?" Schon wieder diese rasende Geschwindigkeit, die mich überholt. Im Denken, im Handeln. Es ist komisch, Taichi als schnell zu bezeichnen, aber irgendwie ist es so. Sein Leben hat so ein ganz anderes Tempo als das meine, wie ein anderer Takt. "Wir fahren dahin." Ich lächle; "Du willst es also wissen, ja?" Seine dunklen Augenbrauen heben sich wieder, geben den Blick frei auf die hübschen Augen, in denen ich so gern versinke. "Du doch auch!" erkennt Taichi. "Du bist versessen darauf, weil du dich nicht mit dem oberflächlichem ersten Blick zufriedengibst." Er schmunzelt, nur ein klein bisschen und hört sich plötzlich weise an. Ich kann mir nicht helfen. "Du brauchst zwar einen kleinen Schubs, doch dann...dann suchst du und forschst du, nicht wahr? Das, was auf dem Grund liegt, soll dir aufgehen wie ein Licht." Seine Stimme verdreht beim Sprechen den Tonfall ein klein wenig, um neckisch zu klingen. Trotzdem sitze ich da, vollkommen ratlos und...ja, was wohl?- streiche mir die Haare hinter's Ohr. "Was willst du damit sagen, Taichi?" gebe ich von mir. Das Schmunzeln wird etwas breiter. "Deine Augen durchleuchten mich schon den ganzen Tag." In diesem Moment strahlt die Sonne mit voller Kraft in das Café. Ich habe gar nicht gemerkt, dass sie je weg war, wahrscheinlich von Wolken verschluckt war. Nun leuchtet sie mit der Intensität, die ich kaum fasse, brennt durch die Scheiben und blendet in den Augen. Die halben Vorhänge oder Gardinen, oder was auch immer das ist, sie können nichts davon abschirmen. Draußen fliegen Vögel vorbei, klein weiß-grau-schwarz. Ich glaube, es sind Bachstelzen. Was ist geschehen? Mir wird es innerlich heiß und kalt, in jeder Sekunde etwas anderes. Ich bin ertappt und in mir sträubt sich das letzte kleine Stückchen Angst vor Taichi Yagami, ein rudimentärer Rest von heute früh, als ich ihm zum ersten Mal in diese wilden, weichen Augen sah, als ich noch dachte, er würde mich auffressen. Bin ich zu neugierig? War das als Vorwurf gemeint, in seiner spöttischen Art, die er manchmal raushängen lassen kann? Ich sitze da und meine blauen Augen starren Taichi an, der noch immer schmunzelt, und zum ersten Mal heute frage ich mich, ob das alles wahr ist. Ich frage mich, ob ich diesen Vogel vorhin wirklich gesehen habe, ob ich nicht vielleicht umgefallen bin, bewusstlos, und noch immer im Gang der Schule liege, vor mich hinträume. Zu verzerrt scheint mir plötzlich diese Realität. Ich bin durchschaut worden, obwohl ich auch nie etwas gesagt oder gefragt habe, was darauf schließen ließe, dass ich ihm auf die Spur komme. Er sagt, er habe es an meinen Augen gesehen. Meine Augen... Der Junge vor mir fasst sich in die Haare, versucht, sie ein bisschen glatt zu streichen. Sein Blick ist ganz sanft geworden, so sanft wie vorhin in der Kabine. "Das ist schon in Ordnung, Yamato. Ich bin dir nicht böse deswegen!" Er hebt die Hand, um mich zu beschwichtigen, mir Angst zu nehmen. Die Angst, die ich noch immer vor ihm habe. Verdammt, was alles sieht er denn noch an mir? "Ich finde es nur erstaunlich irgendwie..." Meine Augen... Noch nie habe ich die besondere Fähigkeit gehabt, mich in Menschen hineinzuversetzen oder zu spüren, was sie fühlen, wie es ihnen geht. Und plötzlich ist Taichi wie ein Stückchen durchsichtig für mich geworden, so wie ich für ihn durchsichtig bin. All das unwichtige Zeug, über das wir geredet haben bisher, es ist nichtig. Wir haben uns wortlos, stimmlos abgetastet und geprüft, wie der jeweils andere reagiert. Noch nie, niemals habe ich so etwas erlebt. So sitze ich da, Taichi mir gegenüber, und hebe gedankenverloren den Arm um zu zahlen. Von draußen scheint die Sonne herein, das vergoldete Besteck glänzt hell, der Marmortisch fühlt sich kalt an. Inmitten meines dahinschwimmenden Bewusstseins sehe ich die schwarzen Knopfäuglein des Vogels von heute früh vor mir, die mir leise und beruhigend Worte zuflüstern. Abenteuer Leben. Sollte ich am Ende auch solche tiefen Augen haben wie Taichi...? To be continued... Kapitel 3: The lily bride, the wagtail and the scar- the truth inside us all ---------------------------------------------------------------------------- Autor: Tsutsumi Titel: Vogelfreiheit Kapiteltitel: The lily bride, the wagtail and the scar- The truth inside us all wagtail=Bachstelze Teil:3/3 Disclaimer: Nichts gehört mir (bis auf den Plot und eigene Charas), sondern Bandai und Toei Animation. Ich bekomme kein Geld hierfür. Warnung: Shounen Ai, sappy, kitsch³, OOC, Yamatos POV Pairing: Taito/Yamachi Kommentar: Hallo an alle!^^ Ich hoffe, man kann sich noch an diese FF erinnern, nachdem ich so lang für das Ende gebraucht habe.^^" Im Großen und Ganzen ist das Ende anders geworden als geplant, aber ich bin halbwegs zufrieden damit. Ach so, eine Korrektur möchte ich anbringen: Soweit ich weiß, gibt es in Tokyo keine Fahrkartenkontrollen, da man ohne Fahrkarte erst gar nicht auf einen Bahnsteig gelangt. Ist mir in dem Moment entfallen *tropf* Verzeihung! Ich bitte auch, grammatikalische und rechtschreibliche Fehler zu entschuldigen, trotz Korrekturlesen schummelt sich da immer wieder etwas durch. Widmung: Rei17 und Selia ^^ Ich hab euch lieb! Vogelfreiheit Phase 3: The lily bride, the wagtail and the scar- the truth inside us all "Was immer diese Frau auch ist, sie gehört einfach nicht an diese Stelle.", sage ich gedankenverloren und poche gegen die Scheibe. Im nächsten Moment schmerzt mein Knöchel und ich schaue irritiert auf den Handrücken, dort wo es wehtut. Es ist ein bisschen rot und ich weiß nicht, woher. Wir sitzen im Bus, seit ungefähr drei Minuten. Während mir die Fahrt nach Shinjuku vorhin wie im Flug vorkam, dauert diesmal alles viel zu lange. Die Bahn war viel zu voll, schleppte sich viel zu langsam durch die Stationen. Viel zu milchig ist die Sonne geworden und viel zu langsam trottet der Bus durch die Straßen Odaibas, die ich so gar nicht vermisste. Wir haben noch knapp sieben Minuten Zeit. Sieben Minuten, die uns beide, Taichi und mich, vom Mysterium trennen, von der anderen Dimension, vom anderen Universum, von der Zeitschleife...Was auch immer! "Vielleicht...", hebt Taichi neben mir an und kratzt sich gedankenverloren am Kinn. Genau jetzt, in diesem Moment kann ich ein paar braune Härchen dort erkennen. Es ist noch weit entfernt von einem Dreitagebart, es ist auch kein Flaum mehr- dazu ist Yagami dann wohl doch zu alt- aber es irritiert mich, wie mich wohl alles Neue, was ich an ihm erkenne, irritiert. Er kratzt sich also, nur kurz, dann schaut er mich an und seine braunen, tiefen Augen durchfluten mich wie Schockwellen. "Vielleicht ist sie eine Tote!" "Hä?!", mache ich verplant und starre ihn mit großen Augen an. "Eine Tote?" Taichi beginnt, an mir vorbeizuschauen, aus dem Fenster, wo die Kaufhäuser, Geschäfte und Bäume vorbeifliegen, nein, eher vorbeischleichen. Denn wir sind immer noch zu langsam. "Ein Geist, meine ich!", erklärt sich Taichi und rückt ein bisschen näher. Wirklich nur minimal, doch in mir kocht es wieder hoch, als habe man in mir einen Schalter umgelegt. Flugs bin ich gefangen im Augenblick, in der ich ihn an mich zog, in dem ich all seine Wärme an mir spürte. Einzig und allein die Geist-Thematik hält mich davon ab, einfach wegzudriften. "Eine Frau, die unglücklich starb, als Braut... Die herumspukt, die nur ihr sehen könnt.", sagt Taichi und ich folge seinem Blick nach draußen. Der Bus stapft gemütlich an einer alten Dame in Rosa vorbei, die ihren Minipudel auf dem Arm spazierenträgt, anstatt ihn selbst laufen zu lassen. Ich muss an Filme denken, in denen es um arme, verlassene oder betrogene Bräute geht, die ihren untreuen Kerlen hinterherspuken. Der leicht verlorene Blick aus ihren Augen würde dafür sprechen, natürlich auch das Brautkleid, der Schleier... Die weißen Lilien! In meinem Kopf avanciert die junge mysteriöse Frau zum Taggespenst, zum durchleuchtenden Schleier aus längst vergangenen Zeiten, die jeden Tag unbeachtet und seufzend dahinharrt und mit den anderen Wesen spricht, die wir nicht sehen können. "Das kann es sein!", japse ich und gucke Taichi wieder an. "Sie ist tot! Sie sitzt da, um ihre letzte Ruhe zu finden! Vielleicht braucht sie einen Bus ins Jenseits oder so, einen Bus, der hier nicht fährt..." Aus meinem anfänglichen Rufen ist ein Murmeln geworden, wer mich nicht kennt, könnte meinen, ich würde Beschwörungen dahinnuscheln. "Dann können nur wir sie retten! Wenn nur wir sie sehen, dann sind wir vielleicht dazu auserwählt, sie in die letzte Ruhe zu schicken, so quasi als..." Ich verschlucke die letzten Worte. Taichi schaut mich an, als hätte mich etwas gebissen. "Entschuldigung!", gebe ich kleinlaut von mir. "Es ging durch mit mir!" Ich bekomme ein Lächeln geschenkt. "Schon in Ordnung." Und die braunen Augen strahlen mich ganz warm an. So warm, so...so süß, dass ich Taichi plötzlich wieder umarmen will. Es ist kein Verlangen, es ist kein zwingendes Muss. Doch wie eine Art kleine Sehnsucht strahlt dieses Gefühl in meinem Bauch und alles, was um meinen Bauch drumherum ist, scheint sich darauf auszurichten. "Geheimnisse regen an zu den wildesten Vermutungen, die am Ende gar nicht stimmen." Kaum dass er das gesagt hat, liegt mir mit einem Mal ein Stein im Magen. Ich mag nicht wirklich an diese Totengeschichte glauben mit der Frau, auch wenn sie stimmen könnte. Genauso wie all diese wilden Geschichten über Taichi stimmen könnten. Und das ist es, was mich mit einem Schlag niederdrückt, was mir die Sonne aus dem Bauch stiehlt. Der Bus bleibt stehen. Menschen steigen ein und steigen aus. Ich höre das Fußgetrappel auf dem grauen Boden des Gefährtes, ich sehe, wie heute Morgen graue und schwarze Anzüge, Krawatten, Kostüme, Aktentaschen, stumme Blicke. Und doch hat sich die Erde gedreht. Ich weiß, dass ich lebe, und ich weiß, dass ich freier bin als all diese Menschen hier. Freier als Taichi? "Wie bei dir, nicht wahr?", sage ich vorsichtig. Wenn nicht jetzt, dann nie. Mein Herz ist, als ob es einen Schlag lang aussetzen würde, meine Augen sehen nach draußen und können sich nicht darauf konzentrieren was dort ist. Für eine Sekunde, nur einen Lidschlag lang erhellt sich der Tag draußen, ich vergesse die Zeit und meine Eile. Alles was ich spüre, ist ein Zittern das durch meinen Körper geht. Oder durch seinen...? "Ja." Seine Stimme klingt so furchtbar fremd. Als sei er ausgewechselt, als habe ein Geist mit ihm getauscht. Als ich den Mut finde und zu ihm herübersehe, sind seine Augen kalt geworden, als sei ein Licht darin ausgeschaltet worden. Das erschreckt mich ziemlich, wenn nicht sogar furchtbar. Ich weiß, ich hab einen Fehler gemacht. Bin ich zu weit gegangen? Habe ich eben ein Tabu überschritten? Alles in mir stülpt sich von innen nach außen. Magensäure kocht heiß hoch im Bauch, mein Puls beginnt zu rasen. Ich habe wohl ganz weite Augen, als wolle ich das sehen, was sich hinter der Kälte verbirgt. Auf der anderen Seite möchte ich diese Wärme, die sich abkehrt, nicht verlieren. Ich möchte nicht mehr allein hier sitzen, nicht ohne Taichi...meinen....vogelfreien Helden. Plötzlich sind meine Augen feucht, mit einem Mal. Plötzlich bin ich so kurz davor, seine Hand zu greifen und vor ihm auf die Knie zu fallen. Und mich tausendmal zu entschuldigen. Für alles was ich falschgemacht habe. Dafür, dass ich ihm wehtue. Doch ich komme nicht dazu. Der Bus stoppt ein weiteres Mal, an einer Haltestelle, die zu einem Bahnhof führt. Fast gleichzeitig spüre ich eine minimale Bewegung in Taichis Körper. Ein leichtes Vorbeugen. "Ich weiß doch, was man sich über mich erzählt.", sagt er finster. Seine Wunderaugen haben sich verengt, als würde ihn etwas blenden. "Ich bin das personifizierte Böse, zumindest bei den Mädchen." Sein Kopf legt sich ein bisschen schief. Und während er nach draußen starrt, die Sonne auf seine Narbe scheint und ich ihn geschockt ansehe, beginnt etwas in mir, zu schmerzen. Fängt etwas tief in mir an, zu weinen. "Bei den Jungs...tja... Ich bin mir sicher, ich habe bestimmt schon drei Leute ins Krankenhaus geschafft und zwei vergewaltigt." In einer abwehrenden Haltung verschränkt er die Arme, als würde er frieren. Und es stimmt auch; der Moment gefriert zu Eis. Ich kann die anderen Menschen im Bus nicht mehr sehen. Die Sitze sind leer geworden. Da sind nur hundert grüne Sitzflächen. Und Taichi. Taichi ganz allein in diesem kalten, viel zu großen Bus. Der Schmerz fängt an, sich zu meiner Brust hochzuziehen. Ein Schmerz, den ich bisher nicht kannte, dessen Intensität ich niemals erahnt hätte. Als sei er aus einem dunklen, tiefen Loch gekrochen, bemächtigt er sich meiner. Umkrallt meinen Kopf, rauscht durch meine Ohren, verklärt mir die Augen, ohne mir Tränen hineinzutreiben. Dieser Schmerz...ist das Leid. Taichi hat mich damit infiziert. Ohne dass wir es beide merkten. "Jeden Morgen rufen sie es mir hinterher." , flüstert Taichi kalt. "Ich weiß doch, wie ihr mich nennt. Ich bin der Freak, so wie dein Freund es vorhin sagte." "Der ist nicht mein Freund!" , gebe ich sofort zurück. Doch viel zu leise. "'Narbengesicht'. Die 'Horrorshow', ja, irgendwann hab ich sicher auch mal 'Missgeburt' gehört." Er löst den rechten Arm aus der Verschränkung, fährt sich damit über das Gesicht. Dann, Gott sei Dank, schaut er mich wieder an. Und seine Augen, seine tiefen, wilden Augen treffen die meinen mit einer unglaublich schweren Sehnsucht, die die Luft zwischen uns durchflutet. "Du weißt das alles, Yamato. Warum bist du mir dann aus der Toilette hinterhergelaufen vorhin? Warum hast du nicht Reißaus genommen?" Zittert seine Stimme etwa? Ich bin unfähig, mich zu bewegen. In mir mischt sich ein Sturm zusammen aus Ergriffenheit, aus Schmerz des Leids, aus Traurigkeit und Mitgefühl...und...da ist noch etwas, was sich noch vor mir versteckt. Es huscht vorbei...Nein, es ist allgegenwärtig, eine Emotion, die mich durchflutet wie eine warme Welle. Es fühlt sich an wie eine Lichtwelle, und einen Moment lang fürchte ich, aus den Augen zu leuchten. Ich bin gefangen in diesen Sekunden. Gefangen in Taichi Yagami. "Weil..." Meine Stimme zittert auch. Verdammt, wieso habe ich plötzlich das Gefühl, weinen zu wollen? Dabei geht es nicht um mich. Mein Herz pocht dahin, als würde es sonst sterben vor Leid und vor Ergriffenheit. Als ob es für Taichi weiterschlagen wolle. Der Bus gleitet über in eine Straße aus Licht, obschon es bald dämmern wird, obschon die Wolken sich am Himmel häufen. "Weil du mich doch gerettet hast!", sage ich weinerlich, ohne weinen zu müssen. "Weil du dich um mich gekümmert hast und so freundlich warst. Weil du verdammt nochmal nicht weggesehen hast! Was hätte ich denn sonst denken sollen?" Taichi schaut mich an, während ich rede. Und er blinzelt, Gott, er sieht so süß dabei aus, dass es in meinem Magen kribbelt, als würden die weiß-durchsichtigen Schmetterlinge noch immer darin sitzen. Er blinzelt und seine braunen, großen Augen strahlen mich in den verschiedensten Farbfacetten an, glänzen nass. "Wieso sollte ich mich denn um Gerüchte scheren, wenn ich gerade selbst das Gegenteil erlebt habe?!" , sage ich, beinahe empört. "Wenn du wirklich so furchtbar wärst wie alle Welt sagt, hättest du mir nicht hochgeholfen, sondern nochmal reingetreten." Ich rutsche erregt auf dem Sitz hin und her, während ich erkläre, während mein Tonfall immer eindringlicher wird. Taichis Augen glänzen so hell. Noch einmal blinzeln und er wird weinen. Aber das macht nichts. Ich werde ihm die Tränen abwischen und ihn trösten, mich dafür entschuldigen, ihn zum Weinen gebracht zu haben. Ich werde ihn wieder umarmen, werde seine Haare streicheln. Schließlich hat uns dieser wunderschöne Tag doch zusammengebracht, oder? Und so streiche ich mir nervös die Haare hinter die Ohren, beuge mich vor zu Taichi; "Aber du hast nicht reingetreten, ganz im Gegenteil." Der Bus fährt dahin und zum ersten Mal seit einer halben Stunde ist meine Reisegeschwindigkeit genau richtig. Als würde ich schweben. "Du hast ein gutes Herz, das weiß ich!", sage ich eindringlich; "Du bist voller Emotionen, voller Freundlichkeit und voll...von Sehnsucht. Das weiß ich. Da brauch ich keine Gerüchte mehr." Ich weiß auch, dass sich ihm seit einer sehr langen Zeit niemand mehr emotional genähert hat. Schließlich hat er mir das selbst gesagt. Und so vorsichtig ich auch zu sein versuche, das Gefühl, Taichi zu überfordern mit all dem was ich da sage, erschleicht sich mir schon seit einiger Zeit. Dabei möchte ich doch nur eines für ihn. Ich will, dass er seine Ausgestoßenen-Rolle wieder ablegen kann, dass er wieder dazugehört und nicht mehr so allein sein muss. Die anderen alle haben ihn in diese Rolle hineingezwängt und gepresst. Und jeder Mensch braucht eine Rolle zwischen all den anderen. Vielleicht hätte Taichi sich sonst wie ein Niemand gefühlt. Und lieber ist man ein Außenseiter als ein Nichts, ein unsichtbarer Klecks. Also hat er sich wohl gefügt und die Rolle des Outsiders, des Freaks bedient. Deswegen hat er sein Jackett gefärbt und ab und an mal Kontaktlinsen getragen. Deswegen sehen seine Schuhe so gefährlich aus. Man wirkt lieber gefährlich als verletzlich. In einen Strudel sind wir da alle geraten. Er, der er keine andere Wahl hatte als sich mit einer harten Schutzschale zu bedecken und die anderen, die Angst bekamen bei diesem Schein. Natürlich kann Taichi gefährlich sein. Und doch weiß ich, dass ich keine Angst vor ihm zu haben brauche. "Yamato!", flüstert er leise und seine Hände fahren blitzschnell über die nervösen Augen. "Yamato, was redest du da nur?!" Verlegenheit hat sich auf seinen Wangen festgesetzt. Ich sehe diese leichte Röte erst jetzt. Vielleicht habe ich eben prosaisch geklungen, so gar nicht Yamato-like und ihn damit erst recht geschockt. Das tut mir leid. Ich sollte es schnellstens wieder abstellen, es passt nämlich nicht zu mir. "Entschuldige.", murmele ich und lächle verlegen. "Ich wollte jetzt bestimmt nicht...nicht...naja..." Ich möchte ihn umarmen. "...willst du vielleicht noch ein Sahnebonbon? Ich nehm auch eins!" Ich möchte ihn ganz festhalten und nicht mehr loslassen. "Ja.", lächelt Taichi dankbar und schüchtern zugleich, froh, aus dieser Situation raus zu sein. "Ein Bonbon wäre jetzt toll!" Ich möchte...ich möchte die Kraft wieder in seinen Adern spüren, mit Genuss seinen Duft einatmen und... Oh nein! In dieser Sekunde wird mir alles klar, denn das sich verbergende Gefühl huscht genau vor mein geistiges Auge, steckt mir die Zunge heraus und nistet sich in meinem Herzen ein. Wer weiß für wie lange. Vielleicht war es ein Fehler von mir, all diese Dinge zu ihm zu sagen. Aber es ist die Wahrheit und er weiß somit, woran er bei mir ist. Ich gebe ihm gerne Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und von mir aus müssen wir nie wieder darüber reden. Aber ich möchte Taichi das geben, was ihm im Moment am meisten fehlt, wonach ich mich für ihn so sehne. Echte Freiheit. Wir können sie schon vom Fenster aus sehen. Sie sitzt tatsächlich da, wie ich sie in Erinnerung habe. An genau demselben Platz auf der Bank in dem Wartehäuschen. In der einen Hand die Schleppe, die wie ein Nebelschleier aussieht, aufgewickelt. In der anderen der Strauß mit den weißen Lilien. Ihre schwarzen Haare sehen seidig weich aus, sind leicht gewellt, und an den Augen verbirgt sich ein matter, fahler Teint. Die Lilienbraut ist tatsächlich da. Als wären wir Tierfilmer oder Privatdetektive schleichen wir aus dem Bus, die Sahnebonbons nervös von einer Ecke der Wange in die andere schiebend. Der zuckrige, sahnig-milchige Geschmack mischt sich in meinem Gehirn mit den schleierhaften Informationen, die meine Augen mir senden, machen diesen Moment verklärt und...mysteriös. Wir stehen wie zwei Aussätzige vor dem Wartehäuschen der Haltestelle, werden fast umgeschubst von den ein- und aussteigenden Leuten. Hinter meinem Rücken ächzt genervt der Bus, zischt, pfeift und fährt langsam tuckernd wieder an. In meinen Ohren sägt das stete Brummen des Straßenverkehrs, an den ich mich schon gewöhnt zu glauben pflegte. Taichi ist mir so nahe, dass ich sein gespanntes Atmen im Nacken spüren kann und sich dort die Härchen aufrichten. Ich bin ein ganzes Kaleidoskop der Sinne. Die Frau hat sich nicht bewegt. Verklärt und unwirklich, als wären sie blind, starren ihre Augen auf den Asphalt. Sie sind hellblau- noch heller als meine. Das sehe ich erst jetzt, aber es schaut so furchtbar unheimlich aus, dass ich prompt einen Schritt zurückweiche und mich leicht verschreckt auf Taichis schwere schwarze Schuhe trampeln spüre. Ein Glück, dass er die anhat! Ihr Brautkleid sieht alt aus. Es ist eines in prächtigstem Blütenweiß, reich verziert mit seidener Spitze und Rüschen an den Ärmeln. Es ist so ein Kleid, welches die Damen im Europa des 19. Jahrhunderts vielleicht getragen haben. Trotzdem oder gerade deshalb sieht es an dieser Japanerin doch recht seltsam aus. Der Rocksaum ist geklöppelt und verziert wie eines der Tischdeckchen meiner Mutter, die diese nur aus dem Schrank holt, wenn ich zum Geburtstag zu Besuch komme oder so etwas. Es sieht alt wie die Welt aus. Darüber erstrecken sich Weiten aus Weiß, raschelnder Kleidstoff; und sieht ungeheuer wertvoll aus. Der gestickte, eng anliegende Kragen windet sich zärtlich um den Hals der Frau. Ihre Haut sieht so blass aus... Der Schleier bedeckt ihr Gesicht nur bis zur Stirn. Die andere Seite, die vor'm Traualtar prächtig und wunderschön über den Boden schleifen würde, liegt aufgewickelt in der rechten Hand, die gänzlich darin verschwunden ist wie in einem Muff. In der anderen Hand diese weißen, ungeheuerlichen Lilien, kunstvoll im Strauß arrangiert. Ich starre in die Vergangenheit. In eine zweite Dimension. Ich muss schlucken und greife geistesgegenwärtig nach Taichis Hand. Sie ist warm und weich und erinnert mich geringfügig daran, dass wir an einer Bushaltestelle völlig im Weg stehen. Dass uns die Leute schon anstarren. Uns! Wohl aber nicht dieses seltsame Geschöpf vor uns. Wenn ich in ihre erhellten Augen schaue, ob ich dann vergehe? Wenn ich ihren Schleier berühre...werde ich dann entrückt? In eine andere Zeit, in eine andere Welt? In meiner Phantasie denke ich mir die komische Bachstelze von heute Morgen dazu, setze sie gedanklich auf die Schulter der Lady. Zusammen wirkt das ganze wie aufgemalt, als würde ich es in einem verdammten Kitschroman beschreiben. Doch es ist Wirklichkeit. Oder scheint es nur so? Vermischt sich Realität hier mit Phantasie, ist es mein Geist, der sich diese Lilienbraut zusammenreimt? Sitzt dort am Ende vielleicht gar niemand oder vielleicht bestenfalls die Oma, die blaue Babystrümpfe strickt? "Sag mal...", wispere ich mit trockenem Mund und dränge mich noch näher an Taichi. "Du siehst sie doch, oder?" Sahnebonbon von Wange links nach Wange rechts. "Ja.", flüstert Taichi ehrfürchtig zurück. Ergo muss sie da sein. "Keine blauen Babystrümpfe?" "Was?" "Schon gut!" Ich winke ab. Irgendwo hupen Autos, doch ihr Klang verdämpft irgendwo zwischen meinem Erstaunen über diese Frau, den fieberhaften Überlegungen, was ich jetzt tun könnte und der Sensation des Kribbelns an meiner Hand, als Taichis Finger sich an meinen leicht regen. Das ist, als ob drei verschiedene Schauer zugleich über mich hereinbrechen, und ich kann nicht beurteilen, welcher denn nun am stärksten ist. "Was machen wir jetzt?" Ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. "Keine Ahnung!" , sagt Taichi leise neben mir. "Vielleicht...vielleicht sollten wir sie ansprechen?" Die Frau sitzt unverändert da. Ich komm mir bescheuert vor. "Okay...Dann sprich sie an, Taichi!" Wangenwechsel mit dem Bonbon. "Wieso ich?", kommt es von ihm perplex zurück. "Wieso nicht?" Ich schaue meinen Freund von der Seite an. "Schau doch mal, du siehst gefährlich aus! Und wenn sie ein Geist ist, und ich sie anspreche, dann hext sie mir womöglich Warzen an die Nase! Oder verwandelt mich in einen Frosch, und dann müsstest du mich gegen die Wand werfen oder so, und das willst du doch nicht, oder?" Ja, das sind mal wieder meine völlig sinnlosen Argumente. Ich sehe, wie Taichis Lippen sich verkrampft anspannen, wie er versucht, ernst zu bleiben. Und irgendwo muss ich mir ihn plötzlich einem Prinzessinnenkleid vorstellen und mich als ekligen, schleimigen Frosch mit einem billigen Krönchen- und wie er mich gegen eine antike Schlosswand schleudert. Nicht gerade romantisch. Aber sollte die Prinzessin den Frosch nicht auch irgendwie küssen? Okay, ich gebe zu, ich habe Schiss davor, diese Frau anzusprechen, Warze und Frosch hin oder her. Und in diesem Moment vergesse ich die Tatsache, dass Taichis Gesicht an sich aber auch für Aufsehen erregt. Er ist doch sanft und höflich, wie könnte er da jemals jemanden erschrecken? Taichi überwindet seinen Impuls, zu lachen und beginnt langsam zu nicken. Die Sonne scheint auf seine hübsche, leicht bronzenfarbene Haut, macht sie seidig und geschmeidig wie die Oberfläche eines Karamellpuddings. "Na schön, Yamato, ich mach's!" Im nächsten Augenblick merke ich, dass sein Todernst nur gespielt ist, denn seine Augen verraten mir mit einem neckischen Leuchten, dass er amüsiert ist. "Aber nur, wenn du mit mir kommst!" "Klar, immer doch!", entgegne ich nickend. Zur Not kann ich ihn auch an die Wand werfen. Oder küssen... Yagami bewegt sich also vorwärts, mich immer noch an der Hand haltend und hinterherziehend. Wir müssen uns beeilen, denn bald wird wieder ein Bus kommen und wir werden wieder angerempelt. Womöglich verschwindet die Frau dann. Trotzdem, je näher wir diesem Geschöpf kommen, desto höher und schneller schlägt mein Herz, desto lauter rauscht mein Puls. Taichi ist mutig, wirklich! Nicht nur wegen dieser Aktion jetzt, stelle ich plötzlich fest. Nein, er ist ein unheimlich mutiger Mensch. Er hat mich vorhin schließlich gerettet. Vielleicht hätte er es problemlos mit Honda und den anderen aufnehmen können, aber so ganz sicher bin ich mir dann doch nicht mehr. Drei Stiernacken, gebaut und abgepackt im Fitnessstudio können einem Jungen wie ihm doch sehr wehtun, da erzähle mir was, wer will. Taichis Stärke ist Geschwindigkeit und die Taktik des Zuvorkommens, wie es mir scheint. Aber mutig ist er trotzdem. Wir stehen direkt vor der Lilienbraut und ich kann sie sorgfältigen Muster und Verzierungen an ihrem Kleid noch besser sehen. Das sieht wirklich alles ziemlich echt aus, und wunderhübsch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Und so verstärke ich den Griff an Taichis Hand leicht. Ich lächle ihn an und er lächelt zurück. Und als ich auf den Strauß der Lilienbraut schaue, bemerke ich mit einem Mal etwas... "Ent...Entschuldigen Sie bitte!" , sagt Taichi höflich und macht die Andeutung einer Verbeugung. Diese Blumen... Die Frau mit den wasserhellen Augen blinzelt einmal, dann hebt sich der Kopf mit den leicht gelockten Haaren und dem Schleier. Ich kann sehen, wie sich diese Augen minimal weiten, als die Braut uns anschaut. Ich sehe den blassrot geschminkten Mund, der sich zu einem höflichen, fragenden Lächeln zu verziehen beginnt, ich sehe das Gesicht mit dem fahlen Teint. Ich sehe die Schminke. Und es erscheint so irreal. "Ja?" Würde ein Gespenst mit uns sprechen? Würde es uns denn überhaupt anschauen? Und, was mich noch viel mehr interessiert, nach näherem Hinschauen, würde ein Geist einen Blumenstrauß aus Plastiklilien bei sich haben? Ich stehe da, halte Taichis Hand fest, höre den Straßenlärm hinter mir wieder . Es ist, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, den Kopf voller Konfusion. Es passt nicht mehr zusammen. Das werde ich Koushirou erzählen müssen. Ich werde ihm überhaupt alles erzählen müssen, fürchte ich. Ein Schreck sitzt irgendwo in meiner Kehle, als ich das Dilemma einzusehen beginne. Taichi, der langsam und abwechselnd mich und die Plastiklilienbraut anschaut, den Mund immer wieder öffnend und wieder schließend. Er weiß nicht, was er sagen soll. Dieser Moment ist so absurd! Von ferne höre ich den nächsten Bus herantuckern, ich spüre, wie Menschen neben der Frau im Wartehäuschen aufstehen, spüre die Bewegung der Leute auf den Straßenrand zu. Nur sie selbst bewegt sich nicht. Ihre hellblauen Augen starren uns verständnislos an, irgendwo pocht es in meinem Bauch, sehr verlegen, die Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmt an unserer Theorie. "Was ist denn?" , fragt die junge Frau verdutzt, vielleicht auch genervt, so genau kann ich das aus ihrem Gesicht nicht deuten. Reden wir hier wirklich mit einem Geist? Einer Toten? Oder ist das Fräulein nicht doch eher eine Verrückte? Ein Cosplayer? Aber wieso kenne ich den Anime dann nicht? Ein Visual-Kei-Fan? Während mein Kopf auf Hochtouren arbeitet, beginne ich eine höfliche Verbeugung. "Verzeihen Sie... wir...wir..." 'Zissit' macht es in meinem Kopf. "Wir...sammeln Geld für unsere Schule!" , sage ich schnell. "Wegen des..äh...Gänseblümchenfestes! Mit Spenden könnten wir einen Stand hochziehen mit selbstgemachtem Gebäck auf unserem Hoffest. Darum haben unsere Lehrer uns gebeten, Geld zu sammeln." Meine Rache an den blöden Lehrer, der mich heute Morgen in die Arme der Rambos gehetzt hat! "Darum...", ich schaue so höflich und attraktiv wie ich kann, "...wollte ich Sie fragen, ob Sie Interesse haben, etwas zu spenden." Es blinzelt zweimal über diesen hellblauen, künstlich erscheinenden Augen. Und die Lilienbraut verzieht den sorgfältig geschminkten Mund zu einem Lächeln. Über uns erscheint die Sonne, halb und kurz verhangen im Nebelschleier meiner durchdrehenden Gedanken. Aber Taichi ist bei mir. Das ist die Hauptsache. "Tut mir leid...", die Frau hebt ratlos die Hände mit Blumenstrauß und Brautschleiermuff. "Ich bin auf dem Weg ins Theater, ich habe leider kein Geld dabei außer für den Bus." Hinter mir hält der Bus. Und hinter ihm schnauft ein weiterer heran. Solch einen Busstau erlebt man in Tokyo nicht allzuoft, denn bei uns fahren die Busse selbstverständlich pünktlich und in regelmäßigen Abständen. Aber all das ist mir jetzt egal, denn mir stehen Mund und Augen offen. "Theater?", gebe ich in debilem Tonfall von mir. Ich gucke sicher sehr bescheuert und bin froh, dass niemand der hin- und herrennenden Passanten einen Fotoapparat zur Hand hat. "Na klar!", sagt die Frau fröhlich, während sie sich aufrichtet, dabei sorgfältig das Kleid glattstreicht, auf den Schleier sieht. "In solch einem Aufzug läuft man doch normalerweise nicht herum, wenn man nicht gerade Theater spielt, oder?" Ihre zierlichen Füße stecken in zarten, weißen Schuhen. "Ich mache das nur nebenbei, und mir fehlt einfach die Zeit, ins Theater zu fahren und mich dann erst umzuziehen. Kennt ihr das Stück vielleicht, den "Zauber von Canterville"?" Ich fühle mich, als hätte mich jemand genommen und wie einen Stein so hoch hinaufgeworfen, dass sich die Welt in der Zwischenzit einmal um sich selbst gedreht hat. Moment mal! Theater? Stück? Taichi neben mir fängt an zu lächeln, eine Mischung aus amüsiertem und höflichen Lächeln. "Nein, das kennen wir nicht, Fräulein.", sagt er. "Aber es klingt sehr interessant." "Nicht wahr?", plaudert die Frau vergnügt. "Es ist auch nicht allzu bekannt, und ich habe ja auch nur eine kleine Nebenrolle als spukende Frau. Und ich habe immer Angst, dass ich meinen Text vergesse, also gehe ich ihn an der Bushaltestelle im Gedanken immer wieder durch." Sie lacht und es klingt alles andere als das Lachen einer Toten. Hinter uns schnauft Bus Nummer eins weg, das Bollern seines Motors erfüllt die Luft mit Vibrationen. "Aber was quatsche ich euch zu, Verzeihung!" , grinst die Zauberin von Canterville. "Da ist mein Bus! Tut mir leid nochmal, dass ich euch nichts spenden kann für euer Fest, ich wünsche euch trotzdem noch viel Glück bei eurer Sammelaktion!" Zarte, weiße Stöckelschuhe trippeln über den Asphalt, ein künstlicher Blumenstrauß wird geschwenkt zum Abschied und ich schaue perplex auf eine blitzende Zahnreihe hinter dem Grinsen der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Das ist Zeitraffer, ich könnte es schwören! Blitzschnell geschieht alles um mich herum, blitzschnell steigt die Lilienbraut ein in Bus Nummer zwei, blitzschnell verschwindet das Geheimnis von der Bildfläche, gleich einem Blitz, der nur ganz kurz am Nachthimmel aufzuckt. Als der Bus wie eine altersschwache Lokomotive wegdampft, habe ich das Gefühl, mir habe jemand das Gehirn geklaut. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Ich halte Taichis Hand, als müsse ich mich irgendwo festhalten, um nicht zu stürzen. Taichi schaut dem Bus mit einem Lächeln hinterher. "Eine Schauspielerin.", sagt er leise. Er ist wieder viel zu schnell für mich. Wahrscheinlich besitzt er die Fähigkeit, seine Geschwindigkeit immer an die des Momentes um sich herum anzupassen, wie ein Auto, wie eine Dampfmaschine. Während ich noch total perplex und überrumpelt dastehe, fasst er mit zwei Worten das Desaster unseres tollen, faszinierenden Geheimnisses zusammen. Eine Schauspielerin. Sie ist nur eine Schauspielerin. Sie trägt nur ein Kleid aus der Requisite und sie hält Lilien aus Plastik in der Hand. Und sie schaut immer so abwesend und geisterhaft, wenn sie auf den Bus wartet, weil sie ihren Text vor sich hinflüstert. Heute Abend wird sie sich abschminken und in Disco-Klamotten schmeißen, sie wird zu Ayu tanzen und Coctails schlürfen. Sie ist mehr und alles andere als ein Geist, der auf seinen Geliebten wartet. "Ich fühle mich verarscht.", sage ich traurig, ohne traurig zu sein. Genaugenommen müsste ich jetzt ob meiner Erleuchtung strahlen. Hat jemand eine Steckdose, in die ich hineinfassen kann? Ich fühle mich total blöde. Wie konnte ich nur auf diese bescheuerte Geister-Idee kommen? Nein, halt, stopp. Die Idee war von Taichi. Und der hat nie blöde Ideen. Darauf müsste ich einen trinken. "Mach dir nichts draus, Yama.", sagt Taichi und in meinem Bauch wird es ganz warm, weil er mich plötzlich bei meinem Kosenamen nennt. "Wir sind auf einen Trick hereingefallen, der keiner war." "Das muntert mich nicht unbedingt auf.", entgegne ich frustriert. Aber irgendwo muss ich doch grinsen. Wahrscheinlich hatten wir einfach nur Fantasie, an der es in dieser Stadt manchmal fehlt. Ich beginne, darüber nachzudenken, was wir jetzt tun sollen. Für Schule ist es zu spät, die ist schon längst aus. Darüber nachdenken, was mich dort morgen erwartet, ist sowieso alles andere als schön. Und um über den Schock der Schauspielerin hinwegzukommen, brauche ich eh noch etwas Zeit. "Lass uns gehen.", gebe ich von mir, ein bisschen gedankenverloren, ein bisschen aufmunternd. An einer Bushaltestelle inmitten des Großstadtdschungels herumzustehen und mir die Lunge unnötig zupesten zu lassen, ist jetzt etwas sinnlos. "Wohin denn?" Taichi bewegt sich ein Stück nach vorne, dann geht er mit wiegendem Gang zum Fahrplan, um zu sehen, wann der nächste Bus kommt, uns von hier wegholt. Es ist mir egal wohin wir fahren. Die Hauptsache ist, dass ich jetzt noch nicht diesen seltsamen Tag beenden möchte, dass ich jetzt noch nicht nach Hause gehen möchte. Das wäre alles ein wenig zu abgehackt. Außerdem ist da noch etwas offen, nach dessen Antwort ich stillschweigend suche. Über uns ist der Himmel blau und meine Laune ist gut. It's a beautiful day, sage ich mir. It's a beautiful day. Und ich lächele Taichi an. "Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare." (Oscar Wilde) Schon wieder Vögel. Nein. Seemöwen. Ich glaube, sie wollen gefüttert werden, während sie über uns in der Luft dahinschweben, vom Wind hin und hergetrieben, beziehungsweise im Sand umherstaksend, uns aber immer anschauend. Ich fühle mich beobachtet. Die Tokyo Bayside hat auch einen Strand, einen nicht gerade großen und besonders hübschen, aber immerhin einen. Klippen gibt es hier schon lange nicht mehr, weder auf unserer Seite an Odaiba noch auf der anderen Seite. Wenn man bei uns Selbstmord begehen will, muss man sich von der Rainbow Bridge stürzen. Überall gähnt der graue, leere Beton, beleidigt das menschliche empfindsame Auge. Der Sand ist hell und das Wasser des pazifischen Ozeans wird leise in kleinen Wellen an die Ufer gespült. Strand also. Naja, ich gebe zu, es war nicht mein Vorschlag, hierher zu gehen. Und in meinem Hinterkopf muss ich noch immer an den dummen Vogel von heute Morgen denken, wo gerade ganz andere Vögel an uns vorbeischwirren. Schade, ich habe absolut nichts mit, was ich den Möwen geben könnte. Ein paar Meter vor uns geht ein Pärchen, vielleicht beide ein oder zwei Jahre älter als wir. Als ich aus den Augenwinkeln heraus zu Taichi, der neben mir läuft, sehe, fällt mir wieder der leicht wiegende Gang auf. "Ich war früher oft mit meinem kleinen Bruder hier.", sage ich, um irgendwas zu sagen. Wenn ich eines nicht wirklich mag, dann ist es ein schweigsames Miteinander. Und Taichi hat seit 30 Sekunden nicht mehr gesagt, das weiß ich. Eigentlich ist das keine große Sache, aber wenn man nebeneinander am Strand umherläuft, sind 30 Sekunden eine halbe Ewigkeit. "Da waren wir noch im Kindergarten. Wir sind ständig abgehauen und dann hierher gelaufen. Mann, gab das hinterher immer einen Ärger!" Ich lache kurz. Taichi sieht mich milde an. "Und, habt ihr die Tradition aufrechterhalten?" Eine Möwe läuft trippelnd mit uns mit. Man kann gar nicht glauben, dass Vögel mit solchen Patschefüßen so behende laufen können. Es sieht einerseits aus, als würde sie bald über die eigenen Füße stolpern, und gleichzeitig kann sie mit uns Schritt halten. Vielleicht ist das ein Zeichen. Ich sollte Ornithologe werden. Irgendwann werde ich auf einem Vogel Strauß reiten und man wird mich bewundern, yay me! "Nein, das konnten wir nicht, unsere Eltern haben sich scheiden lassen und wir zogen auseinander." Ich lächle Taichi unbeholfen an. Wahrscheinlich kommt jetzt diesselbe Reaktion wie immer; ein betroffener Blick, ein "Wie schrecklich, das tut mir leid!" und ein Starren auf den Erdboden. Es ist den Menschen unangenehm, die Geschichte zu hören, denn sie geraten in Verlegenheit. Das habe ich nie verstanden, denn es waren ja nicht ihre Eltern, die auseinandergingen. Und im Ernst, es gibt durchaus Schlimmeres. Ich bin zu 95 % darüber hinweg, ganz sicher! "Oh...", macht Taichi und guckt tatsächlich auf den Sand vor sich. Die Möwe ist stehengeblieben, so wie er selbst. "Dann... war der Strand wohl nicht gerade eine gute Idee, oder?" Da ist sie wieder, die schmalgezogene Lippe. "Ach quatsch!", gebe ich nervös von mir. "Das ist nicht schlimm, das ist ja lange her, und du weißt ja, Zeit heilt alle Wunden!" Autsch, dummer Spruch. Ich brauche Taichi doch nur mal anzuschauen um zu wissen, dass das nicht immer so ist. Aber...ist das eigentlich irgendwann mal so? Über das Gesicht meines Freundes zieht sich eine dicke Narbe. Die wird sicher irgendwie zu sehen sein, solange er lebt, selbst wenn sie zu einem Schatten verblassen würde. Dummer Spruch. Aber Taichi schaut an mir vorbei. "Was meinst du, ob das Wasser schon besonders kalt ist?" "Höh?" Es ist Mitte Herbst, man könnte also schon davon ausgehen, dass das Wasser nicht mehr allzu warm ist. Aber warum will er das jetzt unbedingt ausprobieren? Ausgerechnet jetzt? Ich lasse mich in den Sand neben Taichi plumpsen, sehe zu wie er die schweren Schuhe abstreift und ein paar schwarz-weiß geringelte Strümpfe. Sorgfältig stopfen seine Hände die Socken in das Schuhwerk, wohlbedacht, dass der Wind nicht der sanfteste ist. Möwe und ich gucken und gähnen. Tun wir das wirklich synchron?! "Aber wenn es kalt ist, gehst du da nicht rein!", sage ich ermahnend. "Mal schauen!" Zwei Schritte später krempelt Taichi sich die Hosenbeine hoch bis zu den Knien. Sein Gesicht ist zum Wasser gewandt, der Wind durchstreift zärtlich seine braunen, zerzausten Haare. Ich sitze hier, neben den Schuhen und dem Rucksack und finde das Wasser schon vom Optischen her ziemlich eisig. Naja, wenn man davon absieht, dass Wasser meistens kalt aussieht, weil es in der Regel blau oder grün schimmert. Aber ich glaube, selbst wenn man es rot anschimmern würde, würde es kalt wirken. Hm. Wäre einen Versuch wert. Langsam geht Taichi auf das Wasser zu. Eine anschäumende Welle spült über die Zehen des rechten Fußes und im nächsten Moment zuckt Yagami zusammen. Na, wohl doch kalt, das hätte ich ihm ja gleich sagen können. Ich gähne noch einmal kurz, dann sehe ich, wie Taichi sich umdreht zu mir und mir mit zusammengebissenen Zähnen und einer schockiert-verzerrten Grimasse zu verstehen gibt, dass man im Wasser nicht unbedingt baden sollte. Die Möwe flattert weg. "Also hast du doch was mit ihr!", kreischt das Mädchen zehn Meter von uns entfernt. "Du verdammter Mistkerl, du blöder, dreckiger...!" Ich glaube, sie versucht, ihren Freund mit ihrer rosa Minihandtasche zu schlagen. Aber ob Lipgloss und Taschenspiegel so effektive Waffen sind? Ich kann das nicht sagen. Ich sehe auch nicht, ob er den Arm beschwichtigend um sie legt, ob er weggeht, ob er zurückschlägt. Mein Gesichtsfeld ist mit einem Mal verengt. Mit einem Mal spüre ich den kühlen Herbstwind über meine Haut fegen, mit einem Mal habe ich das Gefühl, er treibt mir Tränen in die Augen. Ich sehe Taichi vor mir, das erschrockene Gesicht verzogen, die Narbe verzerrt, die Zahnlücke hervorschauend. Über sein rechtes Knie zieht sich eine zweite, große Narbe, verschwindet mit einem roten Streifen unter der Hose am Oberschenkel. Da draußen fährt ein riesenhaftes, vollkommen unidyllisches Schiff vorbei. Vielleicht eines dieser zu groß geratenen Fischfang- und -verarbeitungsschiffe, in denen die Fische gleich in die Dosen verpackt werden oder auf Eis gelegt werden, um ein paar Stunden später auf dem Fischmarkt angeboten zu werden. "Blooming" steht darauf geschrieben, gleich neben der langweiligen Nummer des Schiffes. Klein und rosa. So bizarr. Taichi ist auf mich zugekommen, hat sich wieder hingesetzt. Seine Füße sind nass und ein klein wenig gerötet, typisch für dafür, wenn man in kaltes Wasser steigt. Er wackelt mit den Füßen, nein, mit den Zehen. Ich kann die Bewegungen spüren, die durch seinen Körper steigen, ich kann das Atmen in ihm herunter- und hochsteigen hören. Ich spüre die Luft, die durch seine Nase fährt. Und über allem habe ich das Gefühl, dass Taichis Augen brennen, auch wenn ich auf das Meer hinausschaue und auf das lächerliche Schiff dort draußen. "Willst du sie hören?" Er gräbt die Füße in den Sand, ganz langsam, er verlagert das Gewicht mehr in meine Richtung. Wir sind uns so nahe, dass ich all seine Organe leise flüstern zu hören glaube. Taichi... "Ich meine...die Geschichte, die hinter dem rampunierten Knie und meinem Gesicht steckt. Willst du sie hören?" Ich wende mein Gesicht ganz langsam ihm zu. Meine Augen finden seine. Ich gebe zu, ich habe Angst vor ihm, jetzt, hier, genau in diesem Moment. Denn ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht aus Spaß in der Gegend herumhumpelt. "Du wusstest seit Anfang an, dass ich darauf neugierig bin, oder?", sage ich trübsinnig und vergrabe eine Hand im Sand. Der ist nicht gerade kalt, aber warm ist er auch nicht. Er ist ein bisschen so wie nach einem lange vorangegangenen Regen, ein bisschen klamm und trotzdem trocken. Eigentlich sollte er mich verprügeln. Nicht der Sand, sondern Taichi meine ich. Ich war unnötig neugierig. Schließlich ist das Taichis Sache und nicht meine, und selbst wenn ihm ein Bein fehlen würde, würde mich das trotzdem nichts angehen. "Nicht wirklich, aber ich konnte es mir denken." Kein Wunder nach der Sache mit der Lilienbraut. "Naja...ich habe mir nur gedacht..." Nein, jetzt muss ich meine Beine angucken. Ihn ansehen geht nicht, ich glaube, ich würde rot werden, und ob das so zweckvoll ist? Was ist nur los mit mir? Ich muss mich räuspern. "...ich habe mir nur gedacht, was dir so Schreckliches passiert sein muss, um so...naja, so herumlaufen zu müssen." Okay, jetzt wage ich es wieder, ihn anzusehen. Dafür guckt er jetzt auf seine Beine. Auf die Narbe, die auf dem rechten Schenkel und Knie prangt. Und Taichi sieht nicht wütend oder böse aus. Vielmehr wirkt er angespannt. Vielleicht wollte er es so. Vielleicht wollte er ja, dass ich das sehe, dass ich frage, dass ich zuhöre. Ja, vielleicht möchte er einfach nur erzählen, ohne sich aufzudrängen. Und ich möchte es wissen. Da passen wir doch zusammen, oder...? Ich möchte die Hand auf seine legen. Traue mich nicht. Zuerst schauen mich seine braunen, großen Augen an, ein leichtes Lächeln andeutend. Dann versinken sie wieder im kalten, im blauen Wasser. "Naja, es ist ein paar Jahre her, als ich noch auf die Mittelschule gegangen bin. Damals hab ich noch Fußball gespielt. Eigentlich hatte ich damals nichts anderes im Kopf, ziemlich idiotisch." Er guckt mich schelmisch von der Seite an, ziemlich verschämt lächelnd. Ich kann mir zuerst nur schwerlich vorstellen, wie er hinter einem Ball herrennt und sich dann das T-Shirt über den Kopf zieht, laut und blödsinnig "Toor!" brüllend. So wie Michael Ballack es hier getan hat, 2002. Oder war es doch dieser Brasilianer? Aber Taichi sieht nicht aus wie ein Brasilianer, er ist ein stilles und verkrampftes Wesen, welches sich die meiste Zeit leicht behäbig bewegt, welches doch voller Kraft steckt. Es ist ziemlich seltsam. "Jedenfalls war ich im Fußball-Club damals. Wir hatten eins von diesen tollen mit Hecke umzäunten Fußballfeldern auf dem Sportplatz. Und irgendeines Tages hat mich ein damaliger Freund bei einem Spiel aus Wut in den Hausmeister geschubst, der gerade mit der elektrischen Säge an der Hecke zugange war." Ich ziehe blitzschnell Luft durch die Zähne ein, ich will "Oh Gott!" rufen, ich kann mich nur schwer davon zurückhalten, die Hände auf den Mund zu pressen wie ein hysterisches Mädchen. Das wäre ihm vielleicht zu theatralisch oder so etwas. In meinem Kopf aber formen sich Bilder. Eines ist Taichi, der in den Hausmeister geschubst wird, der die Säge ins Gesicht bekommt, die zu seinem Knie herunterrutscht, sich in die Kniescheibe frisst. Da sind Bilder von Taichis verzerrtem, aufgerissenem Gesicht, ein blutender, zerfetzter Streifen, freiliegendes Nasenbein. Ich kann seine Tränen sehen, ich kann es sehen, ich kann es hören, ich kann es spüren. Es tut weh wie die Hölle. Zu spät. Ich habe doch die Hände auf meinen Mund gelegt. Jetzt ist es mir auch egal, dann sehe ich eben weibisch aus. Es ist mir egal, denn das einzige, was ich mich jetzt und hier ausfüllt, ist Taichis Leid, welches von ihm in mich überzugehen scheint. "Warum...eine...warum eine Säge?", stammele ich. Yagamis Blick wird bekümmert; "Das weiß ich nicht. Normalerweise stutzt man Hecken mit elektrischen Heckenscheren, aber nicht mit einer Minikettensäge. Normalerweise benutzt man eine Säge auch nicht inmitten einer Meute spielender Kinder..." Ich kann es nicht aufhalten, dieses Bild. Ich kann nicht anders, ich muss es mir einfach vorstellen. Wie ein Krankenwagen kommt und Lehrer die entsetzten Kinder zusammentreiben, weg von dem Bild des Gräuels. Und mittendrin Taichi, der nichts anderes tun kann, als im Auge des Schmerzes zu schreien, mit offenem Gesicht und Knie. Mir wird schlecht... "Jedenfalls ist der Mann gestolpert, als ich in ihn flog, die Säge streifte mein Gesicht, er riss sie halt erschrocken weg, sonst hätte ich heute vielleicht keine Nase mehr... Aber das Ding muss schwer gewesen sein und so ist es irgendwie gegen mein Knie gekommen." Er starrt wieder auf sein Bein. Klar, wie könnte er auch nicht? Der blanke Horror. Er hätte sterben können an jenem Tag. Er hätte seine Nase oder ein anderes Körperteil verlieren können, die Säge hätte durch eines seine Augen gehen können oder seine Lippen spalten. Eigentlich ist es ein Wunder, dass diese Narbe so "vorteilhaft" durch sein Gesicht läuft. Es ist ein Wunder, dass er jetzt hier sitzt. Und doch, der Schmerz über die Sekunden, die alles veränderten, muss riesengroß sein. Ich wage es nun doch...ich lege meine Hand auf seine und spüre, während ich ihn schockiert anschaue, Tränen in meinen Augen aufwallen. Und zum Glück...er zieht die Hand nicht weg. Nein, er lässt sie dort, wo sie ist, und sie schließt sich zärtlich und leicht zitternd in meine. "Was ist das für ein Freund, der einen in den Tod schubst?!", presse ich dabei heraus. Taichi schluckt. Er schluckt Tränen herunter, das spüre ich. "Er war sauer, wegen irgendwas. Wegen einem Foul, wegen irgendeiner Lappalie.", murmelt er langsam. Über uns kreischt eine Möwe. "Er hat sich nicht mal entschuldigt, während der Hausmeister von der Schule geschmissen und angeklagt wurde. Ich meine..." Seine Stimme zittert. Was tu ich meinem Freund hier nur an? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ob ich ihn nun am mich ziehen soll, ihn trösten soll, oder ob ich so verharren soll, wie ich bin? Bewegungslos? Ich sehe, wie er sich fahrig dreimal über das Gesicht wischt. Aber er weint nicht. Er ist eben irgendwo doch ein Teil der Mythen, die in der Schule um ihn gesponnen wurden. "...welcher Freund schubst einen denn in eine Säge? Welcher Freund schlägt einem denn vorher einen Zahn aus, nur wegen eines beschissenen Fouls? So'n verdammtes Arschloch!" Ganz meine Meinung. Und damit wäre auch das Geheimnis um den fehlenden Eckzahn gelüftet. Aber mittlerweile fühle ich mich mit dem Geheimnis nicht mehr wohl. Die Sache mit der Lilienbraut ist der reinste Witz dagegen. Als ich Taichi wieder anschaue, krempelt er sich die Hose wieder herunter, denn an seinen Beinen hat sich Gänsehaut gebildet. Kein Wunder. Mit hartem Blick beginnt er die Socken zu sortieren. "Das ist eben der Mythos Freundschaft.", sagt er hart; "Irgendwo ist das alles für mich gestorben nach der ganzen Scheiße von damals. Ich kam auf die Oberschule und war sofort das Scar Face. Von Anfang an kam man mir dumm deswegen. Und als ich immer gereizter darauf reagierte, wollte bald niemand mehr mit mir was zu tun haben." Verkrampft zerrt er die Strümpfe über die noch feuchten Füße. "Und dann fing die ganze Sache mit den Schlägereien an. Ich meine, mit dem Knie kann ich nie wieder Fußball spielen und ich war zwischenzeitlich so aufgeladen, dass ich mich gut und gerne zu Prügeleien provozieren ließ. Als ich mein Jackett schwarz gefärbt habe, habe ich, nachdem ich deswegen zum Direktor zitiert wurde, auf den Vorfall hingewiesen. Die Mittelschule, auf der ich war, gehört ja zur Odaiba High, und weil der Direktor Schuldgefühle hat, lässt er mich so rumlaufen." So entsteht Mobbing wohl manchmal. Aufgrund von Missverständnissen, von Verletzungen, von Ignoranz. Ich hasse die anderen dafür, was sie Taichi angetan haben. Ich nehme ihm seine rebellisches Gehabe nicht übel. Ich glaube, er hat einfach nur Angst vor den anderen, und da Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, hat er einfach angegriffen, hat sich zu etwas gemacht, was er eigentlich gar nicht ist. Ein Schläger, ein Kerl, den man provozieren und von dem man Prügel einstecken kann. Es fällt mir schwer, diese Entwicklung nachvollziehen zu können. Das alles tut mir furchtbar leid... Ich sitze da und ich glaube, jetzt habe ich den schmalgezogenen Mund. Am liebsten würde ich allen Verantwortlichen den Hals umdrehen, zuallererst natürlich dem Arschloch, welches Taichi in die Säge gestoßen hat. "Es ist nicht einfach, so ein Leben...", sage ich leise. Sehr leise. Weil ich Angst habe, sonst etwas falsch zu machen. Taichi schaut noch immer in das dreckigblaue Meer vor uns. Fischkutter schippern vorbei, in der Ferne glänzen Baukräne an den Häfen. Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht ist es hier noch nie schön gewesen, idyllisch, romantisch. Es ist vielleicht ein dreckiges, küstenloses Loch am Rand von Tokyo-City. Und wahrscheinlich habe ich mir die Erinnerungen mit Takeru hier nur schöngedacht. "Leben ist niemals einfach.", sagt Taichi und steht auf. "Für manche mag es vielleicht einfach sein, am Leben zu bleiben. Aber das Leben selbst ist niemals leicht." Hier stehe ich nun, neben dem Jungen, den ich vielleicht kaum kenne. Neben dem ersten Menschen, den ich innerhalb eines halben Tages näher kennengelernt habe als andere. Und trotzdem scheint er mir jetzt so weit weg. Wie aus einer anderen Dimension. Ich schlucke. "War es für dich leicht, am Leben zu bleiben? Ich meine...in den letzten Jahren...?" Eine Geschichte liegt in den letzten Zügen. Wann hat sie angefangen? Eine Geschichte um das Leben, um das Sehen, um Schmerzen. Eigentlich fangen wir jeden Moment, jede Sekunde eine neue Geschichte an. Schließen alte ab. Es gibt auch Geschichten, von denen niemand weiß wann sie begannen, Geschichten, die scheinbar niemals enden. Die Geschichte der Liebe zum Beispiel. Da sind Erzählungen, die dich umbringen können. Da sind Lebensgedichte, die dich glücklich machen können. Geschrieben von einer unbekannten Hand wurde meine Geschichte zu Taichis getan, wurden meine Worte umgeformt zu einem "Wir" in dieser wundersamen Hand. Als hätte man zwei Bänder miteinander verknotet, sind wir im heutigen Tag beisammen. Ich horche nach innen. Das ewige ohrwurmähnliche Rufen der Bachstelze ist aus meinem Kopf gewichen. Es ist, als hätte ich eine gewisse Tagespflicht erfüllt. Taichi entlarven. Und als ich ihn anschaue, weicht er meinem Blick nicht mehr aus. Hinter mir rauschen leise, sanft gebrochene Wellen. Ich erfasse die dunklen, in der Sonne glänzenden Augen, so weit und groß, als hätten sie eine ganze Welt verschluckt. Über die Ränder dieser Augen treten zwei kleine Tränen, verhüllt in einem ehrlichen und traurigem Lächeln Yagamis. "Nein, Yama. Das war nicht leicht..." Es ist schon gut, Taichi. Jeder muss mal weinen, das ist nicht schlimm. Ich umarme dich tröstend und du bist mir so nahe. Und ich spüre irgendwie im Sonnengeflecht, mittig hinter dem Herzen liegt Schmerz verborgen, ein jahrealter Schmerz. Und daneben ganz unverhofft kann ich Erleichterung spüren; Erleichterung darüber, dass du vom Schmerz erzählen konntest. Ich schließe die Augen, ich spüre, wie du die Arme um mich legst und mich stumm umarmst. Du schluchzt nicht, du krallst dich nicht fest. Zuviel Barriere? Nein, du atmest tief ein und aus, verharrst in diesem Moment. Dein Geheimnis ging in mich über und nistet sich jetzt ganz still in Kopf, Herz und Bauch ein. Was aus ihm wird, wird sich wohl noch zeigen. Und so stehen wir da, ganz nahe beisammen, den Geruch des jeweils anderen ansaugend und studierend. Der Wind flattert durch meine blonden, schulterlangen Haare, streicht sie an deiner Wange entlang. Und auch ich spüre deine Haarspitzen auf meiner Haut. Dein Wesen, dein Selbst fühlt sich so angenehm an. Hinter uns pfeift ein Schiff ohrenbetäubend. Die Sonne verschwindet hinter einer großen Wolke. Der Pazifik säuselt leis. Und ich...ich fühle mich an dir so vogelfrei. So unendlich frei und traurig. Behält einer ein Geheimnis für sich allein, bleibt es Geheimnis. Behält es ein zweiter mit, ist es ein stiller Treueschwur. "Tut dein Knie eigentlich weh beim Laufen?" "Ja, manchmal. Aber eigentlich tut es beim Rennen mehr weh." "Und trotzdem kannst du noch immer so sprinten, das ist echt bewundernswert!" "Naja." "Und im Gesicht? Tut es da noch weh?" Die Frau mit den blauen Babystrümpfen sitzt wieder im Bus. Ihre Stricknadeln sind grau, die Wolle sieht aus wie geschmolzener Himmel. Ich muss an Koushirou heute früh denken, an den Fleck in meinem Hemd. Komisch, vorhin hab ich einen Aufstand deswegen gemacht, jetzt kümmert's mich nicht mehr, nicht im Geringsten. Die Frau sitzt auf der Bank hinter uns. Ich schaue kurz an ihr vorbei, als ich mich vorsichtig vorlehne, herüber zu Taichi, der am Fenster sitzt. Mein Zeige- und Mittelfinger legen sich sanft auf die Narbe im Gesicht. Sie ist wie ein dreidimensionaler Strich, eine schwache Erhebung. Die Stelle, wo sie über die Nase verläuft, ist wie eine winzige Kuhle. Ob er dort Knorpel oder Knochen verloren hat? Die Haut fühlt sich knotig an, unnatürlich. Eigentlich so wie sie aussieht. Ich glaube, ich gucke nachdenklich. "Nur wenn jemand draufschlägt.", sagt Taichi gedankenverloren. Für eine Sekunde lang schaue ich aus dem Fenster, nein, sehe in das Busfenster. Mein Spiegelbild strahlt zurück, wirft mir die Farben von blondem Haar und blauen Augen entgegen. Ich bin auch ein Sonderling. Aber blonde Haare tun nicht weh. Und dann liegen Taichis Finger auf meinem Zeige- und Mittelfinger. Manchmal sind Leute neidisch auf mein Aussehen. Vielleicht, weil sie sich selbst fünf Haarfärbungen draufklatschen müssen, um ein Mittelblond zu erreichen. Vielleicht, weil sie sich Kontaktlinsen in die Augen klemmen müssen, damit sie so ein Blau haben in der Iris. Ja, manchmal ist es nicht leicht, anders zu sein. Aber ob es auch nicht leicht ist, immer wie die anderen zu sein? Taichi zieht meine Finger vom Gesicht, sanft, langsam. Der Blick, den ich in seinen Augen lese, ist neu. Ich kenne diesen Ausdruck noch nicht. Mein Herz schwebt scheinbar über meinem Puls, und als wir über ein Schlagloch fahren, höre ich den Motor aufrattern, spüre ich plötzlich warme Lippen auf meinen. Die Straße ist eben geworden. Ich höre das leise Klackern der Stricknadeln. Ich spüre das Atmen der Menschen, mein Herzschlag nebelt mich ein. Fangen meine Finger an zu schwitzen? Taichis Lippen zittern schüchtern. Oder sind es meine...? Ich möchte weinen vor Rührung, ich möchte Yagami umarmen, ihn knuddeln, ich möchte...Es ist als ob ich plötzlich voll bin mit einer seltsamen Freude. Meine Hand berührt seine vernarbte Wange. Nur kurz, aber lang genug, um sanft über das Knotige der Haut zu streicheln. Und beim nächsten Schlagloch, da trennt uns der Ruck im Bus wieder, als wär er eine unkontrollierbare Naturgewalt. Ich glaube, Taichi gehört zu den Menschen, die andere eiskalt zurückstoßen wenn ihnen danach ist, egal wie vorsichtig sich diejenigen auch an ihn herantasten. Aber anderen Menschen erlaubt er, fast bis auf den Grund der Seele zu schauen. Wäre es jetzt wieder Zeit für ein Sahnebonbon? "Ist es deswegen?", wispere ich in das Grollen des Busses hinein. Vor uns taucht der Fernsehsender auf, bei dem mein Vater arbeitet. Bald sind wir zu Hause. "Obwohl du vorhin meintest, Freundschaft sei für dich gestorben, hast du mich von Anfang an an dich herangelassen. Du hast mich ganz anders behandelt als die anderen, nicht wahr? Du hast mich schon gekannt..." Ich umfasse zärtlich seine Hand. Wie warm seine Finger doch sind... Der Frau hinter uns fällt die Wolle herunter. Taichis Augenbrauen senken sich, er guckt den Sitz vor uns an; "Ich hab's nicht ertragen können, wie die dich vorhin zusammengeschlagen haben. Ich glaube, selbst wenn es Polizisten gewesen wären, oder der Kaiser persönlich, ich hätte ihnen dafür genauso die Nase gebrochen wie Honda." Die Sonne bricht wieder durch. Noch zwei Stationen. Ich schaue jetzt ebenfalls auf den Sitz vor uns. Taichi. Wer hätte gedacht, dass du so treudoof bist...? Mein Daumen streichelt seinen Handrücken. "Schon seltsam.", sage ich leise. "Die anderen haben dich zwar verbal verletzt und verprügelt, aber du hast sie nie mehr an dich herangelassen. Und ich...Mich hast du hineinblicken lassen, Taichi. Ich meine, ich weiß jetzt Dinge, die wohl kaum ein anderer weiß!" Ich schaue ihn wieder. Taichi. Tai. Ichi. Ichi... "Ich hätte dich soviel mehr verletzen können als die anderen, wenn ich für dich soviel mehr bin als die anderen. Warum warst du so unvorsichtig bei mir?" Der geschmolzene Himmel über dem Bus, als wir aussteigen. Das gelbe Haltestellenschild. Ich schultere meinen Rucksack langsam, zupfe mein neues Hemd zurecht und traue mich plötzlich nicht mehr, Ichis Hand zu nehmen. Ich hab dich jetzt durchschaut, Taichi Yagami. Warum du meinen Namen vorhin wusstest, warum du mir nicht sagen wolltest, warum du ihn wusstest. Ich weiß jetzt, warum ich nicht Mühe aufwenden musste, um vertraut mit dir zu werden. Und dieses Wissen macht meinen Bauch ganz warm, verbreitet Sonnenstrahlen in meinem ganzen Körper. Es ist, als hätte ich dieses Gefühl der Vogelfreiheit in mir sitzen. Der Fakt, die Wahrheit zu wissen- und wenn diese Wahrheit dazu noch so schön ist- ist wohl eines der schönsten Dinge der Welt. Taichi steckt, wie vorhin, die Hände in die Taschen seines schwarz gefärbten Blazers. Er lächelt mich an. "Du hast mich aber nicht verletzt. Vielleicht wusste ich das einfach vorher." Sein Lächeln löst sich inmitten des warmen und weichen Sonnenscheins, der auf uns herabregnet. Odaiba liegt graubunt vor uns, Werbung schreit von den Häuserwänden, der Asphalt ist dunkel. Ich weiß nicht, wer nach wessen Hand fasst- er nach meiner?- ich nach seiner? It's a beautiful day, sage ich mir, da war ich ganz sicher. Ich muss plötzlich an tausend Dinge gleichzeitig denken. An Koushirou, der jetzt in seiner AG sitzen wird. An die Lilienbraut, die ihren Text in Bushaltestellen lernt. An Honda, dem man die Nase hoffentlich höchst schmerzhaft wieder richtet. An meinen Lehrer, der jetzt über Arbeiten gebeugt sitzt und sich fragt, wo ich den ganzen Tag gesteckt habe. An die Verkäuferinnen im Geschäft in Shinjuku, an die Kontrolleurin von vorhin. An Taku, den ich nächstens höchst angestrengt ignorieren werde. Ich muss an die blauen Babystrümpfe denken. An Takeru. An die Bachstelze. An die zerbrechliche Wahrheit, die nun in mir liegt. Schatten wirft sich auf die Straße des Gegenverkehrs. Aber wir laufen auf der Sonnenseite. Vogelfrei. Du hast mich aber nicht verletzt.... Was bleibt, ist die Faszination für einen Jungen, der trotz allem so sehr vertrauen kann... Manche Tage beginnen damit, dass etwas passiert, womit man nie gerechnet hätte. Das können positive Erlebnisse sein, aber auch negative. Doch seltsamerweise scheinen solche Ereignisse den gesamten Tag zu ebnen. Es fängt meistens in der Früh an, wenn du noch zu müde für den Alltag bist. Aber keine Sorge, der wird dich schon früh genug wachrütteln! Koushirou zum Beispiel. Er steht da, vor dem großen schweren Schultor, nachdem ich meinen Bus verpasst hatte. Kein Wunder, zuwenig Schlaf nach dem gestrigen Wahnsinnstag kann tödlich sein, was die Pünktlichkeit anbelangt. Ich weiß noch, ich habe von Fröschen mit billigen Krönchen geträumt. Ich glaube, ich war einer. Und als Taichi im Kleid der Lilienbraut zu mir gewandelt kam, musste Koushirou mich per Telefon wachklingeln... "Wo warst du gestern die ganze Zeit?!", zetert Izumi und rückt sich die Kravatte so zurecht, dass es nach Erwürgen aussieht. "Die halbe Klasse hat nach dir gesucht!" Echt? Ich muss mir unwillkürlich vorstellen, wie sich die Leute aus meiner Klasse mit Safarihelmen und Macheten durch das Unterholz schlagen. "Das mit gestern ist wirklich eine seehr lange Geschichte!", sage ich gähnend. Kou tippt mit dem Fuß auf dem Boden, dass es staubt. Über uns scheint die Sonne herrlich, so wie gestern. Die Bäume auf unserem Schulhof haben ja bereits angefangen, sich bunt zu färben und zur Erde zu fallen. Und als ich hochschaue, sehe ich von der anderen Seite Taichi zur Schule kommen. "Krieg' ich 'ne Zusammenfassung?", fragt Izumi misstrauisch. 'Die anderen werden mich nie mögen.', hat Taichi gestern noch gesagt. Aber ich glaube nicht daran. Wenn aus Freunden Feinde werden können, muss es doch auch andersherum gehen. Ich schaue Ichi lächelnd entgegen. Er läuft gemütlich am Schulzaun entlang, immer mit diesem typischen Humpeln. Und als er mich sieht, formt sich ein zärtliches Lächeln auf dem Gesicht. Die Narbe lacht wieder mit. Nein...nein, Taichi Yagami ist nicht hässlich. Er gehört zu den hübschesten Menschen, die ich je gesehen habe...nein, für mich...ist er der Hübscheste von allen. Auch wenn ich die Bachstelze von gestern aus dem Kopf bekommen habe, irgendwie muss ich noch immer an sie denken. Im Prinzip hat sie den gestrigen Tag mitsamt aller Vorkommnisse eingeleitet. Wer weiß... vielleicht war der Vogel inWirklichkeit der Geist. Ich könnte Koushirou von der Lilienbraut erzählen, oder von Honda. "Eine ganz grobe Zusammenfassung ist, dass ich gestern jemanden kennengelernt habe." Aber diese Dinge können auch noch warten. Wahrheiten-häppchenweise. Die Wahrheit ist, dass wir vogelfrei sind. Nein, nicht zum Abschuss freigegeben. Das war vielleicht einmal. Aber nun haben wir das Level der absoluten Freiheit erreicht. Und ich muss sagen, dass es sich wahnsinnig gut anfühlt. Taichi steht neben mir, die Lippe wie instinktiv schmalgezogen. Und Koushirou schaut, als würde er am liebsten gleich weglaufen wollen. "Koushirou, das ist Taichi!", sage ich lächelnd. Die Wahrheit ist, dass Taichi vielleicht auf mich gewartet hat. Und ich auf ihn. Da war ein Herz, welches insgeheim für mich schlug und da war ein Ich, welches wie ein Dornröschen erwacht ist. Und nun sind wir...Seele an Seele, Hand in Hand. Weil Liebe befreit. Das habe ich irgendwo mal gelesen. Izumi starrt Taichi entgeistert an. Dann mich. Ich kann spüren, wie es in seinem klugen Kopf arbeitet, wie es rattert und raucht. Und dann sehe ich, wie Yagami eine Verbeugung andeutet, wie er den Mund entspannt. Anstrengung für einen Neuanfang. "Freut mich, dich kennenzulernen, Koushirou-kun." Ich glaube, er probiert ein Lächeln, aber das ist wohl sehr schwierig. Bis zum Abend haben wir einander in den Armen gelegen. Die Welt war verwandelt- und mit ihr wir vielleicht auch. Und nun sind wir zurück am Anfang der Geschichte, wir versuchen mutig eine neue Stufe zu erreichen. Taichi ist kein Monster und das sollen die anderen ruhig kapieren, ebenso, wie Taichi lernen muss, dass ihn unmöglich die ganze Schule für immer hassen wird. Koushirou ist vielleicht ein Anfang, der Taichi dabei Mut macht, denke ich. Ein erster Schritt, denn der erste Schritt ist ja bekanntlich immer der schwerste. Ich spüre Taichis Hand in meiner. Geborgen, hilfesuchend, unsicher und zärtlich zugleich. Das ist das Ende der Geschichte. Das ist der Anfang einer neuen. Und Koushirou lächelt schüchtern. "Hallo, ja, mich freut es ebenfalls!", sagt er. "Auf gute Freundschaft." Siehst du, Taichi? Du musst nicht mehr alleine sein. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)