Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 34: ------------ Die Stille war vollkommen. Selbst die winzigen grünlichen Blitze, die sich um ICTUS wanden, waren absolut stumm. Die Finsternis schien alle Geräusche aufzusaugen; mit derselben Mühelosigkeit, mit der sie die Zeit in dickflüssigen Sirup verwandelte. Dies war eine Dimension der endlosen Weiten, die keinen Anfang und kein Ende besaß. Weder zeitlich noch räumlich. Und umgeben von Stille und Finsternis verharrte es und wartete voller Ungeduld darauf, dass seine Zeit endlich kommen möge. Es sah an seinem rechten Handgelenk hinab. Silbern in der Finsternis glänzend umschlang ICTUS seinen Unterarm, einem Handschuh aus Metall gewordenen Ranken gleich. Ein Glühen und Blitzen wand sich ohne Unterlass um diese mächtige Waffe. Ganz so, als besäße es eine boshafte Intelligenz, schrie dieses Instrument der Zerstörung auf diese Weise nach neuer Energie. "Sei ohne Sorge, ICTUS, schon bald werde ich Dir den Kristall bringen, der Dir Deine ganze Macht zurückgibt. Mein Wort darauf", wisperte es, und obwohl die Worte von der Stille verschluckt wurden, kaum dass sie seine Lippen verlassen hatten, nahmen die bläulichen Funken etwas ab, die aus den Runen und den verschlungenen Ornamenten der silbern glänzenden Waffe hervorsprühten. Einzig das Loch, das den Blick auf seine Handfläche freigab, zeugte von der Unvollständigkeit dieses Mordinstruments. Dies war die Stelle, wo der Kristall eingesetzt werden musste. Es verfluchte die Feinde, die den Kristall im letzten Jahrtausend aus dieser seiner angestammten Halterung gerissen und ICTUS damit von seiner wertvollsten Energiequelle getrennt hatten. Im jetzigen Zustand war diese Waffe immer noch mächtig, aber im Anbetracht der gewaltigen Macht der Feinde war selbst ICTUS absolut nutzlos. Ohne den Kristall konnte es diesen Krieg nie und nimmer gewinnen. Es konzentrierte sich und beanspruchte enorme Energien, um in die Welt der Menschen zu treten. Das bedeutete für es nur einen kleinen Schritt im Raum, aber trotzdem war es sehr kraftlos, als es endlich in dieser Dimension von Licht, Zeit und Leben ankam. Keuchend sah es sich um. In dieser Welt besaß es keinen Körper sondern konnte nur als Schatten existieren. Nur das gelegentliche Aufglühen von ICTUS wäre dazu imstande gewesen, es zu verraten. Aber auch die Waffe hatte beim Dimensionssprung zu viel Energie verloren. Es spürte das Leben, das in dieser Großstadt pulsierte. Leben bedeutete Energie. Und es brauchte nur Sekunden um ein Opfer zu finden, dessen Kraft ICTUS und seinem Träger helfen konnte, in dieser Dimension zu überleben. Ohne jegliches Zögern entriss es dieser wehrlosen Gestalt die lebenswichtige Energie. Das Mädchen hatte nicht mal mehr die Zeit, um zu schreien... "Komm schon! Bitte, bitte!", flehte Mamoru Motoki an. "Frag mich die Vokabeln noch mal ab! Du kannst mich hier nicht so hängen lassen!" Motoki seufzte darauf genervt. "Ich hab Dich doch schon ein paar Mal abgefragt! Glaub mir: Du hast den Scheißdreck drauf! Mann, wenn wir so weiter machen, dann kann ja sogar ich die ganze Scheiße bald auswendig!" "Das ist doch nichts Schlechtes", entgegnete Mamoru mit einem Grinsen. "Dann hättest Du auch mal bessere Noten in Englisch." "Deinetwegen bekomm ich noch Albträume", brummelte Motoki. "Komm schon, gib Dir einen Ruck! Nur noch dieses eine Mal! Ich will doch nur sicher gehen! Na los, die Prüfung heute ist wichtig!" "Hölle und Teufel, ja, verdammt noch mal! Aber dann gibst Du endlich Ruhe, klar?" Motoki zog wieder das inzwischen ziemlich mitgenommen aussehende Stück Papier aus seiner Schultasche, wischte ein paar Mal mit der Hand drüber, um es zu entknittern und ein paar Eselsohren zu entfernen, dann räusperte er sich und legte mit gelangweilt klingender, monotoner Stimme los: "Instantaneous?" "Unmittelbar", antwortete Mamoru. "Reliability?" "Zuverlässigkeit." "Komplize?" "Accomplice." "Hirnverbrannter Trottel?" "Crack-brained fool. ...Hey, Moment mal! Das war vorhin aber noch nicht dabei!" "Das nicht ... aber es hat mich einfach interessiert, ob Du das auch weißt. Sag mal, woher kennst Du so'n Schrott eigentlich?" Mamoru zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Steht vielleicht so im Wörterbuch? Oder... Ach, ich hab keinen blassen Schimmer. Jetzt mach einfach mal ernsthaft weiter!" "For Heaven's sake?" "Heilige Scheiße!" "Na ja, ist etwas frei übersetzt, aber..." "Nein", rief Mamoru und wies mit dem Arm in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern. "Sieh mal da!" Dort, auf dem Boden, etwas in den Schatten zweier großer Müllcontainer gezogen, lag ein regloser Körper. Die beiden Jungs rannten hin und untersuchten das junge Mädchen. Sie war bewusstlos. Vorsichtig drehte Mamoru sie auf den Rücken und strich ihr behutsam eine Strähne ihres langen, braunen Haares aus dem Gesicht. Motoki schnappte entsetzt nach Luft. "Kennst Du sie?", fragte Mamoru nach und versuchte herauszufinden, was der Kleinen fehlte. Ihre Haut fühlte sich eigenartig trocken an und ihr Atem ging ungleichmäßig und stockend. "Ja, klar doch!", rief Motoki aus. "Das ist Miharu!" "Miharu?" "Na logo! Erinnerst Du Dich nicht mehr? Die Kleine, die Dir den Liebesbrief geschrieben hat! Du weißt schon, den hab ich Dir Gestern gegeben! Das ist sie! ...Hast Du ne Ahnung, was ihr fehlt?" "Hmm", machte Mamoru. Er nahm ihr Handgelenk und prüfte ihren Puls. Das Herz schlug für seinen Geschmack etwas zu langsam, aber doch relativ beständig. "Ich bin mir nicht sicher. Es sieht so aus, als habe sie einen Kreislaufkollaps erlitten, wegen Flüssigkeitsmangels. Verflucht, ich bin doch kein Arzt! Jetzt beweg Dich endlich und ruf einen Krankenwagen! Na los!" "Ja, ist gut!" Motoki entledigte sich seines Schulranzens und seiner Jacke und stopfte den Zettel mit den Vokabeln in seine Schultasche. In einem letzten Zögern wandte er sich seinem Freund zu und fragte: "Hey, großer Medizinmann ... kannst Du was für sie tun?" "Ich werd's versuchen. Aber versprechen kann ich natürlich nichts. Und jetzt beweg Deinen Arsch!" Der Blonde raste davon. Bis zur nächsten Telefonzelle war es nicht sehr weit. Mamoru indessen versuchte, es Miharu so bequem wie nur möglich zu machen, indem er sich hinhockte und ihren Kopf auf seinem Schoß platzierte. Er ergriff ihre Hand und konzentrierte sich darauf, ihr seine heilenden Impulse zu senden. Was konnte denn bloß mit ihr geschehen sein? Das hier war doch alles andere als normal! Mamoru fand einfach keine logische Erklärung. Dazu hatte er aber auch ziemlich wenig Gelegenheit, denn diese Heilprozedur verlangte ihm viel Kraft und Ausdauer ab. Schon bald war er mit seiner Energie am Ende. Er lehnte sich einfach achtlos zurück, stieß mit seinem Rücken gegen die eine Hauswand und schnappte erschöpft nach Atem, während er die Augen vor lauter Anstrengung geschlossen hielt. Er hatte seinem Körper mit dieser Aktion wahrscheinlich sogar noch mehr abgefordert, als wirklich gut für ihn gewesen wäre. Das Ergebnis war nicht unbedingt berauschend. Aber immerhin hatte sich Miharus Atmung beruhigt und sie sah nicht mehr so leichenblass aus. Die Chancen standen womöglich ganz gut, dass sie überlebte. Träge hob Mamoru ein Augenlid an. Im gleichen Augenblick bereute er es auch schon wieder. Denn was er da vor sich sah, erschreckte ihn so sehr, dass er am liebsten zu schreien angefangen hätte. Doch aus seiner Kehle drang nur ein raues Krächzen. An der gegenüberliegenden Häuserwand war ein gigantischer Schatten zu sehen. Er schien grausam missgestaltet zu sein; Hörner und scharfe Krallen waberten wie dicker Nebel umher und schienen wieder zu verschwinden, ehe man sie richtig hätte erkennen können. So etwas wie Tentakel schienen sich zu formen und im selben Moment wieder zurückzuziehen. Etwas Undefinierbares erschien; irgend eine Mischung zwischen einem zweiten Paar Arme und einem Paar gewaltiger Schwingen, deren Form sich unbeständig änderte. Das vielleicht Grässlichste an dieser Erscheinung war: Weit und breit war kein Körper zu sehen, der diesen grässlichen Schatten hätte werfen können. Dieses Etwas schien einfach zweidimensional an der weißen Häuserwand festgeklebt zu sein. Doch es bewegte sich unablässig. Und dann trat dieses Wesen aus der Wand hinaus und materialisierte sich auch in der dritten Dimension! Mamoru wich ängstlich zurück und drückte seinen Rücken fester gegen die Mauer. Zu seiner Linken war die von Hauswänden umzäunte Sackgasse, wo nur einige Müllcontainer und Pappkartons herumstanden. Zu seiner Rechten war der Ausgang, wo Licht und Leben zu finden waren. Vor ihm war das Ding, dass nun Schritt für Schritt näher kam, ohne dabei das geringste Geräusch zu verursachen. Und noch immer lag Miharus Kopf auf Mamorus Beine gebettet. Die Kreatur - immer noch körperlos, dunkelgrau und durchsichtig - streckte seine rechte Hand vor (oder das, was bei einem menschlichen Wesen die rechte Hand gewesen wäre) und erst jetzt bemerkte Mamoru das starke Glühen und die winzigen Blitze, die sich um den Schatten wanden ohne ihn dabei zu erhellen. Er konnte an diesem Wesen keine Gesichtszüge erkennen - dort, wo der Kopf sein sollte, thronte nur eine Art schwarze, durchsichtige Blase auf dem Körper der Kreatur. Diese Blase hatte zwar annährend menschliche Proportionen - sah man von den Tentakeln ab, die ständig kamen und gingen - aber man konnte keine genauen Konturen ausmachen. Fast, als sähe man noch immer nur eine Silhouette, und kein dreidimensionales Etwas. Das Ding - Mamorus Verstand weigerte sich, es als ein lebendes Wesen zu bezeichnen - reckte sie Krallen seines rechten Armes immer weiter Mamoru entgegen und berührte ihn schließlich am Hals. Es war ein grausiges Gefühl der Kälte, fast, als würde richtig dickflüssiger Nebel auf einmal Hände ausbilden und erbarmungslos zupacken. Mamoru spürte keinen Schmerz bei dieser Berührung. Es war zwar unangenehm und kalt, aber erträglich. Und er spürte, wie eine wohlige Müdigkeit ihn einzuholen drohte. , dachte Mamoru entsetzt. Doch so leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. Mit aller verbliebenen Kraft suchte er sich dem Einfluss des Wesens zu wehren. Er packte mit seinen Händen zu, nur um irgendwas zu greifen. Seine Finger gingen ins Leere. Als sei diese Kreatur tatsächlich Gestalt gewordene Dunkelheit. Mamorus Kräfte schwanden immer weiter. Er versuchte verzweifelt sich zu wehren, aber obwohl er das Etwas nicht berühren konnte, so war doch das Wesen dazu in der Lage, Mamoru an Ort und Stelle zu halten und ihn absolut bewegungsunfähig zu machen. Der Druck auf seinem Hals nahm etwas zu. , dachte er. Doch die gewaltige Müdigkeit nahm diesem Gedanken seinen Schrecken. Ihm wurde schon allmählich schwarz vor Augen. Erschöpft und dem Ende seiner Kräfte nahe, spürte er die Wärme, die seine Müdigkeit noch unterstrich und ihn träge machte, und die sich immer weiter steigerte. Nur Sekunden später schien ein wahrer Vulkan aus Hitze in seinem Körper auszubrechen. Er wollte aufschreien, doch seine zusammengepressten Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Nur ein leises Röcheln drang aus seiner Kehle. Und dann... Dann erschien ein sanftes, pulsierendes Leuchten im engen Raum zwischen Mamoru und dieser Scheußlichkeit. Das Glühen verstärkte sich zusehends. Und aus diesem Licht heraus erschien der Goldene Kristall. Die Kreatur zögerte sichtlich und ihr Griff um Mamorus Hals wurde merklich schwächer. Hätte dieser durchsichtige Schatten erkennbare Augen gehabt, so hätten sie sich vermutlich mit Skepsis auf den leuchtenden Kristall gerichtet. Es schien, als könne sich das Wesen nicht entscheiden, ob es sich mit dem Goldenen Kristall anlegen oder eher seine Macht nicht unterschätzen sollte. Mit dem letzten Rest an Energie hob Mamoru unter Ächzen und Stöhnen seinen rechten Arm, griff nach dem warmen, intensiv leuchtenden Kristall und richtete ihn gegen die finstere Kreatur. "Weiche ... von mir ... böser Geist...", murmelte er vollkommen erschöpft. Er musste mit aller Macht seinen inneren Impuls zurückkämpfen, sich einfach der verlockenden Müdigkeit hinzugeben und in das Reich der Bewusstlosigkeit zu gleiten. Das Wesen rührte sich nicht. Ausdruckslos, schon beinahe ernüchtert schien es den Goldenen Kristall anzustarren. Fast, als sei diese Kreatur absolut unbeeindruckt von dem sanften Licht, das aus dem Inneren des Kristalls leuchtete. "Macht des ... Goldenen ... Kristalls! Ich rufe ... Dich ... bitte ... erhöre mein Flehen und ... hilf mir. Kämpfe ... für mich!" Augenblicklich verstärkte sich das Licht, wurde heller und gleißender und schien die Umgebung zu verschlucken, um sie so vom Bösen zu reinigen. Und als die ersten goldenen Strahlen das Wesen berührten, da durchdrangen sie den Körper des Dämons ohne Schaden anzurichten! Im Gegenteil: Am rechten Arm der Schattenkreatur sah es so aus, als würde irgendetwas das Licht aufsaugen und es in feste Materie verwandeln! Nach und nach wurde so ein silbriges Glänzen sichtbar, das sich um das Handgelenk des Wesens formte, und das mehr und mehr die Form eines Handschuhs annahm, der aus geschwungenen, zu Silber erstarrten Ranken zu bestehen schien, und der mit magischen Symbolen, Runen und Ornamenten nur so übersät war. Und dieses Ding - was es auch immer sein mochte - fuhr beständig damit fort, das Licht des Goldenen Kristalls abzusaugen. Mehr noch; es nahm nicht nur das Leuchten auf, das der Kristall so schon abgab, es schien auch noch die Energie aus dem Inneren des Kristalls herauszuziehen und sie zu absorbieren. Für Mamoru war das etwa das Gefühl, als würden ihm die Gedärme herausgesogen. Er spürte den immensen Energieverlust seines Kristalls überdeutlich und er war absolut hilflos dagegen. So sehr er sich auch wehrte - die Kreatur fuhr mit ihrem Tun fort ohne mit der sprichwörtlichen Wimper zu zucken. Das sonst so immense Glühen und Strahlen des Goldenen Kristalls nahm ab und erlosch dann völlig. Vollkommen entkräftet schloss Mamoru die Augen. Sein Geist glitt in eine emotionslose Finsternis. Irgendwann drangen wieder Geräusche in sein Bewusstsein. Das monotone Brummen von Automotoren. Vogelgezwitscher. Das leise, sanfte Säuseln des Windes. Und noch etwas... Eine Stimme... "Mamoru! Verdammt noch mal! Mach die Augen auf! Rede mit mir! Mann, was ist mit Dir los? Mamoru!!!" , realisierte Mamorus Gedächtnis träge. Doch eine gewisse Gleichgültigkeit hinderte ihn daran, auf seinen Freund zu reagieren. Er wollte wieder einschlafen. "Mamoru! Wach endlich auf!" Ein starkes Rütteln ging durch seinen Körper. "Mamoru! Sag endlich was! Irgendwas! Ma-mo-ru! Rede doch!" Doch er reagierte immer noch nicht. Sein Pech. Denn erst, nachdem ihm Motoki eine saftige Ohrfeige verpasste, stöhnte er und öffnete träge die Augen. "Du miese, kleine Ratte! Wenn ich wieder richtig auf'm Damm bin, mach ich Dich deswegen kalt!", drohte Mamoru leise murmelnd. "Den großen Geistern sei's getrommelt und gepfiffen, Dir geht's besser!", stellte Motoki grinsend fest. Doch er wurde schlagartig wieder ernst. "Was ist los mit Dir? Was zur Hölle ist hier passiert?" "Hölle ... pah! Das passt ja wie die Faust auf's Auge. Hier ist aber echt die Hölle losgewesen. Wo ... wo ist der Schatten?" Mamoru versuchte den Kopf anzuheben und sich zu orientieren, doch dazu fehlte ihm einfach die nötige Kraft. Er ließ seinen Brummschädel wieder in die weiche Jacke sinken, die Motoki ihm unter den Nacken geschoben hatte. "Schatten?" Motoki war deutlich verwirrt und sah sich für seinen Freund um. "Hier gibt's ne Menge Schatten. Wirst schon etwas präziser sein müssen." Mamoru dachte kurz nach. Konnte er sich womöglich etwas so dermaßen Abstruses einfach eingebildet haben? Zum einen war die Kreatur zu schrecklich gewesen um wahr zu sein. Zum andern allerdings war sie auch zu abscheulich, als dass sein Verstand dazu in der Lage gewesen wäre, sich so was nur auszudenken. Aber wer hatte denn schon so was gehört? Schatten, die lebendig wurden, herumliefen und Energie sammelten? Und doch war Mamoru nach dem gewaltigen Energieverlust zusammengebrochen. Etwas Derartiges geschah ja nicht grundlos. Mamoru beschloss, erst etwas mehr über seinen Feind herauszufinden, ehe er weitere Entscheidungen treffen würde. "Ich hab's wohl nur geträumt", vertröstete er Motoki. "Kannst Du mir jetzt mal bitte verraten, was hier passiert ist, Kumpel? Ich hab keinen Bock, noch länger auf heißen Kohlen zu hocken." "Ich ... weiß es auch nicht so genau. Mir ist nur irgendwie schlecht geworden, als ich mich um Miharu gekümmert hab. Vielleicht vertrag ich es nicht, wenn ich es mit meiner Heilfähigkeit übertreibe? Übrigens, wie geht es der Kleinen? Sie hab ich ja völlig vergessen." "Nun ja", antwortete Motoki mit einem besorgten Seitenblick auf das Mädchen, das noch immer am Boden lag und sich nicht rührte. "Sie ist noch bewusstlos, aber ich finde, sie sieht besser aus. Sie hat wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Deine heldenhafte Rettungsaktion war insofern ein voller Erfolg, so meine Meinung. Es hat sich gelohnt. Der Krankenwagen dürfte auch gleich hier aufkreuzen. ...Kannst Du aufstehen? Soll ich Dir helfen?" "Ja, versuchen wir's." Mamoru packte Motokis Arm, hielt sich daran fest und wurde von seinem Freund hochgezogen. Er war noch nicht richtig auf den Beinen da sackte er auch schon wieder keuchend dem Erdboden entgegen. "Gib ... gib mir noch einen ... Moment zum Ausruhen", bat Mamoru nach Luft schnappend. Er fühlte sich immer noch ausgelaugt und auf nicht näher zu beschreibende Art und Weise leer. Der Goldene Kristall war vermutlich wieder in seinem Körper verschwunden, doch obwohl er ihn nicht sehen konnte, so spürte er doch immer noch, wie sehr sein Licht abgenommen hatte. Zorn und die Verzweiflung der Hilflosigkeit keimten in Mamoru auf. Wieso war dieser Schatten nur so stark gewesen? Wer oder was genau war das überhaupt? Und warum hatte es Mamoru am Leben gelassen? War Miharu nur eine Falle gewesen? Oder war das alles Zufall? <...Komischer Zufall, wenn sich einfach so ein Schatten materialisiert...> Was sollte er nun gegen diesen übermächtigen Gegner tun? , schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Doch irgendwie zweifelte Mamoru an der Ruhe. Die Gestalt hatte ihn Tagelang verfolgt; es wollte wahrscheinlich irgend etwas von ihm. Die Energie des Goldenen Kristalls? Wollte diese Höllenkreatur ihn vielleicht als eine Art Ladestation benutzen? Mamoru wollte sich nicht wie Vieh behandeln lassen, das man nach Lust und Laune melken konnte! "Mamoru? Kann ich irgendwas für Dich tun?", fragte Motoki. Er sah sehr besorgt drein. "Hmm, ich weiß nicht", gestand Mamoru. "Einen Versuch wär's wert. Gib mir Deine Hand und lass mich sehen, was ich tun kann." Motoki machte ein misstrauisches Gesicht, ließ Mamoru aber doch gewähren. Der Herr der Erde griff nach der Hand seines Freundes und konzentrierte sich so gut ihm das in seinem erschöpften Zustand noch möglich war. Zunächst spürte er ein sanftes, warmes Pulsieren, daraufhin sah er so etwas wie eine schwache, goldfarbene Korona, die sich rund um die Hände der beiden bildete, und dann fühlte er, wie die Kraft und die Wärme des Lebens seines Freundes in Mamorus Körper strömte. All dies war ein sehr angenehmes Gefühl, ein Gefühl der Geborgenheit und der tiefen, innigen Freundschaft. Ein Gefühl vollsten Vertrauens. Und auch ein Gefühl von Stärke und ... Macht. Mamoru besaß durchaus die Macht dazu, Motoki alle Energien abzuziehen, und in seinem Innersten erwachte die Gier, mehr zu besitzen; immer weiter dieses Gefühl der Stärke und Wärme zu spüren. Der Goldene Kristall war mächtig. Vielleicht war er sogar das mächtigste Werkzeug der Erde, wenn Mamoru nur lernen würde, ihn richtig einzusetzen. Mit seiner Hilfe konnte Mamoru als Herr der Erde den ganzen Planeten und all seine Energien kontrollieren, das wurde ihm mit einem Schlag bewusst. Nur mit Mühe konnte Mamoru im letzten Moment seine Hand losreißen. Nur ein Moment mehr, und Motoki hätte vielleicht zu viel Kraft verloren. Beide atmeten schwer. Und Mamoru spürte die tiefe Reue in sich aufkeimen. Er hätte beinahe das Leben seines besten Freundes aufs Spiel gesetzt. Er fühlte sich wie ein Verräter. Und das Schlimmste war: Er fühlte sich wie auf Entzug. Noch immer gierte sein Inneres danach, erneut die Hand des Freundes zu ergreifen und auch den Rest an Energie zu stehlen. Und dann... Es gab so viele Menschen auf der Welt, und all ihre Energie gehörte ihm, dem Herrn der Erde! Waren das die Wünsche des Goldenen Kristalls? Oder war nun eine Seite an Mamoru erwacht, die lange Zeit im Verborgenen geblieben war? Was es auch immer war, er versuchte mit aller Gewalt, es zurückzukämpfen. Er besaß diese Macht, alle Energie an sich zu reißen, aber er besaß auch immer noch Ehrgefühl und Verantwortungsbewusstsein. Er würde diese Macht nicht für niedere Zwecke missbrauchen! Keinesfalls! "Mamoru? Wie geht's Dir jetzt?" Motoki klang etwas müde, und so sah er auch aus. Dennoch lächelte er, weil es ihn freute, seinem Freund geholfen zu haben. "Motoki", flüsterte Mamoru leise. Ein kaum hörbares Wimmern lag in seiner Stimme. "Motoki ... es ... es geht mir viel besser. ...Und Du? Wie fühlst Du Dich?" Motoki zuckte mit den Schultern. "Ich könnte etwas Schlaf gebrauchen, vielleicht auch noch ne nette Massage, aber sonst ... man lebt." "Da bin ich aber froh", seufzte Mamoru. Er und Motoki arbeiteten sich hoch, stützen sich dabei gegenseitig und lehnten sich an die Hauswand, und kaum dass sie einen festen Stand gefunden hatten, da erschienen auch schon ein Krankenwagen und ein Polizeiauto. Die Sanitäter stürzten sich regelrecht auf Miharu während die Polizisten ein paar Fragen stellten. Danach luden sie die beiden Jungs dazu ein, sie in die Schule zu fahren und ihr Zuspätkommen zu erklären. "Was kann mit Miharu nur passiert sein?", fragte sich Mamoru laut, als er und Motoki auf der Rückbank des Polizeifahrzeugs saßen. "Ich hab auch keine Ahnung", meinte der Polizist, der auf dem Beifahrersitz saß. Er drehte sich zu den beiden Freunden nach hinten, während er weiter erläuterte: "Es ist auf jeden Fall nicht das erste Mal. Seit ungefähr einer Woche finden wir fast regelmäßig Leute, die anscheinend völlig grundlos zusammengebrochen sind. Es gibt einige Personen, die behaupten, es handele sich dabei um eine neue Krankheit. Wenn die Patienten wieder aufwachen, faseln sie von einem Schatten oder von irgendwelchen Dämonen..." Motoki stupste Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an, doch dieser ignorierte es. "...und sie sind lange Zeit sehr müde. Ich hab keine Ahnung, was es damit auf sich hat. Ich persönlich denke, dass da draußen irgend ein Irrer herumrennt und unfreiwillige Opfer überfällt um Drogen an ihnen zu testen. Denn anders könnte ich mir die wilden Geschichten von Schatten und Geistern nicht erklären. Aber irgendwie komisch kommt mir das Ganze schon vor. Man findet an den Opfern weder Einstichstellen von Nadeln noch Reste von Kapseln oder Tabletten." "Und was ist mit Würgemalen?", platzte Mamoru dazwischen. Im letzten Moment widerstand er dem Impuls, sich an den Hals zu fassen. "Was?", fragte der Polizist verdaddert. "Würgemale? Was hat das denn damit zu tun?" "Na..." Mamoru suchte fieberhaft nach einer Ausrede. "...ich meine ja nur. Wenn es wirklich ein Irrer ist, der Drogen verteilt, dann muss es doch Spuren eines Kampfes geben. Ich würde mir ja nicht freiwillig irgendwas verabreichen lassen." "Ach so." Der Polizeibeamte dachte einen Augenblick nach. "Nein, von Würgemalen oder sonstigen außergewöhnlichen Verletzungen weiß ich nichts. Aber mich kleinen Beamten hat das ja nicht zu interessieren. Die Leute von Oben meinen wohl, ich soll meine Streife machen und mich um meine Angelegenheiten kümmern. Es gibt für diese merkwürdigen Vorfälle schon eine Sonderkommission, aber die lassen natürlich nichts durchsickern. So, wir sind da. Alle Mann aussteigen!" Aufgrund der Erklärungen der Beamten, Mamoru und Motoki hätten selbstlos Hilfe geleistet und seien aus diesem Anlass zu spät zum Unterricht erschienen, wurde den beiden eine Menge Ärger erspart. Aber innerlich machte sich Mamoru noch auf ganz anderen Ärger gefasst. Denn inzwischen zweifelte er daran, dass seine Begegnung mit dem Schattenwesen die letzte gewesen sein sollte. Zufrieden lächelnd starrte es auf seine Waffe ICTUS, die nun mit frischer Energie versorgt war. Aber wenn es daran dachte, wie es auf das Ziel getroffen war und sich mit ihm angelegt hatte, da verging ihm die Zuversicht schlagartig wieder. "Ich benötige all seine Energie", stellte es fest. "Solange der Goldene Kristall nicht seine ganze Macht entfalten kann, ist er für den Kampf wertlos. Du, Herr der Erde, solltest bald lernen, mit Deiner Waffe umzugehen, denn sonst wirst Du nie ein würdiger Gegner sein." Klanglos verhallte seine Stimme in der geräusch- und zeitlosen Unendlichkeit der Finsternis. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)