Die Weiße Schlange von MorgainePendragon ================================================================================ Kapitel 3: Zurück in die Meiji-Zeit ----------------------------------- Madoka spürte die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht lange bevor sie das erste Mal an diesem Morgen die Augen aufschlug. Sie seufzte und räkelte sich wohlig in dem weichen Gras, das noch immer etwas feucht vom Morgentau war. Gras? Morgentau??? Erschrocken öffnete die junge Frau die Augen und blickte unversehens durch das Geäst eines mächtigen, alten Laubbaumes hinauf in einen makellos blauen Himmel! Sekundenlang lag sie einfach so da und starrte hinauf, fühlte eine seichte Brise ihre Wangens streicheln und versuchte verzweifelt zu begreifen, was da vor sich ging. Wie war sie hierher gekommen? Und - vor allem - wo war "hier"? Sie war am vergangenen Abend zu Bett gegangen, so wie sie es mit beinahe ermüdender Regelmäßigkeit immer getan hatte - und jetzt war sie hier. Wie konnte das sein? Oder träumte sie noch? Vorsichtig setzte sie sich auf und sah sich auf der kleinen Lichtung um, auf der sie sich befand. In einiger Entfernung floss ein kleiner Bach vorbei - dieser verursachte also dieses beständige, unterschwellige Geräusch, das sie die ganze Zeit unbewusst wahrgenommen hatte. Sie hob die Hand und kniff sich fest in den Arm - eine reichlich geistlose, aber wirksame Methode um festzustellen, ob sie nun noch schlief oder nicht. Sie schlief NICHT. "Au!", entfuhr es ihren Lippen und auf ihrer Haut begann sich ein roter Fleck zu bilden. Wo zum Teufel war sie hier? Noch hatte sie keine Angst. Sie war einfach nur verwirrt. Erneut strich der Wind über die Lichtung und ließ sie - trotz der wärmenden Strahlen der Morgensonne - plötzlich spüren, dass sie nur mit ihrem dünnen und reichlich kurzen Nachthemd bekleidet war. Fröstelnd zog sie die Beine an den Leib und schlang die Arme um sie. Gut, sie konnte hier nicht ewig so sitzen bleiben. Nachdem die Sonne etwas höher über die Baumwipfel geklettert war, erhob sie sich vorsichtig. Wie ein witterndes Reh sah sie sich um und ging zunächst auf den kleinen Bachlauf zu. Sie kniete sich nieder und schöpfte mit beiden Händen das klare, jedoch eiskalte Wasser in ihr Gesicht und trank. Die Kälte klärte ihren Kopf ein bisschen - hatte jedoch zur Folge, dass sich nun doch eine leise Furcht in ihr breit machte. Sie KANNTE diesen Wald nicht. Es war nicht etwa so, dass sie alle Wälder ihrer Heimat kennen würde und aufgrund dessen sagen konnte, dass sie noch nie hier gewesen war. Aber die Vegetation hier war auch anders. Nicht auf den ersten Blick vielleicht, doch wenn man genau hinschaute fiel einem die... Urtümlichkeit der Pflanzen und Bäume auf. Uralte, knorrige Stämme wechselten sich mit dichtem Unterholz ab. Es gab am Ufer des Baches Blumen, die Madoka noch nie zuvor gesehen hatte. Alles wirkte so unberührt, als wäre sie auf einem ganz anderen Planeten, der nie zuvor einen Menschen gesehen hatte. Nicht genug damit, so hatte sie mit einem Mal auch das Gefühl, als würde der Wald um sie herum innehalten und den Eindringling mißbilligend betrachten, der es gewagt hatte den Frieden hier zu stören. Verrückt, aber genau so fühlte es sich an. Es war jedoch auch möglich, dass der Wald aus einem anderen Grund so still war: Sie war nicht allein. Madoka konnte deutlich, jedoch noch weit entfernt, ein Geräusch hören, das sie an Hufschlag erinnerte. Als es näher kam bestätigte sich ihr erster Gedanke: Da kam ein Pferd auf sie zu - und zwar ungeachtet des dichten Unterholzes sehr schnell. Nur Sekunden später war das Trommeln der Pferdehufe heran, begleitet von einem unaufhörlichen Bersten und Krachen, als es rücksichtslos das Dickicht durchbrach. Dann spie der Waldrand am gegenüberliegenden Ende der Lichtung einen schwarzen Dämon aus! Ein riesiges, nachtschwarzes Pferd mit wehender Mähne und hocherhobenem Schweif preschte auf sie zu. Auf seinem Rücken ein leibhaftiger Teufel mit langem, flammendrotem Haar. Madoka blieb wie erstarrt stehen und riss die Augen auf. Wie ein totbringender Orkan jagte das albtraumhafte Geschöpf auf sie zu. Sie erkannte nun, dass es KEIN Teufel war, der tief über den Hals des Schlachtrosses gebeugt heranjagte. Es war ein Mann. Er wirkte beinahe zierlich auf dem mächtigen Rücken des Tieres. Das rote Haar, zu einem hohen Zopf gebunden, war beinahe so lang wie er selbst groß war und als er näher heran kam, konnte Madoka mit Schrecken erkennen, dass der junge Mann schwer verletzt sein musste. Seine Kleidung starrte vor Schmutz und hing in Fetzen herab. Die Brust und die linke Seite seines Gesichtes waren blutüberströmt. Seine rechte Hand umklammerte den Griff eines unglaublich langen, schlanken Schwertes, an dessen Klinge ebenfalls dunkles Blut klebte. Das Pferd jagte mit unvermindertem Tempo direkt auf sie zu. Madoka war komplett unfähig sich zu rühren. Ein Pfeil zischte aus dem Dickicht zu ihrer Rechten hervor und streifte den Rücken des rothaarigen Reiters. Der junge Mann bäumte sich im Sattel auf und auch das Pferd wieherte verängstigt und stieg auf der Hinterhand. Madoka sah es kommen, war aber immer noch nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Der Krieger verlor den Halt und stürzte rücklings von seinem Reittier. Er prallte hart auf dem Boden auf und blieb reglos liegen, während das Pferd herumfuhr und in wildem Galopp davonjagte. Sie hörte es berstend und krachend im Wald verschwinden. Ein weiterer Pfeil flog heran und bohrte sich direkt vor Madokas Füßen in die Erde. Dann konnte sie von dort, wo der Pfeil aus dem Wald gekommen war, wilde Kampfgeräusche hören: Das charakteristische Klirren von Schwertern und das Schreien von Männern. Madoka versuchte vergeblich zu begreifen, was um sie herum vorging. Wo war sie hier? Oder sollte sie vielmehr fragen: WANN? Ein unterdrücktes Stöhnen riss sie in die Wirklichkeit (Wirklichkeit?) zurück. Mit ungläubig geweiteten Augen verfolgte sie, wie der junge Krieger sich ächzend und taumelnd erhob, wobei der sein Schwert zuhilfe nahm. Er hustete qualvoll und dunkles Blut lief aus seinem Mundwinkel. Madokas Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie kannte diesen Mann nicht. Aber sein Leid berührte etwas tief in ihrem Inneren. All ihre Sinne schrieen ihr zu, dass sie laufen sollte so schnell sie konnte, fliehen, all diesen Schrecken hinter sich lassen sollte. Doch eine Stimme tief in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, dass sie bleiben sollte. Dass sie bleiben MUSSTE. Dass dieser junge Mann vor ihr mehr war, viel mehr als nur ein blutrünstiger Krieger. Wieder dieser Schmerz tief in ihrer Brust. Was war das nur? Endlich erwachte sie aus ihrer Lethargie und lief - ungeachtet der Tatsache, dass womöglich noch ein dutzend Pfeile auf sie oder den Rothaarigen abgeschossen werden konnten - auf ihn zu. Sie streckte die Hände nach ihm aus, um ihn zu stützen und verharrte mitten in der Bewegung, als er den Kopf hob und sie durch das dichte Haar, welches ihm ins Gesicht gefallen war, ein Blick aus eisblauen, unerbittlichen Augen traf. Dieser Blick war so hart, so voll von Hass und zugleich einem so unvorstellbaren Leid, dass Madoka beinahe wie unter einem körperlichen Hieb zusammenfuhr und zurücktaumelte. Sie war... erschüttert. Irritiert und erschrocken. Dieser Blick... Er schien wie ein Pfeil durch all ihre Sinne zu jagen. Und doch... für den Bruchteil einer Sekunde nur, fühlte es sich beinahe vertraut an. Nicht der Hass in seinem Blick, nein. Der Blick an sich. Ihr eigenes Spiegelbild in seinen blauen Augen... Wie das Aufblitzen eines Lichtes in der Dunkelheit, ein Sekundenbruchteil in der Ewigkeit des Seins. Es war, als wenn etwas eingetreten war, was genauso hatte kommen sollen, hatte kommen müssen. Es war wie ein Begegnung mit dem Schicksal. Seltsam... Woher kamen diese befremdlichen und doch so vertraut wirkenden Gefühle mit einem Mal? Wie gesagt: Sie wusste weder wo sie hier war, noch wer der junge Mann vor ihr sein sollte. Und doch blieb sie, obwohl sie Angst hatte, obwohl auch ER ihr Angst machte... Dieser Blick. Dieses... Leid... Der Kopf des Kriegers zuckte herum, als der Kampfeslärm aus dem Wald jäh abbrach und ein weiteres, diesmal hellgraues Pferd mit Reiter aus dem Dunkel auftauchte. Auch dieses war ein außergewöhnlich schönes Tier. Es hatte eine weiße Mähne und einen weißen Schweif. Der Reiter auf seinem Rücken war ein wahrer Riese, jedoch schlank, allerdings mit breiten Schultern. Er trug ein weißes Stirnband. Sein Haar war von einer dunkelbraunen Farbe, ähnlich wie ihr eigenes, und stand wild in alle Richtungen ab. Er zügelte das Pferd unmittelbar vor dem rothaarigen Krieger und sprang aus dem Sattel. Madoka selbst beachtete er zunächst gar nicht. Sein markantes, jedoch durchaus hübsches Gesicht, war von tiefer Sorge gezeichnet, als er sich zu dem jungen Mann hinabbeugte. "Takeo? Takeo! Kannst du aufstehen? Wir müssen hier weg! Sie sind los und holen mit Sicherheit Verstärkung!" Der Angesprochene erhob sich ächzend vollends auf die Füße, taumelte jedoch unter der sichtbaren Anstrengung. Der große Mann stützte ihn. Endlich fiel der Blick des Dunkelhaarigen auf Madoka. Er wirkte... irritiert. Erschrocken wurde sie sich einmal mehr der Tatsache bewusst, dass sie hier halb nackt mitten in einem ihr völlig fremden Wald (in einer ihr völlig fremden Zeit?) vor zwei jungen Männern stand! Auf der Stelle fühlte sie heißes Blut in ihre Wangen schießen. "Wer ist sie?", fragte der Große, anscheinend an den jungen Krieger gewandt, der nun seinerseits den Blick wieder auf Madoka richtete. Unter diesem Blick wandt sie sich wie ein Insekt unter der Linse eines Mikroskopes. "Ich... kenne sie nicht..." Die Stimme des Rothaarigen klang matt, aber fest. "Es könnte eine Falle sein.", sann der Dunkelhaarige. "Ich habe gehört, dass die Shinsengumi ihre eigenen Kurtisanen haben, die sie auch mit auf längere Reisen nehmen. Vielleicht ist sie eine von ihnen. Und soll uns die Sinne verwirren..." Madoka konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte! "Ich bin KEINE Kurtisane! Ich bin...", sie brach entrüstet und zugleich hilflos ab. Ja, das war die Frage. Wer war sie? Hier? Sie musste einen solch hilflosen und verwirrten Eindruck machen, dass sie gerade dadurch den Dunkelhaarigen wohl vom Gegenteil überzeugte. "Nein. Ich denke auch, du bist keine Kurtisane. Du stammst nicht einmal von hier, oder Mädchen?" Er wartete ihre Antwort gar nicht ab und wandte sich wieder an den jungen Samurai, half ihm umständlich auf das graue Pferd zu steigen. "Ich habe dir doch gesagt, Takeo, diese Schweine betreiben Handel mit Menschen. Die lassen sich exotische Mädchen aus Übersee einschiffen und verkaufen sie dann hier als... Lustmädchen oder Dienerinnen." Madoka öffnete den Mund, um auch hier zu widersprechen, schloss ihn aber dann schnell wieder. Vielleicht war es besser, sie beließ die Zwei zunächst in dem Glauben, dass sie ein hilfloses Opfer war. Und SO weit war das ja nun auch nicht hergeholt... Da sie nicht antwortete fasste es der Dunkelhaarige wohl als Zustimmung auf. Nachdem er den jungen Krieger auf das Pferd bugsiert hatte, wandte er sich wieder Madoka zu. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen war nicht unfreundlich. Er seufzte. "Ich kann dich so nicht hier zurücklassen. Die Shinsengumi kommt bald und mit noch mehr Männern zurück. Was diese Bande dir antun würde, wag ich gar nicht zu denken..." Er zuckte mit den Schultern. Dann neigte er - zu Madokas Verblüffung - leicht den Kopf. "Mein Name ist Kanzaki Shido. Du kannst mich Shido nennen." Madoka antwortete beinahe ohne ihr zutun: "Sakurai. Sakurai Madoka." Erneut (wie unglaublich höflich!) neigte er den Kopf. "Madoka. Es ist mir ein Vergnügen." An den Krieger gewandt fuhr er fort: "Du stimmst mir doch zu, Takeo-kun? Wir können das Mädchen unmöglich hier lassen" "Bei uns bleiben kann sie auch nicht.", sagte der junge Samurai hart und ohne sie anzusehen. Madoka zuckte zusammen. "Ja, ja...." Shido seufzte erneut und sah Madoka beinahe verzeihungsheischend an. "Das ist Yamazaki Takeo. Mein Freund. Normalerweise ist er nicht... ganz so gereizt. Nun ja, er ist auch verletzt. Verzeih seinen..." "Du musst dich nicht für mich entschuldigen, Shido-san." Takeo erhob die Stimme nicht einmal. Aber plötzlich schwang ein beinahe gefährlicher Unterton in ihr mit, sodass Shido das Thema nicht weiter verfolgte. "Wie dem auch sei, ich werde sie nicht zurücklassen." Er winkte Madoka zu sich heran. "Komm. Wir werden in der nächsten Herberge, an der wir vorbeikommen, Halt machen und Takeos Wunden versorgen. Dort kannst du sicher vorerst auch bleiben. Der Besitzer ist uns gut bekannt." Madoka sah skeptisch zu Takeo hinauf. Dieser vermied es jedoch, auch nur in ihre Richtung zu schauen. Mit einem Mal fühlte sie sich von starken Armen umfasst und hoch hinter den verletzten Schwertkämpfer in den Sattel des Pferdes gehoben. "Halt dich gut fest!" Dieser Ratschlag kam nicht von ungefähr, wie Madoka zu ihrem Leidwesen gleich darauf erfuhr. Kanzaki-san legte selbst zu Fuß ein unglaubliches Tempo vor. Das Pferd lief am Zügel hinter ihm in einem scharfen Trab. Madoka war noch nie geritten. Jedenfalls war sie nie über das obligatorische Ponyreiten für Kinder auf Jahrmärkten oder im Zoo hinausgekommen. Voll jähen Schreckens klammerte sie sich hinterrücks an Takeo, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie konnte regelrecht fühlen, wie er sich unter ihrer Berührung versteifte und (ob nun gewollt oder intuitiv) so weit wie möglich nach vorn und von ihr fortrückte. Dieses Verhalten versetzte ihr innerlich einen leichten aber nachhaltigen Stich. Sie bemühte sich, ihren Griff zu lockern und dennoch nicht vom Pferd zu fallen. Dann kam, was kommen musste. Zwei, drei Pfeile schossen hinter ihnen heran und schlugen federnd in die Baumstämme rechts und links von ihnen ein. Ein weiteres Geschoss traf ihr Pferd in eine der Hinterbacken. Angstvoll wiehernd wollte das verletzte Tier sofort Reißaus nehmen, doch Shido warf sich in die Zügel und verhinderte, das es durchging. Das Pferd warf den Kopf zurück und bleckte die Zähne. Das Weiße in den Augen wurde sichtbar. Madoka klammerte sich nun doch wieder voller Angst an Takeo. "Das hat keinen Sinn, Takeo! Reite du mit dem Mädchen vor! Ich versuche sie aufzuhalten!", rief Shido atemlos. Und wo in einem billigen Samurai-Movie, von der Art, wie sie Madoka gesehen hatte, der Held wahrscheinlich gezögert und das Vorhaben seinem Freund voll Sorge auszureden versucht hätte, da schnappte sich der junge Mann ohne Umschweife die Zügel, die ihm Shido hinhielt und gab dem Pferd so prompt die Sporen, dass Madoka um ein Haar wirklich rücklings vom Pferd gefallen wäre. In wildem Galopp jagten sie durch den Wald. Madoka hatte Takeos Haar im Gesicht. Sie versuchte, es zur Seite zu streichen, aber sofort peitschte eine neue Strähne in ihre Augen. Als sie an seiner Schulter vorbei nach vorn lugte, gewahrte sie mit jähem Schrecken, dass sie auf eine Gruppe umgestürzter Bäume zupreschten. Er wollte doch nicht...? Das Pferd war lahm! Und es trug zwei Personen! Madoka fügte sich in ihr Schicksal und vergrub das Gesicht wimmernd an Takeos Schulter. "Halt dich fest.", hörte sie mit einem Mal seine Stimme. "Hab keine Angst." Wie war das? Das waren ja ganz neue Töne? Gehorsam schlang die junge Frau die Arme um seine Taille und presste ihr Gesicht in sein wehendes Haar. Dann konnte sie spüren, wie das Pferd die gewaltigen Muskeln anspannte und sich mit einem Ruck vom Boden abstieß. Gemeinsam segelten sie durch die Luft und landeten vergleichsweise sanft auf der anderen Seite, wo das Pferd sofort zu einem erneuten Anlauf ansetzte: Der nächste, noch größere Baumstamm ragte vor ihnen auf. "Uuuuhhmmmm...", machte Madoka. Dann fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer. Sie umschloss fest ihr Handgelenk. Madoka war so überrascht, dass sie kaum merkte, wie sie erneut Bodenkontakt verloren. Diesmal kam das Tier beim Aufprall ins Straucheln und Takeos Griff um ihren Arm wurde augenblicklich fester. Madoka rutschte tatsächlich nach hinten. Wenn er sie nicht zusätzlich gehalten hätte... Dann ging die Jagd mit unvermindertem Tempo weiter. Madoka verlor jegliches Zeitgefühl. ~~~oOo~~~ Irgendwann, Stunden später, denn es dämmerte bereits der Abend mit einem orangeroten Leuchten, welches den ganzen Himmel (und Takeos glutrotes Haar) in einen sanften Schimmer hüllte, wurde das Pferd endlich von sich aus langsamer. Auch lahmte es nun merklich auf der linken Hinterhand. Madoka war sehr müde. Noch nie zuvor hatte sie einen ganzen Tag im Sattel verbracht. Sie fühlte sich wund und buchstäblich jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Als Takeo das Pferd endlich zügelte, war Dunkelheit über den Wald und das kleine Häuschen gekommen, das nun umgeben von kleinen Trauerweiden, überbrückten Bächen und steinernen Laternen vor ihnen aufgetaucht war. Ein paar Lampions, die nach außen hin auf den Veranden im leichten Abendwind schaukelten, verströmten mildes, warmes Licht. Bevor Madoka auch nur einen Muskel rühren konnte, um sich an den Abstieg aus scheinbar schwindelerregender Pferderücken-Höhe zu machen, sackte Takeo plötzlich zur Seite weg, schneller als sie hätte reagieren können, und fiel hart zu Boden. Er blieb reglos liegen. Madoka sog erschrocken die Luft ein. Hastig - und reichlich unbeholfen - schwang sie sich vom Pferd und rief um Hilfe. Sie sank neben dem jungen Krieger auf die Knie. "Hallo? Ist jemand da? Wir brauchen Hilfe!" In der Diele des Hauses wurde Licht gemacht. Sekunden später traten zwei dunkle, schlanke Gestalten auf die Veranda. Eine trug ein Windlicht, die andere mehrere Tücher und eine Schale, in der wohl Wasser war. Takeo schien diesen Leuten wahrhaftig nicht nur bekannt zu sein. Er tauchte wohl nicht zum ersten Mal in einem solchen Zustand hier auf. Madoka beugte sich über die reglose Gestalt des jungen Mannes. Vorsichtig drehte sie ihn auf den Rücken. Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen. Getrocknetes, dunkles Blut klebte in seinem Mundwinkel. Ohne nachzudenken strich Madoka das lange, kupferfarbene Haar aus dem schmalen, blassen Gesicht. Fasziniert schaute sie auf ihn hinunter. Er hatte ein fein geschnittenes Kinn und hohe Wangenknochen. Die Pupillen bewegten sich unter seinen geschlossenen Lidern, als würde er träumen. Und er besaß eine lange, schmale Narbe, die sich quer über seine rechte Wange zog. Seine Kleidung an Schulter und Brust war feucht und dunkel von Blut. Wieder dieser Schmerz in ihrer Brust. Als könnte sie seinen Schmerz auch am eigenen Leib spüren. Und eine Vertrautheit, die eigentlich nicht da sein durfte. Denn jetzt, wo sie die Zeit hatte ihn genauer zu betrachten, da war sie sich nun ganz sicher: Sie hatte diesen jungen Mann nie zuvor gesehen. Und doch kam ihr etwas an ihm... vertraut vor. Als wären sie sich in einem anderen Leben und zu einer anderen Zeit bereits schon einmal begegnet... Das war völlig unmöglich und nebenbei auch ziemlich unsinnig.Es erschreckte und verwirrte sie, dass sie plötzlich überhaupt solche Gedanken hatte. Aber die Sorge um ihn überwog alles. Er hatte ihr letztenendes das Leben gerettet. Und nun lag er vor ihr... Das Blut floss aus seinen Wunden und sie konnte nur hilflos zusehen. Sie kämpfte mit plötzlich aufkommenden Tränen. Madoka streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, da waren die zwei Gestalten jedoch bereits heran und verscheuchten sie mit hektischen Handbewegungen. Es waren zwei junge Frauen mit rabenschwarzem Haar, wohl Bedienstete des Hauses. Sie machten sich sofort und sehr effektiv an Takeos Wunden zu schaffen. Ein wahrer Hüne von Mann, der einen weißen Kittel trug und daher auf Madoka sofort den wohl nicht allzu falschen Eindruck eines Kochs machte, kam nun aus dem Haus. Ohne viel Federlesens bückte er sich und hob den Verletzten auf seine muskulösen Arme. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf seinem polierten Glatzkopf. Er wandte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort ins Haus. Madoka blieb etwas unschlüssig zurück. Eines der Mädchen (diejenige, die den Lampion trug) griff nun nach den Zügeln des Pferdes und führte es fort, wohl in einen Stall auf der gegenüberliegenden, völlig im Dunkeln liegenden Seite des Hofes. Das andere verneigte sich fast bis zum Boden vor Madoka und bedeutete ihr dann ins Haus zu folgen. Madoka neigte ebenfalls den Kopf. Mit einem sehr merkwürdigen Gefühl folgte sie der jungen Frau in eine behagliche Diele. Da sie ohnehin barfuß war, konnte sie der Frau gleich bis zu einer hölzernen Treppe folgen, die in einem flachen, langen Winkel zu einer Luke führte, die wohl den Durchgang zum oberen Stockwerk darstellte. Oben angekommen wandte sich die Dienerin nach links und schob eine papierne Wand zur Seite, setzte sich dann vor die Tür und verneigte sich erneut - eindeutig auffordernd. Madoka war im höchsten Maße irritiert. Wenn schon nicht draußen und auf der wilden Verfolgungsjagd hierher, so fiel ihr doch hier sehr deutlich auf, dass sie wahrhaftig nicht nur den Ort, sondern wohl auch die Zeit gewechselt hatte. Aber wie war das möglich? Wieso war sie nun in einem Japan gelandet, in welchem es anscheinend noch umherziehende Samurai und dienstbare Geishas gab? Wie war sie nur hierher geraten? Ihr Kopf schwirrte. Sie war so verwirrt, dass sie nicht einmal mehr wirklich Angst verspürte. Vorsichtig betrat sie den Raum, den ihr die Dienerin zugewiesen hatte. Erst dann hob die Frau den Kopf wieder, den sie an ihre aneinandergelegten Hände am Boden gelegt hatte. Madoka betrat einen hellen, freundlichen Raum, in dem es jedoch außer eines am Boden ausgerollten Futon, einer papiernen, am Boden stehenden Laterne und einem nach außen und bis zur Erde reichenden, geöffneten Fensterladen nichts gab. Allerdings war das Zimmer auch nicht sehr groß. Vielmehr hätte auch nicht hineingepasst. Dennoch wirkte die Einrichtung nicht spartanisch. Die Laterne vertrömte mildes, gelbes Licht. "Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?" Madoka wandte sich zu der Dienerin herum. Sie hatte den Raum ebenfalls betreten und hatte nun - woher auch immer - plötzlich einen wunderschönen, blütendweißen Kimono über dem Arm, den sie Madoka hinhielt. Als die junge Frau zögerte nickte sie auffordernd. "Nehmen sie. Ich hole Wasser. Und Tee, wenn Sie dies wünschen." Die Vorstellung von heißem Tee und - vor allem - von warmer Kleidung, ließ Madoka ihre Ängste und Zweifel zunächst vergessen. Wer auch immer hier der Hausherr war: Man meinte es wohl gut mit ihr. Sie wäre dumm, würde sie die ihr angebotene Hilfe ablehnen. "Das... wäre wunderbar.", sagte sie deshalb. Sie nahm den Kimono an sich. Die Dienerin lächelte, neigte schon wieder den Kopf und verließ den Raum, zog die Tür hinter sich zu. Madoka trat an das Fenster. Die kühle Nachtluft kam herein und ließ die junge Frau frösteln. Sie wollte soeben die Läden schließen, als sie erneut das Geräusch von einem herannahenden Pferd hörte. Sie musste sich nicht lange gedulden. Es war Shido-san. Er ritt auf dem nachtschwarzen Pferd, auf welchem Madoka Takeo das erste Mal gesehen hatte. Shido musste es auf seiner Flucht wiedergefunden haben. Oder das Pferd hatte IHN wiedergefunden. Als der junge Mann das Tier nun vor dem Haus zügelte sah Madoka ihren ersten Eindruck vom Vormittag bestätigt: Kanzaki-san war wahrhaftig nicht klein. Aber im Sattel dieses Pferdes wirkte selbst er zierlicher, als er in Wahrheit war. Das Tier war riesig. Und einfach nur wunderschön. Mit geblähten Nüstern tänzelte es auf der Stelle. Seine Flanken, von weißem, flockigem Schaum bedeckt, bebten ob der hinter ihm liegenden Anstrengung. Lang fiel die schwarze Mähne über seine Augen und der Schweif peitschte nervös durch die Luft. Auch jetzt waren sofort die dienstbaren Geister des Hauses zur Stelle, halfen Shido beim Absteigen und führten das Pferd fort. Madoka ließ den Kimono fallen und lief zur Schiebetür. Sie konnte ohnehin noch nicht schlafen - zu vieles war in zu kurzer Zeit geschehen - und den Tee konnte man ihr auch woanders servieren - oder später... Sie stürmte hinaus auf den Flur und die Treppe hinunter, wo sie um ein Haar tatsächlich die junge Frau mit ihrem Tee umgelaufen hätte, schickte ihr ein verzeihungsheischendes Lächeln hinterher, mit der Bitte den Tee später zu servieren, und kam schwer atmend unten in der Diele an, wo Shido gerade vom Hausherren begrüßt wurde. Es MUSSTE der Herr dieses Hauses sein. Er war hochgewachsen, trug Gewänder aus goldschimmerndem Brokat und Damast (das prachtvollste Gewand, was Madoka je gesehen hatte), dazu eine Schärpe aus rotem Samt. Zwei Schwerter, das eine lang, das andere kurz, hingen an seiner Seite. Sein schwarzes, langes Haar trug er zu einem hohen Zopf gebunden in der Art, wie auch Takeo es tat. Madoka blieb wie angewurzelt am Treppenabsatz stehen. Auch wenn sie den Mann nur von hinten sah, konnte sie doch erkennen, dass er sehr groß sein musste. Er überragte sogar Shido-san um beinahe eine Haupteslänge (was, mit anderen Worten, nichts weiter hieß, dass sowohl Madoka selbst, als auch Takeo-kun neben ihm wie zierliche Zwerge wirken mussten...). Zudem stellte sie überrascht fest, dass er noch recht jung sein musste. Madoka schätzte sein Alter auf Anfang dreißig. (In dieser Zeit mochte dies aber schon ein stattliches Lebensalter darstellen, sagte sie sich.) Überrascht wandte er sich herum, als er ihre polternden Schritte hörte und auch Shido sah sie aufmerksam an. Madoka wurde schon wieder rot. Sie hätte sich wenigstens die Zeit nehmen sollen, den Kimono anzuziehen. Deutlich wurde sie sich der Blicke der beiden Männer bewusst. Sie trug immer noch nichts anderes am Leib, als das dünne Satin-Nachtkleid. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper - und machte es damit sicher nicht besser. Sie bemerkte das Lächeln auf Shidos Gesicht, noch bevor sie wirklich hinsah. Es war jedoch kein anzügliches Lächeln. Er wirkte lediglich ein wenig schadenfroh. Auch der Ältere wirkte weder sehr überrascht noch erzürnt. Er sah sie erwartungsvoll und mit leicht erhobenen Augenbrauen an. "Ist sie das?", fragte er dann ruhig. Seine Stimme klang tief und voll, gar nicht wie die Stimme eines Dreißigjährigen. Shido nickte hinter ihm, bis er sich anscheinend bewusst wurde, dass der Mann dies ja nicht sehen konnte. "Ja.", antwortete er deshalb mit einiger Verspätung. Als niemand Anstalten machte, auf den jeweils anderen zuzukommen, trat Shido nun vor. "Darf ich vorstellen? Sayan Shigeru-sama, der Herr dieses Hauses. Lord Sayan? Sakurai Madoka." Lord Shigeru neigte leicht und galant den Kopf. "Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.", sagte er umständlich. "Ich möchte, dass es Ihnen an nichts fehlt. Ist Ihnen das zugewiesene Gästezimmer Recht?" Er sah sie durchdringend an. "Ist alles in Ordnung? Sie sehen blass aus." Madoka zitterte. Sie erwiderte den beinahe väterlich besorgten Blick der sanften braunen Augen ihres Gegenübers und fühlte ihre Selbstbeherrschung nun endgültig dahinschwinden. "Wie bitte?", hauchte sie. Und dann, lauter: "WIE bitte? NICHTS, absolut GAR NICHTS ist in Ordnung! Wissen Sie, als ich gestern Abend zu Bett ging, da WAR alles noch in bester Ordnung! Ich würde am nächsten Morgen wie immer aufstehen und zur Arbeit gehen, später Freunde treffen, vielleicht ins Kino gehen oder auch ein wenig shoppen. Dachte ich... Und dann... wache ich praktisch mitten in der Wildnis heute Morgen auf, mit nichts am Leib als meinem Nachthemd, weiß weder wo ich bin, noch WANN, habe eine unheimliche Begegnung mit einem leibhafigen, verletzten Samurai und wilden, durchgehenden Pferden, werde von schießwütigen Kriegern verfolgt und lande am Ende des Tages in einem - durchaus hübschen - Haus, das aus dem vorvorvorletzten Jahrhundert zu stammen scheint - und SIE fragen MICH, ob alles in Ordnung ist?", brach es aus ihr heraus. Sie war den Tränen nahe. "Ich will einfach nur noch nach Hause! Aber ich scheine nicht nur den Ort, sondern auch die ZEIT gewechselt zu haben - es ist mir völlig unbegreiflich, wie das passieren konnte!" Beide Männer, sowohl Shido, als auch Lord Sayan sahen sie nun voller Erstaunen an. Shido kratzte sich am Kopf. "Mein Lord Shigeru. Das Mädchen scheint schlimmer verletzt worden zu sein, als es den Anschein hat." Shigeru nickte leicht. "Vielleicht." Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und er trat näher an Madoka heran, die nun wirklich leise vor sich hin weinte - jedoch hastig die Hände über ihren Ausschnitt legte, als er ihr zu nahe kam. "Aber ich bin davon überzeugt, dass sie es ernst meint. Sie glaubt, was sie da sagt." "Ja, das denke ich auch. Aus diesem Grund muss sie ja schlimm verletzt worden sein.", antwortete Shido voller Überzeugung. Madoka schüttelte nur den Kopf. "Bitte, ihr müsst mir glauben! Ich sage die Wahrheit! Welches Jahr schreiben wir?" "Das dritte Jahr der Meiji-Ära.", lautete die überraschte Antwort. Madoka nickte betrübt. "Ja... So ungefähr habe ich mir das gedacht." Sie seufzte. "Samurai, die eigentlich keine Schwerter tragen dürfen, eine Revolution gegen das althergebrachte Regierungssystem und Kyoto als Sitz der Kaiserfamilie. Und Tokyo..." "Tokyo?", fragte Shido verständnislos. Madoka sah ihn an und schwieg betroffen. Ihm zu sagen, dass die ihnen als Edo bekannte Stadt späterhin Tokyo genannt wurde, hätte wenig Sinn gehabt. Sie winkte ab. "Ist nicht so wichtig." Shido sah sie weiter stirnrunzelnd an. Lord Sayan klatschte kurz in die Hände. Sofort tauchten aus dem Nebenzimmer zwei der jungen Dienerinnen auf, die anscheinend nur auf ein solches Zeichen gewartet hatten. "Ich finde auch, dass all dies noch warten kann und jetzt nicht so wichtig ist. Hier in diesem Haus bist du jedenfalls in Sicherheit. Und ich denke, wir sollten uns nun zurückziehen und ausruhen." Er warf einen bezeichnenden Blick in Madokas Richtung. Ihr war nicht entgangen, dass er plötzlich vom förmlichen "Sie" zum vertrauteren "Du" übergegangen war. Aus welchem Grund, das konnte sie jedoch nur raten. Vielleicht hatte sie den Lord mit ihren Aussagen mehr verwirrt als ihm selbst lieb war... "Nach einer erholsamen Nacht sieht die Welt manchmal schon ein klein wenig anders und besser aus. Ich würde dann morgen gern diese Unterhaltung fortsetzen. Du bist... eine sehr interessante junge Dame." Er lächlte, verbeugte sich zum Abschied und zog sich den Gang hinunter in die hinteren Gemächer des Erdgeschosses zurück. Kanzaki-san neigte ebenfalls den Kopf. "Eine angenehme Nachtruhe, Sakurai-san.", sagte er - ein leicht ironischer Unterton schwang in seiner Stimme mit. Er wollte sich herumdrehen und gehen, aber Madoka hielt ihn zurück. "Madoka." Er wirkte irritiert. "Wie?" "Ich möchte nur Madoka gerufen werden. Nicht mehr." Erstaunt erwiderte er ihren Blick und nickte dann leicht. "Wie du meinst. Madoka." "Sag, was für ein... Haus ist das hier? Das ist doch keine normale... Herberge?", fragte sie dann. Shido lachte leise. "Du hast scharfe Augen, Mädchen." Jetzt war es an Madoka, irritiert dreinzuschauen. "Ursprüglich dient dieses... Etablissement der puren Lust und dem Vergnügen der fleischlichen Liebe. Das Haus ist voll von den hübschesten Kurtisanen des gesamten Landstrichs. Namhafte Männer aus Regierung und Wirtschaft kommen aufgrund des sagenhaft guten Rufes und der hoch gelobten Verschwiegenheit der Angestellten hierher und genießen die erlesene Schönheit der willigen jungen Damen im Schutze völliger Anonymität." Shido grinste anzüglich. "Du siehst, du bist hier bestens aufgehoben. Und in Sicherheit. Auf ein Mädchen mehr oder weniger wird hier nicht so geachtet. Falls sich ein zahlungsfreudiger Kunde in dein Zimmer verirren sollte: Ruf nach mir. Ich werde meine Besitzansprüche gern deutlich machen." Er feixte jetzt regelrecht. Madoka starrte ihn an. Sie fand das nicht im Geringsten lustig. Shido wurde ernst. "Ernsthaft. Wenn es Probleme geben sollte, dann ruf nach mir." "Wenn das ein... ein solches Haus ist, wie du sagst: Wo sind denn dann die Kunden? Ich habe nicht eine Menschenseele hier gesehen außer uns und den Dienerinnen." Shido wirkte ein wenig ertappt. Unbehaglich kratzte er sich im Nacken. "Sie... kommen in der Regel alle zugleich und bleiben nur ein paar Tage..." Das klang so sehr nach einer Ausrede, dass Madoka nicht einmal etwas sagen musste, sondern ein einziger Blick ausreichte, Shido zum Einlenken zu bewegen. "Okay, okay. Ich kann dir nichts vormachen." Er trat nah an die junge Frau heran und beugte sich zu ihrem Ohr hinunter. "Wie du vorhin schon so treffend bemerkt hast: Es herrscht Krieg. Dieses Haus ist einer der Treffpunkte einer Gruppe von Revolutionären, namhaften Männern, die alle unerkannt bleiben wollen und die Tarnung dieses... Hauses nutzen, um nicht in Verdacht zu geraten, mit den Besatzern gemeinsame Sache zu machen. Sie kommen auch NICHT alle zugleich. Momentan sind nur eine Hand voll Männer hier. Sayan-sama führt uns an." "Euch?" Shido nickte. "Welche Rolle spielen du und der junge Samurai dabei?" "Takeo? Er ist... unabhängig. Und er erledigt Aufträge nur für Shigeru persönlich." Das klang ausweichend. Aber Madoka hatte wahrscheinlich auch nicht das Recht, danach zu fragen. Sie wollte momentan auch nicht wissen, was für "Aufträge" das waren. Sie interessierte etwas ganz anderes. "Wie es ihm wohl geht? Er war so schwer verletzt... Er wird es doch wohl überleben?" Kanzaki sah nachdenklich aus. "Ich hoffe es. Sehr." "Er hat gekämpft, nicht wahr?" Shido nickte nur. Sie drang nicht weiter in ihn. "Ich... Nun ja. Vielleicht kann ich ihn morgen..." "... besuchen?", vollendete er. "Mit Sicherheit. Ich denke, ein wenig Damenbesuch tut ihm auch gut." Darauf ging sie lieber nicht weiter ein. Ihr war auch nicht zum Scherzen zumute. "Ich... Ich habe mich noch gar nicht bedankt. Ihr habt mir das Leben gerettet. Die Verfolger hätten wahrscheinlich kurzen Prozess mit mir gemacht..." "Wahrscheinlich Schlimmeres.", meinte Shido. "Gern geschehen. Wir wären keine Menschen, wenn wir dich deinem Schicksal überlassen hätten." Madoka nickte nur. Sie kämpfte erneut innerhalb weniger Minuten um ihre Selbstbeherrschung. Da stand sie hier und plauderte mit einem Mann, dem sie bis vor Kurzem noch nie begegnet war. Dabei hatte sie heute Dinge erlebt, die sie sich nie zuvor auch nur in ihren schlimmsten Träumen vorstellen hätte können. Schlimmer noch: Um ein Haar wäre sie vielleicht selbst umgebracht worden! Wo war sie nur? Wie war sie hierher gekommen? Zum wahrscheinlich hundertsten Mal an diesem Tag stellte sie sich diese Fragen - und musste schon wieder gegen die aufkommenden Tränen ankämpfen. Shido schien zu merken, dass seine flapsige Art bei ihr momentan nicht wirkte, trat einen Schritt auf sie zu und hob mit der Hand sanft ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. "Hey, wir finden schon noch heraus, was mit dir geschehen ist. Hab keine Angst. Hier bist du zunächst sicher." Das mochte eine Lüge sein - aber momentan war es genau das, was Madoka hören wollte und auch brauchte. Sie begann nun doch zu weinen und haltlos schluchzend warf sie sich an die riesige, muskulöse Brust des jungen Mannes, der völlig überrumpelt auf sie hinunterschaute. Nach ein paar Sekunden legte er tröstend die Arme um ihre bebenden Schultern. Eine ganze Weile standen sie so da: Sie haltlos schluchzend und er etwas unbeholfen und hilflos dreinschauend. Dann fing sie sich wieder. Schniefend trat sie einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Verlegen trat sie auf der Stelle, wagte es nicht mal mehr den Kopf zu heben. "Tut... tut mir Leid... Ich... werde dann mal nach oben gehen..." Shido war nicht minder verlegen. Das machte ihn stutzig. Er hatte noch NIE vor irgendetwas Angst gehabt, sich noch nie richtig geschämt und war auch noch nie wirklich verlegen gewesen. Aber dieses Mädchen - hilflos und schutzbedürftig wie es da in seinem Nachtkleid vor ihm stand und zitterte - berührte etwas tief in seinem Inneren und brachte seinen untrüglichen Beschützerinstinkt hervor. Ihre Nähe verwirrte und... berauschte ihn zugleich. Er fand keinen Ausdruck dafür, außer: Verlegenheit. Er war buchstäblich sprachlos. Das war ihm noch nie passiert - und er war ansonsten wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen. Madoka eilte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, einen gemurmelten "Gute Nacht"-Gruß auf den Lippen. Shido sah ihr noch nach, als ihr Schritte längst auf den Stufen verhallt waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)